In Harmonie mit unserer wahren Natur – 05.2019 – Grube Louise

Frühlingslager Grube Louise, 25. Mai – 2. Juni 2019

Samstag, 1. Zazen
Konzentriert euch im Zazen von Anfang an völlig auf eure Haltung. Lasst euch nicht
von den Gedanken ablenken. Richtet eure Aufmerksamkeit immer wieder auf eure
Körperhaltung. Die Knie liegen fest auf den Boden, das Körpergewicht drückt auf das
Zafu. Neigt das Becken gut nach vorne, entspannt den Bauch und streckt von der
Taille aus die Wirbelsäule und den Nacken, als wolltet ihr den Scheitelpunkt des
Kopfes in den Himmel drücken.
Zieht das Kinn zurück und lockert die Schultern. Die linke Hand liegt in der rechten
Hand, die Daumen sind waagerecht und die Handkanten sind in Berührung mit dem
Unterbauch. Dies ist das hokkai join-Mudra, das Siegel des samadhi des Dharma-
Ozeans. Samadhi ist die große Konzentration, wie die Oberfläche des Wassers, wenn
der Wind aufgehört hat zu wehen. In diesem Moment kann das Wasser den ganzen
Himmel reflektieren, und weil es völlig durchsichtig ist, kann man bis auf den Grund
sehen.
Im Zazen wird der Geist klar wie ein Spiegel. Wir können sehen, wie sich alle Aspekte
unseres Lebens reflektieren. Mit anderen Worten, wir können uns selbst tief
kennenlernen, insbesondere wenn unsere bonno erscheinen, unsere Gier, unser
ständiger Wunsch, etwas erhalten zu wollen. Der Sinn unseres Lebens besteht oft
darin, unsere Wünsche zu erfüllen. Und wenn wir keinen Wunsch mehr haben, sind
wir deprimiert.
Im Zazen lernen wir, uns von dieser Gier zu befreien. Wir lernen, zufrieden damit zu
sein, einfach zu sitzen, so wie wir sind, mit unseren bonno, unseren Illusionen, unseren
Wünschen. Zazen beseitigt sie nicht, ermöglicht uns jedoch, uns von ihnen zu befreien,
indem wir ihnen nicht mehr folgen und nicht mehr von ihnen konditioniert werden.
Selbst wenn ich den Wunsch habe, Satori zu erlangen, wird er nicht zur Besessenheit.
Er ist nur ein Gedanke unter anderen, wie eine Wolke am Himmel, die ich vorbeiziehen
lasse und die den Himmel nicht stört. Der Himmel ist immer viel größer als alles, was
er umfasst.
Zazen praktizieren heißt, den weiten Geist zu verwirklichen. Wenn wir uns auf die
Körperhaltung konzentrieren, können wir von Augenblick zu Augenblick jeden
gedanklichen Inhalt loslassen. Anstatt den Gedanken zu folgen, folgen wir der Atmung.
Die Atmung findet stets hier und jetzt statt, während unsere Gedanken uns immer
irgendwo anders hinziehen, in die Zukunft oder in die Vergangenheit.
Psychische Krankheiten sind immer mit einer Anhaftung an etwas Vergangenem
verbunden, das schlecht gelaufen ist. Selbst wenn wir die Vergangenheit nicht ändern
können, können wir aufhören, uns mit ihr zu beschäftigen, und uns von ihr befreien,
indem wir unsere ganze Energie und Aufmerksamkeit auf unser wahres Leben im Hier
und Jetzt richten.
Der Sinn unserer Praxis ist es, hier und jetzt zu diesem Leben zu erwachen, besonders
auf einem Sesshin, denn die Konzentration auf das Hier und Jetzt findet nicht nur
während Zazen statt, sondern auch während der Zeremonien, wenn wir die Sutras
rezitieren und uns in sanpai niederwerfen, während wir spazieren gehen, Gen Mai
essen, Samu machen, uns ausruhen und sogar, wenn wir auf die Toilette gehen oder
uns hinlegen. Jede Handlung unseres täglichen Lebens kann wie eine Meditation
gelebt werden, das heißt mit einer völligen Präsenz im Hier und Jetzt, in einem gänzlich
unbegrenzten Leben, das nicht mehr von unserem Ego begrenzt wird, sondern völlig
offen für das ist, was immer offen bleibt.
Folgt also hier und jetzt einfach eurer Atmung und beschäftigt euch nicht mit euren
Gedanken. Denkt vor allem daran, bis zum Ende jeder Ausatmung zu gehen, damit ihr
tief einatmen könnt. Am Ende der Ausatmung kann man all seine Gedanken loslassen.
Der Geist wird wieder frisch und neu, aufnahmebereit für das Leben, wie es ist, jenseits
aller geistigen Kategorien, für das erwachte Leben in Harmonie mit dem Dharma, der
kosmischen Ordnung, mit unserer wahren Natur.

Samstag, 2. Zazen
Während Zazen begnügen wir uns damit, einfach nur zu sitzen. Wir suchen nichts, und
wir wehren nichts ab. Da wir alle auftauchenden Phänomene mit Gleichmut
empfangen, ist es uns möglich, den Frieden des Geistes wiederzufinden. Im täglichen
Leben müssen wir ständig wählen und unterscheiden. Diese Entscheidungen und
Ablehnungen werden von unserem vom Karma konditionierten Ego getroffen, wodurch
wir in einer begrenzten Welt leben. Die Zazen-Praxis fördert die Entwicklung eines
aufgeschlossenen und wohlwollenden Geistes.
Im Zazen verwirklichen wir den hishiryo-Bewusstseinszustand, das Bewusstsein
jenseits des unterscheidenden Geistes. Auf dem Sesshin setzt sich dieser
Bewusstseinszustand im täglichen Leben fort. Auch wenn wir die Unterschiede nicht
ignorieren, beurteilen wir sie nicht, weil wir erkennen, dass alle Dinge konditioniert
sind. Nichts ist an sich völlig gut oder schlecht, sondern einfach das Ergebnis einer
Verkettung von Ursache und Wirkung. Folglich können wir dazu beitragen, diese
Verkettung mit Hilfe eines mitfühlenden und wohlwollenden Geistes umzuwandeln.
Unser Geist wird nicht mehr von unseren Vorlieben oder Abneigungen begrenzt. Wir
haben weiterhin Gefühle, aber wir sind ihnen gegenüber frei. Das bedeutet, dass sie
nicht mehr unsere Handlungen bestimmen. Sie werden wie ein Koan, das darauf
hinweist, was in unserer Beziehung mit der Umgebung vor sich geht. Um nicht von den
Gefühlen konditioniert zu werden, brauchen wir eine tiefe Stabilität in Körper und Geist.
Diese Stabilität können wir im Zazen entwickeln. Während Zazen bilden Körper und
Geist eine Einheit, und unsere Energie konzentriert sich im Hara, unterhalb des
Nabels. Im Allgemeinen leben wir zu sehr im Kopf und sind in unseren Gedanken
gefangen. Dann wird der Bereich des Haras schwach, was zu einer Instabilität des
Geistes führt. Man wird emotional verletzlich.
Dank der Konzentration auf die Haltung und die Atmung, vor allem auf die Ausatmung,
können wir im Zazen wieder eine gute Stabilität erreichen. Die Zazen-Haltung ist wie
ein Berg, der jedes Wetter empfängt, die Sonne, den Regen, den Schnee, ohne sich
zu bewegen. Im Zazen sehen wir klar, wie sich Gedanken, Empfindungen und Gefühle
manifestieren, ohne ihnen anzuhaften. Wir sehen deutlich, worum es geht, und lassen
alles vorbeiziehen. Dadurch können wir Gleichmut entwickeln, die große Freiheit des
Geistes, die große innere Freiheit. Dies ist die beste Abhilfe gegen Stress.
Im Zazen können wir zutiefst realisieren, dass uns nichts wirklich gehört. Gleichzeitig
erkennen wir, dass wir nicht viel besitzen müssen, um vollkommen glücklich zu sein,
wie es Meister Ryokan seinen Schülern empfahl. Wir leben in der Welt des Habens.
Wir wollen immer mehr und haben Angst vor Verlust. Zazen befreit uns von diesem
Verlangen und dieser Angst, weil wir in einer Qualität des Seins verwurzelt sind,
jenseits von haben oder nicht haben.

Sonntag, 1. Zazen
Verlieren wir nicht die kostbare Zeit dieses Zazen, das es uns ermöglicht, zu erwachen.
Erwachen wozu? Zur Unbeständigkeit unseres Körpers.
Zu Beginn von Zazen ist der Körper entspannt, aber manchmal treten nach einer Weile
Schmerzen auf, oder er wird müde. Auch unsere Empfindungen verändern sich
unablässig, genauso wie unsere Wahrnehmungen. Manchmal ist es still, manchmal
hören wir die Stimme des Godos, manchmal die Geräusche der Natur. Unser
Bewusstsein, in dem sich alle Phänomene reflektieren, ist somit auch unbeständig.
Mit anderen Worten, alles, was unser Ego ausmacht, ist unbeständig. Doch im
Allgemeinen möchten wir das nicht sehen, denn wir hängen an der Beständigkeit.
Dabei ist das Erwachen zur Unbeständigkeit befreiend, gerade weil sie, wenn man sie
nicht akzeptiert, Ursache von Leiden ist.
Alles, was erscheint, wird früher oder später wieder verschwinden. Alles, was geboren
wird, wird letztendlich früher oder später sterben. Dies können wir um uns herum
deutlich wahrnehmen, mögen es allerdings bei uns selbst nicht sehen. Dennoch ist es
die Wirklichkeit. Es ist die Wirklichkeit, die unsere Illusion stört und die uns gleichzeitig
dazu antreibt, zu erwachen, zu erwachen aus unseren illusorischen Träumen, aus der
Illusion zu glauben, dass unser Leben und all unsere Besitztümer beständig sind.
Beständigkeit ist nicht die Wirklichkeit, selbst wenn wir versuchen, uns abzusichern.
Auch wenn wir uns gut um unsere Gesundheit kümmern, der Unbeständigkeit können
wir nicht entgehen. Davon ausgenommen ist das Hier und Jetzt, denn das Hier und
Jetzt ist völlig jenseits von Vergangenheit und Zukunft, jenseits unseres Bedauerns
über Vergangenes und jenseits unserer Ängste vor der Zukunft.
Wir haben keinen Körper, wir sind dieser Körper. Aber wir besitzen ihn nicht, denn er
gehört der kosmischen Ordnung. Er gehört der Sonne, die ihm Energie liefert. Er
gehört der Luft, die es ihm ermöglicht zu atmen. Er gehört dem Wasser und der
Nahrung, die es ihm ermöglichen, sich zu ernähren und weiterzuleben, nicht für ewig
aber lang genug, um Zeit zum Erwachen zu finden.
Lasst uns also diese kostbare Zeit nicht vergeuden. Lasst uns hier und jetzt erwachen
zu unserer völligen wechselseitigen Abhängigkeit mit allen anderen Existenzen. Seien
wir solidarisch mit all diesen Existenzen, indem wir in allen Handlungen unseres
täglichen Lebens einen mitfühlenden und wohlwollenden Geist entwickeln.
Der Weg ist keine Erfahrung außerhalb des täglichen Lebens. Er ist eine Erfahrung,
die in jedem Moment gelebt werden muss.

Sonntag, 2. Zazen
Bleibt gut auf eure Körperhaltung konzentriert und lasst vor allem nicht den Kopf nach
vorne fallen. Schlaft nicht. Wenn ihr dazu neigt, einzuschlafen, konzentriert euch auf
die Einatmung und beobachtet aufmerksam das Auftauchen der Gedanken.
Beobachtet den Moment, in dem ein Gedanke erscheint, das heißt, das Hier und Jetzt.
Was erscheint? Es ist wie eine Welle, die sich auf der Oberfläche des Ozeans aufbaut.
Sie hat eine besondere Form, ist aber nicht vom Ozean getrennt. Dies zu beobachten
heißt, die wahre Natur aller Dinge zu beobachten, die Natur ohne Trennung. Jede
Existenz ist eine besondere Form der kosmischen Ordnung. Unsere eigene Existenz
ist eine bestimmte Form, die der Kosmos angenommen hat. Sie ist nie von ihm
getrennt, sie unterscheidet sich im Grunde nie von ihm.
Die Zazen-Praxis ermöglicht es uns, dies zu erkennen, die wahre Natur aller
Existenzen zu erkennen, indem wir tief in uns selbst hineinschauen. Wir sind ein
Mikrokosmos. Wenn wir die wahre Natur unserer Existenz erkennen, erkennen wir
gleichzeitig die wahre Natur aller Existenzen. Im Grunde unterscheiden wir uns nicht
von ihnen und sind nicht von ihnen getrennt. Um dies zu realisieren, brauchen wir
nichts ergreifen oder abweisen. Einfach mit uns selbst vertraut werden.
Dann können wir aufhören, in der Existenz herumzuirren. Wir sind überall zu Hause
und können uns mit allen Existenzen befreunden, weil wir alle die gleiche Natur teilen,
die Buddha-Natur, die Tatsache, dass wir nur gemeinsam existieren und nie wirklich
voneinander getrennt sind. Das drücken wir aus, wenn wir uns im gassho verbeugen,
in Einheit mit uns selbst und mit der Person, vor der wir uns verbeugen.
Wenn wir unsere Einheit mit allen Wesen verwirklichen, haben wir nicht mehr das
Bedürfnis, einen Mangel zu beheben, indem wir unsere Wünsche vermehren. Wir
können zutiefst zufrieden sein und in Harmonie mit unserer wahren Natur leben. Dies
hängt nicht davon ab, ob jemand intelligent ist oder nicht, ob er viel weiß oder nicht.
Wenn wir im Zazen unseren Blick nach innen richten, ist es Buddha, der Buddha
ansieht.

Montag, 1. Zazen
Um auf diesem Sesshin den Weg praktizieren zu können, hat jeder große
Anstrengungen unternommen. Jeder hat seine Gewohnheiten hinter sich gelassen,
seine Freunde, seine Familie verlassen, um sich der Sangha anzuschließen und
gemeinsam zu praktizieren. Jeden Morgen muss man sich die Mühe machen, um
aufzustehen, ins Dojo zu gehen und die richtige Haltung einzunehmen, das heißt seine
Energie in die richtige Richtung lenken.
Die erste Art der richtigen Anstrengung ist, sich zu bemühen, die Ursachen des
Leidens gar nicht erst aufkommen und keine ungesunden, negativen Geisteszustände
entstehen zu lassen. Das setzt natürlich voraus, dass wir auf unsere Geisteszustände
achten, dass wir sehen, wie unsere Gedanken und Gefühle entstehen. Dann erst sind
wir in der Lage, den Lauf einiger negativer Gedanken oder Gefühle, die Leiden
erzeugen, rasch zu beenden.
Bei der zweiten Art der richtigen Anstrengung geht es darum, sich zu bemühen, die
Leidensursachen zu unterbinden, wenn sie bereits aufgetreten sind. Dabei befreit man
sich von diesen schädlichen Geisteszuständen, indem man sich auf die richtige
Haltung konzentriert. Wer zum Beispiel zu gewissen Abhängigkeiten neigt,
konzentriert sich darauf, diese schnell zu überwinden, indem er die entgegengesetzte
Geisteshaltung einnimmt. Wer zum Beispiel süchtig nach Tabak ist und Zigaretten
raucht, kann anfangen, Sport zu betreiben, zum Beispiel Schwimmen. Das kann ihm
helfen, die schlechte Angewohnheit des Rauchens loszuwerden und lässt ihn die
schädlichen Auswirkungen spüren.
Bei der dritten Art der richtigen Anstrengung bemüht man sich, das Gute zu entwickeln
und gesunde Geisteszustände, die noch nicht existieren, hervorzurufen. Zum Beispiel
lässt man den Geist des Erwachens, bodaishin, entstehen oder einen Geist, der sich
um den Umweltschutz sorgt, auch wenn man sich dafür bisher nicht interessiert hat.
Es bereitet große Freude, bodaishin und den Weg mit den anderen und zum Wohl
anderer zu praktizieren. Diese Freude stärkt unsere Energie, um die gyoji-Praxis
fortzusetzen. Dann müssen wir uns weniger anstrengen, weil der Geist des Erwachens
in uns wirkt und unsere Praxis belebt.
Die vierte Art der richtigen Anstrengung besteht darin, günstige Geisteszustände zu
entwickeln. Sie sind bereits präsent, hier zum Beispiel haben alle bestimmt bereits
bodaishin. Aber wie können wir bodaishin fördern, damit er für einen selbst wie für
andere bessere Wirkungen erzielt? Im Grunde ist unsere Existenz eine bestimmte
Form, die die grundlegende kosmische Energie eingenommen hat. Wie können wir
also diese Energie nutzen? Wie können wir unser Leben so gestalten, dass wir das
Gute entwickeln?
Alles, was dazu beiträgt, dass wir hier und jetzt existieren, wurde uns von der
kosmischen Ordnung geschenkt. Wie können wir der kosmischen Ordnung gegenüber
unsere Dankbarkeit ausdrücken? Indem wir den Weg mit den anderen und für die
anderen praktizieren. Dies gibt unserer Existenz einen tiefen Sinn. Dann freuen wir
uns, jeden Morgen aufzuwachen, um den Weg gemeinsam zu praktizieren. Unsere
Energie fließt ganz natürlich in die gute Praxis, die dadurch viel leichter wird und über
jede Anstrengung hinausgeht.

Montag, 2. Zazen
Wenn unsere Zazen-Praxis richtig ist, ist sie augenblicklich Verwirklichung des
Erwachens, des Erwachens zur tiefen Wirklichkeit unseres Lebens. Um es zu
verwirklichen, müssen wir in einem Zustand großer Konzentration sein und dürfen uns
nicht von Gedanken ablenken lassen. Wir müssen damit aufhören, Gedanken zu
folgen, und bleiben daher ständig auf die Körperhaltung konzentriert, die weder zu
angespannt noch zu entspannt ist.
Unsere Aufmerksamkeit richten wir immer wieder auf unsere Atmung. Sie ermöglicht
es uns, alles loszulassen, was unseren Geist überfüllt. Wir können über unsere
geistigen Konstrukte hinausgehen und zum Hier und Jetzt unseres wahren Lebens
zurückkehren, anstatt in einer virtuellen Welt zu leben. Dafür müssen wir weiterhin mit
viel Energie praktizieren.
Während der Praxis kommen wir immer wieder auf die Haltung und die Atmung zurück,
um zu vermeiden, in Zustände wie sanran oder kontin zu geraten, die uns
beeinträchtigen. Es geht darum, nicht der Bequemlichkeit nachzugeben oder sich nicht
von seinen Gedanken davontragen zu lassen, sondern in jedem Augenblick immer
wieder zum Körper und zur Atmung zurückzukehren. Dann erfüllt uns diese Praxis mit
frischer Energie und ermöglicht es uns, weiterzumachen, ohne müde zu werden,
präsent für jeden Augenblick zu sein, so wie er ist, und alles loszulassen, was uns
ablenkt. So lernen wir, die Hand des Geistes zu öffnen und loszulassen.
Da wir die Gedanken erscheinen lassen, ohne ihnen anzuhaften, kehren sie ganz
natürlich zu ihrem Ursprung zurück, zu ku, der Leerheit. Wir müssen deutlich
erkennen, dass die Phänomene, die während Zazen auftauchen, im Grunde ohne
Substanz und unfassbar sind. Anstatt zu versuchen, die auftauchenden Gedanken zu
verdrängen, können wir uns fragen: „Was ist das?“ „Was ist das eigentlich wirklich?“
Dann erkennen wir, dass die Gedanken ohne Substanz sind. Sie sind nicht etwas,
nichts Festes, Fassbares, Begrenztes; sie sind eine Manifestierung der
wechselseitigen Abhängigkeit aller Phänomene.
Auch wenn wir die große Konzentration erreichen, so ist auch sie unbeständig. Vor
allem, wenn wir versuchen, sie festzuhalten, verschwindet sie augenblicklich.
Konzentrieren wir uns daher weiter, ohne die Konzentration festhalten zu wollen. Dann
ist unsere Praxis wirklich frei und befreit uns.

Dienstag, 1. Zazen
Gegen Ende des Sesshins werden sich einige Praktizierende ordinieren lassen, das
heißt sie nehmen Zuflucht zu den drei Schätzen Buddha, Dharma und Sangha. Im
Sutra der 108 Dharma-Tore heißt es, dass das Vertrauen in die drei Schätze uns davon
abhält, an nicht-buddhistische Lehren zu glauben oder sie zu praktizieren. Natürlich
kann dies für Menschen mit christlichem, muslimischem oder jüdischem Glauben ein
Problem darstellen. Aber man muss verstehen, dass die nicht-buddhistischen Lehren,
von denen das Sutra spricht, nicht die drei großen monotheistischen Religionen, die
abrahamitischen Religionen, sind. Es handelt sich dabei um Kulte lokaler Gottheiten.
Dogen sagte, dass viele Menschen aus Angst Zuflucht zu Berg- oder Waldgottheiten
nehmen, zu Baum- oder Gartengottheiten oder anderen nicht-buddhistischen
Heiligtümern, insbesondere in Japan zu Shinto-Gottheiten. Dogen fügte hinzu:
„Zuflucht zu derartigen Gottheiten zu nehmen ist wertlos, denn es ist unmöglich, sich
so vom Leiden zu befreien.“ Hier spricht Dogen von dukkha.
Diejenigen jedoch, die Zuflucht zu den drei Schätzen Buddha, Dharma und Sangha
nehmen, sind in der Lage, ihre Weisheit zu benutzen, um die Vier Edlen Wahrheiten
zu sehen. Sie verstehen, dass jede Existenz dem Leiden unterworfen ist, dieses
Leiden jedoch eine Ursache hat, nämlich unsere Illusionen, unsere Anhaftungen,
unsere illusorischen Wünsche, mit anderen Worten, unsere bonno. Das Nirvana ist
hingegen der Bereich, der frei von allen Leiden ist. Die Praxis des Achtfachen Pfades
ermöglicht es, dieses Nirvana, das heißt die Auslöschung der Leidensursachen, zu
verwirklichen.
Dogen sagte abschließend: „Es gibt es nichts Wertvolleres, als Zuflucht zu den drei
Schätzen zu nehmen, denn daraus ergibt sich unweigerlich die Befreiung vom Leiden.“
Zu diesem Thema sagte der Buddha: „Auch wenn ihr nicht an zukünftige
Wiedergeburten glaubt, könnt ihr das Nirvana hier und jetzt verwirklichen, wenn ihr
meiner Unterweisung folgt.“ Dasselbe sagte Christus. Er begnügte sich nicht damit,
den Gläubigen das Himmelreich, das Paradies nach dem Tod, zu versprechen. „Wer
auf Gott vertraut, kann hier und jetzt das Himmelreich, das in seinem Herzen ist,
verwirklichen.“
Das Himmelreich und das Nirvana sind im Grunde dasselbe. Es bedeutet, in Einklang
mit seiner wahren Natur zu leben, mit seiner Buddha-Natur, seiner göttlichen Natur.
Wer Vertrauen in diese Natur hat, wer in Harmonie mit ihr praktiziert und lebt, kann
hier und jetzt das Nirvana und das Himmelreich verwirklichen.
Vor allem geht es dabei darum, die drei Gifte loszulassen, insbesondere die
Unwissenheit. Es handelt sich um die Unwissenheit über unsere wahre Natur, der
Buddha-Natur, über das wahre Himmelreich in unserem Herzen. Aufgrund dieser
Unwissenheit empfinden wir Unzufriedenheit. Wir laufen allen möglichen Objekten
hinterher, um unsere illusorischen Wünsche zu erfüllen. Wir schaffen alle Arten von
Verschmutzung und Leidensursachen in der Welt und in uns selbst, zumal wir alles
hassen, was unsere Gier stört. Insbesondere stören die guten Lehren von Christus
und Buddha, die Lehren davon, unserer Egozentrik loszulassen, die diese Gier
verursacht und den Hass auf alles, was unsere Gier stört.
Alles Leid der Welt ist auf diese drei Gifte zurückzuführen. Wenn wir uns ökologisch
so verhalten wollen, dass das Leben auf diesem Planeten Erde erhalten bleibt, müssen
wir diese drei Gifte unbedingt schnell aufgeben, indem wir den Weg des Buddha, den
Weg Christi praktizieren, den Weg der Weisheit und des Mitgefühls, den Weg der Liebe
für alle Wesen. Wir geloben, sie zu schützen und ihnen zu helfen, sich von ihren Leiden
zu befreien.

