Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 1.-3. Oktober 2005
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.
1.10.2005, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen vollständig auf eure Haltung. Richtet eure ganze
Aufmerksamkeit auf die Körperhaltung. Denkt an nichts anderes als an eure Haltung. Neigt
das Becken gut nach vorne, drückt fest mit den Knien auf den Boden. Entspannt gut den
Bauch und lasst das Körpergewicht auf das Zafu drücken, aber neigt das Becken nach vorne,
so dass der After nicht das Zafu berührt. Das gibt der Haltung eine stabile Basis. So kann man
sich in der sitzenden Haltung gut verwurzelt fühlen. So kann die Energie aus dem Kopf und
dem Sonnengeflecht hinunter ins Hara fließen, das heißt unter den Nabel, an den Punkt, wo
die Ausatmung endet. Streckt die Wirbelsäule gut von der Taille aus, indem ihr die
Verspannungen des Rückens loslasst. Streckt gut den Nacken und entspannt die Schultern.
Zieht gut das Kinn zurück, ohne dass der Kopf nach vorne fällt. Bleibt konzentriert auf die
Senkrechte eurer Haltung. – Das hilft uns, unseren alten Gewohnheiten nicht mehr zu folgen,
völlig auf die Erfahrung hier und jetzt konzentriert zu sein, vollständig hier im Dojo zu sitzen
und nicht den Geist entwischen zu lassen, in Berührung zu bleiben mit der Erfahrung der
Wirklichkeit, gerade jetzt. – Das Gesicht ist entspannt, besonders die Kiefer und die Stirn. Die
Zunge ruht am Gaumen und formt kein Wort. – Dies hilft, das innere Gespräch zu beruhigen. –
Die linke Hand liegt in der rechten Hand, die Daumen sind waagerecht. – Auf die
Waagerechte der Daumen konzentriert zu sein, hilft, einen gleichmütigen Geist zu haben,
weder Sanran noch Kontin, weder aufgeregt noch ermüdet. – Vor allem ergreifen die Hände
nichts. Sie sind offen. – Auch dies hilft, einen offenen Geist zu haben, der nichts ergreift, der
sich an keinen Gedanken klammert, der immer verfügbar ist, das Aktuelle zu empfangen.
Ein Sesshin zu machen bedeutet, verfügbar zu werden, nicht mehr vollgestopft zu sein, Platz
in seinem Geist machen. Das ermöglicht einem, hier und jetzt gegenwärtig zu sein. Wenn man
so vollständig konzentriert ist, das heißt hier und jetzt, denkt man nicht an Vergangenheit oder
Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind vergessen, sie verschwinden aus unserem Geist.
Das ist durchaus die Wirklichkeit: Vergangenheit und Zukunft sind nicht gegenwärtig. Sie
sind nur imaginäre Begriffe. Gleichzeitig ist die ganze Vergangenheit unbegrenzt und die
ganze Zukunft ist unendlich. Sie haben ihren Ursprung in diesem Hier und Jetzt. Sie sind im
Hier und Jetzt enthalten, aber man denkt nicht an sie. Das heißt, die Vergangenheit ist
gegenwärtig, aber unsichtbar.
Wenn man sich auf ein Ding konzentriert, in eine bestimmte Richtung, vergisst man in diesem
Moment den ganzen Rest. Wenn man sich auf den Körper konzentriert, ist nur der Körper in
unserem Bewusstsein gegenwärtig. – So wie wenn man eine Seite erhellt, die andere Seite
dunkel ist. (Ein Hahn kräht.) Wenn der Hahn kräht, gibt es in diesem Moment nur das Krähen
des Hahns. Die Stille ist verschwunden, nur das Krähen des Hahns. Gleichzeitig impliziert das
Krähen die Stille. Die Stille und das Krähen des Hahns sind vollständig verbunden, so wie
Bewegung und Unbeweglichkeit, wie der Schritt des rechten Beins und der Schritt des linken
Beins. Das heißt, dass man, wenn man sich in unserer Praxis auf eine Sache konzentriert,
natürlich nicht auf irgendetwas anderes konzentriert ist, dass aber diese Konzentration auf
eine Sache die Konzentration auf alles beinhaltet.
Zur Zeit sind viele Leute ständig aufgeregt, weil sie alles haben möchten. Dann haben sie
Schwierigkeiten, eine einzige Sache zu verwirklichen. Auf dem Zazen-Weg macht man genau
das Gegenteil. Beim Sesshin zum Beispiel konzentriert man sich in einem Augenblick nur auf
eine Sache: nur auf das Sitzen in Zazen, wenn man in Zazen sitzt; nur auf Sampai, wenn man
Sampai macht; singen, wenn man singt; essen, wenn man isst; Samu, wenn man Samu macht.
Dann existiert nur die gegenwärtige Handlung und gleichzeitig beinhaltet sie alles. In diesem
Moment ist man völlig absorbiert von dem, was man macht. Der Geist, der Trennungen
schafft, wird aufgegeben. Ohne daran zu denken, erfährt man das Leben in Einklang mit dem
ganzen Universum.
1.10.2005, 11 Uhr
Um Zazen zu praktizieren, setzt man sich der Wand gegenüber. Die Wand bringt uns zu uns
selbst zurück. Gegenüber der Wand zu sitzen bedeutet, dass man sich von den Gegenständern
der äußeren Welt abwendet. Man richtet sein Licht zu sich selbst, in sein Inneres. Dieses
Ausrichten des Bewusstseins auf sich selbst ist sehr wichtig. Dogen nannte es eko ensho. Es
ist wie umkehren und zu sich selbst zurückkehren. Man konzentriert sich auf seinen eigenen
Körper, auf seine eigene Haltung. Man wird völlig vertraut mit diesem Körper, mit seinen
Empfindungen und Wahrnehmungen. Man lernt, seine Spannungen zu spüren und
loszulassen.
Gleichzeitig begreift man, dass dieser Körper, den wir ‚unseren Körper’ nennen, uns nicht
gehört. Er gehört dem gesamten Universum. Wenn man seinen Besitzer sucht, dieses Ich, das
glaubt, diesen Körper zu besitzen, kann man dieses Ich nicht erfassen. Natürlich kann man die
Gedanken und Ideen betrachten, die man sich von sich selber macht. Diese Ideen sind völlig
relativ. Sie hängen von unseren Erfahrungen ab, von unseren Kontakten mit anderen. Auf
jeden Fall sind es immer Geschichten aus der Vergangenheit. Man sagt: „Ich bin derjenige,
der dies oder das getan hat, der dies oder jenes geworden ist, der diese Stellung oder jene
Fähigkeit erlangt hat, der diesen Fehler oder diese Qualität hat.“ Aber all dies sind nur unsere
geistigen Erzeugnisse, nichts Substantielles.
Wenn man sich selber beschreiben würde und diese Beschreibung mit einer Beschreibung von
einem selbst vergleichen würde, die ein Freund, ein Verwandter, der Vater oder die Mutter,
ein Kind, jemand, der uns liebt, oder jemand, der uns verabscheut, erstellt hat, wäre das
Portrait jedes Mal völlig anders. Wo ist das wahre Ich? – Die Erfahrung von Zazen zeigt, dass
man es nicht greifen kann. Dies zu realisieren heißt, sich wirklich verstehen, sich keine
Illusionen über die Ideen zu machen, die man über sich selbst hat. Meister Deshimaru hat auf
die Kyosaku immer maku moso kalligraphiert: Erzeugt keine Illusionen bezüglich eurer selbst.
Einige werden dies vielleicht bedauern, aber es hat nichts Bedauernswertes. Es heißt einfach
nur, dass das Ich nicht erfasst werden kann, denn die Grenzen des Ich sind völlig willkürlich:
Wo beginnt es? Der Ursprung von einem selbst kann nicht erfasst werden. In der Regel sieht
man ihn im Tag der Geburt aus dem Bauch der Mutter. Aber das Leben hat nicht dort
begonnen. Man kann sagen, dass es im Moment der Empfängnis entstanden ist. Aber die
beiden Zellen, die sich vereinigt haben, existierten vorher. Der Ursprung ist nicht fassbar.
Genauso kehren die Elemente, aus denen wir gebildet sind, bei unserem Tod zum Kosmos
zurück. Ein Konstrukt verschwindet, aber die Elemente setzen sich fort. Das Karma setzt sich
fort. Die Energie setzt sich fort. Deshalb sagte ein Meister: „Lebendig oder tot? – Ich kann es
nicht sagen.“ Das Leben ist unbegrenzt. Es ist nicht vom Tod getrennt. Man wird in jedem
Augenblick geboren, und man stirbt in jedem Augenblick. In jedem Augenblick erscheint ein
Empfinden und verschwindet, eine Wahrnehmung erscheint und verschwindet, ein Gedanke
erscheint und verschwindet. Zahlreiche Zellen werden geboren und andere sterben.
