Schon während meiner Schul- und Studienzeit habe ich mich mit fernöstlicher Philosophie beschäftigt und Kampfkünste praktiziert. Zuerst Judo, dann Taekwondo. Dann fiel mir in der gut sortierten Buchhandlung am Bahnhof Zoo im West-Berlin der 1980er Jahre das Buch von Shunryu Suzuki in die Hand: „Zen Geist – Anfänger Geist“. Das hat die Weichen für mein restliches Leben gestellt.
Ich fand in Berlin ein Dojo in der Soto Zen-Tradition von Meister Deshimaru, einem Zeitgenossen von Suzuki, der von Japan nach Frankreich gegangen war, um dort zu lehren. Soweit ich mich erinnern kann, war die Einführung denkbar knapp: setze Dich hin, bewege Dich nicht, konzentriere Dich auf Deine Haltung und Deine Ausatmung. Fortan saß ich jeden Morgen vor den Vorlesungen mit zwei Punkies und einem glatzköpfigen älteren Mönch schweigend vor der Wand. Ich hatte die irrige Vorstellung, nicht denken zu dürfen. Das hat trotz aller Anstrengung aber nicht geklappt… Heute weiß ich, dass es so auch nicht funktioniert, denn unser „Affengeist“ ist immer in Aktion. Aber manchmal kamen die Gedanken doch zur Ruhe und ich hörte nur noch ab und zu ein leises „Klack“, „Klackklack“, wenn die Bälle auf den Tischen des unter dem Dojo gelegenen Billardsalons sanft zusammenstießen. Da ich zu dieser Zeit selbst Billard spielte, ein für mich vertrautes Geräusch. Und: Die Bälle laufen nach dem Prinzip „Ursache und Wirkung“, also Karma. Man kann am Lauf der Bälle sehen, wie der ursprüngliche Impuls gewesen war. Impulserhaltungssatz der Mechanik, also Studium. Energieerhaltungssatz: erster Hauptsatz der Thermodynamik (Energie geht in Summer nicht verloren, aber die Energiearten wandeln sich ineinander um). Mit diesen Themen im Zusammenhang mit der Zen-Meditationspraxis und der buddhistischen Lehre beschäftige ich mich bis heute.
Wenn man mit Zazen anfängt, ist die Praxis schwer und leicht zugleich. Sie ist schwer, weil Körper und Geist das Stillsein erst üben müssen. Die Erfahrung der inneren und äußeren Stille und Klarheit wirkt beängstigend und beflügelnd zugleich. Sie ist leicht, weil am Anfang viel Energie und Begeisterung für die Praxis da sind (der Anfängergeist im Sinne von Shunryu Suzuki). Am Anfang, also in den ersten Wochen, Monaten und Jahren passiert sehr viel: Die Körperhaltung verändert sich nicht nur beim Sitzen; sie wir aufrechter, schöner. Es entstehen aber auch merkwürdige körperliche und geistige Empfindungen (sogenannte Makyos), die harmlos sind und von alleine verschwinden, wenn man ihnen keine Bedeutung beimisst. Die meisten Menschen hören schon nach kurzer Zeit regelmäßiger Praxis von ganz alleine auf, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun, z.B. gleichzeitig zu frühstücken, Radio zu hören und Zeitung zu lesen bzw. am Handy zu spielen. Eine regelmäßige Zazenpraxis wirkt sich allmählich auch unbewusst positiv auf den Alltag und die Menschen in unserer Umgebung aus. Ich bin von meinen Freunden immer ermuntert worden, auf Sesshins (längere Meditationsperioden mit anderen gemeinsam) zu fahren, weil sie gesehen haben, dass es mir und damit auch ihnen gut tut.
Nach einigen Jahren wird die regelmäßige Praxis unspektakulärer. Man geht in’s Dojo oder fährt auf Sesshins, setzt sich mit den anderen hin, konzentriert sich auf Haltung und Atmung, harmonisiert sich mit den anderen, singt gemeinsam die Sutras. Es wird wie eine Art von nach Hause kommen. Aber eine stabile Praxis in der Gemeinschaft bereichert das Leben ungemein und hilft auch sehr, wenn größere Krisen das Leben erschüttern. Diese regelmäßige Alltagspraxis nennt der berühmte Zen-Meister Dogen „Gyoji“, die beständige Praxis, die sich nicht allein auf die sitzende Meditation beschränkt.
Für mich war sehr schnell klar, dass der Zen-Weg mein Weg ist. Deshalb habe ich auch mit Gleichgesinnten die Zen-Gruppe in Wuppertal gegründet und mich von meinem Lehrer Roland Yuno Rech, dem früheren Übersetzer von Meister Deshimaru, zum Bodhisattva und später zur Nonne ordinieren lassen.
Seit 1998 habe ich vielen (hunderten) Menschen unsere Zen-Praxis gezeigt und erklärt. Jede einzelne Person kam mit ihrer eigenen Motivation und Lebensgeschichte ins Dojo. Einige wenige sind sofort in Panik wieder geflüchtet, weil sie die Stille nicht ertragen haben. Andere störten sich an den für sie nicht zu akzeptierenden äußeren Formen. Andere zeigten sich zutiefst beeindruckt von dem, was sie gerade erlebt hatten. Wieder andere wollten die Erfahrung erst mal „sacken“ lassen. Manche waren so begeistert, dass sie am liebsten sofort in den Verein eingetreten wären. Von den unzähligen Menschen, die eine Einführung gemacht haben, sind nur ganz wenige wiedergekommen. Nur in einigen Fällen hatte ich Gelegenheit, die Hintergründe in Erfahrung zu bringen. Meistens waren es dann die aktuellen Lebensumstände, die ein Hindernis zu sein schienen (Beruf, Krankheit, Familie, Umzug usw.). Aber offensichtlich hat auch eine kurzzeitige Praxis bei einigen Menschen (wie bei mir) einen solch starken Eindruck hinterlassen, dass sie nach Jahren doch den Weg zurück in eine Zen-Gruppe gefunden haben. Dann ist der Samen, der mit einer Einführung gelegt wurde, aufgegangen.
In der Zen-Praxis kann man nichts erzwingen, so nach dem Motto: Erleuchtung in 10 Tagen“. Es ist sehr wichtig, absichtslos, d.h. ohne Ziel und Gewinnstreben, zu praktizieren („Mushotoku“). Dann werden die Verdienste von Zazen, wie Meister Deshimaru sagte, „unbewusst, natürlich und automatisch“ erscheinen.
Die Praxis hier im Zendo Wuppertal steht allen interessierten Menschen offen, unabhängig von religiösen oder politischen Überzeugungen, Herkunft oder sonstigen äußeren und inneren Merkmalen. Denn schweigend vor einer Wand zu sitzen, ist von diesen Eigenschaften unabhängig. Eine wichtige Voraussetzung ist allerdings eine ausreichende psychische Stabilität. Wer in dieser Hinsicht labil oder krank ist, sollte unbedingt vorher mit der verantwortlichen Person sprechen. Die Zen-Praxis ist keine Psychotherapie, kann eine solche aber unter Umständen wirkungsvoll ergänzen.
Und: Zazen kann man nicht aus Büchern lernen. Es funktioniert nur über die lebendige Weitergabe von Person zu Person.
Vera Thöne