Dienstag, Mondo
Frage 1: Ich kenne aus dem Bereich der Körper-Psychotherapie verschiedene
Atem-Meditationen. Da wird sehr schnell, sehr tief und ohne Pause geatmet.
Roland Yuno Rech: Das sollte man nicht tun. Es handelt sich dabei um
Hyperventilation, was einen speziellen Zustand erzeugt.
F. 1: Nicht Hyperventilation. Bei mir wirkt das so, dass ich klarer werde, viel
Energie habe, sehr präsent bin, und es wird leichter, Muster und Konditionierungen zu
erkennen und langsam loszulassen, was aus der buddhistischen Sichtweise heraus
wünschenswert ist. Beim Zazen erlebe ich das Gegenteil. Je stiller es in mir wird, desto
weniger wird die Atmung. Sie verschwindet fast.
R.Y.R.: Man darf nicht übertreiben, weder in die eine noch in die andere
Richtung. Die sehr dynamische Atmung, die du anfangs beschrieben hast, kann gut
sein, um wach zu werden, wenn man ein wenig müde ist. Sie versorgt das Gehirn mit
Sauerstoff. Das empfehle ich zum Beispiel nachmittags, wenn ihr im kontin seid. Dann
ist es gut, mehrmals tief einzuatmen, um wieder wach zu werden. Man darf es jedoch
nicht übertreiben, um nicht zu hyperventilieren. Die Hyperventilation ist eigentlich eine
Stickstoffvergiftung, die ein Schwindelgefühl auslöst. Man kann die Methode ein paar
Minuten lang anwenden, wenn man müde ist, aber nicht während der ganzen Zazen-
Dauer.
Der andere Aspekt ist der Versuch, die Atmung zu verlangsamen. Das sollte man nicht
versuchen, es ist keine Zazen-Anweisung. Buddhas Unterweisung ist, die Atmung zu
beobachten und nicht zu versuchen, sie zu verändern. Im Sitzen atmet man am besten
ganz natürlich, so wie es kommt. Allerdings sollte man darauf achten, was mit der
Atmung passiert. Wenn man tief einatmet, ist man sich seiner tiefen Einatmung
bewusst. Wenn man oberflächlich einatmet, ist man sich seiner oberflächlichen
Einatmung bewusst. Wenn man schnell atmet, ist man sich seiner schnellen Atmung
bewusst. Das Gleiche gilt für eine langsame Atmung. Dies ist die grundlegende
Unterweisung des Buddha im Anapanasati, der Lehrrede über die Achtsamkeit auf die
Atmung. Diese Beobachtung ist grundlegend für die Meditation.
Im Zen empfahl Meister Deshimaru ebenfalls, die Atmung zu beobachten, aber er
betonte, vollständig bis zum Ende auszuatmen. Im Alltag neigt man oft dazu, sehr
eingeschränkt zu atmen, vielleicht aufgrund von Stress. Normalerweise können die
Lungen fünf Liter Luft enthalten. Wenn man im Alltag atmet, nimmt man bei jeder
Einatmung einen halben bis maximal einen Liter auf. Das ist wenig. Im Zen ist es daher
gut, der Atmung mehr Raum zu geben. Dazu müssen wir Platz schaffen und die
Lungen leeren. Meister Deshimaru sagte: „Manche Menschen sind wie jemand, der
ins Wasser fällt und nicht schwimmen kann und daher Angst hat, unterzugehen.“ Sie
schnappen nach Luft und trauen sich nicht, sie wieder rauszulassen. Damit vergiften
sie sich und werden müde. Zuviel Kohlendioxid bleibt in der Lunge. Daher empfahl
Meister Deshimaru, zum Beispiel am Anfang von Zazen, mehrmals vollständig
auszuatmen und vollständig einzuatmen. Er empfahl es als Übung und nicht für die
gesamte Zazen-Dauer.
Man kann während Zazen seinen Geist durch die Atmung kontrollieren. Wenn jemand,
der sehr aufgeregt und zu sehr von Gedanken oder Emotionen eingenommen ist, sich
auf die Ausatmung konzentriert, leitet er seine Energie in das Hara. Bei jemanden, der
zu viel denkt, ist die Energie im Vorderhirn. Bei jemanden mit zu viel Emotionen ist die
Energie im Sonnengeflecht. Selten denkt man daran, die Energie ins Hara zu leiten,
obwohl es das grundlegende Energiezentrum ist, um Körper und Geist zu stabilisieren.
Menschen, die Kampfkünste praktizieren, wissen das. Sie konzentrieren ihre Energie
in die Ausatmung und in das Hara. Am besten ist es, natürlich zu atmen, aber seine
Atmung zu beobachten.
Frage 2: In welchem Zustand befindet sich die Erde, wenn sie in völliger Harmonie
mit der kosmischen Ordnung ist?
R.Y.R.: Wenn sie so ist, wie sie ist, mit so wenig menschlichem Eingreifen wie
möglich, ganz natürlich, so wie sie ist. Der Zustand der Erde war nicht immer gleich.
Es gab Eiszeiten, es gab Zeiten, in denen es sehr heiß war. Vor ich weiß nicht wie viel
Tausenden von Jahren gab es Löwen in Frankreich. Da waren die Temperaturen fast
tropisch. Das Klima hat sich im Laufe der Zeit verändert. Wissenschaftler studieren die
klimatische Entwicklung auf der Erde, indem sie die Eisschichten von Eisbergen
analysieren. Sie schwankt, aber es sind langfristige Schwankungen. Das Problem ist,
dass es seit gut einem Jahrhundert, seit Anfang des 20. Jahrhunderts, mit der
Entwicklung der Industrie durch menschliche Technologien riesige Auswirkungen auf
die Luft, das Klima, die Umwelt gab. Zu viele Auswirkungen. Das bedeutet, dass das
natürliche Gleichgewicht, das sich früher langsam wandelte, sich heute schnell
verändert. Es ist zu befürchten, dass die Erde nicht die Zeit hat, um dieses
Gleichgewicht wiederherzustellen.
Die Menschen sollten darauf achten, die Lebensbedingungen auf der Erde nicht zu
sehr zu stören. Wie ihr wisst, ist das ein großes Problem. Wir müssen versuchen, so
umweltbewusst wie möglich zu leben, indem wir möglichst wenig fossile Energien
verbrauchen, weniger das Auto und das Flugzeug nutzen, weniger thermische
Energien und stattdessen eher erneuerbare Energien nutzen. All das ist bekannt, man
muss es nur umsetzen. Das Problem ist, dass die Menschen diese Veränderung nicht
direkt spüren. Man hört davon, ist aber nicht direkt konfrontiert. Wir leiden noch nicht
darunter und sind daher nicht genug motiviert, um darauf zu achten und
dementsprechend zu handeln.
Ich denke, dass diejenigen, die Zen praktizieren, normalerweise eine größere
Achtsamkeit und Klarheit entwickeln, einen Sinn für die wechselseitige Abhängigkeit
und folglich für die Verantwortung in der Wechselbeziehung mit der Natur. Menschen
wie wir sollten besonders achtsam sein und anderen Menschen helfen, bewusster zu
werden. Wir sollten Bewusstsein wecken und sozusagen unsere Rolle als Erzieher
einnehmen. Ich glaube, der Schlüssel dazu ist die Natur. Was man liebt, beschützt
man. Man muss den anderen die Freude an der Natur vermitteln und den Wunsch
wecken, in der Natur zu sein, sie zu lieben und zu respektieren. Wird Umweltschutz
nur mit Regeln und Verboten durchgesetzt, wird er unbeliebt. Dann sind die Menschen
dem Thema überdrüssig und wollen nichts mehr davon hören. Man muss geeignete
Mittel finden, um die Menschen dazu zu bringen, sich umweltbewusst zu verhalten.
Ein geeignetes Mittel ist, die Liebe zur Natur zu vermitteln, die Natur, die Erde zu
beschützen wie einen Verwandten, wie eine Mutter ihr Kind beschützt.
Frage 3: Ich habe letztens in einem Kusen über das ojukai gelesen, dass es
möglich sei, seine Gelübde mehrmals neu abzulegen, weil man jedes Mal Verdienste
für zukünftige Leben erlangt.
R.Y.R.: Der Meinung bin ich nicht. Zwar denke ich, dass man seine Gelübde
mehrmals erneuern kann, aber nicht um Verdienste für zukünftige Leben anzuhäufen.
Das ist keinesfalls mushotoku, eher das Gegenteil der Zen-Unterweisung, jedenfalls
der Unterweisung von Meister Deshimaru. Im japanischen Zen wird der Begriff
„Verdienste“ oft benutzt, weil man sich an Menschen richtet, die kein Zazen
praktizieren und sich in der Religion nur für Verdienste interessieren. Mushotoku
verstehen sie nicht. Wenn sich japanische Mönche an die Bevölkerung wenden,
sprechen sie nie von mushotoku. Das ist auch der Grund, weshalb Meister Deshimaru
nach Europa kam, weil er fand, dass japanisches Zen dekadent war, und die
Bedeutung der Buddha-Lehre, der Lehre von Dogen verloren ging. In Europa wollte er
das reine Zen lehren, und hier hat er Schüler mit einem Geist gefunden, der viel
aufnahmebereiter für die tiefe Bedeutung der Buddha-Lehre, der Befreiung, war. Und
selbst wenn manche meinten, mushotoku wäre schwierig, stimmten sie damit überein,
dass man sich in diese Richtung entwickeln sollte.
Das geht auch in die Richtung, die Natur zu beschützen. Letztendlich ist es das
Profitdenken, die Gier nach Geld, die zur Priorität über alles andere wird. In der
Beziehung zur Natur wird die Natur nicht wie ein liebens- und schützenswertes Wesen
wahrgenommen, sondern als Ressource, die ausgebeutet werden kann. Ich denke
daher, dass Zen eine wichtige Rolle spielt, um diese Mentalität zu verändern und
Bewusstsein zu schaffen.
Um das Jahr 2000 herum hat mich das Thema Umweltschutz sehr betroffen und
beschäftigt, aber dann habe ich es einige Jahre lang völlig vergessen. Erst vor kurzem
ist es mir wieder bewusst geworden, und ich dachte: „Das gibt’s doch gar nicht! Das
ist viel zu wichtig, um es zu vergessen.“ Jetzt konzentriere ich mich wieder auf dieses
Thema und sehe die Dringlichkeit für diesen Planeten. Wenn wir über unsere
Beziehung zur Umwelt betroffen sind, bedeutet dies, dass wir unsere Zen-Praxis
vertiefen müssen. Zen im täglichen Leben bedeutet, auf alles zu achten, was wir tun
und wie wir es tun. Wie kaufen wir ein? Was kaufen wir? Schauen wir auf die
Produktetiketten oder kaufen wir nach Lust und Laune ein, ohne uns darum zu
kümmern, ob das Produkt vom anderen Ende der Welt kommt?
Ich werde jetzt keine große Rede über Umweltschutz halten, aber ich möchte deine
Frage nutzen, um zu sagen, dass dieses Thema für mich höchst aktuell und wichtig
ist. Es ist auch sehr anregend, um im Alltag zu praktizieren, die großen,
philosophischen Betrachtungen zu beenden und sich auf das konkrete Leben zu
konzentrieren.
Frage 4: Meine Knie sind kaputt. Beim letzten Sesshin im Januar durfte ich mit
meinem Stuhl im Dojo zusammen mit den anderen sitzen, was mir ein gutes Gefühl
gab. Jetzt sitze ich außerhalb des Dojos, was emotional erst schwierig war, aber für
mein Ego war es gut. Weil mein Ego zu groß ist, ist es eine gute Übung. Meine Frage
ist, warum wird es einmal so und einmal so gehandhabt?
R.Y.R.: Dafür gibt es keinen bestimmten Grund. Der Grund, weshalb man die
Menschen, die auf einem Stuhl sitzen, bittet, sich vor das Dojo zu setzen, ist die
Harmonie im Dojo. Wenn die einen auf dem Kissen sitzen und dazwischen jemand auf
dem Stuhl herausragt, ist es auf energetischer Ebene etwas störend. Das ist jedoch
kein ausreichend guter Grund, daher entscheide ich, alle ins Dojo zu holen, außer
diejenigen, die sich während Zazen bewegen, die nach 15 oder 20 Minuten die Beine
auseinanderfalten oder die Haltung ändern müssen. Das stört wirklich. Wir können
also diese Regel einführen: Alle praktizieren Zazen im Dojo, auch diejenigen, die auf
einem Stuhl sitzen. Diejenigen mit dem Stuhl setzen sich allerdings nicht irgendwo in
die Mitte, sondern links vom Eingang. Anfänger, Menschen, die krank sind oder
Probleme haben, eine halbe Stunde bewegungslos zu bleiben, setzen sich besser vor
das Dojo in den Gaitan.
Danke für deine Frage.

Mittwoch, 1. Zazen
Wenn wir das Dojo betreten, legen wir die Hände in gassho und verbeugen uns tief
vor Buddha. Nach dem Zazen, bei der Zeremonie, ehren wir Buddha und alle Meister
der Weitergabe. Es ist unsere Art und Weise, unsere Verehrung für Buddhas Lehre
auszudrücken, denn sie ermöglicht es uns, die Weisheit zu verwirklichen, das heißt
uns von unseren Leidensursachen zu befreien. Dadurch gelangen wir zu einem
stabilen Glück, das nicht von den Umständen der Existenz abhängt, von der Tatsache,
dies oder jenes erhalten oder diese oder jene Stellung erlangt zu haben. Es ist das
Glück, sich endlich zu Hause zu fühlen und nicht mehr auf den Straßen der Existenz
umherirren zu müssen.
Diese Weisheit ist nicht das Ergebnis intellektuellen Wissens, sondern besteht darin,
sich selbst in der Tiefe zu verstehen. Dabei geht es nicht nur um die persönlichen
Eigenschaften, die Anhaftungen, Illusionen, das eigene Karma, also alles, was man
während einer Therapie bearbeiten kann. Natürlich ermöglicht die Weisheit, die sich
durch die Zazen-Praxis entwickelt, sich selbst auf dieser Ebene zu verstehen, zu
erkennen, wie der eigene Geist funktioniert und wie Anhaftungen entstehen. Die
Weisheit von Zazen, die Weisheit Buddhas, besteht jedoch darin, wirklich die Essenz
unserer Existenz zu verstehen, die Tatsache, dass wir nicht aus uns selbst heraus,
nicht unabhängig existieren. Unsere Existenz hängt von einem ganzen Netz von
Ursachen und Bedingungen ab. Wir sind voneinander wechselseitig abhängig, und in
dieser Hinsicht sind wir alle gleich.
Alle Wesen hängen von ihrer Umgebung, von der kosmischen Ordnung ab. Wer dies
tief versteht, kann nicht mehr egozentrisch sein, vorausgesetzt, er realisiert dies aus
den Tiefen seines Körpers und seines Geistes. Alle Wissenschaftler verstehen
vollkommen das Gesetz der wechselseitigen Abhängigkeit, aber nur wenige ziehen
daraus Konsequenzen für ihr eigenes Leben. Sie sind weiterhin abhängig von den drei
Giften, sie sind gierig nach Bekanntheit. Die wahre Weisheit ist die, die es uns
ermöglicht, unsere Egozentrik loszulassen, wirklich frei zu sein und uns gleichzeitig für
unsere Beziehungen mit anderen verantwortlich zu fühlen.
Das Verstehen der Essenz unseres Lebens gibt uns eine Richtung, einen tieferen
Lebenssinn, indem wir den Weg des Bodhisattvas praktizieren, der durch die
Solidarität, die wir mit allen fühlenden Wesen empfinden, inspiriert wird. Die wahre
Weisheit drückt sich in der Praxis, im Handeln aus, nicht nur im Wissen. Dies ist das
Problem fast aller Menschen. Wir wissen viele Dinge, vergessen aber das, was wir
glauben verstanden zu haben, in Worte und Taten umzusetzen.
Das Zeichen für wahrhaft verwirklichte Weisheit ist Mitgefühl. Wir erkennen, dass der
andere sich nicht sehr von uns unterscheidet. Er hat dieselben tiefen Bedürfnisse, das
Bedürfnis, den wahren Sinn der eigenen Existenz zu erkennen. Das gilt besonders für
junge Menschen, wenn sie feststellen, dass die Erwachsenen ohne Weisheit handeln
und sogar den Fortbestand des Lebens auf dieser Erde bedrohen. Hier wird die wahre
Weisheit des Herzens wichtig. Lasst euch nicht entmutigen! Bleibt motiviert, um zum
Wohle aller Wesen zu handeln, nicht nur, indem ihr Zazen praktiziert, sondern immer
und überall um täglichen Leben.
Dieses Bedürfnis nach spiritueller Verwirklichung ist kein Luxus. Es ist nicht der Gipfel
der Bedürfnisse, sondern die Grundlage unserer Existenz. Meister Deshimaru sagte:
„Zazen praktizieren heißt, zur Essenz der Religionen zurückzukehren, zum Punkt vor
den Religionen.“ Es ist die Rückkehr zum wahren religiösen Geist: sich mit allen
Wesen verbunden zu fühlen und entsprechend zu handeln.

Mittwoch, 2. Zazen
Wenn wir Zazen praktizieren, kehren wir auf natürliche Weise zu den Lehren Buddhas
zurück. Seine zahlreichen Lehren sind alle Ausdruck seines Erwachens im Zazen, des
Erwachens zur wahren Natur unserer Existenz. Es ist die Quelle aller Lehren, und
jeder kann selbst daraus schöpfen. Das bedeutet, er kann die gleiche Erfahrung
machen wie Buddha Shakyamuni.
Es gibt zahlreiche Sutras, die die Lehren des Buddha ausdrücken, weil sie alle Aspekte
des Lebens betreffen. Meister Deshimaru sagte: „Zen ist das Leben.“ Zen kann nicht
in einer Formel eingeschlossen werden. Im Sutra der 108 Dharma-Tore geht es beim
sechzigsten Tor darum, das Bewusstsein für die Lehre des Buddha
aufrechtzuerhalten, „weil sie Gutes hervorbringt“, wie es im Sutra heißt.
Wie kann man sich der Lehre des Buddha bewusst sein? Bedeutet es, dass man all
diese Lehren auswendig lernen muss? In Wirklichkeit geht es darum, das gleiche
spirituelle Erwachen wie Buddha zu erfahren. Durch Zazen können wir es
verwirklichen.
Die Lehren des Buddha können durch drei Worte zusammengefasst werden: kai, jo,
e. Kai sind die Gebote und damit das Verhalten, jo bedeutet Konzentration und e
Weisheit. Um die Verwirklichung seiner Schüler zu ermessen, orientierte Meister
Deshimaru sich an diesen drei Worten. Kai, das Verhalten – verhalten wir uns in
Einklang mit den Geboten? Diese sechzehn Gebote werden einige von euch während
der Ordination am Ende des Sesshins empfangen. Jo, die Konzentration, ist der
Zustand der Präsenz in der Realität, den man im Zazen verwirklicht, der Kontakt mit
unserer wahren Buddha-Natur. Und e, die Weisheit, ist die Kunst, in Harmonie mit dem
Erwachen von Zazen zu leben.
Im Sutra steht, dass dies das Gute hervorbringt. Manchmal heißt es, dass Zen jenseits
von Gut und Böse ist, obwohl Zen natürlich jenseits von dogmatischen Kategorien wie
Gut und Böse ist. Zen ermöglicht es, ein harmonisches Leben zu führen, das Frieden
und Glück für diejenigen bringt, die praktizieren, und für diejenigen, die den Einfluss
der Praxis erfahren. Wenn wir von der Zazen-Praxis durchdrungen sind, strahlt sie um
uns herum und übt einen guten Einfluss auf alle Wesen aus.
Heute Abend findet eine Feier statt. Aber was feiern wir? Wir feiern das Glück,
gemeinsam praktizieren zu können, und das Zusammensein mit guten Freunden des
Weges.

Freitag, 1. Zazen
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Kehrt immer wieder
zur Körperhaltung zurück. Neigt gut das Becken nach vorne und drückt die Knie fest
auf den Boden. Streckt von der Taille aus gut die Wirbelsäule und den Nacken, zieht
das Kinn zurück, lockert die Schultern und entspannt den Bauch. Die linke Hand liegt
in der rechten Hand, die Daumen sind waagerecht und die Handkanten in Kontakt mit
dem Unterbauch, mit dem Punkt, an dem sich die Energie der Ausatmung konzentriert,
dem kikai tanden.
Konzentriert euch darauf, bis zum Ende auszuatmen und lasst dabei alle Sorgen los.
Seid aufmerksam auf das, was hier und jetzt in eurem Körper und in eurem Geist
geschieht. Die Praxis der Aufmerksamkeit ist wesentlich in der Unterweisung Buddhas.
Er sagte: „Wenn man eine Woche lang die richtige Aufmerksamkeit praktiziert, kann
man das Erwachen verwirklichen.“ Uns bleiben noch drei Sesshin-Tage. Es ist also
immer noch möglich, zu erwachen, unter der Bedingung, dass wir vollkommen
aufmerksam auf unsere Atmung bleiben, von morgens bis abends, nicht nur während
Zazen, sondern auch wenn wir im Kinhin gehen, Sutras singen, während des
Spaziergangs, der Mahlzeiten, während Samu.
Das Sesshin ist ein wunderbarer Moment, um die rechte Aufmerksamkeit zu
praktizieren, das heißt, ständig in Kontakt mit unserem wahren Leben zu bleiben und
nicht in unseren geistigen Konstrukten gefangen zu sein, die uns in einer virtuellen
Welt leben lassen. Zazen bedeutet, zur wahren Welt zurückzukehren, in jedem
Augenblick sein Leben vollständig zu leben und nicht in Gedanken und damit
abwesend zu sein.
Anwesend zu sein ist der beste Weg, um sich von seinen vergangenen
Konditionierungen zu befreien. Psychische Krankheiten hängen alle mit der Anhaftung
an vergangene Ereignisse zusammen, mit in der Vergangenheit erlebtem Leid. Sie
führen zu negativen Gedanken, über die wir unbewusst nachgrübeln, und sie hindern
uns daran, unser wahres Leben im Hier und Jetzt auf kreative Weise zu führen, das
heißt ohne immer wieder das gleiche Szenario zu wiederholen.
Aus diesem Grund heißt es, Zen ist der neue Geist oder der Anfängergeist. In jedem
Augenblick beginnen wir ein neues Leben. Ein Sesshin ist die Gelegenheit, sich von
der Last der Vergangenheit zu befreien, was nicht bedeutet, sie zu vergessen. Es gibt
eine Zeit zum Erinnern und eine Zeit, um hier und jetzt zu leben, die Zeit des Sesshins.

Freitag, 2. Zazen
Konzentriert während Zazen all eure Energie auf die richtige Haltung. Dehnt die
Wirbelsäule gut zwischen Himmel und Erde aus. Zieht das Kinn zurück, lockert die
Schultern und entspannt den Bauch. Atmet tief durch die Nase ein und aus. Atmet
immer bis zum Ende aus, ohne etwas zurückzuhalten. So wird der Geist klar.
Gedanken, Emotionen und Anhaftungen werden nicht unterdrückt. Sie reflektieren sich
im Spiegel von Zazen, und wir können ihre wahre Natur sehen, ihre Leerheit, die
Abwesenheit von fester Substanz. Wenn wir ständig zur Haltung und zur Atmung
zurückkehren, ist es uns daher möglich, sie loszulassen und aufzugeben, nicht nur
während Zazen, sondern auch im täglichen Leben. Wir können immer zur
Aufmerksamkeit auf den Körper und der Atmung zurückkehren, beim Gehen, beim
Samu, beim Ausruhen. Der Körper und die Atmung sind immer da.
Taucht nicht in die virtuelle Welt eurer Gedanken ab. Indem wir aufmerksam sind,
ermöglichen wir unserem Geist, stets anwesend zu sein. So reinigt er sich und hört
auf, an geistige Konstrukte festzuhalten und sie für die Wirklichkeit zu nehmen. Auch
wenn sie nur Vorstellungen sind, existieren sie. Wichtig ist jedoch, sie als das zu
sehen, was sie sind: nur Vorstellungen. Ein Apfel, der auf einem Gemälde gemalt
wurde, existiert als Bild, aber man kann ihn nicht essen.
Wenn wir im täglichen Leben auf den Körper und die Atmung konzentriert bleiben,
werden wir nicht mehr von unseren bonno, unseren Illusionen, konditioniert. Sie
verschwinden nicht, verlieren aber ihre anziehende Kraft. Unsere Energie ist völlig auf
die Praxis der Haltung gerichtet. Wir teilen sie nicht auf, indem wir alle möglichen Dinge
verfolgen. So stärken wir die Konzentrationsfähigkeit, die es uns ermöglicht, in
Einklang mit dem zu leben, was wir im Grunde wirklich sind. Dieses Leben in Harmonie
mit unserer Buddha-Natur, mit unserer Einheit mit allen Existenzen, ist eine Quelle der
Freude. Sie gibt unserer alltäglichen Existenz einen tiefen Sinn, was uns die Energie
gibt, um weiter mit der Sangha, mit den anderen zu praktizieren. Es ist eine erwachte
Praxis, keine Übung, sondern Verwirklichung.
Dieses samadhi von Zazen nannte Meister Dogen jijuyu zanmai, die große
Konzentration, die wir selber verwirklichen und die um uns herum auf die anderen
ausstrahlt. Auf einem Sesshin schafft sie eine starke Atmosphäre, die jedem hilft, seine
Praxis zu vertiefen und aus ihr eine Verwirklichung des Erwachens zu machen, ein
Erwachen zu einem Leben ohne Trennung. Dann fühlen wir uns nie allein und sind
überall zu Hause, weil überall der Ort ist, an dem wir den Weg praktizieren.
Der Weg ist gleichzeitig der Pfad und das Vorangehen. Die regelmäßige,
kontinuierliche Praxis heißt gyoji. Gyo bedeutet auch gehen, laufen. Wenn wir
gemeinsam praktizieren, gehen wir gemeinsam auf dem Weg, dem Weg des
Erwachens, über all unsere Anhaftungen, unsere persönlichen Grenzen hinaus und
noch weiter darüber hinaus. So wird die Praxis freudvoll.

Freitag, 3. Zazen
Im Sutra der 108 Dharma-Tore heißt es beim sechsundsechzigsten Tor: „Die Kraft des
samadhi ermöglicht es, unwesentliche Gedanken auszuschalten.“ Samadhi ist die
große Konzentration von Zazen. Wenn wir völlig von der Konzentration auf die
Körperhaltung eingenommen und aufmerksam auf die Atmung sind, legt sich die
Unruhe im Geist.
Dennoch erscheinen weiterhin alle Arten von Gedanken. Im täglichen Leben bemerken
wir sie nicht, aber während Zazen nehmen wir deutlich wahr, wie diese Gedankenflut
Verwirrung stiftet. In unserem Leben ist es besonders wichtig, zu unterscheiden, was
wesentlich ist. Wir leben in einer Gesellschaft der Vergnügungen. Die Werbung lockt
uns, alle Arten von Wunschobjekten nachzugehen. Sie versucht, uns davon zu
überzeugen, dass unser Glück vom Besitz dieser Objekte abhängt.
Während Zazen versuchen wir nicht, gegen diese Gedanken anzukämpfen, aber wir
entwickeln die Kraft des samadhi, indem wir uns darauf konzentrieren, all unsere
Energie für die Körperhaltung einzusetzen und tief bis ins Hara auszuatmen. Wir
konzentrieren uns besonders auf den richtigen Tonus des Körpers und der Muskeln,
wie ein Musiker, der die Saiten seines Instruments stimmt. In dieser Haltung sollte der
Körper weder zu angespannt noch zu entspannt sein.
Wenn die Haltung stark ist, werden wir nicht mehr von den Gedanken gestört. Wir
können sie beobachten, ohne ihnen zu folgen. Auch wenn ein wesentlicher Gedanke
auftaucht, halten wir ihn nicht fest. Aber wir nehmen ihn wahr und können uns nach
dem Zazen um ihn kümmern. Oft entstehen während Zazen aus der Intuition heraus
wichtige Gedanken, jedoch ist es nicht die Zeit, über sie nachzudenken.
Alle großen Lehren des Buddha sind aus seiner Zazen-Praxis hervorgegangen, doch
erst in der Begegnung mit den Menschen konnte sich seine Weisheit ausdrücken. Er
konnte grundlegende Fragen der Menschen über das Leiden beantworten und ihnen
Vertrauen darin geben, dass es einen möglichen Weg gibt, um das Leiden zu
überwinden.
Im täglichen Leben ist der Geist oft unruhig oder verwirrt. Selbst wenn ein wesentlicher
Gedanke auftaucht, verliert er sich in der Verwirrung. Das ist der Grund, weshalb die
Zeit des Zazen so wichtig ist. Da sich unsere Weisheit manifestieren kann, um unsere
völlige wechselseitige Abhängigkeit mit allen Wesen besser zu verstehen, bekommen
wir die Möglichkeit, Einfluss auf die Welt zu nehmen, in der wir leben.
Diese Welt ist mehr und mehr eine Welt des Menschen geworden. Der Mensch hat
alle Arten von Techniken entwickelt, um die Natur auszubeuten. Und weil er von seiner
Gier, einem der großen Gifte des Geistes, konditioniert wird, achtet er nicht auf die
schädlichen Auswirkungen seiner Industrie. Daher ist es in dieser unruhigen Welt, in
der wir leben, dringend nötig, sich hinzusetzen und zu versuchen, klar zu sehen. Was
ist wesentlich? Was ist wichtig? Wir sollten aufhören, unsere Zeit damit zu verlieren,
illusorische Dinge zu verfolgen, und uns stattdessen der schädlichen Auswirkungen
unserer Illusionen auf die Umwelt bewusst werden, um ihnen ein Ende zu setzen.
Die grundlegende Ursache der aktuellen Umweltprobleme ist das Nicht-Erwachen des
Menschen. So lange man nicht erwacht ist, kann man kein zufriedenes Leben führen
und nicht wahrhaft glücklich sein. Stattdessen versucht man, sein Unglück zu
kompensieren. Wie ich es bereits in der Vorbereitungszeit gesagt habt, sollten wir uns
an die Lehren von Meister Ryokan erinnern, dem großen Dichtermönch. Er sagte:
„Liebe Freunde, ich habe einen Rat für euch. Um wahrhaft glücklich zu sein, braucht
man nicht viel.“
Wer tief Zazen praktiziert, findet großen geistigen Frieden. Selbst wenn alle Arten von
Gedanken oder Wünsche erscheinen, erkennen wir sie als Illusionen. So verlieren sie
ihre Kraft, uns zu verführen und uns vom Weg abzulenken. Wir erkennen, dass, wie
Meister Deshimaru empfahl, der wahre Weg des Glücks darin besteht, uns mit unserer
wahren Natur zu harmonisieren und der kosmischen Ordnung zu folgen.
Dieses Glück darf aber nicht zu einem neuen Wunschobjekt werden. Es ist das
natürliche Ergebnis unserer vertrauensvollen Praxis, mit dem Vertrauen in die
Tatsache, dass wir bereits die Wirklichkeit sind, zu der wir erwachen sollen. Mit
anderen Worten, der Weg ist nicht nur unter unseren Füßen, sondern in uns selbst.
Dies können wir erkennen, wenn wir vor der Wand sitzen und den Blick nach innen
richten. Es ist das große Verdienst von Zazen, uns dies zu ermöglichen, und diese
Erfahrung können wir mit den anderen teilen.

Freitag, Mondo
Frage 1: Es ist so, dass ich ohne Meditation nicht mehr glücklich sein kann. Man
könnte es mit einer Abhängigkeit vergleichen, also weiß ich nicht, ob das gut ist. Im
Alltag finde ich zum Beispiel keine Ruhe mehr, wenn ich nicht meditiere. Wie soll ich
damit umgehen?
Roland Yuno Rech: Du musst lernen, das, was in der Zazen-Praxis wesentlich
ist, in den täglichen Aktivitäten fortzusetzen. Besonders ein Sesshin ist eine gute Zeit
und ein guter Ort, um dies zu lernen. Während eines Sesshins praktizieren wir viermal
am Tag Zazen, und alle anderen Aktivitäten, wie Samu, Essen, die Ruhezeiten,
werden als Verlängerung der Zazen-Praxis gelebt. Es gibt keine Trennung. Wenn du
dich also gut auf die Sesshin-Praxis konzentrierst, wirst du bestimmt einen Weg finden,
um Zazen in deinen alltäglichen Aktivitäten fortzusetzen. Das ist natürlich schwieriger
als im Dojo, weil wir im Alltag vielen Einflüssen ausgesetzt sind. Es sind Einflüsse der
Gesellschaft, die überhaupt nicht die Zazen-Praxis reflektieren. In unserer Welt werden
die meisten Menschen von der Gier angetrieben, von dem Wunsch, etwas zu erlangen.
Das führt natürlich zu einem Konkurrenzdenken zwischen den Menschen und den
Unternehmen, was eine Atmosphäre erzeugt, die nicht gerade förderlich für den
Frieden des Geistes ist, eher im Gegenteil. Aus diesem Grund müssen wir darauf
vertrauen, dass unsere Praxis dazu beitragen kann, diesen kranken Geist der
Zivilisation an der Wurzel zu heilen. Die Wurzel der Probleme der Welt sind die drei
Gifte Gier, Hass und Verblendung. Sie entwickeln sich überall. Daher müssen wir uns
bemühen, ein wenig Licht in diese Welt zu bringen, nicht nur indem wir reden oder
predigen, sondern durch unser Verhalten.
Was machst du im Leben?
F. 1: Ich gehe noch zur Schule, zum Gymnasium.
R.Y.R.: Vielleicht kannst du in deiner Schule die Zazen-Praxis ein wenig
bekanntmachen. Menschen in deinem Alter haben oft Probleme, sich zu
konzentrieren, weil sie zu sehr von allen möglichen Dingen abgelenkt werden,
besonders vom Telefon. Sie entdecken die Welt, die ihnen allerlei Aktivitäten anbietet,
die verlockend für jemanden sind, der alle möglichen Erfahrungen machen will. Das
hängt oft auch von materiellen Besitztümern ab. Im Grunde leben wir in einer
materialistischen Welt. Alles ist darauf ausgerichtet, den Menschen dazu anzustiften,
seinen Konsum zu steigern und immer mehr haben zu wollen. Mit der Zazen-Praxis
lernen wir hingegen, eher einfach zu sein, erwachter zu sein, mehr in Harmonie mit
unserer wahren Natur. Umso erwachter man ist, desto weniger Dinge braucht man.
Aber es reicht nicht, darüber zu reden, man muss Zazen zeigen, damit die anderen
ihre Erfahrungen machen können. Vielleicht fänden es einiger deiner Freunde gut.
Wenn die jungen Menschen anfangen, Zazen zu praktizieren, wird es die Welt
verändern. Das ist meine Hoffnung.
Frage 2: Was ist die rechte Rede?
R.Y.R.: Es ist die Rede, die den Dharma ausdrückt, das heißt die Wirklichkeit,
wie sie ist. Natürlich bedeutet es, nicht zu lügen, aber nicht zu lügen besteht nicht nur
darin, keine falschen Aussagen zu machen. Meiner Meinung nach bedeutet nicht zu
lügen, die wahre Natur unserer Existenz durch unser Verhalten auszudrücken, also
authentisch zu sein. Reden besteht nicht nur aus Worten, sondern auch aus Verhalten,
Ausdruck. Alles am Menschen drückt etwas aus. Unser Geist herrscht nicht nur über
unsere Worte, sondern auch über unsere Taten.
Die rechte Rede drückt das Erwachen zur Wirklichkeit aus und hilft dem anderen zu
erwachen. Man muss keine großen Reden schwingen. Manchmal reicht es im Alltag,
eine Frage zu stellen. Jemanden, der sehr beschäftigt und gestresst ist, kann man zum
Beispiel fragen: „Wozu ist das gut, was du tust?“ Es kann seinen Geist verändern.
F. 2: Wie kann man verhindern, dass man zu viel redet?
R.Y.R.: Indem man sich auf das Wesentliche konzentriert. Bevor man spricht,
sollte man sich fragen: „Wozu ist das gut, was ich sagen will?“ Oft redet man einfach,
um Kontakt mit jemandem herzustellen. Man redet vielleicht über neutrale Dinge, über
den Regen oder das schöne Wetter, will aber eigentlich durch das Reden mit dem
anderen einen wirklichen Kontakt aufbauen. Menschen sind Wesen der Sprache. Das
unterscheidet den Menschen vom Affen, daher ist die rechte Rede sehr wichtig. Bevor
man redet, sollte man sich wirklich fragen, wozu es gut ist, und Worte formulieren, die
dem, der sie empfängt, helfen. Manchmal ist es besser, nichts zu sagen und einfach
zuzuhören und den anderen reden zu lassen. In einem solchen Moment besteht die
rechte Rede aus Stille. Buddha hat fünfundvierzig Jahre lang viel gesprochen und viele
Reden gehalten, um die Fragen der Menschen zu beantworten. Aber gegen Ende
seines Lebens hat er geschwiegen, eine Blume genommen und zwischen den Fingern
gedreht. Ich glaube, er wollte mit dieser Geste darauf hinweisen, dass man auf die
Wirklichkeit dieser Blume wie sie ist achten soll, jenseits von Worten und allem, was
man über die Blume sagen kann. Also manchmal ist die Stille die rechte Rede.
Frage 3: Warum machen wir nicht mal ein Schweige-Sesshin? Oder nur einen
Tag, an dem nur gesprochen wird, wenn es wichtig für die Organisation ist? Manchmal
sehe ich die Leute draußen stehen, und ich finde, es wird auch viel Unsinn geredet.
Das stört mich. Es steht für mich im Gegensatz zur Praxis im Dojo.
R.Y.R.: Mag sein, aber für mich ist die Freiheit wichtig. Wenn man die Stille zur
Pflicht macht, erzeugt man damit eine unterdrückende Atmosphäre. „Psst, wir dürfen
nicht reden.“ Dann reden die Menschen nicht mehr, aber nur, weil es verboten ist. Sie
befolgen die Regel, dass sie nicht sprechen dürfen.
Ich glaube eher an die wahre Stille, die entsteht, wenn man erkennt, dass es nicht
nötig ist, zu reden. Wenn man sich vorab gefragt hat: „Ist das, was ich sagen will,
nützlich?“ So kann man die wahre Stille finden, nicht, weil man kein Recht hat, zu
reden, sondern weil man erkannt hat, dass das, was man sagen wollte, nicht wichtig
war. Wenn etwas nicht wichtig ist, ist es besser, zu schweigen. Daraus entsteht ein
wahres Erwachen, ein wahres Verständnis über die Wichtigkeit der Stille. Es ist kein
Verbot, sondern die Erkenntnis, dass viele Worte unnütz sind.
Frage 4: Heute Morgen hast du gesagt, dass man innerhalb von zehn Tagen das
Erwachen erlangen kann. Was bedeutet dieses Erwachen? Und ist es beständig, wenn
man es erlangt?
R.Y.R.: Erwachen heißt, sich selbst zu verstehen. Es gibt immer zwei Aspekte.
Der eine ist, aus seinen Illusionen heraus zu erwachen, zum Beispiel zu verstehen,
dass ich bis heute verschiedene Fehler gemacht habe, dass ich meine Zeit damit
verschwendet habe, unnützen Dingen hinterherzulaufen. Das ist eine Form von
Erwachen. Der andere, tiefere Aspekt ist, zur wahren Natur unserer Existenz zu
erwachen und zu erkennen, dass das Ego nur ein geistiges Konstrukt ist, dass ich
überhaupt nicht wichtig bin. Wenn ich verstehe, dass ich nicht wichtig bin, werde ich
meine Energie nicht damit verschwenden, mich selbst hervorzuheben und in den
Vordergrund zu stellen. Ich bin nicht wichtig; die Wesen sind wichtig. Etwas Sinnvolles
zu tun, das diesem Erwachen entspricht, ist, für andere da zu sein. Es ist das Ideal
des Bodhisattvas. Jeden Morgen und manchmal auch am Abend singen wir die vier
Bodhisattva-Gelübde. Das sind wichtige Worte! Anschließend sollten wir unsere Zeit
damit verbringen, zu versuchen, sie im Leben verwirklichen. Dies ist eine Möglichkeit,
das Erwachen im täglichen Leben umzusetzen.
Also, meditiere und denke über die vier Gelübde nach. Du hast die Ordination
empfangen, folglich sollten die Gelübde der Leitfaden für dein Leben sein. Wie kannst
du das verwirklichen? Erwache dazu.