Wenn man das Leben so betrachtet, sagt man nicht mehr ‚mein Leben’, ‚mein Körper’, ‚mein
Geist’. Man begreift, dass das, was man für ein Ich gehalten hat, über das Ich hinausgeht.
Daher sagt Dogen: „Das Dharma kennen zu lernen, heißt, sich selbst kennen zu lernen. Sich
selbst kennen zu lernen, heißt, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen, heißt, sein
begrenztes Ego zu vergessen und vertraut zu werden mit der unendlichen Dimension der
Existenz.“ Dann verschwindet jegliche Trennung zwischen einem selbst und den anderen,
zwischen einem selbst und der Natur. Alle Erscheinungsformen der Natur, alle
Erscheinungsformen der Existenz, lehren uns die Wirklichkeit. Man kann völlig empfänglich
für diese Unterweisung werden. Sie manifestiert sich immer, überall. Das größte Verdienst
von Zazen ist es, uns diese Empfänglichkeit für die unendliche Wirklichkeit wiederzugeben,
für die Wirklichkeit, so wie sie ist.
Wenn man diese authentische Dimension der Existenz wiederfindet, kann man sich wohl
fühlen, nicht mehr Gefangener seiner eigenen geistigen Kategorien zu sein. Das nennt man
Erwachen oder Befreiung. Das ist die Erfahrung von Buddha, die von Buddha über die
Patriarchen bis zu uns weitergegeben wurde, die jeder und jede selbst realisieren kann.
1.10.2005, 16.30 Uhr
Wenn man anfängt, den Weg zu suchen, scheint uns dieser Weg weit entfernt zu sein, so, als
könne man ihn nicht betreten. Man strengt sich an zu praktizieren und man benötigt die Kraft
seines Willens, um sich zu entscheiden, auf Sesshins zu kommen, um Zazen weiterzumachen
ohne sich zu bewegen, ohne die anderen zu stören. Das bedeutet, dass man mit der guten Seite
des Egos praktiziert. Das Ego, das weiterkommen möchte, das sich befreien möchte, das
glücklich sein will, das versteht, dass die Objekte der Begierde, die wir üblicherweise
verfolgen, nicht befriedigend sind.
Wenn man seinen Blick nach innen richtet, wird man vertrauter mit sich selbst. Aber in
Wirklichkeit wird man vertrauter mit seinen Gedanken, Wünschen, Illusionen, die sich
während Zazen manifestieren. Anders gesagt, das Ego ist überall gegenwärtig, als Willen und
auch als das, was man während Zazen beobachtet. In diesem Moment gibt es das Risiko, dass
die Praxis dieses Ego bestärkt und uns von dem Weg entfernt. Oft hört man die Leute sagen:
„Jetzt werde ich ich selbst sein.“ Aber sie wollen damit sagen, dass sie ihre eigenen Wünsche
verwirklichen und nicht die Wünsche der anderen.
Wenn man die Praxis so weiter macht, kommt ein Moment, wo diese Funktionsweise nicht
mehr funktioniert. In diesem Moment hören die Leute entweder auf, oder sie vertiefen völlig
die Dimension ihrer Praxis. Diese Funktionsweise kann nicht mehr weitergehen, denn es ist
sehr ermüdend, nur mit seinem Willen und seinem Ego zu praktizieren, und man kann auf
diese Weise keine wirkliche Befreiung verwirklichen. Aber wenn man die Kraft des Willens
loslässt und erfährt, dass man mit Zazen weitermachen kann, ohne es zu wollen, reicht es aus,
einfach Zazen zu folgen, einfach von Zazen mitgezogen zu werden. Dann wird Zazen selbst
Buddha, die Dimension unserer Existenz jenseits unseres Willens. Und wir brauchen ihm nur
noch zu folgen; nichts anderes tun, einfach ihm folgen, diesem Zazen, das jenseits von uns
selbst ist.
Dieses Zazen hilft uns zu entdecken, dass das, was man für sich selbst gehalten hat, nur
einfach geistige Gewohnheit waren, Gewohnheiten, die zu einem Glauben wurden, weil man
ständig sagte: „ich“, „ich will“, „ich will nicht“. Am Ende glaubte man daran. Genauso, wie
man glaubt, dass es, weil es einen Gedanken gibt, ein Ich gibt, das denkt. Man bemerkt nicht,
dass dies einfach nur ein weiterer Gedanke ist. Und während man glaubt, sich selbst besser zu
kennen, macht man nichts anderes, als einer Vorstellung anzuhängen.
In dem Moment, in dem man das versteht, kommt man zu einem entscheidenden Punkt: Man
wird sich bewusst, dass man nichts anderes machen kann, als das zu vergessen, an das man
glaubt. ‚Vergessen’ bedeutet nicht zu vergessen, wie jemand, der eine Amnesie hat. Es ist kein
krankhaftes Vergessen, sondern ein Vergessen im Sinne von Fallenlassen, wie ein Projekt, das
einem schließlich dumm erscheint und von dem man sagt: „Es ist besser, es zu vergessen.“ In
diesem Vergessen liegt das wahre Erkennen. Das Erkennen, dass man Selbst nicht das ist, was
man zu sein glaubte, das man überhaupt nichts ist.
In diesem Moment gibt es in unserem Geist kein Hindernis mehr und der Weg, der uns bis
dahin weit entfernt schien, nähert sich uns. Buddha, der uns weit entfernt schien, lädt uns ein,
nach Hause zurückzukehren, befreit von unseren illusorischen Vorstellungen. Man begreift,
dass man immer auf dem Weg gewesen war, dass der Weg überall existiert und dass uns
nichts fehlt.
Mondo
F: Ich habe in älteren Kusen von dir gelesen, dass Bewusstsein abhängig von Erscheinungen
ist. Ich möchte wissen, ob ein klares Bewusstsein mit der Buddha-Natur gleichzusetzen ist.
RR: Nicht wirklich. Die Buddha-Natur ist die Existenz selbst. Sie ist die wahre Natur aller
Existenzen, der Existenzen in gegenseitiger Abhängigkeit. Alles, was existiert, existiert
in Beziehung. Diese Existenz in gegenseitiger Abhängigkeit ist die Buddha-Natur, das
heißt eine Existenz ohne Substanz, ohne Ego, die Existenz, so wie sie ist, das heißt nur
Beziehung. Das Bewusstsein ist ein Teil davon. Das Bewusstsein ist Buddha-Natur,
genauso sie wie Vögel Buddha-Natur sind, wie du Buddha-Natur bist. Genau deswegen,
weil das Bewusstsein nicht allein existiert. Es existiert in Abhängigkeit von den
Objekten, derer man bewusst ist. Wenn es keine Objekte gäbe, gäbe es kein Bewusstsein.
Genauso so: Wenn es keine Erscheinungsformen gäbe, gäbe es auch keine Buddha-Natur.
Die Buddha-Natur ist die wahre Natur der Erscheinungsformen. Ebenso gibt es keine
Leerheit ohne Erscheinungsformen. So ist die Wirklichkeit. Nichts existiert allein,
unabhängig. Das nennt man die Buddha-Natur.
Da auch wir das sind, kann man sagen, dass in jedem die Buddha-Natur existiert. Aber
das heißt nicht, dass in jedem von uns ein Samenkorn liegt, sondern dass unsere ganze
Existenz nichts anderes als Buddha-Natur ist. Die Buddha-Natur ist nicht die tiefe Natur
der Existenz, nicht etwas, das versteckt ist wie ein Kern im Innern einer Frucht. Die Haut,
das Fleisch, die Knochen, der Kern – alles ist Buddha-Natur. Nichts kann der Buddha-
Natur entkommen. Die Buddha-Natur schließt nicht nur alles ein, sie ist alles. In der
Tiefe der Praxis geht es darum, dies zu verwirklichen und zu sehen, klar zu sehen.
Dies hat Buddha gesehen, als er im Zazen den Morgenstern sah. Und um es
auszudrücken, hat er gesagt: „Ich habe das Erwachen mit allen Wesen erlangt.“ Alle
haben sich danach auf das Erwachen konzentriert, darauf, dass Buddha das Erwachen
verwirklicht hat. Aber das ist nicht der wichtige Punkt. Das Wichtige ist „mit allen
Wesen“. Seine Existenz mit allen Wesen, dazu ist er erwacht.
F: Eine kleine Frage hätte ich noch: Zwei Mönche haben diskutiert und es geht darum: Weiß
der Meister etwas über höhere Welten? Oder weiß er nichts und sagt nichts darüber? Also
weißt du etwas und sagst nichts darüber, oder weißt du nichts und sagst nichts darüber?
RR: Das weiß ich nicht.
F: In früheren Zeiten war es sinnvoll, dass jemand mitgeschrieben hat, wenn der Meister
Kusen gehalten hat. Heute gibt es dafür elektronische Geräte. Dennoch schreibt jemand mit.
