Im Zazen wird immer wieder unterwiesen, alle Anspannungen loszulassen. Damit sind sowohl die körperlichen als auch die geistigen Anspannungen gemeint. Anspannung bedeutet auf der körperlichen Ebene, die Muskeln anzuspannen, so, als wollten wir etwas festhalten oder uns vor etwas schützen. Dies zeigt sich besonders, wenn wir die Schultern hochziehen. Aber diese muskulären Anspannungen bringen letztendlich nur unsere geistigen und emotionalen Anspannungen zum Ausdruck. Und so, wie wir versuchen, durch unsere unbewegliche Körperhaltung in Zazen den Geist zur Ruhe zu bringen, können wir auch durch die Konzentration auf die Ausatmung unsere muskuläre und damit indirekt auch unsere geistige Anspannung loslassen.
Die Frage ist, woher diese körperlichen und geistig-emotionalen Verkrampfungen kommen? Denn wenn es uns gelingt, uns in Zazen zu entspannen, verschwinden sie plötzlich. Welche Substanz, welche Realität besitzen sie dann eigentlich, wenn wir sie durch Loslassen zum Verschwinden bringen können? Wieso können sie unseren Alltag so tief durchdringen, dass wir sie mit auf das Kissen nehmen (sei es das Zafu oder das Kopfkissen)?
Im Zen wird immer wieder gelehrt, dass alles bedingt entstanden ist und wir unsere alten Konditionierungen loslassen sollen. Was ist eine Konditionierung? Unter Konditionierung versteht man in der Lernpsychologie Formen des Lernens durch wiederholte Koppelung von Reizen. Wenn wir in der Familie oder Schule oder sonst im Leben bestimmte Regeln oder vermeintliche Wahrheiten oft genug zu hören bekommen haben oder bestimmte Erfahrungen wiederholt gemacht haben, verfestigen sie sich zu Glaubenssätzen. Das geschieht meistens unbewusst und wir hinterfragen diese scheinbaren Gewissheiten nur selten.
Erst, wenn wir zur Ruhe kommen, können wir sie erkennen. Denn sie treiben uns an, auch wenn es gar nicht (mehr) nötig ist. Ein typisches Beispiel ist der Leistungsdruck. Ich erlebe es immer wieder bei mir selbst, aber auch viele andere Menschen haben mir davon erzählt: Wir glauben, wir seien nur etwas Wert, wenn wir aktiv sind und etwas leisten. Selbst, wenn wir krankgeschrieben sind oder Urlaub haben, fühlen wir uns unruhig und getrieben. Wir müssen es uns ganz bewusst erlauben, uns hinzusetzen und „nichts“ zu tun. Sei es, auf einen Bootssteg am See, auf das Sofa zu Hause (aber ohne Fernseher oder Radio!) oder eben hier im Dojo auf das Zafu.
Wenn wir bei uns selbst genauer und tiefer hinschauen, werden wir noch viele andere, teilweise kollektive, aber auch durchaus individuelle, Glaubenssätze entdecken.
Das Gute an der Tatsache, dass es nichts Dauerhaftes gibt, ist die daraus resultierende Chance, dass wir uns verändern können. Das heißt, wir können die im Laufe unseres Lebens festgetretenen Pfade und Denkmuster auch wieder verlassen! Das ist in den meisten Fällen sicher mühselig, aber lohnenswert. Denn so werden wir wieder offen für eine neue Sicht auf uns selbst und die Welt. Im Zen nennt man das „Anfängergeist“. In jedem Moment frisch, neu und achtsam auf das, was wirklich ist. Und nicht nur das wahrnehmen, was ohnehin schon in unseren Vorstellungen enthalten ist.
Eine regelmäßige Zazenpraxis kann uns helfen, körperliche und geistige Anspannungen zu erkennen und allmählich loszulassen. Und mit jedem Loslassen wird unser Leben und unser Zazen einfacher und tiefer.