Samstag, 1. Zazen
Auf einem Sesshin zu praktizieren heißt, mit dem eigenen Geist vertraut zu werden.
Das ist die Bedeutung des Wortes „Sesshin“. Während Zazen tauchen alle Arten von
Phänomenen im Geist auf, wie Empfindungen, die manchmal angenehm, manchmal
unangenehm sind. Wir nehmen Formen, Geräusche und Gerüche deutlich wahr, aber
unsere Wahrnehmungen sind genauso wie unsere Empfindungen unbeständig. Noch
unbeständiger sind unsere Gedanken. Unaufhörlich erscheinen und verschwinden sie.
Jedoch folgen wir ihnen nicht, sondern begnügen uns damit, uns ihrer bewusst zu sein.
Wahre Weisheit besteht darin, die Unbeständigkeit deutlich zu sehen und sich mit ihr
zu harmonisieren. Das bedeutet zu lernen, von einem Augenblick zum andern
loszulassen, wie es im Diamant-Sutra heißt: „Wenn der Geist auf nichts verweilt,
erscheint der wahre Geist.“ Dann beginnt der Geist, in Harmonie mit dem Dharma, mit
der kosmischen Ordnung zu funktionieren. Wahre Weisheit entsteht, wenn wir lernen,
die Unbeständigkeit zu akzeptieren, wenn wir uns ihr nicht widersetzen, sondern uns
mit ihr harmonisieren, wenn wir sie nicht als Feind betrachten, sondern im Gegenteil,
als unsere wahre Buddha-Natur, die es uns ermöglicht, uns von unseren Illusionen zu
befreien und immer einen freien und neuen Geist wiederzufinden, der bereit ist, das
Leben eines jeden Augenblicks so zu empfangen, wie es ist. Das Leben ist nie
identisch, sondern immerwährende Veränderung.
Meister Deshimaru sagte oft: „Zen ist das Leben.“ Satori bedeutet, mit der wahren
Natur unseres Lebens Harmonie zu sein. Verstehen heißt, zu akzeptieren, nicht mit
Bedauern, sondern mit Freude, denn es ist die Pforte der Befreiung von den
Leidensursachen. Die ganze Weisheit des Buddha bestand darin, das menschlichen
Leiden zu lindern und dem Menschen zu helfen, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie
sie ist.
Alles, was uns ausmacht, ist unbeständig. Alles, was uns ausmacht, ist wechselseitig
abhängig mit dem ganzen Universum. Das ist die Wirklichkeit, wie sie ist. Wir sind
abhängig von der Luft, die wir atmen, von der Nahrung, die wir essen, von der Energie
der Sonne, von den Erträgen der Erde, von der Zusammenarbeit mit anderen
Menschen. Von all dem hängt unser Leben ab. Die Zazen-Praxis lehrt uns, dies mit
Dankbarkeit völlig zu akzeptieren.
Dies setzt eine innere Revolution voraus, indem wir unsere egozentrische Sichtweise
aufgeben und eine „Kosmos“-zentrische Sichtweise einnehmen. Dies ermöglicht es,
ein harmonisches Leben zu führen, in Harmonie mit der Natur und voller Respekt für
alle lebenden Wesen.

Samstag, 2. Zazen
Richtet während Zazen weiterhin eure ganze Energie auf die Körperhaltung. So lernt
ihr, mit dem ganzen Körper zu denken, und das Denken mit der rechten Gehirnhälfte
wird angeregt. Die linke Gehirnhälfte ist der Bereich der Sprache, der Dualität. Ihre
Funktion ist wichtig und nützlich, denn sie ermöglicht es, zu differenzieren und
Unterscheidungen zu treffen. Wenn wir jedoch nur in diesem Denkmodus
funktionieren, können wir nicht die Wirklichkeit sehen, wie sie ist, das heißt jenseits
der mentalen Unterscheidungen.
Zazen praktizieren heißt, die Sichtweise unseres begrenzten Egos aufzugeben.
Stattdessen beobachten wir die Wirklichkeit mit der Sichtweise des Buddha-Geistes,
des erwachten Geistes, mit dem weiten hishiryo-Bewusstsein, jenseits der Anhaftung
an Begriffen wie „ich“ oder „die anderen“. Wenn wir an unserer eigenen Sichtweise
festhalten, übersehen wir am Ende, dass es nur eine Sichtweise auf die Wirklichkeit
ist. An ihr festzuhalten führt zu alle Arten von Konflikten, und in der heutigen Zeit
eskalieren viele Konflikte in Gewalt. Wahre Weisheit besteht darin, Gegensätze zu
überwinden und den Frieden wiederherzustellen.
Der Zen-Weg ist eine spirituelle Praxis, in der Körper und Geist keine Gegensätze sind.
In den meisten spirituellen Wegen wird der Körper als Hindernis angesehen, als Quelle
der Anhaftung, als Hindernis für die Befreiung. Platon sagte zum Beispiel, dass der
Körper die Grabstätte der Seele sei, man müsse also die Seele vom Körper befreien.
Dadurch wurde auch die christliche Religion beeinflusst.
Auf dem Buddha-Weg ist der Körper der Ort der Praxis des Weges. Im Zazen wird der
Körper selbst zum Körper des Buddhas, des Erwachens, immer völlig im Hier und
Jetzt. Er atmet in Einheit mit dem ganzen Universum. Während Zazen mit dem Körper
zu denken ermöglicht es, uns vom dualistischen Geist zu befreien, unser Leben mit
einem viel umfassenderen, tieferen Blick zu betrachten und uns mit der Natur zu
harmonisieren, deren Teil wir sind. Die Natur ist nicht nur eine Ressource, um unsere
egoistischen Wünsche zu erfüllen. Wir finden die Fähigkeit wieder, uns mit ihr zu
vereinen. Deshalb erwachten viele Zen-Mönche in der Natur, durch das Rauschen des
Gebirgsbachs im Tal, durch die Farben und Formen der Berge. All diese Aspekte der
Natur rezitieren ein großes Sutra.
Diese Kraft der Weisheit, die uns von unserem begrenzten Blick befreit, öffnet uns zu
einer wahren Vereinigung mit den anderen, nicht nur mit der Natur. So wird die Kraft
der Weisheit zur Kraft des Mitgefühls. Es gibt keine wahre Weisheit ohne Mitgefühl.
Man kann sogar sagen, dass das Mitgefühl die Kraft der Weisheit ist, der Ausdruck der
Weisheit in den alltäglichen Aktivitäten und in unserer Beziehung mit den anderen.
Das Mitgefühl gibt uns die Fähigkeit, uns in den anderen hineinzuversetzen und
unseren Blick zu erweitern.
Zu oft leben wir nicht wirklich in der Welt, sondern in unserer Welt, in der Welt unserer
geistigen Konstrukte, unserer Vorstellungen. Zazen ermöglicht es uns, über sie hinaus
zu blicken auf eine Wirklichkeit, die viel weiter ist, als die, die wir mit unserer
selbstgefälligen Sichtweise erkennen können. Zazen hilft, diesen Blick zu lieben, weil
er uns von unseren Grenzen, von der Gefangenschaft in uns selbst befreit. So können
wir einen Zugang zu einem viel tieferen Lebenssinn bekommen.

Samstag, Mondo
Frage 1: Bei der Zeremonie rezitiert der Ino die vier Bodhisattva-Gelübde in seiner
Sprache. Ich habe einen kleinen Unterschied beim dritten Gelübde zwischen der
französischen und der niederländischen Übersetzung bemerkt. Auf Französisch heißt
es: „So zahlreich die Dharma auch sein mögen, ich gelobe, sie alle zu studieren.“ Auf
Niederländisch heißt es: „So zahlreich die Dharma-Tore auch sein mögen, ich gelobe,
sie alle zu durchschreiten.“ Was denkst du über diesen Unterschied?
Roland Yuno Rech: Seit einiger Zeit übersetze ich das Sutra der 108 Dharma-
Tore. Vielleicht hat es die Übersetzung beeinflusst, aber das ist nicht richtig. Es handelt
sich nicht um Dharma-Tore. Nun kann man sagen, dass es doch gleich ist. Alle Lehren
sind Tore, durch die man in den Dharma eintreten kann. Ich glaube nicht, dass diese
Übersetzung zu Irrtümern bei denen führen wird, die sie singen, aber sie ist nicht
genau. Ich weiß nicht, woher diese niederländische Übersetzung stammt. Kann sie
jemand korrigieren? Danke für deine Bemerkung.
Frage 2: Heute Morgen haben wir ein Zitat aus dem Diamant-Sutra gehört: „Wenn
der Geist auf nichts verweilt, erscheint der wahre Geist.“ Manchmal gibt es auch die
Unterweisung, man soll dem Geist Festigkeit, Stabilität verleihen. Wenn der Geist
substanzlos ist, wie kann er fest sein?
R.Y.R.: Den Geist stabilisieren bedeutet, aufzuhören, immer ein Objekt, einen
Wunsch zu verfolgen oder gegen ein Objekt der Abneigung zu kämpfen. Substanzlos
bedeutet, dass der Geist nicht etwas ist. Der Geist muss keine Substanz haben, um
stabil zu sein. Der substanzlose Geist ist der Geist, der nicht fassbar ist. Wer sich mit
dieser unfassbaren Eigenschaft des Geistes harmonisiert, verwirklicht die Stabilität
des Geistes. Er lässt die Neigung des Geistes los, immer etwas verfolgen zu wollen.
Stabilität bedeutet, sich nicht zu bewegen, nicht von den sogenannten Winden der
Vorlieben und Abneigungen bewegt zu werden, die uns in diese oder jene Richtung
treiben. Der Geist, der auf nichts verweilt, ist der Geist, der uns mit der Leerheit
harmonisiert. Er ist stabil, weil er sich nicht von den Giften des Geistes, von Gier und
Hass, mitreißen lässt. Was ist der eigentliche Grund deiner Frage?
F. 2: Meine Frage ist bereits beantwortet.
Frage 3: Beim Kyosaku schlägt der Shusso zweimal und die anderen
Verantwortlichen einmal. Warum ist das so?
R.Y.R.: Das ist Tradition. Zwei Schläge zu geben hat den Vorteil, den
Kyosakuschlag zu vertiefen. Ein kurzer Schlag regt an, ein etwas aufgelegter Schlag
beruhigt. Um zwei Schläge richtig zu geben, muss man im Umgang mit dem Kyosaku
erfahren sein.
Frage 4: Mit dem Fueko und auch dem Kito widmen wir die Verdienste von Zazen
oder der Zeremonie anderen Wesen. Kannst du das Wort „Verdienste“ näher erklären?
R.Y.R.: Verdienste sind die positiven Auswirkungen der Zazen-Praxis. Wenn wir
diese Verdienste einer anderen Person widmen, einem Verstorbenen oder beim Kito
einem Kranken, drücken wir damit aus, dass wir sie nicht selber behalten, sondern mit
anderen teilen. Für den Praktizierenden ist es wichtig, keinen gierigen Geist zu haben.
Eine Schwachstelle der spirituellen Praxis ist, dass sie letztlich zum Gegenteil dessen
wird, was sie sein sollte. Die Gier könnte einen dazu verführen, die Verdienste für sich
selbst anzuhäufen, weil man glaubt, durch sie ein besseres Karma oder eine gute
Wiedergeburt zu erreichen. Tatsächlich entspricht dies der Einstellung bestimmter
Formen des volkstümlichen Buddhismus, die keine Praktiken wie Zazen unterweisen.
Die Menschen werden zum Beispiel eher ermutigt, zu spenden, indem man ihnen die
Praxis des Gebens, fuse, lehrt mit der Betonung darauf, dass dies gute Verdienste
erbringen wird, das heißt gute Auswirkungen auf ihr zukünftiges Karma.
In Wirklichkeit ist das wahre Verdienst von Zazen, und ebenso von der Praxis des
Gebens, die Befreiung von der Gier. Aus diesem Grund lehren wir mushotoku,
praktizieren, ohne für sich selbst einen Gewinn oder Verdienste zu erwarten. Die
mushotoku-Praxis hat auf alle Fälle gute Auswirkungen, aber was machen wir mit
ihnen? Wir geben sie weiter, um sie nicht selber zu behalten. So wird die Praxis nicht
nur auf persönlicher Ebene befreiend, indem wir uns von unserer Gier befreien,
gleichzeitig lassen wir andere an den Wohltaten teilhaben. Es funktioniert, auch wenn
es ein wenig mysteriös ist, denn wie können Verdienste übertragen werden? Die
Erfahrungen mit den Zeremonien zeigen jedoch, dass es funktioniert.
Vor allem ist der Einstellung des Praktizierenden wichtig. Wer glaubt, er hätte eine
gute Praxis, die viele spirituelle Verdienste für ihn selbst erbringen wird, steckt in einer
Form von spiritueller Gier, die die Praxis verfälscht und zum Gegenteil führt. Die
Befreiung von der Gier ist das größte Verdienst der Praxis, daher ist eine befreiende
Praxis zwangsläufig mushotoku.
Die Verdienste existieren, daher der Gedanke, sie mit anderen zu teilen, anstatt sie
selber zu behalten. Philosophisch ist es schwer zu verstehen. Verdienste sind nicht
substanziell, sie sind nicht wie Geld, das man erhalten hat, wie Münzen, die man aus
der Tasche zieht, um sie an andere zu verteilen. Daher ist die Sache mit den
Verdiensten etwas schwer zu verstehen. Es handelt sich nicht um etwas, um etwas,
das man aufheben kann, aber sie sind Auswirkungen der Praxis. Und es ist wichtig,
die positiven Auswirkungen der Praxis anzubieten, denn der Gedanke, die Verdienste
mit anderen zu teilen, macht etwas mit uns. Alle Praktiken, alle Unterweisungen sollten
nach ihren Auswirkungen auf das Leben beurteilt werden. In unserer Praxis geht es
um die Befreiung von der Gier.
F. 4: Das deutsche Wort „Verdienst“ zeigt nicht, dass es in Richtung mushotoku geht.
Es hat eher etwas Substanzielles.
R.Y.R.: Meister Deshimaru hatte eine Liste von zehn Verdiensten des Zazen
erstellt, von zehn positiven Auswirkungen für den Praktizierenden. Abschließend sagte
er: „All diese Verdienste von Zazen sind Verdienste von mushotoku“, das heißt
Verdienste einer großzügigen, uneigennützigen Praxis. Denn wenn jemand Zazen mit
dem Gedanken praktiziert, Verdienste für sich anzuhäufen, vergiftet diese Gier nach
Verdiensten seine Praxis und wird zum Gegenteil einer befreienden Praxis. Da
Verdienste trotz allem existieren, müssen wir etwas mit ihnen tun. Weil wir sie nicht
behalten, bieten wir sie an. Für uns selbst ist es wichtig, dass wir die Verdienste
anderen widmen, was uns davon abhält, sie behalten zu wollen. Es tut dem
Praktizierenden gut und verhindert, dass die Praxis durch einen gierigen Geist
beschmutzt wird.
Ein Kito funktioniert, auch wenn es mysteriös erscheinen mag. Also muss in der
unsichtbaren Welt etwas passieren, das man nicht erfassen kann, aber dessen
Auswirkungen man wahrnimmt. Statistisch gesehen funktionieren Kitos für Menschen,
denen sie gewidmet werden, um ihre Krankheit oder Schwierigkeit zu überstehen.
Würde man eine Untersuchung machen, wäre das Resultat am Ende allgemein positiv,
aber auf welchem Weg dies geschieht, bleibt mysteriös. Meister Deshimaru sprach
von der unsichtbaren Welt, die einen Einfluss hat, ohne dass man ermessen kann,
über welchen Weg dieser Einfluss uns erreicht. In der Welt gibt es Phänomene, die
schwer zu erklären sind. Es gab zum Beispiel Affen, die an einem bestimmten Ort eine
neue Methode erfanden, um Kokosnüsse zu öffnen. Zur gleichen Zeit an einem
anderen Ort erfanden Affen dieselbe Methode, als hätte es einen Austausch von
Informationen gegeben, ohne Träger. Phänomene dieser Art wurden in verschiedenen
Bereichen analysiert. Eine bestimmte Geisteshaltung, eine Einstellung hat einen
Einfluss, ohne dass es einen materiellen Träger gibt, der erklärt, wie sie kommuniziert
wurde. Wie auch immer, derartige Phänomene ereignen sich, und es reicht aus, zu
wissen, dass sie sich ereignen. Eines Tages werden wir vielleicht verstehen, auf
welchem Weg dies geschieht, aber es funktioniert.
Das Wichtigste ist, was wir dadurch erfahren, wenn wir auf diese Weise denken und
praktizieren, das heißt mit einem großzügigen Geist, nicht nur für uns, sondern indem
wir die Verdienste unserer Praxis an alle Wesen weitergeben.
Frage 5: In der Zen-Literatur, zuletzt im Kommentar zum Shodoka von Meister
Deshimaru, lese ich immer mal wieder, dass das Ich aufgegeben werden soll. Wenn
es heißt, man soll die Ichbezogenheit aufgeben, bin ich einverstanden. Warum heißt
es, das Ich aufgeben? Was sollen wir da aufgeben?
R.Y.R.: Es geht darum, eine falsche Auffassung vom Ich aufzugeben. Das Ich
aufgeben bedeutet, das illusorische, egozentrische Ich aufzugeben. Es bedeutet aber
nicht, sein Ego zu verlieren, denn dann würde man verrückt werden. In psychiatrischen
Kliniken gibt es viele Menschen, die ihr Ego verloren haben. Man darf es nicht
verlieren. Es ist wichtig, eine Art persönliche Identität zu haben, aber man darf sich
nicht über ihre Bedeutung täuschen. Das Ego ist sehr relativ und ohne Substanz. Man
sollte es nicht über das der anderen erheben wollen und aufgrund seiner
Ichbezogenheit mit anderen konkurrieren.
Die Illusion, aus dem Ego etwas Substanzielles, etwas sehr Wichtiges zu machen,
führt zu allem Leid. Darum heißt es im Zen, und ich glaube in allen spirituellen
Richtungen, dass das Ego aufgegeben werden soll. Jedoch geht es hierbei darum, die
falsche Funktionsweise des Egos aufzugeben, das illusorische Ego, das Ego, das sich
für etwas hält, was es nicht ist.
Es gibt auch ein gutes Ego. Es ist unser Ego, das uns dazu bringt, Leid zu empfinden
und es lindern zu wollen. Es bringt uns dazu, den Weg praktizieren zu wollen, und
mobilisiert unsere Energien, um auf ein Sesshin zu gehen. Unser Ego trifft diese
Entscheidung. Das Ego ist also nicht immer negativ. Wenn es heißt, das Ego
aufzugeben, geht es um das illusorische Ego.
Frage 6: Zum gyoji von Fuyo Dokai sagt Meister Deshimaru: „Ein Mönch soll
komplizierte Beziehungen meiden.“ An einer anderen Stelle heißt es: „Er soll
Schwierigkeiten nicht aus dem Weg gehen.“ Das scheint mir ein Widerspruch zu sein.
Wie ist das rechte Handeln in Bezug auf Schwierigkeiten? Wie ist zum Beispiel das
rechte Handeln bei komplizierten Familienbeziehungen?
R.Y.R.: In diesem Kontext sollte man versuchen, die Probleme zu beheben, die
dazu führen, dass die Familienbeziehungen zu Ursache von Leiden werden. In der Tat
gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist, komplizierte Situationen zu vermeiden, die
Familie zu verlassen, Mönch zu werden und allein oder in einem Kloster zu leben. Aber
auf diese Weise löst man nicht die Probleme, die es in dieser Familie gibt. Man lässt
die Familie allein mit ihren Verwicklungen und hilft nicht dabei, sie zu lösen.
Es ist die Frage, welche Priorität man sich selber gibt. Da sich unsere Entscheidungen
im Geist des Mahayana normalerweise nach dem Mitgefühl richten, neigen wir eher
dazu, zu versuchen, der Bodhisattva in der Familie zu sein, der die Probleme innerhalb
der Familie behebt und sich bemüht, die Verwicklungen zu lösen. Gleichzeitig hat
unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen, Grenzen. In einigen Fällen läuft man Gefahr,
seine Zeit und seine Energie damit zu vergeuden, familiäre Probleme zu lösen, die
nicht lösbar sind. In diesem Fall ist es weise, zu gehen. Es ist wie in einer
Partnerschaft. Wenn es Probleme in der Partnerschaft gibt, sollte man zuerst
versuchen, sie zu lösen. Aber wenn man es nach Monaten oder Jahren nicht schafft,
die Probleme zu überwinden, ist es besser, sich zu trennen, schon allein deshalb, weil
die Lebenszeit kurz ist, und man wissen sollte, wie man seine Zeit und seine Energie
am besten nutzt. Für jemand, der eine spirituelle Berufung hat, ist es nicht unbedingt
eine gute Lösung, in einer Familienneurose gefangen zu sein. Wenn man feststellt,
dass man nichts ausrichten kann, weil es in der Familie zu viel kompliziertes Karma
gibt, ist es besser, sie zu verlassen.
Wir sind nicht allmächtig. Das Ideal wäre, zu sagen: Da gibt es ein Problem, eine
Verwicklung in der Familie, also werde ich bleiben, um es zu lösen. Leider geht das
nicht immer, und dann besteht die Weisheit eher darin, sich zu sagen, ich gebe auf,
ich gehe.
Für Mönche und Bodhisattvas geht das Problem noch weiter. Folgt man im Mahayana
dem Bodhisattva-Geist, dann bleibt man in der komplizierten Welt, um Weisheit und
Mitgefühl einzubringen und zu helfen, Leiden zu lindern, und sogar zu versuchen, die
Leidensursachen zu lösen. Aber wie bereits gesagt sind wir nicht allmächtig und
müssen in einigen Fällen aufgeben. In einem solchen Fall ist es besser, seine Energie
in eine andere Richtung zu lenken, um weiterhin Gutes zu tun, aber nicht unbedingt
dort, wo es zu kompliziert ist und man nichts erreicht.
Für mich ist es eine Frage der Weisheit: Wie nutze ich die Zeit und die Energie, die mir
in diesem Leben zur Verfügung stehen? Nicht nur für mich selbst, sondern auch für
die anderen. Diese Frage bestimmt meine Lebensweise.
Frage 7: Seit Jahren habe ich ein Problem damit, mein Bestes zu geben und das
Ergebnis loszulassen.
R.Y.R.: Was meinst du mit „das Ergebnis loslassen“?
F. 7: Das ist eigentlich der Kern meiner Frage. Jahrelang habe ich mir eher
gesagt: „Gib dein Bestes, gib dein Bestes.“ Dabei habe ich festgestellt, dass ich dem
Perfektionismus verfalle. Also habe ich mir gesagt: „Lass los, lass los“, und jetzt habe
ich den Eindruck, träge und selbstzufrieden zu werden. Ich schwanke hin und her von
der einen zur anderen Seite.
R.Y.R.: Ich denke, man muss aufpassen, wenn es heißt, das Ergebnis
loszulassen. Wenn man versucht, das Gute zu tun, ist es wichtig, das Ergebnis seiner
Handlung zu prüfen. Wenn das Ergebnis negativ ist, darf man es nicht ignorieren,
sondern muss darüber nachdenken, warum das eigene Handeln zu einem negativen
Ergebnis geführt hat. Ein negatives Ergebnis zeigt, dass man sich geirrt hat.
Ein großer Teil von Buddhas Weisheit bestand darin, uns die Kausalität zu lehren, das
heißt die Verkettung von Ursache und Wirkung. Es ist das Ergebnis, das zeigt, ob eine
Handlung richtig war. Eine Handlung, die zu einem schlechten Ergebnis führt, ist eine
schlechte Handlung. Daher muss man darüber nachdenken, um zu erkennen, was
man beim nächsten Mal anders macht.
Wenn man sich sagt: „Gib dein Bestes“, ohne sich um das Ergebnis zu kümmern, dann
ist der Ausdruck etwas gefährlich. Positiv ausgedrückt könnte es bedeuten, nicht an
einem Ergebnis für sich selbst zu haften. Ich gebe mein Bestes, zum Beispiel bei der
Arbeit, und dennoch erhalte ich keine Beförderung, keine Anerkennung. Das ist aber
kein Grund, auf gute Arbeit zu verzichten. Wenn hingegen das Ergebnis der Arbeit
katastrophal ist, sollte man aufhören, so zu arbeiten und die Arbeitsweise ändern.
Das Ergebnis ist sehr wichtig. Weil es in der Zen-Lehre und ganz allgemein im
Buddhismus im Grunde darum geht, sich von der Gier zu befreien, darf man das
Ergebnis nicht nur für sich selbst beanspruchen. Das macht einen großen Teil der
Weisheit aus und ist sogar die Grundlage der Ethik, die vom Buddha gelehrt wurde.
Buddha lehrte eine Ethik der Verantwortung, das bedeutet, der Wert einer Handlung
hängt von ihrem Ergebnis ab.
Wir erinnern gerne an die Unterweisung, die der Buddha seinem Sohn Rahula gab. Er
sagte: „Bevor du handelst, denke über das Ergebnis nach. Wenn du erkennst, dass
das Ergebnis deines Redens oder Handelns Leiden verursachen wird, für die anderen
oder für dich selbst, dann tu es nicht. Dann ist diese Handlung schlecht.“ Es geht nicht
darum, über gut oder schlecht hinauszugehen. Zen bedeutet, das Schlechte zu
vermeiden und das Gute zu tun. Dafür muss man sich mit dem Ergebnis beschäftigen,
damit es nicht nur gut für einen selbst ist, sondern für viele Menschen.
Zum Beispiel hatte ich einen ganzen Tag lang mit Unternehmern über das Thema
„Profit“ diskutiert. Ein Profit ist im Allgemeinen das Ergebnis einer guten
Unternehmensführung. Ich sagte: „Ich bin hergekommen, um über Zen zu reden, und
Zen ist mushotoku, nicht am Profit festhalten. Also habe ich den Eindruck, hier falsch
zu sein.“ Und ich wollte gehen. Dann entgegneten die Unternehmer: „Einen Moment,
warten sie! Lassen sie uns darüber reden. Das interessiert uns sehr.“ Im Laufe des
Tages kamen wir zum Schluss, dass das beste Ergebnis für die meisten Menschen
erzielt werden muss, nicht nur für einige Aktionäre, sondern auch für die Mitarbeiter,
die Kunden, die Umwelt. Mit anderen Worten, das Ergebnis, der Profit eines
Unternehmens muss möglichst großzügig und breitgefächert sein und mit anderen
geteilt werden, wie die Verdienste der Praxis.
Über das Ergebnis unseres Handelns nachzudenken und Folgen aus den Ergebnissen
unserer Handlungen zu ziehen, ist eine der Grundlagen der Weisheit. Wer sich nicht
um die Ergebnisse kümmert, ist verantwortungslos.
F. 7: Wenn ich also richtig verstehe, ist der Moment, an dem ich aus etwas einen
persönlichen Nutzen für mein Ego ziehen will, ein Alarmsignal.
R.Y.R.: Absolut! Der Weg, dem wir folgen, ist ein Weg der Befreiung von den
egoistischen Anhaftungen.