Das hält ihn von Zazen ab. Das bedeutet, dass das Mitschreiben keinen Zweck hat.
Jedenfalls nicht den Zweck, Informationen festzuhalten. Währenddessen kann diese Person
den Hauptzweck, wegen dem wir da sind, nicht wahrnehmen. Das empfinde ich als
unangemessen. Warum wird das gemacht?
RR: Das musst du die Verantwortlichen fragen. – Ich denke, für denjenigen, der für die
Notizen verantwortliche ist, ist es einfacher, die Sachen zu sortieren, wenn es
geschriebene Notizen gibt. Aber wenn es nicht notwendig ist, kann man damit aufhören.
Aber es gibt schon seit langer Zeit diese Tonbandgeräte und dennoch machen die Leute
seit 20 Jahren Notizen. Das ist also nichts Neues.
Während sie die Notizen mitschrieben, haben sie schon 80% des Kusen aufgeschrieben,
und die restlichen 20% haben sie von den Bändern genommen. Wenn die Leute Zazen
manchen und nicht mitschreiben, müssen sie im nachhinein 100% schreiben. Das braucht
viel Zeit. Wenn sie während Zazen mitschreiben, brauchen sie danach nur den Text zu
vervollständigen. Aber wenn es nichts nützt mitzuschreiben, muss man damit aufhören.
Diejenigen, die verantwortlich für die Notizen sind, müssen nachdenken, was die beste
Methode ist. Es gibt keine Verpflichtung. Man geht davon aus, dass es praktischer ist.
Und selbst wenn du sagst: „Die Mitschreibenden machen kein Zazen wie die anderen“,
ist es auch eine Art Konzentration, sich auf die Notizen zu konzentrieren und
mitzuschreiben.
F: Das heißt, wenn ich am Montag die Mitschriften mache, könnte ich auch Zazen machen.
RR: Ja. Du kannst Zazen machen und das Gerät aufnehmen lassen und nachher alles
aufschreiben.
F: Es gibt Religionen, die vom Schicksal reden. Es gibt Leute, die sagen, dass gewisse Punkte
im Leben nicht aus Zufall geschehen, aber dass man trotzdem die Möglichkeit hat,
Entscheidungen zu treffen, um seinem Weg eine Richtung zu geben oder die Richtung zu
ändern. Andere sagen, alles geschieht aus Zufall, wir sind aus Zufall hier.
Ich habe mir gesagt, das, was wirklich ist, ist der Punkt, an dem wir geboren sind, und auch
der Punkt, an dem wir sterben werden. Das sind zwei Punkte. Was glaubst du, gibt es ein
Schicksal oder ist es Zufall?
RR: Ich glaube nicht, dass es eine Art Schicksal gibt, dass all das, was wir erleben, schon
vorbestimmt ist. Das würde voraussetzen, dass jemand an unserer Stelle schon vorher
entschieden hat. Daran glaube ich nicht. In der Regel glauben die Leute, die dem Buddha-
Weg folgen, das nicht. Wenn man dies glaubt, gibt es keinen Raum, um den Weg zu
praktizieren. Es macht es keinen Sinn, den Weg zu praktizieren.
Wenn man den Weg praktiziert, dann weil man sich bewusst ist, dass man in seinem
Leben eine große Verantwortung hat und in dem, was uns geschieht. Das heißt aber nicht,
dass wir 100% frei sind. In Wirklichkeit existieren wir aus Gründen, die wechselseitig
abhängig sind, und denen müssen wir Rechnung tragen. Wir ist bedingt. Wir stehen
inmitten von Bedingungen, die uns beeinflussen. Je mehr man sich dessen bewusst wird,
desto eher kann man sich von ihnen befreien. Vorausgesetzt, dass wir wirklich sehen,
was uns konditioniert. Das ist ein sehr wichtiger Punkt in der Praxis des Weges.
Zum Beispiel haben Pflanzen und Steine überhaupt keine Freiheit. Wenn du einen Stein
ins Wasser wirfst, geht er unter. Er hat keine Wahl, er kann nur untergehen. Die
unbelebten Gegenstände können nur den Bedingungen folgen. Sie haben keine
Autonomie. Tiere habe bereits etwas mehr Autonomie. Sie sind auch bedingt durch das,
was sie brauchen. Aber nicht nur. Menschen haben einen höheren Grad an Freiheit, weil
sie sich ihrer Konditionierungen bewusst sein können.
Aber manchmal halten sie sich für frei, ohne es zu sein. Freiheit kann auch eine Illusion
sein. Viele Leute glauben, dass es Freiheit ist, wenn sie ihre Begierden erfüllen können.
Aber das ist keine wirkliche Freiheit, sondern man ist nur von seinen Wünschen
konditioniert. Aber selbst im Innern dieser Konditionierungen gibt es die Tatsache, dass
man sich dessen bewusst werden kann, ein Art Satori entwickeln kann. Wenn man eines
Tages begreift, dass man nie frei war: „Ich bin früher meinen Eltern gefolgt und habe das
getan, was man von mir erwartet hat. Jetzt mache ich, was ich will. Ich werde jetzt
meinen Wünschen folgen“, so ist das keine Freiheit. Wenn man jedoch plötzlich versteht,
wie idiotisch das ist, kann man eine gewisse Freiheit erlagen. Aber es ist immer noch eine
konditionierte Freiheit.
Ich glaube nicht an die absolute Freiheit. Ich glaube nicht an das Schicksal, an die
absoluten Konditioniertheit. Buddha hat den Weg der Mitte unterwiesen. Er sah, dass wir
nur durch Ursachen und Bedingungen existieren. Aber wenn man sich dessen bewusst
wird und dazu erwacht, kann man frei werden.
2.10.2005, 7 Uhr
Wenn man ein Sesshin macht, heißt das, dass man die Suche nach dem Dharma als die
wichtigste Sache betrachtet, wichtiger als all das, was man während eines gewöhnlichen
Wochenendes machen könnte, wichtiger als all die anderen Gegenstände unserer üblichen
Wünsche. Das heißt, dass man die Intuition hat, dass das Dharma das Leben verändern und
uns von den Ursachen des Leidens befreien kann.
Dennoch hat man oft den Eindruck, dass das Dharma etwas Entferntes, etwas Mysteriöses ist.
Natürlich haben Buddha und die Meister der Weitergabe darüber gesprochen und zugleich
bleibt es etwas Verstecktes. Man hört von der Buddha-Natur und fragt sich immer: „Was ist
das?“, als ob sie etwas wäre, das man ergreifen, erlangen könnte. Man sucht das Dharma, als
ob es etwas weit Entferntes wäre.
Das kommt daher, dass wir daraus eine neue mentale Kategorie machen, einen Gegenstand
des Denkens. So trennen wir uns davon, entfernen uns. – Genauso wie wir uns von Buddha,
von Gott, trennen oder entfernen, indem wir glauben, dass es sich um außergewöhnliche
Wesen handelt, die vielleicht eine Wahrheit besitzen, die uns verborgen ist. Wenn wir
verstehen, dass es unsere eigenen Gedanken sind, die uns davon entfernen, unsere geistigen
Gewohnheiten, unsere Vorstellungen, können wir sie aufgeben, fallenlassen und verstehen,
dass sie völlig unnütz sind, indem wir uns einfach auf die Praxis von Zazen konzentrieren,
indem wir Dharma und Buddha vergessen, indem wir Buddha-Natur und Satori vergessen,
indem wir jedes Objekt völlig vergessen. In diesem Augenblick manifestiert und realisiert sich
das, was nie von uns getrennt, nie von uns entfernt und nie vor uns verborgen war, auf
natürliche Weise.
Indem wir uns völlig auf Körperhaltung und Atmung konzentrieren, können wir unsere
egozentrischen Gedanken aufgeben. Z.B. die Gedanken, die uns glauben lassen, dass unser
Ego beständig ist, selbst wenn sich alles um uns verändert. Durch die Zazen-Praxis werden
wir vertraut mit uns selbst, und wir sehen gut, dass das, was uns ausmacht, unbeständig und
ohne etwas Substantielles ist, letztlich nichts vom Universum Verschiedenes.
Die Wirklichkeit, die uns verborgen und entfernt erschien, erscheint uns dann überall
gegenwärtig. Wir wollten sei einfach nur nicht sehen, weil sie unser Ego störte. Wenn wir
verstehen, dass in Wirklichkeit unser Ego unser Leben stört, können wir die Wirklichkeit
akzeptieren, wie sie ist. Statt Bedauern darüber zu empfinden, verspürt man eine große
Befreiung.
Man sucht das Dharma, die Buddha-Natur, indem man vor der Unbeständigkeit fliehen will,
und sucht etwas Stabiles, Ewiges, Substantielles. Dann entdeckt man, dass die
Unbeständigkeit selbst die Buddha-Natur ist. Dies zu akzeptieren ist das Einzige, was wir
realisieren müssen. Das ist nicht kompliziert. Es ist nur erforderlich, die Sichtweise zu ändern.
