Auflösen von Konditionierungen – 23.03.2023 – Dojo Wuppertal

Im Zazen wird immer wieder unterwiesen, alle Anspannungen loszulassen. Damit sind sowohl die körperlichen als auch die geistigen Anspannungen gemeint. Anspannung bedeutet auf der körperlichen Ebene, die Muskeln anzuspannen, so, als wollten wir etwas festhalten oder uns vor etwas schützen. Dies zeigt sich besonders, wenn wir die Schultern hochziehen. Aber diese muskulären Anspannungen bringen letztendlich nur unsere geistigen und emotionalen Anspannungen zum Ausdruck. Und so, wie wir versuchen, durch unsere unbewegliche Körperhaltung in Zazen den Geist zur Ruhe zu bringen, können wir auch durch die Konzentration auf die Ausatmung unsere muskuläre und damit indirekt auch unsere geistige Anspannung loslassen.

Die Frage ist, woher diese körperlichen und geistig-emotionalen Verkrampfungen kommen? Denn wenn es uns gelingt, uns in Zazen zu entspannen, verschwinden sie plötzlich. Welche Substanz, welche Realität besitzen sie dann eigentlich, wenn wir sie durch Loslassen zum Verschwinden bringen können? Wieso können sie unseren Alltag so tief durchdringen, dass wir sie mit auf das Kissen nehmen (sei es das Zafu oder das Kopfkissen)?

Im Zen wird immer wieder gelehrt, dass alles bedingt entstanden ist und wir unsere alten Konditionierungen loslassen sollen. Was ist eine Konditionierung? Unter Konditionierung versteht man in der Lernpsychologie Formen des Lernens durch wiederholte Koppelung von Reizen. Wenn wir in der Familie oder Schule oder sonst im Leben bestimmte Regeln oder vermeintliche Wahrheiten oft genug zu hören bekommen haben oder bestimmte Erfahrungen wiederholt gemacht haben, verfestigen sie sich zu Glaubenssätzen. Das geschieht meistens unbewusst und wir hinterfragen diese scheinbaren Gewissheiten nur selten.

Erst, wenn wir zur Ruhe kommen, können wir sie erkennen. Denn sie treiben uns an, auch wenn es gar nicht (mehr) nötig ist. Ein typisches Beispiel ist der Leistungsdruck. Ich erlebe es immer wieder bei mir selbst, aber auch viele andere Menschen haben mir davon erzählt: Wir glauben, wir seien nur etwas Wert, wenn wir aktiv sind und etwas leisten. Selbst, wenn wir krankgeschrieben sind oder Urlaub haben, fühlen wir uns unruhig und getrieben. Wir müssen es uns ganz bewusst erlauben, uns hinzusetzen und „nichts“ zu tun. Sei es, auf einen Bootssteg am See, auf das Sofa zu Hause (aber ohne Fernseher oder Radio!) oder eben hier im Dojo auf das Zafu.

Wenn wir bei uns selbst genauer und tiefer hinschauen, werden wir noch viele andere, teilweise kollektive, aber auch durchaus individuelle, Glaubenssätze entdecken.

Das Gute an der Tatsache, dass es nichts Dauerhaftes gibt, ist die daraus resultierende Chance, dass wir uns verändern können. Das heißt, wir können die im Laufe unseres Lebens festgetretenen Pfade und Denkmuster auch wieder verlassen! Das ist in den meisten Fällen sicher mühselig, aber lohnenswert. Denn so werden wir wieder offen für eine neue Sicht auf uns selbst und die Welt. Im Zen nennt man das „Anfängergeist“. In jedem Moment frisch, neu und achtsam auf das, was wirklich ist. Und nicht nur das wahrnehmen, was ohnehin schon in unseren Vorstellungen enthalten ist.

Eine regelmäßige Zazenpraxis kann uns helfen, körperliche und geistige Anspannungen zu erkennen und allmählich loszulassen. Und mit jedem Loslassen wird unser Leben und unser Zazen einfacher und tiefer.