Sonntag, 1. Zazen
Die Zeremonie am Ende dieses Zazen werden wir den Verstorbenen widmen, deren
Namen ihr genannt habt. Es ist eine Gelegenheit, den Menschen, die uns
vorausgegangen sind und uns das Leben geschenkt haben, unsere Dankbarkeit
auszudrücken und ihnen eventuell das Leid zu vergeben, das sie verursacht haben.
Vor allem ist es hier und jetzt eine Gelegenheit für uns, über Leben und Tod zu
meditieren. Die Frage nach Leben und Tod war der Ausgangspunkt für den Geist des
Erwachens von Buddha Shakyamuni.
Die Unbeständigkeit des Lebens ist eine große Ursache von Leid. Wozu leben, wenn
alles mit dem Tod enden muss? Um dieses Leiden zu lösen, praktizierte Shakyamuni
Zazen. Die Unbeständigkeit ist Ursache von Leid, wenn man an Wesen, Dingen und
Situationen hängt, als müssten sie immer da sein, wenn man dem eigenen Ego
anhaftet, als müsste es immer da sein. Für jemanden, der mit derartigen Anhaftungen
lebt, ist der Tod empörend, völlig inakzeptabel.
Die Zazen-Praxis hilft uns, uns mit dieser Unbeständigkeit zu harmonisieren und sie
nicht mehr mit Empörung, sondern als etwas Natürliches, Normales zu betrachten.
Alles, was erscheint, muss verschwinden. Während Zazen erleben wir dies Augenblick
für Augenblick. Wir verspüren Empfindungen und Wahrnehmungen, Gedanken
tauchen in unserem Geist auf, aber sie ziehen schnell vorbei. Selbst wenn wir ihnen
anhaften, wenn wir sie eine Zeit lang festhalten, werden sie vorbeiziehen. Wenn wir
dies nicht nur auf intellektueller Ebene verstehen, sondern tief aus der Zazen-
Erfahrung heraus, können wir loslassen und einen wendigen Geist verwirklichen, der
auf nichts verweilt.
Das bedeutet nicht, dass wir vergessen. Wir vergessen die Verstorbenen nicht, im
Gegenteil, wir empfinden ihnen gegenüber Dankbarkeit für das, was sie erbracht
haben. Selbst ihre Fehler werden zu einer Lektion für unser Leben; sie zeigen uns,
was man nicht tun sollten. So können wir aus der Geschichte lernen. Lektionen für das
Leben aus der Existenz der Verstorbenen.
Die wesentliche Erfahrung von Zazen hinsichtlich Leben und Tod ist, dass wir durch
Zazen die ewige Gegenwart verwirklichen können. Selbst wenn das, was hier und jetzt
erscheint, nicht andauert, erleben wir es zutiefst. Wir vergeuden den gegenwärtigen
Augenblick nicht, indem wir der Vergangenheit nachtrauern oder uns vor der Zukunft
fürchten, sondern bleiben ständig in Kontakt mit dem wahren Leben hier und jetzt.
Anstatt zu glauben, dass das, was nicht andauert, keinen Wert hat, lernen wir durch
Zazen den Wert des gegenwärtigen Augenblicks zu schätzen. Es ist der einzige
Moment im Leben, in dem wir erwachen können. Es ist der einzige Moment im Leben,
in dem wir dieses Erwachen in die Praxis umsetzen können. Auch lehrt uns Zazen,
jeden Moment unseres Lebens vollständig zu leben. Das Leben ist eine Abfolge von
Punkten im Hier und Jetzt. Diese Abfolge bildet eine Linie, die Linie unseres Lebens.
Wenn jeder Augenblick vollständig gelebt wurde, ist die Linie stark. Vergeudet also
nicht den gegenwärtigen Augenblick. Die Verstorbenen erinnern uns daran, und dafür
danken wir ihnen.

Achtsamkeit – 10.2013 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 4.-6. Oktober 2013
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

 

Freitag, 4.10.13, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Richtet eure Aufmerksamkeit
immer wieder auf die Senkrechte eurer Haltung. Das Becken ist leicht nach vorne geneigt, die
Knie drücken fest auf den Boden. Von der Taille aus streckt man gut die Wirbelsäule und den
Nacken und drückt den höchsten Punkt des Kopfes in den Himmel. Lockert gut alle Verspannungen
des Rückens und der Schultern. Das Kinn ist zurückgezogen; die Schultern und der Bauch
sind gut entspannt. Auch das Gesicht ist entspannt, insbesondere der Kiefer. Die Zunge liegt am
Gaumen. Die Konzentration auf die Zungenspitze hilft, das Zwiegespräch im Innern zu beruhigen.
Beendet jedes Gespräch mit euch selbst.
Es ist schwierig, den Geist mit dem Geist zu kontrollieren. Aber wenn man sich auf den Körper
konzentriert, beruhigt sich der Geist ganz natürlich und klärt sich auf.
Die Augen bleiben leicht geöffnet. Manchmal verspürt man das Bedürfnis die Augen zu schliessen,
aber in Wirklichkeit ist das nicht nötig, um konzentriert zu bleiben. Nicht die visuellen
Objekte stören die Konzentration, sondern die Tatsache, dass wir an ihnen haften. Das gleiche
gilt für alle anderen Sinnesobjekte. Es sind nicht die Töne, die die Konzentration stören, und
auch nicht die Geräusche, sondern die Tatsache, dass wir ihnen anhaften, weil wir entweder
versuchen, sie zu erfassen, zum Beispiel die Sprache, die Wörter, oder weil wir sie abweisen.
Für Zazen sucht man natürlich einen ruhigen Ort so wie hier. Aber die wahre Stille ist im Innern.
Der Geist muss selbst inmitten der lärmenden Phänomene des täglichen Lebens ruhig bleiben.
Man ist sich der Töne einfach bewusst, ohne an ihnen zu haften. Wenn man sie nicht festhält,
braucht man sie nicht loszuwerden, dann erscheinen und verschwinden sie ganz natürlich, so wie
alle Phänomene. Im Zazen harmonisiert sich der Geist damit, indem er nichts ergreift und nichts
verwirft. Dies nennt man Hishiryo, das Bewusstsein, das über den ergreifenden Geist hinausgeht.
‚Shiryo’ ist der berechnende, analysierende, unterscheidende Geist, ‚hi’ bedeutet darüber hinaus.
Auf nichts stagnieren ist die wahre Freiheit des Geistes. Dieser Geist entwickelt sich während
des Sesshins. Shin, der wahre Geist, setsu, mit dem man vertraut wird.
Die linke Hand liegt in der rechten Hand, die Handkanten berühren den Unterbauch, die Daumen
sind waagerecht. Der Berührungspunkt der Daumen ist ein guter Konzentrationspunkt. Wenn
man sich auf diesen Punkt konzentriert, beruhigt sich der Geist rasch. So wie die Hände nichts
ergreifen, ergreift auch der Geist nichts mehr. Es gibt nichts zu ergreifen, weil der Geist nichts
erzeugt, genauso wenig wie die Hände in Zazen. Selbst wenn man etwas erzeugt, hält man die
Erzeugnisse nicht fest. Zazen ist eine Praxis des Loslassens, nicht indem man die Phänomene
verwirft, sondern indem man immer wieder zur Konzentration auf Körper und Atmung
zurückkehrt, ohne an Körper oder Atmung zu haften. Man bleibt einfach sich völlig seines
Körpers und seiner Atmung bewusst. Diese Aufmerksamkeit endet nicht mit Zazen oder Kinhin.
Sie wird in jeder Handlung im täglichen Leben fortgeführt. Das ist der Sinn des Sesshins.

 

Freitag, 4.10.13, 11 Uhr
In der Zen-Unterweisung und auch in der eigenen Praxis beharrt man oft auf Konzentration und
Beobachtung. Aber um konzentriert sein zu können, um beobachten zu können, muss man zuerst
achtsam sein. Mehrmals hat Buddha in seinen Unterweisungen auf die rechte Achtsamkeit beharrt.
Mit diesem Thema beschäftigt sich das Maha Satipatthana-Sutra. ‚Sati’ bedeutet Achtsamkeit.
Achtsamkeit ist der siebte Aspekt des Achtfachen Pfades.
Alle Unterweisenden wissen genau, dass Achtsamkeit die erste Vorrausetzung ist, um lehren zu
können. Sich selbst kennenzulernen ist Grundlage der Weisheit. Dazu muss man auf das achten,
was in einem selbst und in seiner Beziehung mit der Welt geschieht, das heißt, sich völlig der
Wirklichkeit, dessen was ist, bewusst sein, hier und jetzt, in jedem Augenblick. Die Zeit eines
Sesshins ist ein besonders günstiger Moment dafür.
Am Anfang dieses Sutras, dieser Predigt, sagt Buddha Shakyamuni: Dies ist der einzige Weg,
Mönche, zur Reinigung der Wesen, zur Überwindung von Kummer und Klagen, zur Zerstörung
des Leidens, um den rechten Weg, das Nirvana zu erreichen. Dies sind die vier Aspekte der
Achtsamkeit.
Auf allen spirituellen Wegen sucht man nach Reinigung durch Gebete, durch Reue. In Indien
glaubt man zum Beispiel, dass ein Bad im Ganges der beste Weg ist, um sich von seinem
schlechten Karma zu reinigen. Aber in der Unterweisung Buddhas ist es die Praxis der Achtsamkeit,
die reinigt. Das bedeutet, in jedem Augenblick die Wirklichkeit klar zu sehen, so wie
sie ist. Gleichzeitig ist Achtsamkeit die Überwindung von Kummer, Klagen und Leiden, anders
gesagt, der rechte Weg, der Weg, um sich mit der höchsten Wirklichkeit zu harmonisieren und
damit allem Leiden ein Ende zu setzen, das Nirvana. Das Nirvana ist kein Zustand, den es nach
dem Tod zu erreichen gilt, sondern die wahre Befreiung hier und jetzt. Die Befreiung von
unserer Vergiftung durch die drei Gifte: Gier, Hass und Unwissenheit.
Die Grundlage für unsere Heilung ist die Praxis der Achtsamkeit, zuerst die Achtsamkeit auf den
Körper. Im Zazen sind wir völlig achtsam auf unsere Körperhaltung, insbesondere auf den richtigen
Tonus der Haltung, der weder zu angespannt, noch zu schlaff sein darf. Wir praktizieren das,
was man Shikantaza nennt: vollständig sitzen, wenn man sitzt. Aber auch wenn man geht, ist
man sich völlig des Gehens bewusst, völlig eins mit der Bewegung des Gehens. Man ist nicht
damit beschäftigt, an etwas anderes zu denken oder eilig zu gehen, um schnell sein Ziel zu
erreichen, sondern man ist völlig auf jeden Schritt konzentriert. Wenn man steht, gilt das
Gleiche: Man ist völlig auf den Schwerpunkt seines Körpers konzentriert. Wenn man liegt, ist
man völlig auf den liegenden Körper konzentriert. Die gleiche Aufmerksamkeit richten wir auf
die Gesten und die Bewegungen, besonders während des Samu. So ist der Geist nicht zerstreut,
denn der Körper ist in allen Haltungen immer völlig gegenwärtig, hier und jetzt.
Jedes Mal, wenn wir unsere Achtsamkeit zum Körper zurückbringen, erzeugen wir eine Gelegenheit
des Loslassens; wir lassen all unserer Sorgen und Beschäftigungen los, das, was uns
daran hindert, das wahre Leben hier und jetzt zu leben, das, was uns daran hindert, für den
anderen da zu sein. Wenn man zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt ist, kann man
dem anderen nicht wirklich zuhören.
Man ist auch achtsam auf die Veränderung des Körpers. Wie alles andere ist der Körper
unbeständig, in unserem Körper ändert sich ständig etwas. Der Körper selbst erscheint und verschwindet
letztlich wieder. Im Grunde gehört uns unser Körper nicht. Buddha sagte: Wir sind
uns dessen bewusst, dass es einen Körper gibt. Das ist alles. Es gibt einen Körper. Das heißt, wir
denken nicht: „Dies ist mein Körper!“ Natürlich ist es auch nicht der Körper von jemand anderem.
So kann man die übermäßige Anhaftung an seinen Körper aufgeben und den wahren Körper
verwirklichen. Meister Dogen nannte ihn shinjitsu nintai, den authentischen Körper des
Menschen. Das meint den Körper in Einheit mit dem ganzen Universum, den Körper, der aus
allen Elementen des Universums besteht und nicht vom Rest getrennt ist.
Man ist auch achtsam auf seine Atmung. Wenn man einatmet, ist man völlig bei der Einatmung.
Wenn die Ausatmung geschieht, ist man völlig achtsam auf die Ausatmung. Man nimmt wahr,
wie Einatmung und Ausatmung geschehen. Ist die Einatmung lang, oder kurz, tief oder oberflächlich?
Das Gleiche gilt für die Ausatmung. Wir sind uns immer bewusst, wie die Dinge
geschehen, die Bewegungen des Körpers, die Bewegungen der Atmung. So ist der Geist immer
völlig gegenwärtig.
Natürlich erscheinen während Zazen alle möglichen Phänomene. Empfindungen tauchen auf,
Gefühle, Wünsche, Erinnerungen und sonstige geistige Phänomene. Wenn man achtsam auf
Körper und Atmung bleibt, kann das Bewusstsein alles genau so widerspiegeln, wie es erscheint,
so wie es ist, ohne daran festzuhalten. Auf diese Weise ist es einem möglich, immer wieder für
die Neuheit eines jeden Augenblicks empfänglich zu sein. Deswegen nennt man den Zen-Geist
auch den neuen Geist, weil jeder Augenblick völlig neu ist.

 

Freitag, 4.10.2013, 16.30 Uhr
Wenn man praktiziert und dabei achtsam auf Körper und Atmung ist, klärt sich der Geist schnell.
Dann ist es einem möglich, das zu praktizieren, was Buddha das ‚klare Verständnis’ nannte. Er
sagte: Wenn er etwas betrachtet oder ein Körperglied beugt, wenn er das Kesa anlegt, wenn er
isst, trinkt, auf die Toilette geht, wenn er geht oder steht, wenn er sitzt oder einschläft, wenn er
aufwacht, wenn er spricht oder schweigt, muss der Mönch das klare Verständnis praktizieren.
Das klare Verständnis des Sinns, der Richtung der Praxis.
Im Zen betont man immer wieder, dass man, ohne persönliches Gewinnstreben praktiziert,
mushotoku. Manchmal übersetzt man es mit ‚ohne Ziel’. Aber in Wirklichkeit haben wir ein
großes Ziel, das wir niemals vergessen dürfen: die Verwirklichung des Bodhisattva-Weges.
Dieses Ziel ist völlig altruistisch, jenseits der Trennung oder der Unterscheidung zwischen einem
selbst und den anderen. Wir wünschen uns, die Verwirklichung des Weges zu vertiefen, um sie
mit den anderen zu teilen. Das ist unser Lebensideal, das wir jeden Tag nach dem Hannya
Shingyo mit dem Rezitieren der Vier Gelübde der Bodhisattvas ausdrücken. Die Rezitation ruft
uns den Sinn unserer Praxis in Erinnerung.
Unzählig sind die Wesen, wir geloben, ihnen allen zu helfen, sich zu befreien.
Unzählig sind die Anhaftungen, die Leidensursachen, die Bonno, wir geloben sie aufzulösen.
Zahllos sind die Unterweisungen, wir geloben, sie alle zu studieren.
Vollkommen ist der Weg Buddhas, der Weg des Erwachens, wir geloben, ihn zu
verwirklichen.
Buddha empfiehlt uns, das klare Verständnis zu praktizieren, indem wir uns ständig bei allen
Gelegenheiten des täglichen Lebens an diese Gelübde erinnern. Wir fragen uns immer, ob das,
was wir tun, sagen oder denken zur Verwirklichung dieser Gelübde beiträgt, ob es uns in die
richtige Richtung weiterbringt.
Wenn man darüber nachdenkt, stellt man fest, dass man sich oft vom Weg entfernt. Der Geist ist
neugierig, möchte allerlei Dinge ausprobieren. Man entwickelt alle Arten von Wünschen. Unser
Leben verzettelt sich, weil wir allen möglichen Objekten hinterher laufen. Wir vergessen die
Richtung, der zu folgen wir gelobt haben. Wir werden von den Winden unserer Bonnos getrieben
und kommen vom Weg ab.
Es ist wie, wenn man ein Boot steuert. Man muss es immer wieder in die richtige Richtung
zurück lenken, selbst wenn der Wind in die entgegengesetzte Richtung weht, selbst wenn die
Strömungen uns von unserem Weg abbringen. Dafür müssen wir das klare Verständnis praktizieren,
das heißt, wir müssen uns immer darüber im Klaren sein, was gerade geschieht.
Dabei muss man aufpassen, nicht mit zuviel Willenskraft voranzugehen. Der Weg Buddhas ist
ein Weg der Mitte, ein Weg des Gleichgewichts. Wenn wir den Bonnos zu sehr mit unserem
Willen ein Ende machen wollen, wenn wir die Wünsche unseres Egos zu sehr unterdrücken
wollen, entstehen schließlich gegenteilige Reaktionen. Manche hören sogar mit der Praxis auf.
Statt die Bonnos loswerden zu wollen, ist es besser, sie zu erhellen und zu verstehen, so dass wir
ihre Energien in die richtige Richtung kanalisieren können. Das ist der Weg der Umwandlung,
der durch das Kesa symbolisiert wird: Beschmutzte Tücher, die von allen weggeworfen wurden,
werden aufgesammelt, gewaschen, gefärbt und zusammengenäht.
Die Umwandlung unserer Neigungen vollzieht sich durch die rechte Achtsamkeit und das klare
Verständnis. Rechte Achtsamkeit ist eine Achtsamkeit, die nicht urteilt, uns aber ermöglicht, klar
zu sehen, was geschieht, was sich in uns abspielt. Dann können wir uns an unsere Gelübde, an
den Sinn unserer Praxis erinnern und zum Zentrum unseres Lebens zurückkehren, die wahre
Natur unseres Daseins verstehen und uns mit ihr harmonisieren. Das ist der ganze Sinn der
Unterweisung Buddhas, seines Erwachens und des Vertrauens, das er allen Wesen weitergab:
Jeder kann dies seinerseits verwirklichen. Dies ist das Heilmittel aller Leiden und der Schlüssel
zum wahren, stabilen Glück.

Mondo
Unsere Praxis ist eng mit der japanischen Tradition verknüpft. Es gibt Menschen in unserem
Dojo, die große Schwierigkeiten damit haben. Warum ist es wichtig, die japanische Form zu
bewahren, wenn wir den mittleren Weg gehen wollen?
Man braucht auf jeden Fall eine Form. Womit haben die Leute Probleme in dieser japanischen
Form? Ist es die Kleidung oder die Zeremonie?
Die Kleidung und die Zeremonie.
Man ist nicht verpflichtet, einen Kimono zu tragen. Das ist nicht nötig. Man sollte einfache und
dunkle Kleidung tragen, sodass der Blick nicht gestört wird. Und was die Zeremonien angeht, ist
es schwierig an ihnen teilzunehmen, wenn man ihren Sinn nicht kennt. Anfängern kann man
sagen, dass die Teilnahme an Zeremonien freiwillig ist, dass sie nicht verpflichtet sind, an ihnen
teilzunehmen. Aber man sollte ihnen den Sinn der Zeremonien erklären und erklären, dass die
Gesten und die Sutras, die man singt, völlig Ausdruck unserer Praxis sind. Und dieser Sinn ist
universell. Er drückt das Erwachen von Zazen aus, was nicht besonders japanisch ist.
Wenn man zum Beispiel Gassho macht, drückt man die Einheit zwischen seinem Ego und seiner
Buddha-Natur aus. Die Geste hilft, diese Einheit wiederzufinden. Wenn man sich vor jemandem
oder vor einem Ort in Gassho verbeugt, drückt man seinen Respekt vor dem anderen oder dem
Ort aus, und gleichzeitig wird man eins mit ihm. Das ist gar nicht speziell japanisch. In ganz
Asien, vor allem in Indien wird Gassho praktiziert. Der Sinn dieser Geste ist absolut universell:
es ist die Verbundenheit im Respekt mit dem anderen, der einem gegenüber steht.
Wenn man sich in Sanpai niederwirft, ist diese Form ein wenig japanisch, aber sie wird auf
vielen spirituellen Wegen praktiziert. Sie drückt die Loslösung von unserem Ego aus, was auch
universell ist, der Sinn aller spirituellen Praktiken ist.
Wir singen das Hannya Shingyo, das Sutra der großen Weisheit. Es drückt völlig den Sinn von
Zazen aus. Wenn der Bodhisattva des Mitgefühls die große Weisheit praktiziert, das heißt die
rechte Sichtweise, die rechte Beobachtung, dann sieht er, dass alles, was unser Ego ausmacht,
ohne Substanz ist. Unser Ego besteht aus den fünf Skandhas: Körper, Empfindungen,
Sinneswahrnehmungen, geistige Erzeugnisse, Bewusstsein. In ihnen ist nichts Festes, sie sind
völlig unbeständig aufgrund der gegenseitigen Abhängigkeit unserer Existenz mit allen Wesen.
Diese Beobachtung hilft, die Leerheit, Ku, zu verstehen. Leerheit bedeutet eigentlich gegenseitige
Abhängigkeit oder Abwesenheit von Substanz. Dies ist der wahre Sinn des Erwachens im
Zazen. Es ist Quelle einer großen Befreiung von allen Anhaftungen, Leidensursachen und
Ängsten. Dadurch wird der Weg zum Nirvana über alle Leidensursachen hinaus – gya tei, gya tei
– geöffnet mit einem Mushotoku-Geist, mit einem Geist, der nicht egoistisch, nicht ich-bezogen
ist, und mit dem Gelübde, dies mit allen Wesen zu teilen.
Im Anschluss an das Hannya Shingyo singen wir die Vier Gelübde der Bodhisattvas. Sie sind die
Fortsetzung des Hannya Shingyo, weil sie die Weisheit und das Mitgefühl unserer Praxis ausdrücken.
Danach ehren wir die Buddhas und die Meister der Weitergabe. Wir drücken ihnen
unsere Dankbarkeit für das aus, was sie uns übermittelt haben, und auch den Bodhisattvas und
dem Sutra der großen Weisheit.
Das ist das Wesentliche, was während der Zeremonie gesungen wird. Manchmal singen wir
weitere Sutras, aber ich müsste einen ganzen Vortrag halten, um ihren Sinn zu erklären. Jedenfalls
führen sie immer zum Wesentlichen der Praxis.
Ich denke, es ist wichtig, den Sinn von dem zu verstehen, was wir praktizieren und rezitieren,
weil ich glaube, dass wir das Bedürfnis haben, es auszudrücken, es durch den Ausdruck zu
erklären, nahe zu bringen. Und ich denke, dass dies eher eine große Hilfe als ein Hindernis für
die Praxis darstellt. Die Leute, die von der Zeremonie abgeschreckt werden, verstehen sie nicht
richtig. Man hat sie ihnen nicht gut erklärt. Anderen Menschen hilft die Zeremonie in ihrer
Praxis und unterstützt sie dabei.
Natürlich braucht man eine Form, und wir benutzen die Form, die uns von Meister Deshimaru
übermittelt wurde. Aber diese Form kann sich entwickeln. Zum Beispiel singen wir heute öfter
das Hannya Shingyo auf Französisch, und der Ino rezitiert die Gelübde in der jeweiligen
Landessprache. Wenn ihr wollt, könnt ihr das Hannya Shingyo auf Deutsch singen. Man braucht
ein bisschen Übung, um den richtigen Rhythmus zu finden. Gleichzeitig ist es gut, das Hannya
Shingyo weiter auf Chinesisch zu singen. Es ist für uns ein bisschen wie Latein, unsere
universelle Sprache. Wenn man in einer Gemeinschaft ist mit Franzosen, Deutschen, Belgiern,
Italienern, Spaniern, ist es gut, eine gemeinsame Sprache zu wählen, und hier ist es die chinesische
Sprache, chinesisch-japanisch. Es ist einfach praktisch. Aber wenn ihr in eurem Dojo seid,
könnt ihr es durchaus in eurer Sprache singen.
Du hast gesagt, dass wir das Hannya Shingyo auf Chinesisch singen. Ich habe manche sagen
hören, es wäre sino-japanisch oder auch Sanskrit.
Ursprünglich ist das Hannya Shingyo in Sanskrit geschrieben worden, weil die meisten Sutras,
zumindest die ältesten, aus Indien stammen. Später wurden sie an die chinesische Sprache
angepasst. Die Japaner singen sie entweder auf Japanisch oder auf Chinesisch, aber auf japanische
Art. Das Hannya Shingyo ist nicht völlig chinesisch oder japanisch, sondern ein altchinesischer
Text, der japanisch ausgesprochen wird.
Der wichtige Aspekt beim Singen ist, völlig hier und jetzt auf den Gesang und die Aussprache
konzentriert zu sein und sich mit den anderen zu harmonisieren. Ich sage manchmal, man singt
nicht nur mit dem Mund, sondern auch mit den Ohren: Man achtet darauf, im gleichen Rhythmus
zu singen wie die anderen und nicht lauter oder leiser. Wie alle Zeremonien hat auch diese
Zeremonie die Aufgabe, die Gemeinschaft zu harmonisieren. Wenn man gemeinsam singt, wird
man eins.
Im Grunde sind wir getrennte und unterschiedliche Individuen, aber durch unsere Praxis gehen
wir über unser Ego hinaus. Wir handeln und praktizieren ausgehend von dem, was in jedem von
uns universell ist, was wir mit allen gegenseitig teilen. Dies ist auch ein wichtiger Punkt der
Zeremonie, den alle Sutras, die wir singen, ausdrücken. Sie drücken die Buddha-Natur aus, die
wir alle gemeinsam haben.
Du hast heute Morgen von den drei Giften gesprochen. Eines der Gifte ist die Gier. Wie kann
man Gier transformieren? Sie ist eine sehr starke Kraft, die ganz unterschiedliche Formen
annimmt.
Die Gier wächst mit unserer Frustration. Wenn wir im Leben unzufrieden sind, wenn wir nicht
den wahren Sinn unseres Lebens realisieren, sind wir zwangsläufig frustriert und unbefriedigt.
Dann klammern wir uns an alle möglichen Wunschobjekte. Anfangs kann es sich um kleine,
einfache Wünsche handeln, aber selbst wenn man sie erfüllt, ist man doch nicht wirklich
zufrieden. Dementsprechend wächst die Gier mit der Unzufriedenheit. Es ist wie Hunger, der
stärker wird, wenn man keine angemessene Nahrung findet. Um der Gier abzuhelfen, um sie
umzuwandeln, muss man versuchen, seinen wahren, tiefen Wunsch zu finden. Was wünscht man
wirklich in seinem Leben?
Meiner Meinung nach ist es der Wunsch nach spiritueller Verwirklichung, der Wunsch, das zu
werden, was man in der Tiefe wirklich ist.
Wenn man soweit ist, sich in die Richtung dieses großen Wunschs zu bewegen, werden die
anderen Wünsche viel weniger wichtig. Die ganze Energie, die man für seine Gier mobilisiert
hat, wird plötzlich verfügbar für die Praxis, um auf dem Weg des Erwachens zu gehen. Man
kann sagen, dass eine Art Sublimierung unserer Triebe erfolgt, aber ich glaube noch nicht
einmal, dass es sich um eine Sublimierung handelt. Es ist eher die Rückkehr zu dem, was in uns
authentisch ist, was im Grunde unser wahrer Wunsch ist. Dies zu verstehen ist meines Erachtens
das Vorrangige in unserem Leben. Sonst verzettelt man sich in alle Richtungen, und nichts von
dem, was man verfolgt, kann wirklich zufriedenstellend gelingen. Man wird nur wieder
unzufrieden und entwickelt erneut Gier. Es ist ein Teufelskreis.

 

Samstag, 5.10.2013, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Bringt eure Aufmerksamkeit
immer wieder zur Körperhaltung zurück. Drückt den Kopf in den Himmel und die Knie auf den
Boden. Atmet ruhig durch die Nase ein und aus und lasst alle Gedanken vorbeiziehen.
Wenn wir so praktizieren, findet unser Geist seine natürliche Freiheit wieder. Nichts stört uns,
denn alles, was während Zazen erscheint, ist Ausdruck der höchsten Wirklichkeit. Wenn wir auf
nichts stagnieren, können wir uns mit dieser höchsten Wirklichkeit harmonisieren, indem wir all
unsere Anhaftungen loslassen. Wir dürfen nie vergessen, dass der Sinn unserer Praxis die
Befreiung von Körper und Geist ist, die Befreiung von allen Illusionen und Konditionierungen,
die Leiden verursachen.
An einem Sesshin teilzunehmen ist die Gelegenheit, zu diesem essentiellen Punkt zurückzukehren.
Im täglichen Leben verzetteln wir uns in allen möglichen unterschiedlichen
Aktivitäten. Dabei vergessen wir oft den Sinn unseres Lebens, so dass uns der Alltag manchmal
absurd erscheint. Auf einem Sesshin haben wir die Möglichkeit, uns wieder auf das Wesentliche
zu konzentrieren.
Der Sinn unserer Praxis wird zum Sinn unseres Lebens. Es geht darum, sich mit dem Dharma zu
harmonisieren. Das Dharma ist nicht nur die Unterweisung Buddhas über die Wirklichkeit, es ist
die Wirklichkeit selbst. Wir sind eingeladen, die gleichen Erfahrungen wie Buddha zu machen:
diese Wirklichkeit, deren Teil wir sind, zu entdecken und zu lernen, uns mit ihr in Einklang zu
bringen.
Genau das drücken wir aus, wenn wir die Vier Gelübde der Bodhisattvas singen. Sie erinnern
uns an den Sinn unserer Praxis und unseres Lebens. Manchmal erscheinen uns diese Gelübde zu
groß, zu erhaben. Allen Wesen helfen, sich zu befreien, alle Leidensursachen zu heilen, alle
Unterweisungen Buddhas zu studieren, den höchsten Weg zu verwirklichen, klingt wie eine
Idealvorstellung.
Manchmal sind einige von dem Abstand zwischen der Wirklichkeit ihres Lebens und ihren
Idealvorstellungen entmutigt. Zu diesem Thema unterwies Buddha das klare Verständnis der
Zweckmäßigkeit.
Wie können wir unsere Praxis an unsere Lebensumstände anpassen? Indem wir die Essenz dieser
Praxis verstehen, das heißt klar sehen, dass alle Phänomene, denen wir begegnen und die unser
Leben ausmachen, die höchste Wirklichkeit ausdrücken. Es sind wahre Koans. Sie manifestieren
alle die Unbeständigkeit und Abwesenheit von fester Substanz in allem, was existiert, das heißt
auch, in uns selbst. Dies liegt an der gegenseitigen Abhängigkeit zwischen allem, was im
Universum existiert. Nichts hat eine getrennte, isolierte Existenz. Wir existieren alle durch
Beziehungen miteinander, mit der Luft, die wir atmen, mit der Nahrung, die wir aufnehmen,
durch unsere Aktivitäten zusammen mit den anderen.
Wenn wir dies nicht erkennen, wenn wir diese Wirklichkeit nicht akzeptieren, wird unser Leben
chaotisch. Aber es wird harmonisch, wenn wir es sehen und akzeptieren. Jeder Ort, an dem wir
uns befinden, jeder Moment, jeder Umstand wird zu einer Gelegenheit, dieses Verständnis zu
realisieren. Folglich ist nichts außerhalb der Praxis des Dharmas. An jedem Tag, in jedem
Augenblick kann man einen Schritt vorwärts in Richtung des Dharmas machen. Manchmal ist
der Schritt groß, manchmal nur klein, aber dank des klaren Verständnisses der Zweckmäßigkeit
kann man immer weitergehen. Selbst etwas, das wir für ein Hindernis halten, kann eine
Gelegenheit sein, um zu praktizieren.
Der Bereich unserer Praxis ist auch nicht auf das Dojo, auf Zazen oder auf das Sesshin begrenzt.
Unser ganzes tägliches Leben ist der Raum, in dem sich unsere Praxis entfalten kann. Auf einem
Sesshin können wir uns darüber klar bewusst werden und in diese Richtung üben, zusammen mit
der Sangha, der Gemeinschaft derer, die die gleichen Gelübde teilen, die Gelübde der Befreiung
von allen Leidensursachen durch die Verwirklichung des Erwachens.