Zazen hilft uns, das zu realisieren, was wir von uns aus, unserem Ego folgend, nicht
realisieren würden. Zazen lässt es uns akzeptieren. Aber nicht gegen unser Gefühl, gegen
unsere Empfindung, sondern vollständig, mit Körper, Herz, Geist in Einheit damit.
Dass wir darüber große Freude empfinden ist das Zeichen dafür, dass wir es wirklich
vollständig akzeptieren, aus der Tiefe unseres Seins akzeptieren.
2.10.2005, 11 Uhr
Konzentriert euch während Zazen gut auf die Atmung. Wenn man einatmet, ist man völlig
eins mit der Einatmung – ein Körper und Geist, die einatmen. Nicht nur durch die
Nasenlöcher, sondern durch den gesamten Körper, den Bauch, die Schultern, den Rücken. In
diesem Moment existiert nur die Einatmung. Der ganze Rest ist aufgegeben. Der Augenblick
danach wird die Zeit des Ausatmens. In dem Moment konzentriert man sich vollständig auf
die Tatsache des Ausatmens. Man atmet bis zum Ende aus, bis die ganze Luft aus den Lungen
ist. Ohne etwas zurückzuhalten. Ohne zu fürchten, dass einem Luft fehlt.
Die Einatmung folgt der Ausatmung, wie die Augenblicke in unserem Leben aufeinander
folgen. Wenn man diese Reihe von Augenblicken betrachtet, hat man den Eindruck, dass die
Zeit vergeht, und man wird sich Mujo bewusst, der Unbeständigkeit. Nichts bleibt, alles
verwandelt sich. Nicht nur, dass die Einatmung auf die Ausatmung folgt: Eines Tages wird es
keine neue Einatmung geben. Nicht nur, dass alles, was geboren wird, sterben muss: Alles,
was erscheint, verschwindet. Das genau ist die kosmische Ordnung.
Das veranlasste Meister Dogen zu sagen: „Letztlich ist die wirkliche Buddha-Natur nichts
anderes als Unbeständigkeit.“ Wenn man sich dessen bewusst ist, verwirklicht man eine Art
Dringlichkeit, um den Weg zu realisieren. Die Zeit wartet nicht auf uns. Es gilt also keine Zeit
zu verlieren. Wir müssen uns hier und jetzt auf das konzentrieren, was wichtig ist, damit wir
nicht bedauern müssen, die Gelegenheit verpasst zu habe, zu erwachen.
Wenn man sich vollständig auf die Praxis konzentriert und sieht, was in jedem Augenblick
geschieht, begreift man, dass sich die Einatmung sich nicht in Ausatmung verwandelt. Die
Einatmung ist ganz und gar Einatmung, völlig Einatmung. Und die Ausatmung ist ganz und
gar Ausatmung. Sie ist keine Einatmung, die zur Ausatmung geworden ist. Es sind zwei
getrennte, verschiedene Wirklichkeiten.
Genauso ist jeder Augenblick unseres Lebens anders. Jetzt wird nicht später. Jetzt ist ganz und
gar jetzt, und jedes Jetzt ist besonders und einzig. Jedes Jetzt, jeder Augenblick ist jenseits
von dem, was vorher war, und jenseits von dem, was folgt. Selbst wenn man oft die gleichen
Erfahrungen wiederholt, sind sie nie genau gleich. Keine Einatmung ähnelt der
Vorangegangenen.
Das ist eine Einladung, sich völlig auf das Leben in jedem Augenblick zu konzentrieren, und
in diesem Augenblick die Wirklichkeit zu erfahren, die jenseits von vorher und nachher ist.
Dieser Augenblick ist völlig jenseits der Zeit, die vergeht. Er verstreicht nicht. Genauso wenig
wie der Sommer, der gerade vorbei ist, zum Herbst geworden ist. Die Wirklichkeit des
Sommers ist eine andere Wirklichkeit als die des Herbstes. Selbst wenn alle Lebewesen, die
geboren wurden, sterben müssen, wird das Leben niemals zum Tod. Das Leben ist eine
absolute Wirklichkeit, der Tod eine absolute Wirklichkeit. Aber man kann nur die
Wirklichkeit von hier und jetzt erfahren. Das ist der wesentliche Punkt unserer Zazen-Praxis:
die ewige Gegenwart leben. Das erfahren, was jenseits des Verstreichens der Zeit ist: den
vollständig gelebten Augenblick.
Unbeständigkeit auf der einen Seite und Ewigkeit des Augenblicks auf der anderen sind kein
Gegensatz. Es sind zwei Aspekte desselben Lebens, derselben Existenz. Wenn man nur die
Zeit sieht, die vorübergeht, neigt man dazu, melancholisch zu werden. Aber wenn man nur die
Ewigkeit des Augenblicks sieht, vernachlässigt man die Wirklichkeit von Mujo, die
Unbeständigkeit. Unsere Praxis besteht darin, mit diesen beiden Wirklichkeiten zusammen zu
leben.
Das es ermöglicht einem, ruhig inmitten von Aufregung zu leben, seine ganze Zeit zur
Verfügung zu haben, selbst wenn die Zeit vorbeigeht. Den gegenwärtigen Augenblick nicht
verschwenden, aber sich auch nicht an ihn klammern. Ein Sesshin zu praktizieren, ist die
Gelegenheit, dies konkret zu erfahren.
2.10.2005, 16.30 Uhr
Mondo
F: Du hattest davon gesprochen, dass unser Ego eine große Rolle spielt, wenn wir anfangen zu
praktizieren, dass wir häufig mit unserer Übung irgendwelche Sachen bezwecken und dass
dann irgendwann ein Punkt kommt, wo wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher,
sondern einfach diese Konstrukte wegfallen lassen und Zazen folgen. Ich möchte wissen, ist
das ein Weg oder gibt es einen bestimmten Punkt? Wie hast du es bei dir persönlich erlebt?
Wie kann ich es schaffen, mushotoku zu werden?
RR: Indem du feststellst, dass du es nicht anders machen kannst. Wenn du nicht mushotoku
sein willst und fortfährst, mit viel Anstrengung und Willenskraft zu praktizieren, um ein
Ziel zu erreichen, egal welches auch immer, wirst du sehen, dass du dieses Ziel nicht
erreichst und dich nur erschöpfst. Es führt dich letztlich zum Gegenteil von dem, was du
in der Tiefe suchst, indem du dem Weg folgst.
Selbst wenn ich sage, dass man seine Haltung ändern soll und aufhören soll, ein Ziel zu
verfolgen, meine ich, dass man diese Veränderung nur vollziehen kann, wenn man erst in
die andere Richtung gegangen ist und festgestellt hat, dass es da nicht weitergeht. Jeder
muss durch sich selbst verstehen. Erst wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass die
willentliche Praxis, die Praxis der Anstrengung, die Praxis mit einem Ziel nicht
funktioniert, kann man in einem bestimmten Moment loslassen.
Du brauchst mir nicht zu glauben. Ich sage nur, wahrscheinlich wird es so geschehen. Ich
glaube, dass jeder diese Erfahrung machen muss. Letztlich ist es das Leben, die Praxis
selbst, die uns zu verstehen gibt, dass man gar nicht anders sein kann als mushotoku.
Egal, welche Energie man aufbringt, um in eine andere Richtung zu gehen: Es wird zu
nichts führen, außer zur Ermüdung. Ob man es will oder nicht, am Ende kann man nicht
anders als mushotoku sein. Das Risiko ist allerdings, dass man vorher mit der Praxis
aufhört. Daher spreche ich das an, um zu vermeiden, dass Leute, wenn sie mal in einer
Sackgasse angelangt sind, nicht denken, Zen sei nichts für sie und damit aufhören.
Du fragst, wie es bei mir passiert ist. Bei mir ist es nicht so gewesen. Ich rede eher
allgemein darüber. Bei mir war es so, dass ich intensiv einen Sinn im Leben suchte,
bevor ich mit Zazen anfing. Es war ein richtiges Koan für mich, wie eine Besessenheit.
Ich habe mich sehr angestrengt, ich habe meine Willenskraft, mein Bewusstsein, meine
ganze Anstrengung in diese Richtung benutzt.
Als ich das erste Mal Zazen machte, habe ich sehr schnell verstanden, ganz plötzlich,
dass all das gar nicht notwendig war, dass all meine Bemühungen nicht notwendig waren
und es überhaupt nicht eines Sinnes bedarf, um zu leben, keines Sinns des Lebens. Das
Ziel, das ich damals verfolgte, erschien mir auf einmal völlig sinnlos. Man könnte sagen,
dass ich von der Dimension des Nicht-Objekts des Zazen getroffen war. Einfach in Zazen
zu sitzen reichend. Man braucht nichts anderes. Das hat mich sofort beeindruckt.