Es geht um dich – 08.01.2023 – Dojo Wuppertal

Es geht um dich

Vera Thöne am 08.01.2023

Zu Beginn eines neuen Jahres neigen die Menschen dazu, innezuhalten, auf das alte Jahr zurückzublicken und sich zu fragen, was das Neue wohl bringen mag. Manchmal blicken wir freudig auf schöne Erlebnisse zurück, manchmal mit Bedauern auf verpasste persönliche Chancen oder den Verlust von uns nahestehenden Menschen. Manchmal ist auch beides miteinander verknüpft.

Wir alle hier wandeln nun schon einige Jahrzehnte durch unsere Leben. Aber haben WIR unser Leben WIRKLICH gelebt? Oder sind wir Ideen, Vorstellungen und Glaubenssätzen hinterhergelaufen, die nicht unsere eigenen waren und von außen gekommen sind? Haben wir vielleicht in Teilen das Leben anderer Menschen, die uns in irgendeiner Weise beeinflusst haben, gelebt? Haben wir auf unsere innere Stimme gehört? Woher kommt das Bedauern, das wir im Rückblick auf unser Leben manchmal empfinden? Sind wir manchmal zu verkopft? Füllen wir die Stille, die nötig ist, um in uns hineinzuhören, vielleicht mit ablenkendem Aktivismus oder Radio, Fernsehen, Informationskonsum?
Wem oder was jagen wir hinterher?

In Norwegen wird wohl auf runden Geburtstagen älterer Menschen häufig dieses Zitat benutzt:

„All die Tage, die kamen und gingen, wusste ich nicht, dass sie das Leben waren.“

Dieser Satz hat mich sehr berührt und an einen Spruch von Meister Kodo Sawaki, dem Lehrer von Meister Deshimaru, erinnert:

„He, was glotzt Du so?
Siehst Du nicht, es geht um Dich!?“

Ich vermute, dass diejenigen, die sich dem Zen-Weg zuwenden, diese Dringlichkeit schon jetzt spüren. Die Dringlichkeit, sich auf das Zafu zu setzen und einfach innezuhalten. Um dann dem Lärm im eigenen Kopf zu begegnen, unbeweglich zu bleiben und nicht vor ihm wegzulaufen. Sondern sitzen zu bleiben wir ein Fels in der Brandung. Sich einfach auf die Haltung und die Atmung zu konzentrieren und vielleicht, als Frucht und Geschenk von Zazen, einen Moment der Unbegrenztheit und Ewigkeit zu erleben.

Wozu also den ganzen Tag rennen? Wir können diese Achtsamkeit auch mit in den Alltag nehmen und alles, was wir tun, mit Konzentration und Aufmerksamkeit tun. Wenn möglich, Ablenkungen durch „Multitasking“ zu vermeiden. Es ist längst erwiesen, dass Menschen dazu gar nicht wirklich in der Lage sind. Ständige Ablenkungen bei einer Tätigkeit erschöpfen uns nur.

Ablenkung bedeutet, von uns selbst weggezogen zu werden. Wenn wir nicht den Weg gehen, den wir uns vorgenommen haben. Das kann durchaus bedeuten, das eigene Leben massiv zu vereinfachen und sich zu fragen, was wirklich wichtig ist.

Im Zen wird ja immer davon gesprochen, seine alten Konditionierungen, d.h. Gewohnheiten, aber auch Glaubenssätze und vermeintliche Gewissheiten und Wahrheiten, zu überprüfen und loszulassen.

Das Problem der Ablenkung haben Menschen nicht erst, seitdem das Internet und Smartphones erfunden wurden. Der Stoiker Seneca sagte schon vor 2000 Jahren:

„Das Leben ist lang genug, wenn es nur gut angewendet wird.“

Er war davon überzeugt, dass alle Menschen existieren, aber nur die wenigsten leben. Das Leben ist lang. Wir haben genug Zeit. Wenn wir jeden Augenblick ganz leben, verpassen wir nichts und müssen nichts bedauern.

Eine wunderbare Übung, die Zazenpraxis mit dem Alltag zu verknüpfen, ist ein Sesshin. Das nächste findet in drei Wochen auf der Grube Louise statt.