 

Samstag, 5. Oktober 2014, 11 Uhr
Auf diesem Sesshin strengt sich jeder an, um sich auf die Praxis zu konzentrieren. Es geht
darum, ein klares Verständnis der Wirklichkeit zu bekommen. Bestimmt wird jeder vom Geist
des Erwachens geleitet. Aber oft sieht man das Erwachen in der Praxis als fernes Ziel an, obwohl
es doch darum geht, hier und jetzt zu erwachen. Aber wie?
Das Erwachen ist nicht etwas, das es zu erlangen gilt. Es ist überhaupt nicht etwas. Es ist nichts
Substanzielles, sondern eine Funktionsweise in Harmonie mit der Wirklichkeit. Wir müssten
daher eher das Verb ‚erwachen’ benutzen als das Substantiv ‚Erwachen’, denn das Erwachen hat
keine Substanz. Es ist eine Praxis, eine Lebensweise, eine Denkweise. Es geht darum, ein klares
Verständnis der Wirklichkeit zu haben, indem man aus seinen Illusionen heraus erwacht.
Aus welchen Illusionen? Davon gibt es allerlei. Aber die Wurzel aller Illusionen ist zu glauben,
ein substanzielles Ego zu besitzen. Es ist die Anhaftung an das Ich und das Mein, der Glaube,
dass das Ich eine substanzielle Existenz hat und aus sich selbst heraus besteht. Daher hofft man,
dass man ewig ist. Unterdessen hält man seine Wünsche für die Wirklichkeit und glaubt, ein
beständiges Ego zu haben. Dies ist die Ursache aller anderen Illusionen.
Gestern sprachen wir von der Gier. Gier wird hauptsächlich von der Anhaftung an das Ego
verursacht, denn um dieses für substanziell gehaltene Ego aufzubauen, stellt man es dem ganzen
Rest entgegen. Man macht eine radikale Trennung zwischen sich selbst und dem Rest der Welt.
Infolgedessen leidet man an einem grundlegenden Mangel: Es fehlt all das, was man aufgegeben
hat, um dieses Ego aufzubauen. Man fängt an, sich abzusondern und fühlt sich elend, allein und
arm. Es fehlt immer etwas.
So startet der Reigen der Wünsche, das Rad des Samsara. Es ist unsere grundlegende
Unwissenheit, die dieses Rad zum Drehen bringt. Eigentlich handelt es sich eher um ein
Vergessen. Wir haben vergessen, was wir in Wirklichkeit sind: eins mit dem ganzen Universum,
jenseits von Überfluss und Mangel, fest mit allen Wesen verbunden. Es ist notwendig, dies klar
zu verstehen, aber nicht ausreichend, denn dieses Verständnis steht im Gegensatz zu allen
Gewohnheiten, die wir uns seit unserer Kindheit angeeignet haben. Wir haben gelernt, unser Ego
zu entwickeln und zu stärken, und hassen alles, was sich ihm entgegenstellt. Wenn unser Ego
sich mit einer Gruppe identifiziert, wie das meistens der Fall ist, ob die Gruppe jetzt eine
gesellschaftliche Klasse ist, eine politische Partei, eine Nation, eine Rasse oder eine Religion,
wird alles, von dem wir glauben, dass es im Gegensatz zu ihr steht, zu unserem Feind und zum
Gegenstand unseres Hasses. Ob auf individueller oder gemeinschaftlicher Ebene, man spürt
immer wieder Gefahren für sein Ego. Man macht sich Sorgen und hat alle möglichen Ängste, die
wiederum Aggressivität und Gier zur Folge haben, um sich weiter zu bestärken.
Es reicht nicht aus, diesen Prozess zu erkennen und zu verstehen. Wir müssen in unserem Leben
das Loslassen dieser Illusion üben. Dazu haben wir unzählige Gelegenheiten. Wenn man sich
zum Beispiel von einer Kritik angegriffen oder entehrt fühlt, wenn man durch sie deprimiert
wird, hat man eine Gelegenheit, von dieser Illusion zu erwachen. Was ist dieses Ego, das sich
verletzt fühlt? Im Grunde ist es nichts. So wie man den Kindern sagt, wenn sie weinen: „Das ist
nichts, das geht vorbei“. Es geht vorbei, weil es keine Substanz, keine Wirklichkeit hat.
Nur durch die wiederholte Praxis des Loslassens kann das Verständnis dieser Wirklichkeit zum
Erwachen führen. Sie führt zur wahren Befreiung, zu einer Quelle der Freude und zum Frieden
des Geistes. Aber wenn man seine Art und Weise, die Dinge wahrzunehmen, nicht ändert, bleibt
man immer Gefangener seiner schlechten Gewohnheiten, selbst wenn man die Leerheit verstanden
hat. Und man verzweifelt an der Kluft zwischen seinen Idealvorstellungen und der
Wirklichkeit, in der man lebt. Aus diesem Grund muss man dringend diese Kluft, diese Distanz
überwinden.
Das ist der Sinn der wiederholten Praxis, des Gyoji. Wir haben das Glück, dies ständig
praktizieren zu können, denn alle Phänomene, denen wir begegnen, zeigen uns die Wirklichkeit.
Sie geben uns die Gelegenheit, uns mit ihr zu harmonisieren, indem unser Geist durch die
wiederholte Praxis des Loslassens wendiger wird, wie durch eine Gymnastik.
So kann man den wendigen Geist verwirklichen, den Meister Nyojo ‚yunanshin’ nannte. Als
Meister Dogen ihn fragte, wie man ihn verwirklichen kann, antwortete er: „Praktiziert weiter
das, was ihr hier mit mir praktiziert: shinjin datsuraku, die Anhaftung an Körper und Geist
loslassen.“ Es ist auch das, was wir hier praktizieren. Und ich wünsche mir, dass diese Praxis nie
aufhört und nicht auf dieses Dojo und auf dieses Sesshin begrenzt ist, sondern zu dem wird, was
all unser Dasein antreibt, zum größten Glück aller, ohne Unterscheidung, ohne Trennung
zwischen den anderen und einem selbst.

Mondo
Kannst du bitte erklären, wie man atmet.
Wenn man mit Zazen anfängt, sollte man zuerst beobachten, wie man atmet. Die grundlegende
Unterweisung Buddhas dazu ist, sich seiner Atmung bewusst zu sein. Man darf nicht denken,
dass es eine falsche Art und Weise des Atmens gibt; einfach beobachten, wie es atmet. Wenn du
deine Atmung beobachtest, wirst du natürlich einige Dinge bemerken. Manchmal ist die Atmung
oberflächlich, manchmal tiefer, manchmal lang, manchmal kurz, manchmal ist die Einatmung
lang und die Ausatmung kurz. Es ist gut, zu beobachten was geschieht. Das erste Ergebnis dieser
Beobachtung ist, uns wirklich zur Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks zurückzubringen.
Die grundlegende Unterweisung Buddhas ist, sich seiner Atmung bewusst zu sein, ohne etwas
Besonderes zu tun. Gerade in der Zen-Unterweisung gibt es nun bestimmte Anleitungen zum
Atmen. Besonders Meister Deshimaru lehrte, dass man sich mehr auf die Ausatmung
konzentrieren soll. Wenn man seine Atmung beobachtet, stellt man im Allgemeinen fest, dass sie
oberflächlich ist, dass man nicht voll und ganz atmet, weil es eine Blockade gibt, die
möglicherweise auf den Stress des Alltags zurückzuführen ist. Aus diesem Grund sind wir oft
wie Menschen, die Angst haben zu ertrinken, und sich deswegen nicht trauen, völlig auszuatmen.
Sie wollen soviel Luft möglich in sich behalten und trauen sich nicht, sich in der tiefen
Ausatmung aufzugeben. Wenn man hier etwas ändern möchte, muss man erst einmal lernen, sich
auf die Ausatmung zu konzentrieren, das heißt, zuerst beobachten, und dann die Atmung leicht
verändern, indem man auf eine lange Ausatmung achtet und versucht, bis ans Ende der
Ausatmung zu gehen, so wie wir es beim Kinhin machen. Beim Kinhin macht man bei der
Einatmung einen kleinen Schritt und atmet dann langsam aus. Man atmet vollständig aus und
drückt am Ende nochmal nach unten in Richtung Unterbauch, um die Lungen völlig zu leeren.
Übrigens sind die Lungen nie leer, sie beinhalten immer mindestens einen Liter Luft. Auf jeden
Fall sollte man so weit wie möglich ausatmen, um die verbrauchte Luft auszustoßen und danach
tief einatmen zu können.
Bei der Zen-Atmung atmen wir nach unten aus zum Hara. Wir drücken auf den Unterbauch,
nicht nach vorne sondern nach unten. Ganz am Ende der Ausatmung gibt es eine leichte
Ausdehnung unterhalb des Nabels. Meister Deshimaru hielt beim Kinhin manchmal seine Hand
drei Zentimeter unterhalb des Nabels und erwartete, dass man seine Hand mit der Bewegung des
Ausatmens wegdrückt. So kann die Einatmung tiefer werden.
Dies ist eine Übung, um zu lernen, die Fehler der Atmung zu korrigieren, die sich im Laufe der
Zeit mit dem Stress eingestellt haben. Aber man muss vermeiden, aus der Zen-Praxis eine reine
Atemübung zu machen. Man kann sie eine kurze Zeit ausführen, aber nicht zu lange. Danach
sollte man die Atmung wieder natürlich geschehen lassen. Andernfalls, wenn man die Atmung
zu sehr kontrollieren will, lässt man das Ego nicht los, dann ist immer das Ego da, das etwas
will. Zazen darf nicht zu einer derartigen Übung werden. Sich einfach bewusst werden, was
geschieht und loslassen, einschließlich der Absicht, tief auszuatmen. Zu beobachten, dass man
jetzt tief einatmet oder lange ausatmet, ist auch eine Übung. Buddha lehrte, dass man sich selber
beobachten soll, aber dies ist nur eine Übung, um bewusster zu werden. Wenn man sich der
Atmung völlig bewusst ist, wird man am Ende eins mit der Bewegung des Atmens. Dann atmet
man ein und aus und gibt dabei den berechnenden, vergleichenden Geist auf. Man wird einfach
ein Körper und Geist, der ganz natürlich und ohne zu denken einatmet und ausatmet. Man
überlegt nicht mehr, dass die Ausatmung tief sein muss, dass man das Hara entwickeln und auf
die Eingeweide drücken sollte. Sonst wird Zazen nur eine durch das Ego kontrollierte Übung und
nicht zu einem Loslassen, zu einer Befreiung. Zuviel Willenskraft ist nicht gut. Man kann sie
einen Moment lang als Übung benutzen, um Fehler zu korrigieren, die aus Stress oder
Konditionierungen entstanden sind, damit man eine bessere Atmung erfährt, aber danach muss
man die Dinge wieder natürlich geschehen lassen. Wenn man sich in seiner Haltung gut fühlt,
wenn sie im Gleichgewicht und entspannt ist, gibt man jede Absicht auf, etwas Besonderes
erreichen zu wollen. In diesem Moment entsteht eine große Entspannung in Körper und Geist.
Diese Entspannung hat zufolge, dass die Atmung länger wird.
Heute Morgen hast du gesagt, dass das Ego nur ein mentales Konstrukt ist, eine Sache, die man
möglichst schnell loslassen sollte. Kannst du das näher erläutern? – Aus meiner Erfahrung
heraus wünsche ich mir ein riesengroßes Ego, weil ich das Gefühl habe, dass damit alle meine
Probleme und Schwierigkeiten gelöst wären. Ein anderer Aspekt ist, dass ich bei anderen
Menschen sehr wohl wahrnehme, ob sie ihr Ego lieben und annehmen oder nicht.
Magst du dein Ego nicht, weil es nicht groß genug ist?
Ich komme hierher, damit es größer wird.
Das ist eine gute Idee! Aber dabei muss das Ego wirklich größer werden, viel größer, bis zu dem
Punkt, wo es das ganze Universum einschließt, bis zu dem Punkt, wo es keine Trennung mehr
zwischen dir und dem ganzen Universum gibt. Das ist die Verwirklichung des wahren Selbst, der
wahren Natur unserer Existenz, die in Wirklichkeit ohne Trennung ist.
Was ich heute früh als Konstruktion bezeichnet habe, ist die persönliche Identität, die wir
selbstverständlich aufbauen müssen, um uns von anderen zu unterscheiden. Es ist notwendig,
eine persönliche Identität zu entwickeln, sie ist ein Teil der Entwicklung der menschlichen
Psyche. Um die Identität aufzubauen, muss man sich von der äußeren Welt abgrenzen, von
Mutter und Vater, den anderen Menschen, der ganzen Umgebung, der Natur. Bei der Entwicklung
der Individualität erzeugt man gewisse Trennungen und ist nicht mehr in einem Zustand der
Verschmelzung mit dem ganzen Universum. Dies ist eine notwendige Etappe in der psychischen
Entwicklung. Aber währenddessen verarmt man, man verkleinert das Sein, denn ursprünglich
gab es keine Trennung zwischen uns und dem ganzen Universum. Aber um ich selbst zu werden,
musste ich alles ausschließen, was nicht ich ist.
In diesem Zeitraum beginnt ein Kind ‚nein’ zu sagen und sich zu widersetzen. Es versucht, das
zu kriegen, was es mag, und weist das ab, was es nicht mag. Es ist der ganz normale Prozess der
Konstruktion des Egos. Aber jenseits dieses normalen Prozesses entsteht das Problem, dass wir
an diesem Punkt stehenbleiben, wir bleiben in dieser Phase blockiert. Wir haben dermaßen viel
Energie in den Aufbau unserer Individualität gesteckt, dass wir vergessen, dass diese Individualität,
dieses Ego eigentlich eine Konstruktion ist, und dass wir uns angestrengt haben, um
diese Identität aufzubauen. – Ich sage noch einmal: diese Konstruktion ist notwendig, aber sie ist
nur eine Konstruktion.
Wenn man das versteht, kann man diese Konstruktion relativieren und diese andere Dimension
wiederfinden, die wir vergessen haben. Diese Dimension ist viel größer, viel weiter als unser
kleines Ego, das in diesem Hautsack eingeschlossen ist. – Alle Religionen versuchen, uns diese
Dimension wiederfinden zu lassen. Im Christentum sagt man, wir wurden nach dem Bild Gottes
geschaffen. Jeder Mensch hat Gott in sich. Für die Christen ist diese Dimension wichtig. Aber
was bedeutet es, ein Abbild Gottes zu sein? Es bedeutet, nicht auf sein kleines Ego begrenzt zu
sein. Gott ist groß! Es ist folglich eine Einladung zu wachsen.
Es geht also nicht darum, das Ego zu zerstören, sondern es als Konstruktion zu betrachten. Ja, es
existiert. Dieses Ego bin ich, aber ich bin nicht begrenzt auf dieses Ego; mein Leben ist noch
etwas anderes, geht über das Ego hinaus. Das Ego ist wie ein Kleidungsstück, aber man wird
nicht auf dieses Kleidungsstück reduziert.
Das gilt auch für die gesellschaftliche Stellung: „Ich bin Architekt.“, „Ich bin die Gemahlin von
Herrn Soundso.“, „Ich bin die Mutter von …“ – Natürlich ist man das, aber nicht nur. Hier kann
man den weiten Geist wiederfinden, die Dimension des Daseins, die nicht auf die Dinge, mit
denen man sich identifiziert hat, begrenzt ist. Der Mensch bemüht sich, durch eine
Meditationspraxis, durch eine spirituelle Praxis das wahre Selbst wiederzufinden, das sich jenseits
der begrenzten Konstruktion, die man Ego nennt, befindet. Im Zen nennt man es Buddha-
Natur, aber diese Buddha-Natur, die wir sind, ist im Grunde genommen unsere Existenz in
völliger gegenseitiger Abhängigkeit mit allen Wesen. Wir müssen realisieren, dass wir nur in
wechselseitigen Beziehungen existieren. Ich bin nicht nur ich, ich bin auch du, ich bin auch die
anderen, ich bin auch die Bäume, ich bin auch die Berge, der Himmel, die Erde, weil ich in
völliger gegenseitiger Abhängigkeit mit all dem bin. Und letztendlich kann ich eine Atmung,
eine Weite, eine Dimension des Daseins wiederfinden, die viel größer ist als diese kleine, enge
Idee, die man von sich hat.
Es geht somit nicht darum, das Ego auszulöschen. Man muss es als das ansehen, was es ist: eine
nützliche Konstruktion. Aber wir dürfen nicht in ihm eingeschlossen bleiben, sondern müssen
einen Weg finden, über das Ego hinauszugehen in eine viel weitere Dimension. Das ist genau
das, was du suchst.
Nun sucht man oft nach etwas Größerem, weil man sich in seinem Ego beengt fühlt. Man
möchte größer sein. Aber was bedeutet Größe? Man will reicher werden, möchte mehr Macht
und Ansehen haben oder eine bessere gesellschaftliche Stellung. Man will der größte Architekt
der Welt werden, der für seine Gebäude bewundert wird. Aber es ist ein Irrtum, eine Illusion, zu
glauben, solche Dinge wären Ausdruck von Größe, sie sind nur eine weitere Illusion des Egos.
Wahre Größe ist, die wirkliche Natur unserer Existenz wiederzufinden, die nicht von dem
abhängt, was wir besitzen oder was wir erreicht haben: materieller Gewinn, gesellschaftliche
Stellung, Macht und derartiges. Das sind Dinge, die die Menschen bewundern. Sie glauben, dass
man groß ist, weil man eine Karriere gemacht hat. Aber die Karriere eines Bodhisattvas ist,
immer weiter zur tiefsten Dimension des Lebens zu erwachen, um den Menschen zu helfen, sich
selbst aus ihrem Gefangensein zu befreien, so wie wir selber in unserem kleinen Ego gefangen
sind. Solange wir in den Dimensionen dieses kleinen Egos gefangen sind, können wir nie im
Leben befriedigt sein. Irgendetwas fehlt uns immer. Es fühlt sich eng an, so dass wir immer den
Eindruck haben, es fehle etwas, etwas, das wir erreichen könnten. Deshalb erzeugen wir immer
mehr Wünsche, und uns geht es nicht gut, weil wir denken, dieses oder jenes noch nicht erreicht
zu haben. Da wir immer etwas anderes haben wollen, werden wir Sklaven unserer Wünsche.
Selbst wenn wir unsere Wünsche erfüllt haben, können sie uns nicht befriedigen, weil sie nicht
das sind, was wir wirklich benötigen. Was wir brauchen ist, uns von der Illusion, nur dieses
kleine Ego zu sein, zu befreien. Wir müssen erwachen zur größeren Dimension unseres Lebens.
Das ist genau das Ziel der Zen-Praxis. Und ich denke auch, dass alle großen spirituellen Wege in
diese Richtung gehen. Ich denke, wenn du wachsen, größer werden willst, musst du die Anhaftung
an diese Vorstellung von der Ego-Konstruktion loslassen. Du wirst nicht größer, wenn du
versucht, dieses Ego zu stärken, sondern indem du dich von dieser Identifikation befreist und dir
die Möglichkeit gibst, zu dem zu werden, was du wirklich in der Tiefe bist.
Du bist eine praktizierende Christin. Wie kannst du ein Abbild Gottes werden? – Ich glaube, das
ist es, was du verwirklichen musst. Für eine Christin ist das das einzig Wichtige im Leben.
Ich habe viel mit Menschen in gehobenen Managementpositionen zu tun, für die Gier und Profit
eine große Rolle spielen. Ich habe den Eindruck, dass diese Menschen einen weiten Weg vor
sich haben, um zur Spiritualität zu finden. Wenn sie etwas tun, erwarten sie sofort ein Ergebnis.
Ich glaube, dass es in unserer Leistungsgesellschaft ein Riesenproblem gibt. Wie kann man
diesen Weg zur Spiritualität beschleunigen?
Man kann diesen Menschen helfen, sich darüber bewusst zu werden, in Momenten, in denen sie
bereit sind, etwas zu hinterfragen, in denen sie zweifeln, ob es wirklich der gute Weg ist. Ich
denke, man müsste vielleicht Zweifel säen, sodass die Leute anfangen darüber nachzudenken, ob
das, was sie verfolgen, wirklich die einzig wichtige Sache im Leben ist. Man sollte ihnen nicht
sagen, dass sie mit ihren Geschäften aufhören müssen. Es ist wie mit dem Ego: Das ist nicht alles
im Leben, da gibt es noch mehr. So können sie ihr Verlangen nach Reichtum relativieren und
verstehen, dass es nicht das ist, was wirklich zufrieden stellt.
Was ist wahrer Profit? Man darf nicht sagen, dass Profit nicht gut ist, im Gegenteil. Ich denke,
dass sie hinter einem viel zu kleinen Profit her sind: „Reich werden ist kein großer Profit, da gibt
es etwas Größeres.“
Ich wurde mal zu einem Seminar mit Geschäftsführern eingeladen, um über Zen zu sprechen.
Am Anfang setzte ich mich auf einen Tisch und machte Zazen. Ich sagte den Anwesenden, dass
ich nicht verstehe, weshalb man mich eingeladen hatte und weshalb ich hier sei, weil Zen ohne
Profit ist, mushotoku. Sie seien doch nur am Profit interessiert, und ich wüsste nicht, ob es
nützen würde, wenn ich bliebe. Sie waren schockiert. Den Rest des Tages verbrachten wir damit,
zu diskutieren, was wahrer Profit sei. Dadurch wurden viele interessante Türen geöffnet. Am
Ende kamen wir darüber überein, dass wahrer Profit zum Beispiel nicht nur das Finanzergebnis
eines Unternehmens sei. Wie kann ein Unternehmen in gegenseitiger Abhängigkeit mit seiner
ganzen Umgebung für eine maximale Anzahl von Personen profitabel sein, also für seine
Angestellten, für seine Partner, seine Kunden und die Umgebung? Man muss den Begriff ‚Profit’
zum ‚wohltätigen Profit’ erweitern, sodass das Unternehmen den größtmöglichen Nutzen
bringen kann. Das ist nicht widersprüchlich! Es ist reines Ego-Denken zu sagen: „Wenn man
allen Nutzen bringen will, wird dies unseren Profit verkleinern.“ Ein Unternehmen ist letztlich
völlig von seiner Umgebung abhängig. Wenn es für Lieferanten, Kunden und Angestellte
vorteilhaft ist, werden all diese Partner auch zum Gewinn des Unternehmens beitragen wollen,
wodurch eine bessere Zusammenarbeit entsteht.
Dieser Gedanke mag in vielen Unternehmen noch nicht angekommen sein, aber Leute wie du,
die weiter denken, können ein wenig Zweifel säen, um die Möglichkeit zu eröffnen, anders
nachzudenken. Aber nicht, indem man sich völlig widersetzt und das Profitstreben verteufelt.
Man muss nach dem wahren Profit fragen und den Profit-Begriff so erweitern, dass die
größtmögliche Anzahl von Menschen profitieren kann. Wenn ein Geschäftsführer anfängt, in
diese Richtung nachzudenken, wird seine Arbeit auch viel interessanter, sie bekommt in seinen
Augen mehr Sinn und einen größeren Wert. Er wird sich nützlicher fühlen mit dieser neuen
Vision, mit seiner neuen Rolle. Mit dieser neuen Vision wird es ihm besser gehen, er wird
glücklicher mit seiner Arbeit sein, was zu einem besseren Arbeitsklima führt. Es gibt bereits
Erfahrungen, dass es so funktionieren kann.
Letztlich ist es eine Frage von kurzzeitiger oder langzeitiger Planung. Kurzzeitiger Profit ist,
sofort so viel Geld wie möglich zu machen, indem man die Menschen ausnutzt. Wenn man
langfristig denkt, kann es keinen dauerhaften Profit geben, ohne mit allen Partnern gut
zusammenzuarbeiten. Wenn die Führungskräfte eines Unternehmens, die Abteilungsleiter,
demotiviert sind, weil ihre Tätigkeit in ihren Augen keinen Sinn machen, wenn sie nur arbeiten,
um für ein paar gierige Leute Gewinn zu erbringen, werden sie am Ende nicht mehr für das
Unternehmen von Nutzen sein.
Ich denke, man darf nicht aufgeben. Eine Veränderung ist möglich, aber sie ist sicherlich
schwierig, weil es nicht der heutigen Mentalität entspricht. Dennoch gibt es einige Menschen,
die bewusster sind als andere. Sie können anderen helfen, bewusster zu werden. Vielleicht ist das
deine Rolle.
Mein Alltag ist sehr stressig. Oft fühle ich mich wie in einer Einbahnstraße, in der ich nur in
einer Richtung vorankomme. Ich bin auf einem Weg, von dem ich nicht weiß, ob es der richtige
ist und wie ich ihn verlassen kann. Auf diesem Weg finde ich keine Befriedigung in dem, was ich
tue, und ich möchte weg von diesem Zustand.
Sehr gut! Das ist ein guter Ausgangspunkt. Du musst diesen Zustand erstmal vertiefen, das heißt
verstehen, warum du in dieser Situation steckst. Was ist passiert? Ich kenne die Details deines
Lebens nicht, aber im Allgemeinen kann man den Geisteszustand ändern, wenn man sich in einer
Sackgasse befindet. Du hast dich selbst in diese Sackgasse begeben, du hast Entscheidungen
getroffen und steckst jetzt fest. Dies ist der Moment, in dem du dich fragen musst, ob du in die
richtige Richtung gehst. Was machst du? In welche Richtung gehst du gerade?
Ich bin Dachdecker. Das ist eigentlich ein guter Beruf, aber durch zu viel Arbeit bin ich ständig
gestresst und verliere oft den Blick für das Ganze. In meiner Freizeit kann ich auch nicht gut
abschalten.
Viele Betriebe folgen dem Mythos, immer wachsen zu müssen. Es ist vielleicht besser, das, was
man tut, gut zu machen und auf Qualität zu achten. Es führt im Wirtschaftsleben zu größerer
Sicherheit, wenn man gute Qualität liefert anstatt nur mehr und mehr. Vielleicht hat dein Betrieb
Angst zu verschwinden, wenn er nicht wächst. Vielleicht ist dein Vorgesetzter auch einfach zu
geizig, um neue Angestellte einzustellen. Man braucht mehr Leute, um den Stress zu verringern.
Was kann ich tun, um nach der Arbeit den Stress loszulassen?
Erstmal solltest du sehen, was zu tun ist, um bei der Arbeit selbst nicht gestresst zu werden. Es
gibt auch eine gute Art von Stress, die zur Arbeit anregen kann, die motiviert, qualitativ gute
Arbeit unter normalen Bedingungen zu erbringen. Du könntest versuchen, in jedem Augenblick
aus deiner Arbeit eine Zen-Praxis zu machen. Du hast das Glück, körperlich arbeiten zu können,
mit Werkzeugen und deinen Händen wie beim Samu auf einem Sesshin. Versuche, aus deiner
Arbeit eine Zen-Praxis zu machen.
Zen ich nicht dazu da, um nach der Arbeit den Stress loszuwerden. Zen ist in der Art und Weise,
wie du arbeitest, wie du in jedem Augenblick bist, bei deiner Arbeit und in deinem Leben. So
kannst du gleichzeitig effizient und entspannt arbeiten. Das solltest du als erstes umsetzen. Wenn
du deine Arbeit als mühsam empfindest, als etwas, das gemacht werden muss, dich aber nicht
wirklich befriedigt, und du dich wie in einer Einbahnstraße fühlst, kann dir nach der Arbeit Zen
im Dojo gut tun. Aber wenn du in deinem Arbeitsleben zu sehr gestresst wirst, kann dir die
Zazen-Praxis nur schwer helfen.
Die beste Hilfe, die Zazen die geben kann, ist, deine Arbeit als Zen-Praxis zu betrachten. Das
heißt zu versuchen, bei der Arbeit in deinem Körper, in deiner Haltung gut konzentriert und
ausgeglichen zu sein, gut zu atmen, dich nicht von deinem Vorgesetzten unter Druck setzen zu
lassen, konzentriert zu bleiben auf das, was du zu tun hast, ohne an etwas anderes zu denken.
Letztlich wirst du durch deine Arbeit anerkannt werden, das ist alles. Man kann in einem Betrieb
geschätzt werden, einfach weil man gut arbeitet. Versuche, dir nicht den Stress deines
Vorgesetzten aufzuerlegen. Seine Gier ist sein Problem. Du machst deine Arbeit ganz in Ruhe
und konzentriert, ohne an etwas anderes zu denken. Dann ist deine Arbeit bereits wie eine Zen-
Praxis, und danach geht dein Leben weiter.
Man darf die Arbeit nicht den anderen Dingen des Lebens wie Freizeit, Vergnügen, Spiritualität
entgegenstellen. Versuche, aus deinem Leben eine Einheit zu machen. Alles wird zu einer Zen-
Praxis, dann gibt es keine Sackgasse mehr, keine Mauern. Wenn du so praktizierst, verschwinden
die Mauern, weil du deinen Geisteszustand änderst.