Ich kann nicht sagen, dass ich mit einem Ziel praktiziert habe. Ich wusste nicht einmal,
was Zazen war, als ich mich zum ersten Mal hingesetzt habe. Ich hatte den Weg nicht
studiert, keine Bücher über Buddhismus gelesen. Als ich mich in Zazen setzte, erwartete
ich nichts Bestimmtes, denn ich wusste nicht einmal, was ich gerade machte. Man hatte
mir einfach gesagt: „Du setzt Dich hin, konzentrierst Dich auf die Haltung und die
Atmung und lässt Deine Gedanken vorüberziehen.“ Meine Einführung in Zazen hat 15
oder 20 Sekunden gedauert. Ich hatte überhaupt keine Zeit, Ziele aufzubauen,
Vorstellungen über Satori, darüber, was man durch Zazen erlangen müsste. Ich hatte
keinerlei Idee. Man hat mich direkt in die Praxis geworfen.
Jetzt, wo ich darüber spreche, denke ich, dass das wahrscheinlich die beste Methode
gewesen ist. Heutzutage gibt man sich viel Mühe, hält Vorträge und erzählt, wozu Zen
gut ist. Die Leute, die dann ins Dojo kommen, haben jede Menge Vorstellungen über
Zen, von denen sie glauben, dass sie Wirklichkeit werden. Statt ihnen zu helfen, hat man
eher Hindernisse geschaffen. Das Problem ist, dass man nicht alle Bibliotheken schließen
kann. Alle Informationen sind heutzutage verfügbar. Die wenigsten Menschen finden
sich – wie ich – auf einmal in einem japanischen Tempel wieder und sitzen in Zazen, ohne
zu wissen, was sie da machen. Es ist selten, die Erfahrung von Zazen machen zu können,
ohne einen Gedanken im Hinterkopf zu haben, ohne ein Ziel.
F: Meine Frage bezieht sich auf das Kusen von gestern. Wenn ich es richtig verstanden habe,
ist es so, dass man durch Zazen dahin kommt zu spüren, dass einem nichts mehr fehlt.
RR: Ja.
F: Warum machen wir dann weiter Zazen?
RR: Einfach, um das weiter zu erfahren. Der Zustand des Geistes, in dem man realisiert, dass
nichts fehlt, ist ein sehr seltener Zustand. Es ist der Zustand von Hishirio während Zazen.
Er ist mit der Praxis verbunden. Es ist die Wirklichkeit: Es fehlt nichts. Aber wenn man
mit der Zen-Praxis aufhört, ist das Risiko da, dass man wieder von den egoistischen
Konditionierungen befallen wird. Wenn man nicht die Möglichkeit hat, diesen Zustand
jenseits des Mangels zu erfahren, den Zustand der ‚Fülle’ – der eigentlich der
Normalzustand ist, in dem nichts Besonderes nötig ist – wenn man ihn nicht regelmäßig
erfährt, vergisst man ihn und er ist nur noch eine Erinnerung, die sehr schnell ein Traum
werden kann, aber nicht mehr eine Wirklichkeit.
Darum muss man regelmäßig darin eintauchen und sich daran erinnern, nicht als an einen
Gedanken, sondern als eine gelebte Erfahrung, damit diese Erfahrung uns hilft, uns von
den geistigen Automatismen zu befreien, die wir uns seit langem angeeignet haben, den
geistigen Automatismen, die uns immer Glauben machen, dass unser Glück davon
abhängt, diesen oder jenen Gegenstand, diesen oder jenen Zustand zu erlangen, und dass
die Tatsache zu sein, nicht ausreicht.
Durch Zazen können wir das vertraut spüren. In dem Moment ist es kein Opfer mehr, das
Verfolgen der Gegenstände unserer Wünsche fallen zu lassen. Das bedarf dann keiner
Anstrengung mehr. Man braucht es einfach nicht mehr. Zazen hilft uns, in uns einen
ausreichend starken positiven Pol zu schaffen, eine gelebte Erfahrung, die es uns
ermöglicht, eine gewöhnliche und illusorische Funktionsweise fallen zu lassen.
Reicht dir das? Gibt es einen Zweifel?
F: Nein, ich versuche nur, es zu verstehen. Macht man Zazen, fehlt einem nichts. Macht man
kein Zazen, fehlt einem Zazen.
RR: Was sehr schnell fehlen kann, ist die Erfahrung, dass nichts fehlt. Meine Antwort ist
keine Spitzfindigkeit: Es ist die Wirklichkeit. Ich denke, wir sind im allgemeinen ein
bisschen wie Abhängige. Wir klammern uns an den Zustand des Mangels, weil uns dieses
Mangelgefühl motiviert, etwas zu tun. Für viele Leute besteht der Sinn des Lebens darin,
diesen Mangel aufzuheben. Sie haben ständig etwas zu tun, weil sie ständig mehr Mangel
erzeugen. Das beschäftigt sie. Das beschäftigt uns alle. Alle sind sehr beschäftigt, sehr
aufgeregt, alle rennen.
Man rennt natürlich nicht nur aus diesem Grund. Viele Leute laufen aufgrund ihrer
gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen. Das ist notwendig. Aber im Grunde
gibt es immer die Neigung zu glauben, dass wir etwas erlangen müssen. Als würde es uns
schwerfallen, zuzugeben, dass wir auf der Erde leben können, wie wir sind, dass wir das
Recht haben so zu sein.
Man könnte sagen, dass wir seit unserer Kindheit die Vorstellung erworben haben, dass
wir etwas tun müssen, um das Recht zu verdienen, auf dieser Erde zu sein. Vielleicht
weil unsere Eltern uns immer gesagt haben: „Tu dies“, „tu das“ oder „tu das nicht“. Um
von den Eltern geliebt zu werden, musste man bestimmte Dinge tun. Vielen Leute fällt es
schwer zu glauben, dass sie so akzeptiert werden könnten, wie sie sind, ohne sich groß
anzustrengen. Einige verhalten sich sogar so, als hätten sie kein Recht, dazu zu
existieren, so zu leben, wie sie sind. Sie entschuldigen sich, geboren zu sein und
versuchen, etwas zu tun, um zu zeigen, dass sie es verdienen, da zu sein.
Vielleicht überrascht dich, was ich sage. Aber das ist es, was ich feststelle, wenn ich mit
den Leuten spreche. Sie sind sich dessen nicht bewusst, aber es ist, als wäre das die
Grundlage ihres Seins. Man nennt das z.B. die Notwendigkeit von Anerkennung. In
vielen Gruppen ist das sehr stark. Normalerweise heilt Zazen uns davon.
F: Ist das Zen nicht zu großen Teilen eine Unterweisung für die Mittelschicht? In einer Welt,
in der 50.000 Kinder pro Tag verhungern, in einer derartigen Weise über Bedürfnisse und
Nicht-Bedürfnisse zu reden, spricht natürlich die Mittelschicht an, die ausreichend hat.
Wird nicht der andere Aspekt zu wenig betont? – Schweigen hilft eigentlich immer den
Unterdrückern und nicht den Unterdrückten.
RR: Ab dem Moment, ab dem uns die Zazen-Praxis von unseren Neurosen heilt, ab dem
Moment, wo man nicht mehr ständig Bestätigung braucht und nicht mehr so an seinem
Ego hängt, ist man offener für Mitgefühl anderen gegenüber. Wenn man z.B. in einem
reichen Land lebt, muss man, um Mitgefühl und Empathie für diejenigen zu haben, die
vor Hunger sterben, bereits eine gewisse innere Verfügbarkeit haben. Man muss innerlich
frei sein, nicht mehr zu sehr mit seinen egoistischen Wünschen beschäftigt. Sonst ist es
einem egal, wenn die anderen verhungern, solange man selbst Anerkennung, Macht …
F: … und das Satori …
RR: … erhält. – Ja, auch das Satori. Alles, was für uns, für unser Ego angenehm ist. Vergiss
nicht, dass in der Tiefe – selbst wenn sich immer mehr Leute humanitären Problemen
widmen, wenn sich ein Bewusstsein für den Hunger in der Welt entwickelt, – eines der
großen Hindernisse für diese Bewusstwerdung der geistige Zustand jedes einzelnen ist.
Z.B. erzeugt die Nachfrage in den reichen Ländern eine bestimmte ökonomische
Dynamik, die ein Wirtschaftssystem stützt, das arme Länder immer ärmer macht. Das ist
nicht unabhängig von der Art und Weise zu denken und zu fühlen.
F: Das ist der Grund, warum ich nach der Unterweisung gefragt habe. Meine Frage ist: Geht
die Unterweisung nicht zu wenig auf diese Aspekte ein?
RR: Vielleicht.
F: Ich bin völlig überzeugt, dass genug auf der Welt vorhanden ist. Es ist nur eine Frage der
Verteilung.
RR: Wenn es falsch verteilt ist, dann wegen eines verallgemeinerten Egoismus. Die Wurzel
ist, eine Dynamik zu entwickeln, in der die Leute diesen verallgemeinerten Egoismus in
Frage stellen. Bisher wird – abgesehen von den Religionen, die den Egoismus kritisieren –
auf der gesellschaftlichen Ebene, insbesondere vom Liberalismus, der Egoismus als das
angesehen, was Wohlstand für alle herbeiführt. Das ist die Ideologie seit zwei
Jahrhunderten. Die muss man in Frage stellen.
Das schlimme ist, dass selbst in Bewegungen, in denen Menschen sich mit einem
großzügigen Geist engagieren, um den Notleidenden zu helfen, sich wieder
Machtstrukturen aufbauen.
Nachdem ich mit Zazen angefangen hatte, wie ich es eben beschrieben habe, und ich
noch keine genaue Vorstellung davon hatte, wohin mich die Praxis bringen würde, war
das der Punkt, der mich am meisten beeindruckte. Mir wurde klar, dass alle
Anstrengungen, die Menschen aufgebracht haben, um Revolutionen zu machen, um mehr
Gerechtigkeit herbeizuführen, um die Welt zu ändern, zum Gegenteil dessen geführt
haben, was diese Menschen angestrebt haben. Für mich ist die Grundlage jeder
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Revolution die innere Revolution.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Marx glaubte. – Ich hatte eine zeitlang große
Sympathien für die Ideen von Marx, für die Idee, dass der Geisteszustand nur von
wirtschaftlichen Zuständen abhängt und dass es lediglich erforderlich sei, die
wirtschaftlichen Zustände zu ändern. Aber das ist absolut blind, weil die wirtschaftlichen
Zustände vom Geist abhängen.
F: Aber wenn du auf die 25-30 Jahre zurückschaust, fehlt in der Unterweisung nicht dieser
andere Teil – zum politischen Engagement, klare Aussagen z.B. zur sozialen
Ungerechtigkeit?
RR: Vielleicht. Ich glaube aber, dass das in der Unterweisung implizit enthalten ist. Jeder
muss aus der Unterweisung heraus Stellung beziehen. Die Unterweisung ist so klar, dass
die Verlängerung dieser Unterweisung nur eine Änderung auf der ökologischen, sozialen
und ökonomischen Ebene sein kann. Das kann man oft beobachten. Sieh dir deine eigene
Entwicklung an. Das manifestiert sich darin.
Ich glaube nicht, dass Zen sich – wie die Kirchen – einmischen und Richtlinien in die eine
oder andere Richtung angeben sollte. Viele Kirchen haben dies getan. Sie haben das
Engagement gepredigt und eine gesellschaftliche Ideologie geformt. Ich glaube, dass das
nicht die Aufgabe einer spirituellen Unterweisung ist. Die spirituelle Unterweisung soll
die Grundlage schaffen. Anschließend kann jeder sich frei engagieren. Wenn eine
Bewegung, die eine spirituellen Unterweisung trägt, zu weit in Richtung
gesellschaftlicher Ideologie geht, wird sie sich in jeder Art von Widersprüchen verfangen
und ihre anfängliche Reinheit verlieren. Ich habe das in vielen Fällen gesehen und glaube
nicht, dass das gut ist.
Jeder soll zum Zen kommen können, ohne sich zu sagen: „Ach, Zen ist so oder so. Sie
haben diese oder jene soziale oder politische Orientierung“. Zen muss völlig offen sein
und darf nicht ideologisch markiert werden. Es ist wichtig, dass Christen, Moslems,
Juden kommen können, Linke, Rechte, Sozialisten, sogar Rechtsextremisten. Alle sollen
zum Praktizieren kommen können. Die Praxis selbst transformiert die Leute und sie
ziehen dann daraus die Konsequenzen und engagieren sich freiwillig.
Vielleicht hätte man in 30 Jahren eine Bewegung ‚Engagiertes Zen’ entwickeln können.
Wenn wir das getan hätten, hätten wir vielleicht heute ein paar Hundert Militante und ab
und zu Artikel in der Zeitung, Demonstrationen. Wir wären zufrieden, weil wir sichtbar
wären: Wir manchen etwas, um das Leid auf der Welt zu verringern. Aber das ist nicht
unbedingt wirkungsvoll.
F: Meine Frage schließt an das an, was du gerade gesagt hast. Du hast gesagt, Leute jeder
politischen Richtung, auch extrem Rechte oder Linke, sollen praktizieren können. Ich frage
mich, wo da die Grenze ist, weil wir einen solchen Fall in unserem Dojo haben.
Wir haben eine türkische Frau. Sie ist Bodhisattva. Sie ist sehr lange nicht zum Zazen
gekommen. Dann kam sie wieder. Ich habe sie gefragt, warum sie solange nicht da war. Sie
hat gesagt, sie habe keine Zeit gehabt, weil sie wichtige Recherchen durchführen musste.
Sie hat mit einigen anderen zusammen Beweise dafür gesucht, dass die Türken keinen
Völkermord an den Armeniern begangen haben. Sie hat es so begründet: „Ich bin
Bodhisattva und ich bin Türkin. Es kann nicht sein, dass so etwas passiert ist, dass mein
Volk so etwas getan hat.“ Sie ist völlig fanatisch gewesen.
Ich habe das damit verglichen, dass jemand ins Dojo kommen und behaupten würde, es
habe die Morde im Dritten Reich nicht gegeben. Mein erster Impuls war, sie aus dem Dojo
rauszuschmeißen. Ich habe es nicht getan, aber es ist mir schwer gefallen.
RR: Ganz im Gegenteil: Die Leute, die die größten Illusionen haben, brauchen die Praxis am
meisten, von der man hofft, dass sie ihren Geist öffnet, damit sie die Wirklichkeit
akzeptieren. Die Wirklichkeit zu akzeptieren bedeutet nicht, sie fortzusetzen. Die
Tatsache, dass Türken oder Deutsche im Zweiten Weltkrieg Völkermord begangen
haben, bedeutet nicht, dass die Türken oder Deutschen von heute dafür verantwortlich
sind. Sie muss lernen, die Wirklichkeit der Geschichte zu akzeptieren, so wie man lernen
muss, seine eigenen Illusionen zu sehen, damit sie die Möglichkeit hat, sie zu
transformieren.
F: Das habe ich ihr auch gesagt.
RR: Wenn sie Probleme hat, dies zu verstehen, muss man es ihr weiterhin sagen. Du musst
auch das Vertrauen haben, dass das nicht nur von dir abhängt, sondern auch von der
Zazen-Praxis, dass die Zazen-Praxis in ihr eine Veränderung bewirkt. Wenn du sie
rausschmeißt, hat sie keine Chance, dann bleibt sie nur in ihrem fanatischen Umfeld. Sie
ist nicht aus Zufall im Dojo.
F: Aber wie weit geht man mit solchen Diskussionen? Natürlich waren alle Leute im Dojo
sehr aufgebracht.
RR: Ich glaube nicht, dass man darüber diskutieren sollte. Es ist absurd, über die Wirklichkeit
oder Nicht-Wirklichkeit des Völkermordes zu diskutieren. Was man sehen muss: Warum
kann sie nicht diese Wirklichkeit akzeptieren? Man muss tiefer gehen. Es nützt nichts,
auf gleicher Ebene zu diskutieren. Das gibt nur Streit. Das bringt überhaupt nichts. Man
muss verstehen, warum sie das Bedürfnis hat, den Genozid zu negieren, und welche
Illusion sie hat und versuchen, nach und nach diese Illusion zu lösen.
Zen muss uns helfen, bis zur Wurzel des Schlechten zu gehen und nicht nur die Zweige
abzuschneiden. Dafür muss sie praktizieren und anwesend sein. Das musst du den Leuten
im Dojo sagen. Sie ist wie jemand, der sehr krank ist. Man muss sie pflegen. Sie ist
spirituell gesehen völlig krank. Man muss sie wie eine Kranke behandeln und die
Ursache ihrer Krankheit sehen, statt sich über das Symptom aufzuregen oder zu
versuchen, das Symptom wegzuwischen. – Aber natürlich nur solange sie nicht alle
anderen auch noch krank macht. Wenn sie anfängt, Propaganda zu machen oder die
anderen zu überzeugen, muss man sie stoppen.
F: Wenn man so manchmal deine Kusen hört, könnte man denken, dass die Lehre des
Buddhas sehr einfach zu verstehen ist. Es braucht nicht viel. Es braucht vor allen Dingen
Zazen. Jetzt habe ich mir neulich noch mal das Ketsumyaku angesehen, das wir zur
Ordination erhalten, und in einem Buch die Traditionslinien des Zen. Da gibt es immer mal
wieder eine Scheidung in der Linie. Da habe ich mich gefragt, was es für Gründe gab,
immer wieder auseinander zu gehen? So ähnlich ist es ja auch in der Schule von Meister
Deshimaru.