 

Sonntag, 6. Oktober 2014, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen weiter auf die Körperhaltung. Atmet ruhig durch die Nase ein
und aus und lasst die Gedanken vorbeiziehen. Unsere Praxis ist nicht auf Zazen begrenzt, aber in
dieser Haltung und während Zazen kann man sich am besten konzentrieren. Wenn man daran
gewöhnt ist, Zazen zu praktizieren, kann man in allen Situationen des Lebens zu dieser
Konzentration auf Körper und Atmung zurückkehren und alle Gedanken vorbeiziehen lassen.
Damit wird es uns möglich, die Einheit unseres Lebens mit dem gegenwärtigen Augenblick
wiederzufinden.
Heutzutage sind viele Menschen sehr gestresst, weil sie sich immer zu etwas anderem
hinwenden. Statt eine Sache nur um ihrer selbst willen zu machen, machen sie sie stets mit dem
Ziel, etwas anderes erreichen zu wollen. Statt seine Arbeit einfach als Arbeit zu erledigen, macht
man sie, um sich zu bereichern oder um Karriere zu machen. Dabei wird man von der Angst
begleitet, keinen Erfolg zu haben. Auf diese Weise lebt man ständig mit Spannungen und
Sorgen, sodass viele Menschen bei einem Burnout landen. Sie haben keine Energie mehr, um aus
der Sackgasse herauszufinden, in die sie sich selber begeben haben. In so einem Moment ist es
für sie dringend, zu der Einfachheit der Zazen-Praxis zurückzukehren.
In Zazen begnügt man sich nicht damit, nur seinen Körper zu beobachten. Die Betrachtung des
Körpers ermöglicht es, hier und jetzt völlig gegenwärtig zu sein. Danach beobachtet man alles,
was hier und jetzt geschieht, insbesondere die Empfindungen. Wenn man sich gut fühlt, hat man
angenehme Empfindungen. In anderen Momenten hat man Schmerzen im Rücken oder in den
Knien und verspürt unangenehme Empfindungen. Aber in Zazen geht es nicht darum, angenehme
Empfindungen festzuhalten und unangenehme Empfindungen zu vermeiden. Stattdessen
empfangen wir alle Empfindungen so, wie sie sind, ohne ihnen anzuhaften. Wir durchqueren alle
Erfahrungen, die wir in Zazen erleben, ohne bei ihnen zu verweilen, ohne zu stagnieren. So
finden wir immer einen frischen, neuen und verfügbaren Geist wieder, der bereit ist, in jedem
Augenblick Neues zu empfangen.
Nicht nur unsere Empfindungen sind unbeständig, auch unser Geisteszustand ändert sich
unaufhörlich. Es ist der dritte Aspekt der Achtsamkeitspraxis, nicht nur auf seine Empfindungen
achten, sondern auch auf seinen Geisteszustand. Das heißt zum Beispiel, sich der Wünsche
bewusst zu sein, die auftauchen, aber auch dem Hass oder der Illusionen. Man hasst alles, was
das Ego stört, und klammert sich an das, was es bestärkt, selbst wenn es völlig illusorisch ist.
Während Zazen beobachten wir all das, aber wir halten nichts fest. Manchmal sind wir konzentriert,
manchmal sind wir zerstreut oder schläfrig. All das ist Teil der Landschaft von Zazen. Wir
durchqueren sie und betrachten alles, ohne zu verweilen.
Wir beobachten auch, wie Phänomene auftauchen und verschwinden. Wir beobachten, dass sie
von allen möglichen Ursachen und Bedingungen konditioniert sind und keine eigene Substanz
haben. Daher können sie sich verändern. Wir bekommen mehr und mehr Vertrauen in unsere
Fähigkeit zur Veränderung.
Für viele Menschen ist die Unbeständigkeit beunruhigend, aber ohne sie wären wir dazu
verurteilt, in unseren Sackgassen zu stagnieren. Mit der Zazen-Praxis gewöhnt man sich daran,
darauf zu vertrauen, dass sich alles ständig verändert. Statt in bestimmten Situationen oder
Geisteszuständen zu stagnieren, wird man kreativer. Man beobachtet alles, was ein Hindernis auf
dem Weg zur wahren inneren Befreiung bildet.
Die fünf großen Hindernisse des spirituellen Fortschritts sind Wünsche nach Sinnesobjekten,
Wut gegen alles, was uns stört, Schläfrigkeit, Aufregung und Zweifel. In Zazen sieht man, wie
sie sich manifestieren. Manchmal ist man im Zustand von Kontin, dem dunklen Geist der
Schläfrigkeit. Wenn man sich auf mehrere tiefe Einatmungen konzentriert, kann man schnell aus
diesem Kontin-Zustand herauskommen. Und umgekehrt, wenn man zu aufgeregt ist, konzentriert
man sich auf die tiefe Ausatmung und kommt damit wieder schnell zur Ruhe.
Auf diese Weise lernt man, seinen Körper und seinen Geist zu kontrollieren und wieder Meister
seiner selbst zu werden, statt Opfer oder Sklave. So verschwinden die Zweifel. Wir gewinnen
wieder Vertrauen, dass unsere Leiden konditioniert sind und wir sie demzufolge lösen können.
Das ist das grundlegende Vertrauen, das Buddha mit seiner Unterweisung seinen Schülern
gegeben hat. Wenn man die gleiche Praxis, die gleiche Meditation praktiziert wie er, kann man
selber diese Erfahrung machen.

 

Sonntag, 6. Oktober 2014, 11 Uhr
Während des Sesshins achten wir auf unsere Haltung und Atmung, auf unsere Gesten und ganz
allgemein auf das, was in uns und außerhalb von uns geschieht. Dadurch entwickelt sich unsere
Fähigkeit der Achtsamkeit. Diese Fähigkeit der Achtsamkeit ist der erste der sieben Faktoren des
Erwachens. Wenn man nicht achtsam ist, ist nichts möglich, und alle möglichen Unfälle können
passieren. Aber sobald man achtsam ist auf das, was geschieht, sobald man völlig gegenwärtig
im Augenblick ist, kann man die Wirklichkeit erkunden.
Dieses Erkunden der Wirklichkeit ist der zweite Faktor des Erwachens. Viele Zen-Koans sind
eine Hilfe, um dieses Verständnis der Wirklichkeit zu vertiefen. Der Schüler tritt vor seinen
Meister. Dieser fragt ihn: „Was ist das? Was kommt da?“ Das ist das grundlegende Koan. Was
ist die Wirklichkeit dieses Ichs, dieses Egos? Wenn wir uns diese Frage, dieses wesentliche
Koan unseres Lebens tiefgehend stellen, erkennen wir am Ende, dass diese Wirklichkeit nicht
fassbar ist und dass es die wahre Natur dieser Wirklichkeit ist, unfassbar zu sein.
Man kann sich selbst nicht vom Rest des Universums trennen. Unser Leben gehört zum Universum.
Alle Elemente, aus denen wir bestehen, stammen aus dem Universum. Vor allem unser
Zustand als Mensch ist Ausdruck der höchsten Wirklichkeit. Wir sind Beziehungswesen und
existieren nur durch Beziehungen. Die Entwicklung der Achtsamkeit ermöglicht es uns, dies klar
zu erkennen. So können wir achtsam sein auf die anderen wie auf uns selbst und vor allem auf
die Beziehungen: Was geschieht zwischen uns? Auf diese Weise kann man weniger egozentrisch
werden und seine Fähigkeit des Mitgefühls und des Wohlwollens allen Wesen gegenüber
entwickeln. Diese Entwicklung ist das Maß unseres Erwachens. Je mehr wir fähig sind, die
anderen ohne Berechnung zu lieben, ohne etwas zurück zu erwarten, desto mehr zeigt sich die
Tiefe unseres Erwachens. Es freut einen, wenn man dies verwirklicht.
Freude ist ein weiterer großer Faktor des Erwachens. Es ist die spirituelle Freude, dem Weg
Buddhas begegnet zu sein, dem Weg der Befreiung von allen Leidensursachen, und die Freude,
ihn mit anderen teilen zu können. Statt unsere Lebensenergie dazu zu benutzen, egoistische Ziele
zu verfolgen, die letztendlich nicht zu Zufriedenheit führen, können wir unsere Energie mobilisieren,
um den Weg mit der Sangha zu praktizieren, mit unseren Brüdern und Schwestern im
Dharma, mit denen wir das höchste Ideal teilen. Selbst wenn diese Beziehungen nicht immer
einfach sind, bieten sie immer eine Gelegenheit, um gemeinsam den Weg zu vertiefen. Wenn wir
achtsam sind auf das, was geschieht, können wir eine Unterweisung empfangen. Aus diesem
Grund ist die Sangha ein Schatz.
Wenn man das Wesentliche in seinem Leben, seinen tiefen Sinn verwirklicht, kann der Geist
ruhig werden. Dann braucht man nicht mehr in alle möglichen Richtungen hin und her zu laufen.
Dank unserer Konzentration, die auch ein grundlegender Faktor des Erwachens ist, können wir
alle Umstände mit Gleichmut durchqueren, indem wir den Ereignissen ohne Gier oder Hass
begegnen, ohne etwas auszuwählen oder abzuweisen.
Dieser Gleichmut ist nicht nur ein Faktor des Erwachens, sondern auch des sozialen Friedens,
des Friedens in unseren Beziehungen mit den anderen. Diesen Frieden hat unsere Welt dermaßen
nötig – und er hängt vom Geist eines jeden von uns ab. Wenn wir einen friedlichen Geist haben,
verbreitet er sich um uns herum. Ich wünsche jedem von uns, dass er dies mit seiner Praxis
weiterhin verwirklichen kann, für das Glück aller Wesen, denen wir die Verdienste unserer
Praxis widmen.

Buddha-Natur (1) – 10.2005 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 1.-3. Oktober 2005
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

1.10.2005, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen vollständig auf eure Haltung. Richtet eure ganze
Aufmerksamkeit auf die Körperhaltung. Denkt an nichts anderes als an eure Haltung. Neigt
das Becken gut nach vorne, drückt fest mit den Knien auf den Boden. Entspannt gut den
Bauch und lasst das Körpergewicht auf das Zafu drücken, aber neigt das Becken nach vorne,
so dass der After nicht das Zafu berührt. Das gibt der Haltung eine stabile Basis. So kann man
sich in der sitzenden Haltung gut verwurzelt fühlen. So kann die Energie aus dem Kopf und
dem Sonnengeflecht hinunter ins Hara fließen, das heißt unter den Nabel, an den Punkt, wo
die Ausatmung endet. Streckt die Wirbelsäule gut von der Taille aus, indem ihr die
Verspannungen des Rückens loslasst. Streckt gut den Nacken und entspannt die Schultern.
Zieht gut das Kinn zurück, ohne dass der Kopf nach vorne fällt. Bleibt konzentriert auf die
Senkrechte eurer Haltung. – Das hilft uns, unseren alten Gewohnheiten nicht mehr zu folgen,
völlig auf die Erfahrung hier und jetzt konzentriert zu sein, vollständig hier im Dojo zu sitzen
und nicht den Geist entwischen zu lassen, in Berührung zu bleiben mit der Erfahrung der
Wirklichkeit, gerade jetzt. – Das Gesicht ist entspannt, besonders die Kiefer und die Stirn. Die
Zunge ruht am Gaumen und formt kein Wort. – Dies hilft, das innere Gespräch zu beruhigen. –
Die linke Hand liegt in der rechten Hand, die Daumen sind waagerecht. – Auf die
Waagerechte der Daumen konzentriert zu sein, hilft, einen gleichmütigen Geist zu haben,
weder Sanran noch Kontin, weder aufgeregt noch ermüdet. – Vor allem ergreifen die Hände
nichts. Sie sind offen. – Auch dies hilft, einen offenen Geist zu haben, der nichts ergreift, der
sich an keinen Gedanken klammert, der immer verfügbar ist, das Aktuelle zu empfangen.
Ein Sesshin zu machen bedeutet, verfügbar zu werden, nicht mehr vollgestopft zu sein, Platz
in seinem Geist machen. Das ermöglicht einem, hier und jetzt gegenwärtig zu sein. Wenn man
so vollständig konzentriert ist, das heißt hier und jetzt, denkt man nicht an Vergangenheit oder
Zukunft. Vergangenheit und Zukunft sind vergessen, sie verschwinden aus unserem Geist.
Das ist durchaus die Wirklichkeit: Vergangenheit und Zukunft sind nicht gegenwärtig. Sie
sind nur imaginäre Begriffe. Gleichzeitig ist die ganze Vergangenheit unbegrenzt und die
ganze Zukunft ist unendlich. Sie haben ihren Ursprung in diesem Hier und Jetzt. Sie sind im
Hier und Jetzt enthalten, aber man denkt nicht an sie. Das heißt, die Vergangenheit ist
gegenwärtig, aber unsichtbar.
Wenn man sich auf ein Ding konzentriert, in eine bestimmte Richtung, vergisst man in diesem
Moment den ganzen Rest. Wenn man sich auf den Körper konzentriert, ist nur der Körper in
unserem Bewusstsein gegenwärtig. – So wie wenn man eine Seite erhellt, die andere Seite
dunkel ist. (Ein Hahn kräht.) Wenn der Hahn kräht, gibt es in diesem Moment nur das Krähen
des Hahns. Die Stille ist verschwunden, nur das Krähen des Hahns. Gleichzeitig impliziert das
Krähen die Stille. Die Stille und das Krähen des Hahns sind vollständig verbunden, so wie
Bewegung und Unbeweglichkeit, wie der Schritt des rechten Beins und der Schritt des linken
Beins. Das heißt, dass man, wenn man sich in unserer Praxis auf eine Sache konzentriert,
natürlich nicht auf irgendetwas anderes konzentriert ist, dass aber diese Konzentration auf
eine Sache die Konzentration auf alles beinhaltet.
Zur Zeit sind viele Leute ständig aufgeregt, weil sie alles haben möchten. Dann haben sie
Schwierigkeiten, eine einzige Sache zu verwirklichen. Auf dem Zazen-Weg macht man genau
das Gegenteil. Beim Sesshin zum Beispiel konzentriert man sich in einem Augenblick nur auf
eine Sache: nur auf das Sitzen in Zazen, wenn man in Zazen sitzt; nur auf Sampai, wenn man
Sampai macht; singen, wenn man singt; essen, wenn man isst; Samu, wenn man Samu macht.
Dann existiert nur die gegenwärtige Handlung und gleichzeitig beinhaltet sie alles. In diesem
Moment ist man völlig absorbiert von dem, was man macht. Der Geist, der Trennungen
schafft, wird aufgegeben. Ohne daran zu denken, erfährt man das Leben in Einklang mit dem
ganzen Universum.

1.10.2005, 11 Uhr
Um Zazen zu praktizieren, setzt man sich der Wand gegenüber. Die Wand bringt uns zu uns
selbst zurück. Gegenüber der Wand zu sitzen bedeutet, dass man sich von den Gegenständern
der äußeren Welt abwendet. Man richtet sein Licht zu sich selbst, in sein Inneres. Dieses
Ausrichten des Bewusstseins auf sich selbst ist sehr wichtig. Dogen nannte es eko ensho. Es
ist wie umkehren und zu sich selbst zurückkehren. Man konzentriert sich auf seinen eigenen
Körper, auf seine eigene Haltung. Man wird völlig vertraut mit diesem Körper, mit seinen
Empfindungen und Wahrnehmungen. Man lernt, seine Spannungen zu spüren und
loszulassen.
Gleichzeitig begreift man, dass dieser Körper, den wir ‚unseren Körper’ nennen, uns nicht
gehört. Er gehört dem gesamten Universum. Wenn man seinen Besitzer sucht, dieses Ich, das
glaubt, diesen Körper zu besitzen, kann man dieses Ich nicht erfassen. Natürlich kann man die
Gedanken und Ideen betrachten, die man sich von sich selber macht. Diese Ideen sind völlig
relativ. Sie hängen von unseren Erfahrungen ab, von unseren Kontakten mit anderen. Auf
jeden Fall sind es immer Geschichten aus der Vergangenheit. Man sagt: „Ich bin derjenige,
der dies oder das getan hat, der dies oder jenes geworden ist, der diese Stellung oder jene
Fähigkeit erlangt hat, der diesen Fehler oder diese Qualität hat.“ Aber all dies sind nur unsere
geistigen Erzeugnisse, nichts Substantielles.
Wenn man sich selber beschreiben würde und diese Beschreibung mit einer Beschreibung von
einem selbst vergleichen würde, die ein Freund, ein Verwandter, der Vater oder die Mutter,
ein Kind, jemand, der uns liebt, oder jemand, der uns verabscheut, erstellt hat, wäre das
Portrait jedes Mal völlig anders. Wo ist das wahre Ich? – Die Erfahrung von Zazen zeigt, dass
man es nicht greifen kann. Dies zu realisieren heißt, sich wirklich verstehen, sich keine
Illusionen über die Ideen zu machen, die man über sich selbst hat. Meister Deshimaru hat auf
die Kyosaku immer maku moso kalligraphiert: Erzeugt keine Illusionen bezüglich eurer selbst.
Einige werden dies vielleicht bedauern, aber es hat nichts Bedauernswertes. Es heißt einfach
nur, dass das Ich nicht erfasst werden kann, denn die Grenzen des Ich sind völlig willkürlich:
Wo beginnt es? Der Ursprung von einem selbst kann nicht erfasst werden. In der Regel sieht
man ihn im Tag der Geburt aus dem Bauch der Mutter. Aber das Leben hat nicht dort
begonnen. Man kann sagen, dass es im Moment der Empfängnis entstanden ist. Aber die
beiden Zellen, die sich vereinigt haben, existierten vorher. Der Ursprung ist nicht fassbar.
Genauso kehren die Elemente, aus denen wir gebildet sind, bei unserem Tod zum Kosmos
zurück. Ein Konstrukt verschwindet, aber die Elemente setzen sich fort. Das Karma setzt sich
fort. Die Energie setzt sich fort. Deshalb sagte ein Meister: „Lebendig oder tot? – Ich kann es
nicht sagen.“ Das Leben ist unbegrenzt. Es ist nicht vom Tod getrennt. Man wird in jedem
Augenblick geboren, und man stirbt in jedem Augenblick. In jedem Augenblick erscheint ein
Empfinden und verschwindet, eine Wahrnehmung erscheint und verschwindet, ein Gedanke
erscheint und verschwindet. Zahlreiche Zellen werden geboren und andere sterben.
Wenn man das Leben so betrachtet, sagt man nicht mehr ‚mein Leben’, ‚mein Körper’, ‚mein
Geist’. Man begreift, dass das, was man für ein Ich gehalten hat, über das Ich hinausgeht.
Daher sagt Dogen: „Das Dharma kennen zu lernen, heißt, sich selbst kennen zu lernen. Sich
selbst kennen zu lernen, heißt, sich selbst zu vergessen. Sich selbst zu vergessen, heißt, sein
begrenztes Ego zu vergessen und vertraut zu werden mit der unendlichen Dimension der
Existenz.“ Dann verschwindet jegliche Trennung zwischen einem selbst und den anderen,
zwischen einem selbst und der Natur. Alle Erscheinungsformen der Natur, alle
Erscheinungsformen der Existenz, lehren uns die Wirklichkeit. Man kann völlig empfänglich
für diese Unterweisung werden. Sie manifestiert sich immer, überall. Das größte Verdienst
von Zazen ist es, uns diese Empfänglichkeit für die unendliche Wirklichkeit wiederzugeben,
für die Wirklichkeit, so wie sie ist.
Wenn man diese authentische Dimension der Existenz wiederfindet, kann man sich wohl
fühlen, nicht mehr Gefangener seiner eigenen geistigen Kategorien zu sein. Das nennt man
Erwachen oder Befreiung. Das ist die Erfahrung von Buddha, die von Buddha über die
Patriarchen bis zu uns weitergegeben wurde, die jeder und jede selbst realisieren kann.

1.10.2005, 16.30 Uhr
Wenn man anfängt, den Weg zu suchen, scheint uns dieser Weg weit entfernt zu sein, so, als
könne man ihn nicht betreten. Man strengt sich an zu praktizieren und man benötigt die Kraft
seines Willens, um sich zu entscheiden, auf Sesshins zu kommen, um Zazen weiterzumachen
ohne sich zu bewegen, ohne die anderen zu stören. Das bedeutet, dass man mit der guten Seite
des Egos praktiziert. Das Ego, das weiterkommen möchte, das sich befreien möchte, das
glücklich sein will, das versteht, dass die Objekte der Begierde, die wir üblicherweise
verfolgen, nicht befriedigend sind.
Wenn man seinen Blick nach innen richtet, wird man vertrauter mit sich selbst. Aber in
Wirklichkeit wird man vertrauter mit seinen Gedanken, Wünschen, Illusionen, die sich
während Zazen manifestieren. Anders gesagt, das Ego ist überall gegenwärtig, als Willen und
auch als das, was man während Zazen beobachtet. In diesem Moment gibt es das Risiko, dass
die Praxis dieses Ego bestärkt und uns von dem Weg entfernt. Oft hört man die Leute sagen:
„Jetzt werde ich ich selbst sein.“ Aber sie wollen damit sagen, dass sie ihre eigenen Wünsche
verwirklichen und nicht die Wünsche der anderen.
Wenn man die Praxis so weiter macht, kommt ein Moment, wo diese Funktionsweise nicht
mehr funktioniert. In diesem Moment hören die Leute entweder auf, oder sie vertiefen völlig
die Dimension ihrer Praxis. Diese Funktionsweise kann nicht mehr weitergehen, denn es ist
sehr ermüdend, nur mit seinem Willen und seinem Ego zu praktizieren, und man kann auf
diese Weise keine wirkliche Befreiung verwirklichen. Aber wenn man die Kraft des Willens
loslässt und erfährt, dass man mit Zazen weitermachen kann, ohne es zu wollen, reicht es aus,
einfach Zazen zu folgen, einfach von Zazen mitgezogen zu werden. Dann wird Zazen selbst
Buddha, die Dimension unserer Existenz jenseits unseres Willens. Und wir brauchen ihm nur
noch zu folgen; nichts anderes tun, einfach ihm folgen, diesem Zazen, das jenseits von uns
selbst ist.
Dieses Zazen hilft uns zu entdecken, dass das, was man für sich selbst gehalten hat, nur
einfach geistige Gewohnheit waren, Gewohnheiten, die zu einem Glauben wurden, weil man
ständig sagte: „ich“, „ich will“, „ich will nicht“. Am Ende glaubte man daran. Genauso, wie
man glaubt, dass es, weil es einen Gedanken gibt, ein Ich gibt, das denkt. Man bemerkt nicht,
dass dies einfach nur ein weiterer Gedanke ist. Und während man glaubt, sich selbst besser zu
kennen, macht man nichts anderes, als einer Vorstellung anzuhängen.
In dem Moment, in dem man das versteht, kommt man zu einem entscheidenden Punkt: Man
wird sich bewusst, dass man nichts anderes machen kann, als das zu vergessen, an das man
glaubt. ‚Vergessen’ bedeutet nicht zu vergessen, wie jemand, der eine Amnesie hat. Es ist kein
krankhaftes Vergessen, sondern ein Vergessen im Sinne von Fallenlassen, wie ein Projekt, das
einem schließlich dumm erscheint und von dem man sagt: „Es ist besser, es zu vergessen.“ In
diesem Vergessen liegt das wahre Erkennen. Das Erkennen, dass man Selbst nicht das ist, was
man zu sein glaubte, das man überhaupt nichts ist.
In diesem Moment gibt es in unserem Geist kein Hindernis mehr und der Weg, der uns bis
dahin weit entfernt schien, nähert sich uns. Buddha, der uns weit entfernt schien, lädt uns ein,
nach Hause zurückzukehren, befreit von unseren illusorischen Vorstellungen. Man begreift,
dass man immer auf dem Weg gewesen war, dass der Weg überall existiert und dass uns
nichts fehlt.

Mondo
F: Ich habe in älteren Kusen von dir gelesen, dass Bewusstsein abhängig von Erscheinungen
ist. Ich möchte wissen, ob ein klares Bewusstsein mit der Buddha-Natur gleichzusetzen ist.
RR: Nicht wirklich. Die Buddha-Natur ist die Existenz selbst. Sie ist die wahre Natur aller
Existenzen, der Existenzen in gegenseitiger Abhängigkeit. Alles, was existiert, existiert
in Beziehung. Diese Existenz in gegenseitiger Abhängigkeit ist die Buddha-Natur, das
heißt eine Existenz ohne Substanz, ohne Ego, die Existenz, so wie sie ist, das heißt nur
Beziehung. Das Bewusstsein ist ein Teil davon. Das Bewusstsein ist Buddha-Natur,
genauso sie wie Vögel Buddha-Natur sind, wie du Buddha-Natur bist. Genau deswegen,
weil das Bewusstsein nicht allein existiert. Es existiert in Abhängigkeit von den
Objekten, derer man bewusst ist. Wenn es keine Objekte gäbe, gäbe es kein Bewusstsein.
Genauso so: Wenn es keine Erscheinungsformen gäbe, gäbe es auch keine Buddha-Natur.
Die Buddha-Natur ist die wahre Natur der Erscheinungsformen. Ebenso gibt es keine
Leerheit ohne Erscheinungsformen. So ist die Wirklichkeit. Nichts existiert allein,
unabhängig. Das nennt man die Buddha-Natur.
Da auch wir das sind, kann man sagen, dass in jedem die Buddha-Natur existiert. Aber
das heißt nicht, dass in jedem von uns ein Samenkorn liegt, sondern dass unsere ganze
Existenz nichts anderes als Buddha-Natur ist. Die Buddha-Natur ist nicht die tiefe Natur
der Existenz, nicht etwas, das versteckt ist wie ein Kern im Innern einer Frucht. Die Haut,
das Fleisch, die Knochen, der Kern – alles ist Buddha-Natur. Nichts kann der Buddha-
Natur entkommen. Die Buddha-Natur schließt nicht nur alles ein, sie ist alles. In der
Tiefe der Praxis geht es darum, dies zu verwirklichen und zu sehen, klar zu sehen.
Dies hat Buddha gesehen, als er im Zazen den Morgenstern sah. Und um es
auszudrücken, hat er gesagt: „Ich habe das Erwachen mit allen Wesen erlangt.“ Alle
haben sich danach auf das Erwachen konzentriert, darauf, dass Buddha das Erwachen
verwirklicht hat. Aber das ist nicht der wichtige Punkt. Das Wichtige ist „mit allen
Wesen“. Seine Existenz mit allen Wesen, dazu ist er erwacht.
F: Eine kleine Frage hätte ich noch: Zwei Mönche haben diskutiert und es geht darum: Weiß
der Meister etwas über höhere Welten? Oder weiß er nichts und sagt nichts darüber? Also
weißt du etwas und sagst nichts darüber, oder weißt du nichts und sagst nichts darüber?
RR: Das weiß ich nicht.
F: In früheren Zeiten war es sinnvoll, dass jemand mitgeschrieben hat, wenn der Meister
Kusen gehalten hat. Heute gibt es dafür elektronische Geräte. Dennoch schreibt jemand mit.
Das hält ihn von Zazen ab. Das bedeutet, dass das Mitschreiben keinen Zweck hat.
Jedenfalls nicht den Zweck, Informationen festzuhalten. Währenddessen kann diese Person
den Hauptzweck, wegen dem wir da sind, nicht wahrnehmen. Das empfinde ich als
unangemessen. Warum wird das gemacht?
RR: Das musst du die Verantwortlichen fragen. – Ich denke, für denjenigen, der für die
Notizen verantwortliche ist, ist es einfacher, die Sachen zu sortieren, wenn es
geschriebene Notizen gibt. Aber wenn es nicht notwendig ist, kann man damit aufhören.
Aber es gibt schon seit langer Zeit diese Tonbandgeräte und dennoch machen die Leute
seit 20 Jahren Notizen. Das ist also nichts Neues.
Während sie die Notizen mitschrieben, haben sie schon 80% des Kusen aufgeschrieben,
und die restlichen 20% haben sie von den Bändern genommen. Wenn die Leute Zazen
manchen und nicht mitschreiben, müssen sie im nachhinein 100% schreiben. Das braucht
viel Zeit. Wenn sie während Zazen mitschreiben, brauchen sie danach nur den Text zu
vervollständigen. Aber wenn es nichts nützt mitzuschreiben, muss man damit aufhören.
Diejenigen, die verantwortlich für die Notizen sind, müssen nachdenken, was die beste
Methode ist. Es gibt keine Verpflichtung. Man geht davon aus, dass es praktischer ist.
Und selbst wenn du sagst: „Die Mitschreibenden machen kein Zazen wie die anderen“,
ist es auch eine Art Konzentration, sich auf die Notizen zu konzentrieren und
mitzuschreiben.
F: Das heißt, wenn ich am Montag die Mitschriften mache, könnte ich auch Zazen machen.
RR: Ja. Du kannst Zazen machen und das Gerät aufnehmen lassen und nachher alles
aufschreiben.
F: Es gibt Religionen, die vom Schicksal reden. Es gibt Leute, die sagen, dass gewisse Punkte
im Leben nicht aus Zufall geschehen, aber dass man trotzdem die Möglichkeit hat,
Entscheidungen zu treffen, um seinem Weg eine Richtung zu geben oder die Richtung zu
ändern. Andere sagen, alles geschieht aus Zufall, wir sind aus Zufall hier.
Ich habe mir gesagt, das, was wirklich ist, ist der Punkt, an dem wir geboren sind, und auch
der Punkt, an dem wir sterben werden. Das sind zwei Punkte. Was glaubst du, gibt es ein
Schicksal oder ist es Zufall?
RR: Ich glaube nicht, dass es eine Art Schicksal gibt, dass all das, was wir erleben, schon
vorbestimmt ist. Das würde voraussetzen, dass jemand an unserer Stelle schon vorher
entschieden hat. Daran glaube ich nicht. In der Regel glauben die Leute, die dem Buddha-
Weg folgen, das nicht. Wenn man dies glaubt, gibt es keinen Raum, um den Weg zu
praktizieren. Es macht es keinen Sinn, den Weg zu praktizieren.
Wenn man den Weg praktiziert, dann weil man sich bewusst ist, dass man in seinem
Leben eine große Verantwortung hat und in dem, was uns geschieht. Das heißt aber nicht,
dass wir 100% frei sind. In Wirklichkeit existieren wir aus Gründen, die wechselseitig
abhängig sind, und denen müssen wir Rechnung tragen. Wir ist bedingt. Wir stehen
inmitten von Bedingungen, die uns beeinflussen. Je mehr man sich dessen bewusst wird,
desto eher kann man sich von ihnen befreien. Vorausgesetzt, dass wir wirklich sehen,
was uns konditioniert. Das ist ein sehr wichtiger Punkt in der Praxis des Weges.
Zum Beispiel haben Pflanzen und Steine überhaupt keine Freiheit. Wenn du einen Stein
ins Wasser wirfst, geht er unter. Er hat keine Wahl, er kann nur untergehen. Die
unbelebten Gegenstände können nur den Bedingungen folgen. Sie haben keine
Autonomie. Tiere habe bereits etwas mehr Autonomie. Sie sind auch bedingt durch das,
was sie brauchen. Aber nicht nur. Menschen haben einen höheren Grad an Freiheit, weil
sie sich ihrer Konditionierungen bewusst sein können.
Aber manchmal halten sie sich für frei, ohne es zu sein. Freiheit kann auch eine Illusion
sein. Viele Leute glauben, dass es Freiheit ist, wenn sie ihre Begierden erfüllen können.
Aber das ist keine wirkliche Freiheit, sondern man ist nur von seinen Wünschen
konditioniert. Aber selbst im Innern dieser Konditionierungen gibt es die Tatsache, dass
man sich dessen bewusst werden kann, ein Art Satori entwickeln kann. Wenn man eines
Tages begreift, dass man nie frei war: „Ich bin früher meinen Eltern gefolgt und habe das
getan, was man von mir erwartet hat. Jetzt mache ich, was ich will. Ich werde jetzt
meinen Wünschen folgen“, so ist das keine Freiheit. Wenn man jedoch plötzlich versteht,
wie idiotisch das ist, kann man eine gewisse Freiheit erlagen. Aber es ist immer noch eine
konditionierte Freiheit.
Ich glaube nicht an die absolute Freiheit. Ich glaube nicht an das Schicksal, an die
absoluten Konditioniertheit. Buddha hat den Weg der Mitte unterwiesen. Er sah, dass wir
nur durch Ursachen und Bedingungen existieren. Aber wenn man sich dessen bewusst
wird und dazu erwacht, kann man frei werden.