RR: Ist deine Frage: Warum gibt es unterschiedliche Unterweisungen?
F: Was waren die Gründe, dass es immer wieder diese verschiedenen Schulen gab?
RR: Ich glaube, dass das vor allem daran liegt, dass die Leute, statt in Kontakt mit der Wurzel,
mit der Erfahrung des Erwachens Buddhas zu bleiben, sehr viele Interpretationen
entwickelt haben, vor allem ihren eigenen Charakteristika entsprechend. Auch wurden in
der Geschichte entsprechend der jeweiligen Epoche und der jeweiligen Kultur Mittel
entwickelt, die am geeignetsten schienen, die Unterweisung weiterzugeben.
Meines Erachtens ist es eines der Charakteristika der Weitergabe des Dharma Buddhas,
dass es einerseits eine einzige Wurzel gibt – und ich glaube, alle stimmen darin überein –
die Leerheit des Egos in der Zazen-Praxis zu erfahren. Aber vielen fällt es schwer, das zu
verstehen und zu akzeptieren. Alle buddhistischen Unterweisenden haben immer daran
geglaubt, dass man geeignete Mittel entwickeln müsse, um den Wesen ihren
Täuschungen und ihrer Konditioniertheit entsprechend zu helfen, Zugang zur
Wirklichkeit zu finden. Man hat alle möglichen Mittel entwickelt, sogar Techniken. Aber
das sind nur Mittel. Oft verliert man vor lauter Mitteln die Essenz, die Wurzel aus dem
Blick. Dann wird es kompliziert und man weiß nicht mehr, was die Essenz des
Erwachens Buddhas war.
Es gab dann immer wieder Perioden, in denen Meister zum Ursprung zurückkehren
wollten. Für mich sind es hauptsächlich zwei, zum einen Nagarjuna im 3. Jahrhundert
sowie Nyojo und Dogen im 13. Jahrhundert. Aber auch sie haben sich dem Kontext
entsprechend ausgedrückt, in dem sie sich befanden.
Wie ich bereits in diesem Sommer auf der Gendronnière gesagt habe: Selbst wenn
Nagarjuna im Grunde eine ganz einfache Unterweisung hatte, die darauf abzielt, es zu
ermöglichen, die befreiende Kraft der Unterweisung Buddhas wieder zu finden, hat er,
weil seine Zuhörer vor allem Philosophen und Mönchen waren, die viele Konzepte
bezüglich des Dharmas entwickelt hatten, seine Sprache diesen Menschen angepasst.
Das gleiche gilt für Dogen: Anfangs hatte Dogen eine sehr universelle Sprache – das
Fukan zazengi und das Bendowa sind sehr universell. Aber als er sich später mit rund 40
Schülern im Tempel Eihei-Ji befand – das waren Schüler, die seit 20-30 Jahren Mönche
waren, die bei anderen Meistern praktiziert hatten, den Buddhismus sehr gut kannten und
bereits Vorstellungen vom Zen hatten, konzentrierte er sich darauf, sie zu unterweisen
und seine Sprache änderte sich entsprechend. Er zielte darauf, die Zweifel seiner Schüler
zu lösen und ihre Fragen zu beantworten. – Sie waren völlig anders als wir: Sie hatten seit
20-30 Jahren den Buddhismus praktiziert, waren anderen Schulen gefolgt und hatten ihre
eigenen Konzeptionen entwickelt, die sie manchmal durchzusetzen versuchten. – Daraus
entstand das Shobogenzo. Es ist zum einen Ausdruck des Erwachens von Dogen,
andererseits ist einer bestimmten Hörerschaft angepasst, die nichts mit euch hier und mir
zu tun hat. Obwohl m.E. die Wurzel im Grunde immer dieselbe ist, hängt die Form, in
der sich die Meister ausgedrückt haben, immer von den Hörern, von den Schülern ab. Für
sie haben sie geeignete Mittel entwickelt. So sind verschiedene Schulen entstanden.
Zur Zeit Dogens, im 13. Jahrhundert, gab es in Japan die Idee, dass man in ein dunkles
Zeitalter eingetreten war, in Mappo, in eine Zeit, in der der Buddhismus komplett
degeneriert war. Es war nicht mehr möglich, so wie früher die Praxis zu unterweisen, die
es jedem ermöglichte, durch sich selber zu erwachen. Das schien vielen Menschen
unmöglich geworden zu sein. So haben sich Schulen entwickelt, in denen man sich der
Kraft Buddhas hingab. Man lehrte, es würde ausreichen zu beten, den Namen Buddha
Amidas zu rezitieren, um gerettet zu werden: „In unserer Zeit kann man das Erwachen
nicht mehr selbst erlangen, nur beten hilft.“ Das war eine Antwort einer bestimmen Zeit
auf bestimme gesellschaftliche und kulturelle Zustände.
Zur gleichen Zeit gab es Leute wie Dogen, die eine andere Sichtweise hatten und das für
falsch hielten. – Zur gleichen Zeit gab es zwei Schulen, zwei völlig unterschiedliche
Weisen zu versuchen, das Erwachen Buddhas weiterzugeben. Weil Leute wie Shinran
und Dogen sich nicht an die gleichen Menschen wandten. Daher die Verschiedenheit.
Das darf euch nicht zu Zweifeln führen. Du hast den Weg Zen betreten, der von Meister
Deshimaru weitergegeben wurde. Das musst du vertiefen. Das genügt.
F: Immer wieder stoße ich auf dasselbe Problem, dass ich frustriert bin über mich selber.
Dann funktioniere ich nicht in der Gruppe. Dann bin ich noch mehr frustriert. Was kann ich
da tun?
RR: Was heißt das? Wieso bist du über dich frustriert?
F: Ja, zum Beispiel dieses Mal, weil ich nicht sitzen konnte. Irgendwann wusste ich gar nicht
mehr, wie ich sitzen sollte.
RR: Aber du hast doch eine Lösung gefunden. Jetzt sitzt du auf einer Bank. – Das ist natürlich
nicht die Wurzel. Die Wurzel ist, dass du das Gefühl hast, dass dir immer etwas fehlt und
das möchtest du kompensieren.
F: Ja, ich habe das Gefühl, die anderen haben das und ich nicht.
RR: Das stimmt nicht. Das ist das, was du glaubst. Genau diese Ansicht soll durch Zazen
vergessen werden. Du hast genau das gleiche wie alle anderen auch. Im Grunde gibt es
keinen Unterschied. Du hast nur den Eindruck, dass dir etwas fehlt. Der Eindruck ist sehr
stark. Wahrscheinlich ist er in deiner Kindheit verwurzelt. Versuche Zazen zu
praktizieren, indem du siehst, dass dieser Eindruck illusorisch ist, selbst wenn er stark ist.
3.10.2005, 7 Uhr
Kehrt während Zazen immer wieder zurück auf die Konzentration auf eure Haltung. Atmet
ruhig ein und aus, und folgt nicht euren Gedanken. Das ist im Grunde alles, was man wissen
muss, um Zazen zu praktizieren. Seine Aufmerksamkeit ständig auf Körperhaltung und
Atmung zu bringen, hilft, sich nicht an Gedanken zu klammern. Nicht nur nicht an Gedanken,
sondern auch an Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle – an jegliche geistige Aktivität.
Das ermöglicht dem Geist, seine Ruhe und seine natürliche Klarheit wieder zu finden.
Normalerweise beginnt man den Tages damit, sich um alle möglichen Dinge zu kümmern.
Man hat den Eindruck, wach und klar zu sein, weil man Gegenstände und Gedanken klar
unterscheiden kann. Aber eigentlich hindert uns die ganze geistige Aktivität, die diesen
Objekten zugewandt ist, daran, das Wesentliche zu sehen.
Während des Sesshins konnte man nachts die Sterne ganz klar sehen. Am Tag sieht man sie
nicht, selbst wenn der Himmel klar ist. Das gleiche gilt für das Mondlicht. Man kann es nur in
der Dunkelheit wahrnehmen. Das veranlasste Meister Tosan zu sagen: „Mitternacht ist das
wahre Licht. Das Morgengrauen ist nicht klar.“
Das Licht des Tages entspricht unserem persönlichen Bewusstsein, unserem Mentalen, das
daran gewöhnt ist, Unterscheidungen zwischen verschiedenen Objekten zu treffen, zwischen
einem selbst als Subjekt und den Objekten der äußeren Welt. Auf einmal nimmt man nicht
mehr die Einheit wahr, den gemeinsamen Punkt, der uns mit dem gesamten Universum
verbindet. – Wenn man das intellektuell nachvollzieht, ist es so, als würde man sagen, dass die
Sterne und der Mond am Himmel existieren, selbst wenn man sie nicht sieht. – Um die Einheit
zu sehen, muss man das Licht seines eigenen Bewusstseins ausschalten.