2.10.2005, 7 Uhr
Wenn man ein Sesshin macht, heißt das, dass man die Suche nach dem Dharma als die
wichtigste Sache betrachtet, wichtiger als all das, was man während eines gewöhnlichen
Wochenendes machen könnte, wichtiger als all die anderen Gegenstände unserer üblichen
Wünsche. Das heißt, dass man die Intuition hat, dass das Dharma das Leben verändern und
uns von den Ursachen des Leidens befreien kann.
Dennoch hat man oft den Eindruck, dass das Dharma etwas Entferntes, etwas Mysteriöses ist.
Natürlich haben Buddha und die Meister der Weitergabe darüber gesprochen und zugleich
bleibt es etwas Verstecktes. Man hört von der Buddha-Natur und fragt sich immer: „Was ist
das?“, als ob sie etwas wäre, das man ergreifen, erlangen könnte. Man sucht das Dharma, als
ob es etwas weit Entferntes wäre.
Das kommt daher, dass wir daraus eine neue mentale Kategorie machen, einen Gegenstand
des Denkens. So trennen wir uns davon, entfernen uns. – Genauso wie wir uns von Buddha,
von Gott, trennen oder entfernen, indem wir glauben, dass es sich um außergewöhnliche
Wesen handelt, die vielleicht eine Wahrheit besitzen, die uns verborgen ist. Wenn wir
verstehen, dass es unsere eigenen Gedanken sind, die uns davon entfernen, unsere geistigen
Gewohnheiten, unsere Vorstellungen, können wir sie aufgeben, fallenlassen und verstehen,
dass sie völlig unnütz sind, indem wir uns einfach auf die Praxis von Zazen konzentrieren,
indem wir Dharma und Buddha vergessen, indem wir Buddha-Natur und Satori vergessen,
indem wir jedes Objekt völlig vergessen. In diesem Augenblick manifestiert und realisiert sich
das, was nie von uns getrennt, nie von uns entfernt und nie vor uns verborgen war, auf
natürliche Weise.
Indem wir uns völlig auf Körperhaltung und Atmung konzentrieren, können wir unsere
egozentrischen Gedanken aufgeben. Z.B. die Gedanken, die uns glauben lassen, dass unser
Ego beständig ist, selbst wenn sich alles um uns verändert. Durch die Zazen-Praxis werden
wir vertraut mit uns selbst, und wir sehen gut, dass das, was uns ausmacht, unbeständig und
ohne etwas Substantielles ist, letztlich nichts vom Universum Verschiedenes.
Die Wirklichkeit, die uns verborgen und entfernt erschien, erscheint uns dann überall
gegenwärtig. Wir wollten sei einfach nur nicht sehen, weil sie unser Ego störte. Wenn wir
verstehen, dass in Wirklichkeit unser Ego unser Leben stört, können wir die Wirklichkeit
akzeptieren, wie sie ist. Statt Bedauern darüber zu empfinden, verspürt man eine große
Befreiung.
Man sucht das Dharma, die Buddha-Natur, indem man vor der Unbeständigkeit fliehen will,
und sucht etwas Stabiles, Ewiges, Substantielles. Dann entdeckt man, dass die
Unbeständigkeit selbst die Buddha-Natur ist. Dies zu akzeptieren ist das Einzige, was wir
realisieren müssen. Das ist nicht kompliziert. Es ist nur erforderlich, die Sichtweise zu ändern.
Zazen hilft uns, das zu realisieren, was wir von uns aus, unserem Ego folgend, nicht
realisieren würden. Zazen lässt es uns akzeptieren. Aber nicht gegen unser Gefühl, gegen
unsere Empfindung, sondern vollständig, mit Körper, Herz, Geist in Einheit damit.
Dass wir darüber große Freude empfinden ist das Zeichen dafür, dass wir es wirklich
vollständig akzeptieren, aus der Tiefe unseres Seins akzeptieren.

2.10.2005, 11 Uhr
Konzentriert euch während Zazen gut auf die Atmung. Wenn man einatmet, ist man völlig
eins mit der Einatmung – ein Körper und Geist, die einatmen. Nicht nur durch die
Nasenlöcher, sondern durch den gesamten Körper, den Bauch, die Schultern, den Rücken. In
diesem Moment existiert nur die Einatmung. Der ganze Rest ist aufgegeben. Der Augenblick
danach wird die Zeit des Ausatmens. In dem Moment konzentriert man sich vollständig auf
die Tatsache des Ausatmens. Man atmet bis zum Ende aus, bis die ganze Luft aus den Lungen
ist. Ohne etwas zurückzuhalten. Ohne zu fürchten, dass einem Luft fehlt.
Die Einatmung folgt der Ausatmung, wie die Augenblicke in unserem Leben aufeinander
folgen. Wenn man diese Reihe von Augenblicken betrachtet, hat man den Eindruck, dass die
Zeit vergeht, und man wird sich Mujo bewusst, der Unbeständigkeit. Nichts bleibt, alles
verwandelt sich. Nicht nur, dass die Einatmung auf die Ausatmung folgt: Eines Tages wird es
keine neue Einatmung geben. Nicht nur, dass alles, was geboren wird, sterben muss: Alles,
was erscheint, verschwindet. Das genau ist die kosmische Ordnung.
Das veranlasste Meister Dogen zu sagen: „Letztlich ist die wirkliche Buddha-Natur nichts
anderes als Unbeständigkeit.“ Wenn man sich dessen bewusst ist, verwirklicht man eine Art
Dringlichkeit, um den Weg zu realisieren. Die Zeit wartet nicht auf uns. Es gilt also keine Zeit
zu verlieren. Wir müssen uns hier und jetzt auf das konzentrieren, was wichtig ist, damit wir
nicht bedauern müssen, die Gelegenheit verpasst zu habe, zu erwachen.
Wenn man sich vollständig auf die Praxis konzentriert und sieht, was in jedem Augenblick
geschieht, begreift man, dass sich die Einatmung sich nicht in Ausatmung verwandelt. Die
Einatmung ist ganz und gar Einatmung, völlig Einatmung. Und die Ausatmung ist ganz und
gar Ausatmung. Sie ist keine Einatmung, die zur Ausatmung geworden ist. Es sind zwei
getrennte, verschiedene Wirklichkeiten.
Genauso ist jeder Augenblick unseres Lebens anders. Jetzt wird nicht später. Jetzt ist ganz und
gar jetzt, und jedes Jetzt ist besonders und einzig. Jedes Jetzt, jeder Augenblick ist jenseits
von dem, was vorher war, und jenseits von dem, was folgt. Selbst wenn man oft die gleichen
Erfahrungen wiederholt, sind sie nie genau gleich. Keine Einatmung ähnelt der
Vorangegangenen.
Das ist eine Einladung, sich völlig auf das Leben in jedem Augenblick zu konzentrieren, und
in diesem Augenblick die Wirklichkeit zu erfahren, die jenseits von vorher und nachher ist.
Dieser Augenblick ist völlig jenseits der Zeit, die vergeht. Er verstreicht nicht. Genauso wenig
wie der Sommer, der gerade vorbei ist, zum Herbst geworden ist. Die Wirklichkeit des
Sommers ist eine andere Wirklichkeit als die des Herbstes. Selbst wenn alle Lebewesen, die
geboren wurden, sterben müssen, wird das Leben niemals zum Tod. Das Leben ist eine
absolute Wirklichkeit, der Tod eine absolute Wirklichkeit. Aber man kann nur die
Wirklichkeit von hier und jetzt erfahren. Das ist der wesentliche Punkt unserer Zazen-Praxis:
die ewige Gegenwart leben. Das erfahren, was jenseits des Verstreichens der Zeit ist: den
vollständig gelebten Augenblick.
Unbeständigkeit auf der einen Seite und Ewigkeit des Augenblicks auf der anderen sind kein
Gegensatz. Es sind zwei Aspekte desselben Lebens, derselben Existenz. Wenn man nur die
Zeit sieht, die vorübergeht, neigt man dazu, melancholisch zu werden. Aber wenn man nur die
Ewigkeit des Augenblicks sieht, vernachlässigt man die Wirklichkeit von Mujo, die
Unbeständigkeit. Unsere Praxis besteht darin, mit diesen beiden Wirklichkeiten zusammen zu
leben.
Das es ermöglicht einem, ruhig inmitten von Aufregung zu leben, seine ganze Zeit zur
Verfügung zu haben, selbst wenn die Zeit vorbeigeht. Den gegenwärtigen Augenblick nicht
verschwenden, aber sich auch nicht an ihn klammern. Ein Sesshin zu praktizieren, ist die
Gelegenheit, dies konkret zu erfahren.

2.10.2005, 16.30 Uhr
Mondo
F: Du hattest davon gesprochen, dass unser Ego eine große Rolle spielt, wenn wir anfangen zu
praktizieren, dass wir häufig mit unserer Übung irgendwelche Sachen bezwecken und dass
dann irgendwann ein Punkt kommt, wo wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher,
sondern einfach diese Konstrukte wegfallen lassen und Zazen folgen. Ich möchte wissen, ist
das ein Weg oder gibt es einen bestimmten Punkt? Wie hast du es bei dir persönlich erlebt?
Wie kann ich es schaffen, mushotoku zu werden?
RR: Indem du feststellst, dass du es nicht anders machen kannst. Wenn du nicht mushotoku
sein willst und fortfährst, mit viel Anstrengung und Willenskraft zu praktizieren, um ein
Ziel zu erreichen, egal welches auch immer, wirst du sehen, dass du dieses Ziel nicht
erreichst und dich nur erschöpfst. Es führt dich letztlich zum Gegenteil von dem, was du
in der Tiefe suchst, indem du dem Weg folgst.
Selbst wenn ich sage, dass man seine Haltung ändern soll und aufhören soll, ein Ziel zu
verfolgen, meine ich, dass man diese Veränderung nur vollziehen kann, wenn man erst in
die andere Richtung gegangen ist und festgestellt hat, dass es da nicht weitergeht. Jeder
muss durch sich selbst verstehen. Erst wenn man die Erfahrung gemacht hat, dass die
willentliche Praxis, die Praxis der Anstrengung, die Praxis mit einem Ziel nicht
funktioniert, kann man in einem bestimmten Moment loslassen.
Du brauchst mir nicht zu glauben. Ich sage nur, wahrscheinlich wird es so geschehen. Ich
glaube, dass jeder diese Erfahrung machen muss. Letztlich ist es das Leben, die Praxis
selbst, die uns zu verstehen gibt, dass man gar nicht anders sein kann als mushotoku.
Egal, welche Energie man aufbringt, um in eine andere Richtung zu gehen: Es wird zu
nichts führen, außer zur Ermüdung. Ob man es will oder nicht, am Ende kann man nicht
anders als mushotoku sein. Das Risiko ist allerdings, dass man vorher mit der Praxis
aufhört. Daher spreche ich das an, um zu vermeiden, dass Leute, wenn sie mal in einer
Sackgasse angelangt sind, nicht denken, Zen sei nichts für sie und damit aufhören.
Du fragst, wie es bei mir passiert ist. Bei mir ist es nicht so gewesen. Ich rede eher
allgemein darüber. Bei mir war es so, dass ich intensiv einen Sinn im Leben suchte,
bevor ich mit Zazen anfing. Es war ein richtiges Koan für mich, wie eine Besessenheit.
Ich habe mich sehr angestrengt, ich habe meine Willenskraft, mein Bewusstsein, meine
ganze Anstrengung in diese Richtung benutzt.
Als ich das erste Mal Zazen machte, habe ich sehr schnell verstanden, ganz plötzlich,
dass all das gar nicht notwendig war, dass all meine Bemühungen nicht notwendig waren
und es überhaupt nicht eines Sinnes bedarf, um zu leben, keines Sinns des Lebens. Das
Ziel, das ich damals verfolgte, erschien mir auf einmal völlig sinnlos. Man könnte sagen,
dass ich von der Dimension des Nicht-Objekts des Zazen getroffen war. Einfach in Zazen
zu sitzen reichend. Man braucht nichts anderes. Das hat mich sofort beeindruckt.
Ich kann nicht sagen, dass ich mit einem Ziel praktiziert habe. Ich wusste nicht einmal,
was Zazen war, als ich mich zum ersten Mal hingesetzt habe. Ich hatte den Weg nicht
studiert, keine Bücher über Buddhismus gelesen. Als ich mich in Zazen setzte, erwartete
ich nichts Bestimmtes, denn ich wusste nicht einmal, was ich gerade machte. Man hatte
mir einfach gesagt: „Du setzt Dich hin, konzentrierst Dich auf die Haltung und die
Atmung und lässt Deine Gedanken vorüberziehen.“ Meine Einführung in Zazen hat 15
oder 20 Sekunden gedauert. Ich hatte überhaupt keine Zeit, Ziele aufzubauen,
Vorstellungen über Satori, darüber, was man durch Zazen erlangen müsste. Ich hatte
keinerlei Idee. Man hat mich direkt in die Praxis geworfen.
Jetzt, wo ich darüber spreche, denke ich, dass das wahrscheinlich die beste Methode
gewesen ist. Heutzutage gibt man sich viel Mühe, hält Vorträge und erzählt, wozu Zen
gut ist. Die Leute, die dann ins Dojo kommen, haben jede Menge Vorstellungen über
Zen, von denen sie glauben, dass sie Wirklichkeit werden. Statt ihnen zu helfen, hat man
eher Hindernisse geschaffen. Das Problem ist, dass man nicht alle Bibliotheken schließen
kann. Alle Informationen sind heutzutage verfügbar. Die wenigsten Menschen finden
sich – wie ich – auf einmal in einem japanischen Tempel wieder und sitzen in Zazen, ohne
zu wissen, was sie da machen. Es ist selten, die Erfahrung von Zazen machen zu können,
ohne einen Gedanken im Hinterkopf zu haben, ohne ein Ziel.
F: Meine Frage bezieht sich auf das Kusen von gestern. Wenn ich es richtig verstanden habe,
ist es so, dass man durch Zazen dahin kommt zu spüren, dass einem nichts mehr fehlt.
RR: Ja.
F: Warum machen wir dann weiter Zazen?
RR: Einfach, um das weiter zu erfahren. Der Zustand des Geistes, in dem man realisiert, dass
nichts fehlt, ist ein sehr seltener Zustand. Es ist der Zustand von Hishirio während Zazen.
Er ist mit der Praxis verbunden. Es ist die Wirklichkeit: Es fehlt nichts. Aber wenn man
mit der Zen-Praxis aufhört, ist das Risiko da, dass man wieder von den egoistischen
Konditionierungen befallen wird. Wenn man nicht die Möglichkeit hat, diesen Zustand
jenseits des Mangels zu erfahren, den Zustand der ‚Fülle’ – der eigentlich der
Normalzustand ist, in dem nichts Besonderes nötig ist – wenn man ihn nicht regelmäßig
erfährt, vergisst man ihn und er ist nur noch eine Erinnerung, die sehr schnell ein Traum
werden kann, aber nicht mehr eine Wirklichkeit.
Darum muss man regelmäßig darin eintauchen und sich daran erinnern, nicht als an einen
Gedanken, sondern als eine gelebte Erfahrung, damit diese Erfahrung uns hilft, uns von
den geistigen Automatismen zu befreien, die wir uns seit langem angeeignet haben, den
geistigen Automatismen, die uns immer Glauben machen, dass unser Glück davon
abhängt, diesen oder jenen Gegenstand, diesen oder jenen Zustand zu erlangen, und dass
die Tatsache zu sein, nicht ausreicht.
Durch Zazen können wir das vertraut spüren. In dem Moment ist es kein Opfer mehr, das
Verfolgen der Gegenstände unserer Wünsche fallen zu lassen. Das bedarf dann keiner
Anstrengung mehr. Man braucht es einfach nicht mehr. Zazen hilft uns, in uns einen
ausreichend starken positiven Pol zu schaffen, eine gelebte Erfahrung, die es uns
ermöglicht, eine gewöhnliche und illusorische Funktionsweise fallen zu lassen.
Reicht dir das? Gibt es einen Zweifel?
F: Nein, ich versuche nur, es zu verstehen. Macht man Zazen, fehlt einem nichts. Macht man
kein Zazen, fehlt einem Zazen.
RR: Was sehr schnell fehlen kann, ist die Erfahrung, dass nichts fehlt. Meine Antwort ist
keine Spitzfindigkeit: Es ist die Wirklichkeit. Ich denke, wir sind im allgemeinen ein
bisschen wie Abhängige. Wir klammern uns an den Zustand des Mangels, weil uns dieses
Mangelgefühl motiviert, etwas zu tun. Für viele Leute besteht der Sinn des Lebens darin,
diesen Mangel aufzuheben. Sie haben ständig etwas zu tun, weil sie ständig mehr Mangel
erzeugen. Das beschäftigt sie. Das beschäftigt uns alle. Alle sind sehr beschäftigt, sehr
aufgeregt, alle rennen.
Man rennt natürlich nicht nur aus diesem Grund. Viele Leute laufen aufgrund ihrer
gesellschaftlichen und familiären Verpflichtungen. Das ist notwendig. Aber im Grunde
gibt es immer die Neigung zu glauben, dass wir etwas erlangen müssen. Als würde es uns
schwerfallen, zuzugeben, dass wir auf der Erde leben können, wie wir sind, dass wir das
Recht haben so zu sein.
Man könnte sagen, dass wir seit unserer Kindheit die Vorstellung erworben haben, dass
wir etwas tun müssen, um das Recht zu verdienen, auf dieser Erde zu sein. Vielleicht
weil unsere Eltern uns immer gesagt haben: „Tu dies“, „tu das“ oder „tu das nicht“. Um
von den Eltern geliebt zu werden, musste man bestimmte Dinge tun. Vielen Leute fällt es
schwer zu glauben, dass sie so akzeptiert werden könnten, wie sie sind, ohne sich groß
anzustrengen. Einige verhalten sich sogar so, als hätten sie kein Recht, dazu zu
existieren, so zu leben, wie sie sind. Sie entschuldigen sich, geboren zu sein und
versuchen, etwas zu tun, um zu zeigen, dass sie es verdienen, da zu sein.
Vielleicht überrascht dich, was ich sage. Aber das ist es, was ich feststelle, wenn ich mit
den Leuten spreche. Sie sind sich dessen nicht bewusst, aber es ist, als wäre das die
Grundlage ihres Seins. Man nennt das z.B. die Notwendigkeit von Anerkennung. In
vielen Gruppen ist das sehr stark. Normalerweise heilt Zazen uns davon.
F: Ist das Zen nicht zu großen Teilen eine Unterweisung für die Mittelschicht? In einer Welt,
in der 50.000 Kinder pro Tag verhungern, in einer derartigen Weise über Bedürfnisse und
Nicht-Bedürfnisse zu reden, spricht natürlich die Mittelschicht an, die ausreichend hat.
Wird nicht der andere Aspekt zu wenig betont? – Schweigen hilft eigentlich immer den
Unterdrückern und nicht den Unterdrückten.
RR: Ab dem Moment, ab dem uns die Zazen-Praxis von unseren Neurosen heilt, ab dem
Moment, wo man nicht mehr ständig Bestätigung braucht und nicht mehr so an seinem
Ego hängt, ist man offener für Mitgefühl anderen gegenüber. Wenn man z.B. in einem
reichen Land lebt, muss man, um Mitgefühl und Empathie für diejenigen zu haben, die
vor Hunger sterben, bereits eine gewisse innere Verfügbarkeit haben. Man muss innerlich
frei sein, nicht mehr zu sehr mit seinen egoistischen Wünschen beschäftigt. Sonst ist es
einem egal, wenn die anderen verhungern, solange man selbst Anerkennung, Macht …
F: … und das Satori …
RR: … erhält. – Ja, auch das Satori. Alles, was für uns, für unser Ego angenehm ist. Vergiss
nicht, dass in der Tiefe – selbst wenn sich immer mehr Leute humanitären Problemen
widmen, wenn sich ein Bewusstsein für den Hunger in der Welt entwickelt, – eines der
großen Hindernisse für diese Bewusstwerdung der geistige Zustand jedes einzelnen ist.
Z.B. erzeugt die Nachfrage in den reichen Ländern eine bestimmte ökonomische
Dynamik, die ein Wirtschaftssystem stützt, das arme Länder immer ärmer macht. Das ist
nicht unabhängig von der Art und Weise zu denken und zu fühlen.
F: Das ist der Grund, warum ich nach der Unterweisung gefragt habe. Meine Frage ist: Geht
die Unterweisung nicht zu wenig auf diese Aspekte ein?
RR: Vielleicht.
F: Ich bin völlig überzeugt, dass genug auf der Welt vorhanden ist. Es ist nur eine Frage der
Verteilung.
RR: Wenn es falsch verteilt ist, dann wegen eines verallgemeinerten Egoismus. Die Wurzel
ist, eine Dynamik zu entwickeln, in der die Leute diesen verallgemeinerten Egoismus in
Frage stellen. Bisher wird – abgesehen von den Religionen, die den Egoismus kritisieren –
auf der gesellschaftlichen Ebene, insbesondere vom Liberalismus, der Egoismus als das
angesehen, was Wohlstand für alle herbeiführt. Das ist die Ideologie seit zwei
Jahrhunderten. Die muss man in Frage stellen.
Das schlimme ist, dass selbst in Bewegungen, in denen Menschen sich mit einem
großzügigen Geist engagieren, um den Notleidenden zu helfen, sich wieder
Machtstrukturen aufbauen.
Nachdem ich mit Zazen angefangen hatte, wie ich es eben beschrieben habe, und ich
noch keine genaue Vorstellung davon hatte, wohin mich die Praxis bringen würde, war
das der Punkt, der mich am meisten beeindruckte. Mir wurde klar, dass alle
Anstrengungen, die Menschen aufgebracht haben, um Revolutionen zu machen, um mehr
Gerechtigkeit herbeizuführen, um die Welt zu ändern, zum Gegenteil dessen geführt
haben, was diese Menschen angestrebt haben. Für mich ist die Grundlage jeder
gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Revolution die innere Revolution.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Marx glaubte. – Ich hatte eine zeitlang große
Sympathien für die Ideen von Marx, für die Idee, dass der Geisteszustand nur von
wirtschaftlichen Zuständen abhängt und dass es lediglich erforderlich sei, die
wirtschaftlichen Zustände zu ändern. Aber das ist absolut blind, weil die wirtschaftlichen
Zustände vom Geist abhängen.
F: Aber wenn du auf die 25-30 Jahre zurückschaust, fehlt in der Unterweisung nicht dieser
andere Teil – zum politischen Engagement, klare Aussagen z.B. zur sozialen
Ungerechtigkeit?
RR: Vielleicht. Ich glaube aber, dass das in der Unterweisung implizit enthalten ist. Jeder
muss aus der Unterweisung heraus Stellung beziehen. Die Unterweisung ist so klar, dass
die Verlängerung dieser Unterweisung nur eine Änderung auf der ökologischen, sozialen
und ökonomischen Ebene sein kann. Das kann man oft beobachten. Sieh dir deine eigene
Entwicklung an. Das manifestiert sich darin.
Ich glaube nicht, dass Zen sich – wie die Kirchen – einmischen und Richtlinien in die eine
oder andere Richtung angeben sollte. Viele Kirchen haben dies getan. Sie haben das
Engagement gepredigt und eine gesellschaftliche Ideologie geformt. Ich glaube, dass das
nicht die Aufgabe einer spirituellen Unterweisung ist. Die spirituelle Unterweisung soll
die Grundlage schaffen. Anschließend kann jeder sich frei engagieren. Wenn eine
Bewegung, die eine spirituellen Unterweisung trägt, zu weit in Richtung
gesellschaftlicher Ideologie geht, wird sie sich in jeder Art von Widersprüchen verfangen
und ihre anfängliche Reinheit verlieren. Ich habe das in vielen Fällen gesehen und glaube
nicht, dass das gut ist.
Jeder soll zum Zen kommen können, ohne sich zu sagen: „Ach, Zen ist so oder so. Sie
haben diese oder jene soziale oder politische Orientierung“. Zen muss völlig offen sein
und darf nicht ideologisch markiert werden. Es ist wichtig, dass Christen, Moslems,
Juden kommen können, Linke, Rechte, Sozialisten, sogar Rechtsextremisten. Alle sollen
zum Praktizieren kommen können. Die Praxis selbst transformiert die Leute und sie
ziehen dann daraus die Konsequenzen und engagieren sich freiwillig.
Vielleicht hätte man in 30 Jahren eine Bewegung ‚Engagiertes Zen’ entwickeln können.
Wenn wir das getan hätten, hätten wir vielleicht heute ein paar Hundert Militante und ab
und zu Artikel in der Zeitung, Demonstrationen. Wir wären zufrieden, weil wir sichtbar
wären: Wir manchen etwas, um das Leid auf der Welt zu verringern. Aber das ist nicht
unbedingt wirkungsvoll.
F: Meine Frage schließt an das an, was du gerade gesagt hast. Du hast gesagt, Leute jeder
politischen Richtung, auch extrem Rechte oder Linke, sollen praktizieren können. Ich frage
mich, wo da die Grenze ist, weil wir einen solchen Fall in unserem Dojo haben.
Wir haben eine türkische Frau. Sie ist Bodhisattva. Sie ist sehr lange nicht zum Zazen
gekommen. Dann kam sie wieder. Ich habe sie gefragt, warum sie solange nicht da war. Sie
hat gesagt, sie habe keine Zeit gehabt, weil sie wichtige Recherchen durchführen musste.
Sie hat mit einigen anderen zusammen Beweise dafür gesucht, dass die Türken keinen
Völkermord an den Armeniern begangen haben. Sie hat es so begründet: „Ich bin
Bodhisattva und ich bin Türkin. Es kann nicht sein, dass so etwas passiert ist, dass mein
Volk so etwas getan hat.“ Sie ist völlig fanatisch gewesen.
Ich habe das damit verglichen, dass jemand ins Dojo kommen und behaupten würde, es
habe die Morde im Dritten Reich nicht gegeben. Mein erster Impuls war, sie aus dem Dojo
rauszuschmeißen. Ich habe es nicht getan, aber es ist mir schwer gefallen.
RR: Ganz im Gegenteil: Die Leute, die die größten Illusionen haben, brauchen die Praxis am
meisten, von der man hofft, dass sie ihren Geist öffnet, damit sie die Wirklichkeit
akzeptieren. Die Wirklichkeit zu akzeptieren bedeutet nicht, sie fortzusetzen. Die
Tatsache, dass Türken oder Deutsche im Zweiten Weltkrieg Völkermord begangen
haben, bedeutet nicht, dass die Türken oder Deutschen von heute dafür verantwortlich
sind. Sie muss lernen, die Wirklichkeit der Geschichte zu akzeptieren, so wie man lernen
muss, seine eigenen Illusionen zu sehen, damit sie die Möglichkeit hat, sie zu
transformieren.
F: Das habe ich ihr auch gesagt.
RR: Wenn sie Probleme hat, dies zu verstehen, muss man es ihr weiterhin sagen. Du musst
auch das Vertrauen haben, dass das nicht nur von dir abhängt, sondern auch von der
Zazen-Praxis, dass die Zazen-Praxis in ihr eine Veränderung bewirkt. Wenn du sie
rausschmeißt, hat sie keine Chance, dann bleibt sie nur in ihrem fanatischen Umfeld. Sie
ist nicht aus Zufall im Dojo.
F: Aber wie weit geht man mit solchen Diskussionen? Natürlich waren alle Leute im Dojo
sehr aufgebracht.
RR: Ich glaube nicht, dass man darüber diskutieren sollte. Es ist absurd, über die Wirklichkeit
oder Nicht-Wirklichkeit des Völkermordes zu diskutieren. Was man sehen muss: Warum
kann sie nicht diese Wirklichkeit akzeptieren? Man muss tiefer gehen. Es nützt nichts,
auf gleicher Ebene zu diskutieren. Das gibt nur Streit. Das bringt überhaupt nichts. Man
muss verstehen, warum sie das Bedürfnis hat, den Genozid zu negieren, und welche
Illusion sie hat und versuchen, nach und nach diese Illusion zu lösen.
Zen muss uns helfen, bis zur Wurzel des Schlechten zu gehen und nicht nur die Zweige
abzuschneiden. Dafür muss sie praktizieren und anwesend sein. Das musst du den Leuten
im Dojo sagen. Sie ist wie jemand, der sehr krank ist. Man muss sie pflegen. Sie ist
spirituell gesehen völlig krank. Man muss sie wie eine Kranke behandeln und die
Ursache ihrer Krankheit sehen, statt sich über das Symptom aufzuregen oder zu
versuchen, das Symptom wegzuwischen. – Aber natürlich nur solange sie nicht alle
anderen auch noch krank macht. Wenn sie anfängt, Propaganda zu machen oder die
anderen zu überzeugen, muss man sie stoppen.
F: Wenn man so manchmal deine Kusen hört, könnte man denken, dass die Lehre des
Buddhas sehr einfach zu verstehen ist. Es braucht nicht viel. Es braucht vor allen Dingen
Zazen. Jetzt habe ich mir neulich noch mal das Ketsumyaku angesehen, das wir zur
Ordination erhalten, und in einem Buch die Traditionslinien des Zen. Da gibt es immer mal
wieder eine Scheidung in der Linie. Da habe ich mich gefragt, was es für Gründe gab,
immer wieder auseinander zu gehen? So ähnlich ist es ja auch in der Schule von Meister
Deshimaru.
RR: Ist deine Frage: Warum gibt es unterschiedliche Unterweisungen?
F: Was waren die Gründe, dass es immer wieder diese verschiedenen Schulen gab?
RR: Ich glaube, dass das vor allem daran liegt, dass die Leute, statt in Kontakt mit der Wurzel,
mit der Erfahrung des Erwachens Buddhas zu bleiben, sehr viele Interpretationen
entwickelt haben, vor allem ihren eigenen Charakteristika entsprechend. Auch wurden in
der Geschichte entsprechend der jeweiligen Epoche und der jeweiligen Kultur Mittel
entwickelt, die am geeignetsten schienen, die Unterweisung weiterzugeben.
Meines Erachtens ist es eines der Charakteristika der Weitergabe des Dharma Buddhas,
dass es einerseits eine einzige Wurzel gibt – und ich glaube, alle stimmen darin überein –
die Leerheit des Egos in der Zazen-Praxis zu erfahren. Aber vielen fällt es schwer, das zu
verstehen und zu akzeptieren. Alle buddhistischen Unterweisenden haben immer daran
geglaubt, dass man geeignete Mittel entwickeln müsse, um den Wesen ihren
Täuschungen und ihrer Konditioniertheit entsprechend zu helfen, Zugang zur
Wirklichkeit zu finden. Man hat alle möglichen Mittel entwickelt, sogar Techniken. Aber
das sind nur Mittel. Oft verliert man vor lauter Mitteln die Essenz, die Wurzel aus dem
Blick. Dann wird es kompliziert und man weiß nicht mehr, was die Essenz des
Erwachens Buddhas war.
Es gab dann immer wieder Perioden, in denen Meister zum Ursprung zurückkehren
wollten. Für mich sind es hauptsächlich zwei, zum einen Nagarjuna im 3. Jahrhundert
sowie Nyojo und Dogen im 13. Jahrhundert. Aber auch sie haben sich dem Kontext
entsprechend ausgedrückt, in dem sie sich befanden.
Wie ich bereits in diesem Sommer auf der Gendronnière gesagt habe: Selbst wenn
Nagarjuna im Grunde eine ganz einfache Unterweisung hatte, die darauf abzielt, es zu
ermöglichen, die befreiende Kraft der Unterweisung Buddhas wieder zu finden, hat er,
weil seine Zuhörer vor allem Philosophen und Mönchen waren, die viele Konzepte
bezüglich des Dharmas entwickelt hatten, seine Sprache diesen Menschen angepasst.
Das gleiche gilt für Dogen: Anfangs hatte Dogen eine sehr universelle Sprache – das
Fukan zazengi und das Bendowa sind sehr universell. Aber als er sich später mit rund 40
Schülern im Tempel Eihei-Ji befand – das waren Schüler, die seit 20-30 Jahren Mönche
waren, die bei anderen Meistern praktiziert hatten, den Buddhismus sehr gut kannten und
bereits Vorstellungen vom Zen hatten, konzentrierte er sich darauf, sie zu unterweisen
und seine Sprache änderte sich entsprechend. Er zielte darauf, die Zweifel seiner Schüler
zu lösen und ihre Fragen zu beantworten. – Sie waren völlig anders als wir: Sie hatten seit
20-30 Jahren den Buddhismus praktiziert, waren anderen Schulen gefolgt und hatten ihre
eigenen Konzeptionen entwickelt, die sie manchmal durchzusetzen versuchten. – Daraus
entstand das Shobogenzo. Es ist zum einen Ausdruck des Erwachens von Dogen,
andererseits ist einer bestimmten Hörerschaft angepasst, die nichts mit euch hier und mir
zu tun hat. Obwohl m.E. die Wurzel im Grunde immer dieselbe ist, hängt die Form, in
der sich die Meister ausgedrückt haben, immer von den Hörern, von den Schülern ab. Für
sie haben sie geeignete Mittel entwickelt. So sind verschiedene Schulen entstanden.
Zur Zeit Dogens, im 13. Jahrhundert, gab es in Japan die Idee, dass man in ein dunkles
Zeitalter eingetreten war, in Mappo, in eine Zeit, in der der Buddhismus komplett
degeneriert war. Es war nicht mehr möglich, so wie früher die Praxis zu unterweisen, die
es jedem ermöglichte, durch sich selber zu erwachen. Das schien vielen Menschen
unmöglich geworden zu sein. So haben sich Schulen entwickelt, in denen man sich der
Kraft Buddhas hingab. Man lehrte, es würde ausreichen zu beten, den Namen Buddha
Amidas zu rezitieren, um gerettet zu werden: „In unserer Zeit kann man das Erwachen
nicht mehr selbst erlangen, nur beten hilft.“ Das war eine Antwort einer bestimmen Zeit
auf bestimme gesellschaftliche und kulturelle Zustände.
Zur gleichen Zeit gab es Leute wie Dogen, die eine andere Sichtweise hatten und das für
falsch hielten. – Zur gleichen Zeit gab es zwei Schulen, zwei völlig unterschiedliche
Weisen zu versuchen, das Erwachen Buddhas weiterzugeben. Weil Leute wie Shinran
und Dogen sich nicht an die gleichen Menschen wandten. Daher die Verschiedenheit.
Das darf euch nicht zu Zweifeln führen. Du hast den Weg Zen betreten, der von Meister
Deshimaru weitergegeben wurde. Das musst du vertiefen. Das genügt.
F: Immer wieder stoße ich auf dasselbe Problem, dass ich frustriert bin über mich selber.
Dann funktioniere ich nicht in der Gruppe. Dann bin ich noch mehr frustriert. Was kann ich
da tun?
RR: Was heißt das? Wieso bist du über dich frustriert?
F: Ja, zum Beispiel dieses Mal, weil ich nicht sitzen konnte. Irgendwann wusste ich gar nicht
mehr, wie ich sitzen sollte.
RR: Aber du hast doch eine Lösung gefunden. Jetzt sitzt du auf einer Bank. – Das ist natürlich
nicht die Wurzel. Die Wurzel ist, dass du das Gefühl hast, dass dir immer etwas fehlt und
das möchtest du kompensieren.
F: Ja, ich habe das Gefühl, die anderen haben das und ich nicht.
RR: Das stimmt nicht. Das ist das, was du glaubst. Genau diese Ansicht soll durch Zazen
vergessen werden. Du hast genau das gleiche wie alle anderen auch. Im Grunde gibt es
keinen Unterschied. Du hast nur den Eindruck, dass dir etwas fehlt. Der Eindruck ist sehr
stark. Wahrscheinlich ist er in deiner Kindheit verwurzelt. Versuche Zazen zu
praktizieren, indem du siehst, dass dieser Eindruck illusorisch ist, selbst wenn er stark ist.