Vorgestern stellte jemand eine Frage über das Bewusstsein und die Buddha-Natur. Solange
man sein persönliches Bewusstsein nutzt, kann man seine Buddha-Natur nicht sehen, weil das
persönliche Bewusstsein alles in Gegenstände des Denkens verwandelt. Aber die Buddha-
Natur, das Wesentliche unseres Lebens, ist kein Gegenstand des Denkens. Sie ist, was vor
allen Gedanken existiert und was von keinem Gedanken erfasst werden kann. Man kann mit
ihr nur vertraut werden ohne Gedanken, ohne Bewusstsein.
Aufgrund unserer gewöhnlichen Geistesaktivitäten kann dies nur selten spontan geschehen.
Daher sagt man, das man praktizieren muss. Wir müssen unser persönliches Bewusstsein dazu
nutzen, um darüber hinaus zu gehen. Das ist der heikelste Punkt in unserer Praxis. Ohne
Praxis gibt es kein Erwachen. Um zu praktizieren, bedarf es einer gewissen Anstrengung,
Willenskraft, schon allein um zur Konzentration auf Körperhaltung und auf Atmung
zurückzukehren.
So ist das einzige, was wir wirklich tun können, ist, uns auf diese Art zu konzentrieren und es
dann zu vergessen. Körper und Geist in Zazen eintauchen und schließlich Zazen ganz alleine
machen lassen. Das heißt ganz konkret, überhaupt nichts mehr tun. Jede Technik aufgeben.
Wenn der Gedanke, etwas tun zu wollen, erscheint, ihn vorbeiziehen lassen, sich nicht seiner
bemächtigen.
Was diese Praxis möglich macht, ist, dass die Buddha-Natur, zu der wir zu erwachen streben,
nicht von der Praxis erzeugt wird, nicht das Ergebnis der Praxis ist. Sie ist nicht das Ergebnis
eines Tuns, kein Produkt. Sie existiert vor jeder Handlung, jenseits jedes Gedankens.
So wie der Mond im Himmel nicht von der Oberfläche des Wassers abhängt, der ihn spiegelt.
Er spiegelt sich genauso auf der Oberfläche des Ozeans wie auf einem Tautropfen. Dies
geschieht augenblicklich. Es hängt nicht von der Dauer der Praxis ab. Es hängt auch nicht von
der Oberfläche des Wassers ab. – Das heißt, das Zazen eines Anfängers kann genauso Praxis
des Erwachens sein wie das Zazen von jemand, der schon sehr lange praktiziert. Wasser, eine
glatte Oberfläche, ist erforderlich, damit es eine Spiegelung gibt. Was den menschlichen Geist
betrifft, ist ein nicht-aufgeregter Geist erforderlich. Dafür ist es am besten, zur Einheit von
Körper und Geist zurückzukehren in Haltung und in Atmung.
3.10.2005, 11 Uhr
Während der drei Sesshin-Tage hat jeder von uns mit sich selbst vertrauter werden können.
Nicht nur mit seinen Gedanken, Wünschen und Illusionen, sondern, so hoffe ich, auch mit der
wahren Natur seiner Existenz.
Wenn man mit dieser wahren Natur seiner Existenz vertraut wird, kann man die gleiche
Erfahrung machen wie Buddha. Nicht nötig, Buddha außen zu suchen. Nicht nötig, von
Unterweisungen abzuhängen. Weil die Wahrheit bereits in jedem existiert, sind wir bereits die
Wirklichkeit, zu der Buddha erwacht ist.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann man sagen, dass einem nichts fehlt. Vom Gesichtspunkt
der Buddha-Natur aus sind alle Wesen Buddha-Natur. Das hängt nicht von ihrer Intelligenz,
ihrer Kultur oder der Dauer ihrer Praxis ab. In diesem Sinn kann man realisieren, dass uns im
Wesentlichen nichts fehlt.
Das bedeutet natürlich nicht, dass es in unserem Leben oder im Leben anderer keinen Mangel
gibt. Einigen fehlt Geld, andere haben nicht einmal genug zu essen, vielen fehlt Liebe,
manchen fehlt Gesundheit, anderen fehlt Zeit. Aber wenn man begreift, dass im Grunde nichts
Wesentliches fehlt, sind die kleinen Mängel des Alltags weniger wichtig. Vor allem versteht
man, dass man nicht dadurch glücklich wird, dass man diese kleinen Mängel ausgleicht.
Natürlich können wir unsere Gesundheit, unseren Komfort, unser Wohlbefinden verbessern.
Das alles sollte man nicht vernachlässigen. Aber wenn das Wesentliche nicht realisiert ist,
wird all das nicht ausreichen. Dann gibt es immer Unzufriedenheit. Diese Unzufriedenheit
schafft neue Wünsche, die uns weiter vom Wesentlichen entfernen.
Die ganze moderne Welt dreht sich darum. Dieser Prozess ist verantwortlich für Hungersnöte,
Kriege, für alles Unglück der Menschheit. Es ist das Ergebnis des Fehlens des Erwachens bei
jedem einzelnen, des fehlenden Erwachens zur Wirklichkeit unserer völligen wechselseitigen
Abhängigkeit mit allen Wesen, zum Leben jenseits aller Kategorien unseres kleinen Egos.
Ohne dieses Erwachen kann es keine wirkliche Solidarität und kein wirkliches Mitgefühl
geben. Denn ohne dieses Erwachen hat man immer den Eindruck, dass man selbst etwas
verliert, wenn man den anderen etwas gibt, dass, wenn die anderen mehr haben, man selbst
weniger hat. Vor allem versteht man nicht, dass wirkliches Glück nicht von Haben oder
Nicht-Haben abhängt.
Selbstverständlich muss man über die Mittel verfügen, um leben zu können, um nicht zu
verhungern, muss man die Mittel für eine gute Gesundheit haben, ein Dach über dem Kopf.
Das sind Grundbedürfnisse, auf die man nicht verzichten kann. Aber all diese Dinge sind
vorhanden, wenn man seinen Egoismus aufgeben und sie mit allen Wesen teilen kann.
Aber selbst wenn man zu diesem Leben jenseits der Grenzen unseres kleinen Egos erwacht,
sollte man nicht glauben, dass dieses Erwachen sofort ausreicht. Denn unser Erwachen hängt
immer von der Tiefe unserer Praxis ab. Es ist nicht so, dass man, weil man einen Blick auf die
Wirklichkeit geworfen hat, die Praxis in dem Glauben beenden kann, das sei genug. Sonst
läuft man Gefahr, wie der Mensch zu werden, der sich mitten auf dem Meer umsieht, einen
weiten Wasserkreis um sich herum sieht und sich nun vorstellt, dass das Meer nur ein weiter
Wasserkreis ist, wobei doch das Meer nicht nur ein Wasserkreis ist: Jenseits des Horizonts
gibt es alle möglichen Welten, Küsten, Landschaften, Inseln. Unter der Oberfläche befindet
sich eine andere wunderbare Welt, den Palast der Fische, aller Meerestiere. Jeder kann dieses
Meer auf seine Weise sehen: Für die einen ist es wegen des Fischfangs eine
Einkommensquelle, für andere ein Ort, um Wassersport zu betreiben, für wieder andere ein
wirtschaftlicher Transportweg.
Die Leerheit unseres Egos und die wechselseitige Abhängigkeit aller Wesen zu realisieren, ist
die Grundlage des Erwachens. Aber das reicht nicht. Wir müssen unsere Sichtweise vertiefen,
damit das Sehen der Leerheit unseres Egos es uns ermöglicht, unsere Identität mit allen
lebenden Wesen zu spüren, damit wir jede Trennung zwischen uns selbst und den anderen
aufgeben und eine wirkliche Sympathie für alle Wesen empfinden können. Ohne sie läuft man
Gefahr, ein trockener Weiser zu werden, vielleicht sogar ein Nihilist, der sich an eine
dogmatische Sicht der Leerheit klammert: ‚Alles ist leer, nichts hat Substanz. Warum sollte
ich irgendetwas tun?’
Um vom Sehen der wechselseitigen Abhängigkeit zu wirklich gelebter Solidarität zu
kommen, müssen wir unsere Praxis völlig vertiefen und die Hindernisse zu überwinden, die
mit unseren alten geistigen Gewohnheiten zusammenhängen. Das Erwachen kann unmittelbar
und plötzlich sein. Aber seine Realisation im Alltag, sein Ausdruck in allen Aspekten des
Lebens braucht Zeit. Das kommt nach und nach. Deshalb müssen wir mit der Praxis
fortfahren, ohne sie jemals in dem Glauben, verstanden zu haben, zu beenden. Das nennt man
die Praxis, die sogar über Buddha hinausgeht, die Praxis jenseits des Erwachens.
Ich wünsche jedem und jeder von uns, dies immer tiefer zu realisieren.