3.10.2005, 7 Uhr
Kehrt während Zazen immer wieder zurück auf die Konzentration auf eure Haltung. Atmet
ruhig ein und aus, und folgt nicht euren Gedanken. Das ist im Grunde alles, was man wissen
muss, um Zazen zu praktizieren. Seine Aufmerksamkeit ständig auf Körperhaltung und
Atmung zu bringen, hilft, sich nicht an Gedanken zu klammern. Nicht nur nicht an Gedanken,
sondern auch an Empfindungen, Wahrnehmungen, Gefühle – an jegliche geistige Aktivität.
Das ermöglicht dem Geist, seine Ruhe und seine natürliche Klarheit wieder zu finden.
Normalerweise beginnt man den Tages damit, sich um alle möglichen Dinge zu kümmern.
Man hat den Eindruck, wach und klar zu sein, weil man Gegenstände und Gedanken klar
unterscheiden kann. Aber eigentlich hindert uns die ganze geistige Aktivität, die diesen
Objekten zugewandt ist, daran, das Wesentliche zu sehen.
Während des Sesshins konnte man nachts die Sterne ganz klar sehen. Am Tag sieht man sie
nicht, selbst wenn der Himmel klar ist. Das gleiche gilt für das Mondlicht. Man kann es nur in
der Dunkelheit wahrnehmen. Das veranlasste Meister Tosan zu sagen: „Mitternacht ist das
wahre Licht. Das Morgengrauen ist nicht klar.“
Das Licht des Tages entspricht unserem persönlichen Bewusstsein, unserem Mentalen, das
daran gewöhnt ist, Unterscheidungen zwischen verschiedenen Objekten zu treffen, zwischen
einem selbst als Subjekt und den Objekten der äußeren Welt. Auf einmal nimmt man nicht
mehr die Einheit wahr, den gemeinsamen Punkt, der uns mit dem gesamten Universum
verbindet. – Wenn man das intellektuell nachvollzieht, ist es so, als würde man sagen, dass die
Sterne und der Mond am Himmel existieren, selbst wenn man sie nicht sieht. – Um die Einheit
zu sehen, muss man das Licht seines eigenen Bewusstseins ausschalten.
Vorgestern stellte jemand eine Frage über das Bewusstsein und die Buddha-Natur. Solange
man sein persönliches Bewusstsein nutzt, kann man seine Buddha-Natur nicht sehen, weil das
persönliche Bewusstsein alles in Gegenstände des Denkens verwandelt. Aber die Buddha-
Natur, das Wesentliche unseres Lebens, ist kein Gegenstand des Denkens. Sie ist, was vor
allen Gedanken existiert und was von keinem Gedanken erfasst werden kann. Man kann mit
ihr nur vertraut werden ohne Gedanken, ohne Bewusstsein.
Aufgrund unserer gewöhnlichen Geistesaktivitäten kann dies nur selten spontan geschehen.
Daher sagt man, das man praktizieren muss. Wir müssen unser persönliches Bewusstsein dazu
nutzen, um darüber hinaus zu gehen. Das ist der heikelste Punkt in unserer Praxis. Ohne
Praxis gibt es kein Erwachen. Um zu praktizieren, bedarf es einer gewissen Anstrengung,
Willenskraft, schon allein um zur Konzentration auf Körperhaltung und auf Atmung
zurückzukehren.
So ist das einzige, was wir wirklich tun können, ist, uns auf diese Art zu konzentrieren und es
dann zu vergessen. Körper und Geist in Zazen eintauchen und schließlich Zazen ganz alleine
machen lassen. Das heißt ganz konkret, überhaupt nichts mehr tun. Jede Technik aufgeben.
Wenn der Gedanke, etwas tun zu wollen, erscheint, ihn vorbeiziehen lassen, sich nicht seiner
bemächtigen.
Was diese Praxis möglich macht, ist, dass die Buddha-Natur, zu der wir zu erwachen streben,
nicht von der Praxis erzeugt wird, nicht das Ergebnis der Praxis ist. Sie ist nicht das Ergebnis
eines Tuns, kein Produkt. Sie existiert vor jeder Handlung, jenseits jedes Gedankens.
So wie der Mond im Himmel nicht von der Oberfläche des Wassers abhängt, der ihn spiegelt.
Er spiegelt sich genauso auf der Oberfläche des Ozeans wie auf einem Tautropfen. Dies
geschieht augenblicklich. Es hängt nicht von der Dauer der Praxis ab. Es hängt auch nicht von
der Oberfläche des Wassers ab. – Das heißt, das Zazen eines Anfängers kann genauso Praxis
des Erwachens sein wie das Zazen von jemand, der schon sehr lange praktiziert. Wasser, eine
glatte Oberfläche, ist erforderlich, damit es eine Spiegelung gibt. Was den menschlichen Geist
betrifft, ist ein nicht-aufgeregter Geist erforderlich. Dafür ist es am besten, zur Einheit von
Körper und Geist zurückzukehren in Haltung und in Atmung.

3.10.2005, 11 Uhr
Während der drei Sesshin-Tage hat jeder von uns mit sich selbst vertrauter werden können.
Nicht nur mit seinen Gedanken, Wünschen und Illusionen, sondern, so hoffe ich, auch mit der
wahren Natur seiner Existenz.
Wenn man mit dieser wahren Natur seiner Existenz vertraut wird, kann man die gleiche
Erfahrung machen wie Buddha. Nicht nötig, Buddha außen zu suchen. Nicht nötig, von
Unterweisungen abzuhängen. Weil die Wahrheit bereits in jedem existiert, sind wir bereits die
Wirklichkeit, zu der Buddha erwacht ist.
Von diesem Gesichtspunkt aus kann man sagen, dass einem nichts fehlt. Vom Gesichtspunkt
der Buddha-Natur aus sind alle Wesen Buddha-Natur. Das hängt nicht von ihrer Intelligenz,
ihrer Kultur oder der Dauer ihrer Praxis ab. In diesem Sinn kann man realisieren, dass uns im
Wesentlichen nichts fehlt.
Das bedeutet natürlich nicht, dass es in unserem Leben oder im Leben anderer keinen Mangel
gibt. Einigen fehlt Geld, andere haben nicht einmal genug zu essen, vielen fehlt Liebe,
manchen fehlt Gesundheit, anderen fehlt Zeit. Aber wenn man begreift, dass im Grunde nichts
Wesentliches fehlt, sind die kleinen Mängel des Alltags weniger wichtig. Vor allem versteht
man, dass man nicht dadurch glücklich wird, dass man diese kleinen Mängel ausgleicht.
Natürlich können wir unsere Gesundheit, unseren Komfort, unser Wohlbefinden verbessern.
Das alles sollte man nicht vernachlässigen. Aber wenn das Wesentliche nicht realisiert ist,
wird all das nicht ausreichen. Dann gibt es immer Unzufriedenheit. Diese Unzufriedenheit
schafft neue Wünsche, die uns weiter vom Wesentlichen entfernen.
Die ganze moderne Welt dreht sich darum. Dieser Prozess ist verantwortlich für Hungersnöte,
Kriege, für alles Unglück der Menschheit. Es ist das Ergebnis des Fehlens des Erwachens bei
jedem einzelnen, des fehlenden Erwachens zur Wirklichkeit unserer völligen wechselseitigen
Abhängigkeit mit allen Wesen, zum Leben jenseits aller Kategorien unseres kleinen Egos.
Ohne dieses Erwachen kann es keine wirkliche Solidarität und kein wirkliches Mitgefühl
geben. Denn ohne dieses Erwachen hat man immer den Eindruck, dass man selbst etwas
verliert, wenn man den anderen etwas gibt, dass, wenn die anderen mehr haben, man selbst
weniger hat. Vor allem versteht man nicht, dass wirkliches Glück nicht von Haben oder
Nicht-Haben abhängt.
Selbstverständlich muss man über die Mittel verfügen, um leben zu können, um nicht zu
verhungern, muss man die Mittel für eine gute Gesundheit haben, ein Dach über dem Kopf.
Das sind Grundbedürfnisse, auf die man nicht verzichten kann. Aber all diese Dinge sind
vorhanden, wenn man seinen Egoismus aufgeben und sie mit allen Wesen teilen kann.
Aber selbst wenn man zu diesem Leben jenseits der Grenzen unseres kleinen Egos erwacht,
sollte man nicht glauben, dass dieses Erwachen sofort ausreicht. Denn unser Erwachen hängt
immer von der Tiefe unserer Praxis ab. Es ist nicht so, dass man, weil man einen Blick auf die
Wirklichkeit geworfen hat, die Praxis in dem Glauben beenden kann, das sei genug. Sonst
läuft man Gefahr, wie der Mensch zu werden, der sich mitten auf dem Meer umsieht, einen
weiten Wasserkreis um sich herum sieht und sich nun vorstellt, dass das Meer nur ein weiter
Wasserkreis ist, wobei doch das Meer nicht nur ein Wasserkreis ist: Jenseits des Horizonts
gibt es alle möglichen Welten, Küsten, Landschaften, Inseln. Unter der Oberfläche befindet
sich eine andere wunderbare Welt, den Palast der Fische, aller Meerestiere. Jeder kann dieses
Meer auf seine Weise sehen: Für die einen ist es wegen des Fischfangs eine
Einkommensquelle, für andere ein Ort, um Wassersport zu betreiben, für wieder andere ein
wirtschaftlicher Transportweg.
Die Leerheit unseres Egos und die wechselseitige Abhängigkeit aller Wesen zu realisieren, ist
die Grundlage des Erwachens. Aber das reicht nicht. Wir müssen unsere Sichtweise vertiefen,
damit das Sehen der Leerheit unseres Egos es uns ermöglicht, unsere Identität mit allen
lebenden Wesen zu spüren, damit wir jede Trennung zwischen uns selbst und den anderen
aufgeben und eine wirkliche Sympathie für alle Wesen empfinden können. Ohne sie läuft man
Gefahr, ein trockener Weiser zu werden, vielleicht sogar ein Nihilist, der sich an eine
dogmatische Sicht der Leerheit klammert: ‚Alles ist leer, nichts hat Substanz. Warum sollte
ich irgendetwas tun?’
Um vom Sehen der wechselseitigen Abhängigkeit zu wirklich gelebter Solidarität zu
kommen, müssen wir unsere Praxis völlig vertiefen und die Hindernisse zu überwinden, die
mit unseren alten geistigen Gewohnheiten zusammenhängen. Das Erwachen kann unmittelbar
und plötzlich sein. Aber seine Realisation im Alltag, sein Ausdruck in allen Aspekten des
Lebens braucht Zeit. Das kommt nach und nach. Deshalb müssen wir mit der Praxis
fortfahren, ohne sie jemals in dem Glauben, verstanden zu haben, zu beenden. Das nennt man
die Praxis, die sogar über Buddha hinausgeht, die Praxis jenseits des Erwachens.
Ich wünsche jedem und jeder von uns, dies immer tiefer zu realisieren.

Buddha-Natur (2) – 10.2006 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 6.-8. Oktober 2006 während
des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche übersetzt.

 

6.10.2006, 7 Uhr
Neigt das Becken gut nach vorne. Drückt mit den Knien fest auf den Boden. Entspannt gut den
Bauch. Sitzt auf dem Zafu, als wolltet ihr, dass der Anus das Zafu nicht berührt. So fühlt man sich
gut im Sitzen verwurzelt. Gleichzeitig streckt man von der Taille aus gut die Wirbelsäule und den
Nacken. Das Kinn ist zurückgezogen, und man drückt den höchsten Punkt des Kopfes in den
Himmel. So ist der Körper völlig zwischen Himmel und Erde gestreckt. Man lässt alle unnötigen
Spannungen im Rücken und in den Schultern los.
Der Blick ruht vor einem auf dem Boden. Man fixiert keinen besonderen Punkt. Man klammert sich
nicht an die Gegenstände des Blickes. So stört uns keiner der visuellen Gegenstände und man muss
nicht die Augen schließen, um konzentriert zu sein. Sich nicht an die visuellen Gegenstände zu
klammern heißt, ihnen keinen Namen zu geben und im Geist keine Kommentare bezüglich dieser
Gegenstände zu machen, z.B. ob sie schön sind oder nicht, ob man sie mag oder nicht. Man begnügt
sich das zu sehen, was ist, so wie es ist, so wie es erscheint. Und wenn in unserem Geist
Kommentare auftauchen, beobachtet man sie ebenfalls im Augenblick, so wie sie sind, ohne sie zu
nähren. So verschwindet die Ursache der geistigen Unruhe schnell.
Das gleiche gilt für die anderen fünf Sinne. Man verschließt sich nicht vor der Wahrnehmung der
äußeren Welt. Im Gegenteil: Man bleibt völlig offen und aufmerksam. Aber man fügt dem, was
erscheint, keine Kommentare seines Egos hinzu. Und wenn Kommentare auftauchen, sieht man sie
als das, was sie sind, ohne sie zu nähren.
Die linke Hand liegt in der rechten Hand. Die Daumen sind waagerecht. Die Hände erzeugen und
erfassen nichts. Dies stärkt die Haltung des Geistes, nach nichts zu greifen und keine geistigen
Erzeugnisse herzustellen. So können sich die geistigen Aktivitäten beruhigen und der Geist kann
sich klären. Wenn der Geist klar wird, kann man sich selbst sehen, so wie man ist. Man kann zur
Wirklichkeit unserer Existenz erwachen und ihre wahre Natur erkennen. Das ist der Sinn des
Sesshins: vertraut mit unserem wahren Geist zu werden. Die wahre Natur unserer Existenz zu sehen
und uns im täglichen Leben mit ihr praktisch und konkret zu harmonisieren. Es ausdrücken, ohne es
ausdrücken zu wollen, d.h. auf natürliche Weise. Entweder in Worten oder in Stille. Und in allen
Handlungen des täglichen Lebens.

 

6.10.2006, 11 Uhr
Wenn man Zazen praktiziert, begnügt man sich nicht damit, sich auf die Haltung und die Atmung
zu konzentrieren. Man beobachtet auch, was geschieht, und lernt sich so selber kennen. Die
Konzentration auf Haltung und Atmung kann bestimmt den Frieden des Geistes bringen, aber kein
wahres Erwachen. Das Erwachen besteht darin, die wahre Natur unserer Existenz zu verstehen.
Nicht nur unsere persönlichen Charakteristika zu verstehen, die von unserem Karma, von unseren
alten Konditionierungen abhängen, die der Grund dafür sind, dass wir anders sind als die anderen,
die aus uns besondere, einzigartige Wesen machen.
Aber was ist die wahre Natur von all dem? Von diesem Körper, diesem Geist, diesem Karma,
diesem Ego? – Zazen zu praktizieren heißt, sich mit diesem Koan zu konfrontieren: „Was ist es, das
jetzt Zazen praktiziert?“ – Natürlich bin ich es. Aber was ist dieses Ich? – Wenn man diese Frage
beantworten möchte, wird man dazu neigen, sich auf seine Geschichte zu beziehen: „Ich bin
jemand, der in jenem Jahr an jenem Ort in jener Familie geboren wurde, der diese oder jene
Eigenschaften entwickelt hat, der dieses mag und das nicht mag, der glaubt, so zu sein und nicht
anders.“ Kurz gesagt: der sich eine Identität schafft, etwas, das ich für beständig, für im Lauf der
Zeit identisch halte.
Wenn man aber versucht, zu erfassen, was dies wirklich ist, was dieses Ich ist – was wird man
antreffen? – Es ist natürlich dieser sitzende Körper. Ist dieser Körper wirklich ich, gehört er mir
wirklich? Wird er wirklich von meiner Haut begrenzt? – In Wirklichkeit atmet dieser Körper in
jedem Augenblick mit dem ganzen Universum. Er wird in jedem Augenblick von der
grundlegenden kosmischen Energie genährt. Jedes Teilchen, aus dem er zusammengesetzt ist,
existiert mindestens seit dem Urknall. Dieser Körper ist die Frucht der völligen Wechselbeziehung
von allem, was existiert. Sein Zustand ändert sich ständig. In jedem Augenblick werden Tausende
Zellen geboren und sterben wieder. In Wirklichkeit gibt es nichts Beständiges. Nichts, das mir
gehört. So wie das Wasser, das eine Welle bildet, nicht dieser Welle gehört. Es ist niemals vom
ganzen Ozean getrennt.
Wir glauben auf Grund unserer illusorischen Gedanken, getrennte Wesen zu sein. Deswegen
glauben wir, dass wir in jenem Moment geboren wurden und in einem anderen Moment sterben
werden.
Wenn man in Zazen seinen Geist beobachtet, sieht man alle Arten von Empfindungen,
Wahrnehmungen, Gefühlen, Erinnerungen. Manchmal denkt man, manchmal denkt man nicht. Aber
keines der geistigen Phänomene, denen wir begegnen, hat eine feste Natur. Alles wandelt sich ohne
Unterlass. Man kann nichts ergreifen, was ‚Ich’ ist.
Als Nangaku zum ersten Mal Eno begegnete, fragte Eno ihn: „Was kommt da?“ – Wir müssen uns
von dem Patriarchen befragen lassen und uns in die Position von Nangaku begeben und uns – wie er
selbst – fragen: „Was kommt da?“ und daraus unser Koan machen, bis wir – wie er – begreifen, dass
es nicht Etwas ist. Es ist nichts, was fassbar ist. Dann werden wir die Gelegenheit haben, uns von
unserer Egozentrik zu befreien und die wirkliche Freiheit zu verwirklichen – die nicht die Freiheit
ist, all das zu bekommen, was man sich wünscht, sondern die Freiheit, authentisch in Harmonie mit
unserer wahren Natur zu sein. Wenn man dies auch nur kurz erfährt, gibt es kein Hindernis, keine
Angst im Geist mehr.

 

6.10.2006, 16.30 Uhr
Warum sind wir hier versammelt, um gemeinsam Zazen zu praktizieren, statt alltäglichen
Aktivitäten nachzugehen? – Wahrscheinlich wurden wir von etwas gerufen: von dem Bedürfnis, zur
wahren Natur unserer Existenz zu erwachen, von dem Bedürfnis, sie nicht zu verfehlen und darüber
unendliches Bedauern zu empfinden.
Am Anfang des Shobogenzo Bussho zitiert Meister Dogen Shakyamuni. Er sagt: „Ausnahmslos alle
fühlenden Wesen haben die Buddha-Natur. Der Tathagata verweilt ewig ohne Veränderung.“ Das
ist ein Zitat aus dem Nirvana-Sutra. Dogen fügt hinzu: „Das ist das Löwengebrüll unseres großen
Meisters Buddha, der das Dharma predigt. Es ist auch die Essenz aller Buddhas und Patriarchen.
Ihr Studium vollzieht sich schon seit zweitausend Jahren durch eine direkte Weitergabe über 50
Generationen hinweg“ – jetzt sind es 90 Generationen.
Zu sagen, dass alles Wesen die Buddha-Natur haben, bedeutet, dass ausnahmslos alle Wesen,
erwachen können. – Einige meinen, dass Buddha ein außergewöhnliches Wesen war, das erwacht
ist, aber sie selber würden nie erwachen können. Und sie nehmen diesen Unterschied als
Entschuldigung dafür, dass sie den Weg nicht praktizieren.
Ein wesentlicher Punkt der Unterweisung aller Buddhas und Patriarchen ist es, das Vertrauen
weiterzugeben, dass jeder die Buddha-Natur hat. Wenn man praktiziert, kann sich diese Natur
verwirklichen. Das ist der Sinn unserer Anstrengung. Es ist wichtig, dieses Vertrauen zu
entwickeln.
Was bedeutet es, dass alle fühlenden Wesen die Buddha-Natur haben? Heißt das, dass man tief in
sich selbst irgendetwas besitzt, das man Buddha-Natur nennt? Einige glauben das. Dogen zog es vor
zu sagen, dass es der Ausdruck der Frage: „Was kommt da?“ ist. Wenn man sich diese Frage stellt,
stellt man fest – wie ich bereits sagte -, dass man überhaupt nichts ergreifen kann: Das, was die
Essenz unserer Existenz bildet, ist nicht fassbar.
Man sagt manchmal: Unser tiefes Sein ist nicht etwas, ist nichts Begrenztes, das man definieren,
sehen, besitzen kann. Man kann es genauso wenig fassen, wie man seine eigenen Augen direkt
sehen kann. Denn wir sind diese Buddha-Natur. Die Buddha-Natur ist wir, augenblicklich, weil sie
die wahre Natur unserer Existenz ist. Wir sind so mit ihr vertraut, dass wir uns nicht von ihr trennen
können, um sie zu beobachten. Beobachten ist Buddha-Natur, praktizieren ist Buddha-Natur.
Dogen sagt: „Alle Wesen, – nicht nur die fühlenden Wesen -, alle Wesen sind die Buddha-Natur.“
Das heißt nicht, dass sie die Buddha-Natur haben oder besitzen, sondern sie sind völlig Buddha-
Natur. Umgekehrt ist die Buddha-Natur alle Wesen, die Gesamtheit aller Wesen, die Tatsache, dass
wir uns nicht von dieser Gesamtheit trennen können. Anders gesagt: Die Essenz unserer Existenz ist
diese gemeinsame Existenz. Die Tatsache, dass wir nicht alleine existieren, sondern in völliger
Wechselbeziehung mit allen Wesen. ‚Sein’ bedeutet wechselseitig abhängig sein.
Diese Wirklichkeit existiert immer. Sie gilt für alle Wesen. Dies ist das Leben ohne Trennung. Die
Quelle des wahren religiösen Geistes ist zweifellos, sich nicht trennbar von der Gesamtheit zu
fühlen. Man nennt es Gott, Buddha, Buddha-Natur. Die Namen, die Bezeichnungen sind nicht
wichtig.
Indem Zazen die linke Gehirnhälfte, die Trennungen schafft, beruhigt, ist es möglich, diese
Wirklichkeit zu erfahren, den Weg wieder zu finden, der nie aufgehört hat zu existieren, wie es
Shakyamuni getan hat.
In einer Zeit wie heute, wo die Ich-Bezogenheit übertrieben ist, wo jeder von seiner Identität
besessen ist, ist es sehr wichtig, die Wahrnehmung der Nicht-Getrenntheit wieder zu finden. Diese
Wahrnehmung macht eine mitfühlende Haltung allen Wesen gegenüber möglich: Wir teilen diese
Buddha-Natur mit allen Wesen. Das nähert uns einander, vereint uns und übersteigt das Gefühl der
Einsamkeit.
Wir fühlen uns allein, wenn wir uns in unserem Ego einrichten, indem wir an unseren
Unterschieden haften. Wenn man Zazen praktiziert, insbesondere auf einem Sesshin, hat man
Gelegenheit, dieses Anhaften aufzugeben, das fallen zu lassen, was uns besonders macht, und das
zu entwickeln, was uns vereint. Das ist insbesondere der Sinn des Lebens als Mönche oder Nonne.
Das ermöglicht es der Sangha, eine harmonische Gemeinschaft zu sein.
Was uns einander annähert, was wir miteinander teilen, ist viel wichtiger, als die Unterschiede, die
uns trennen. Deswegen ist sie eine der drei Kostbarkeiten. Im Schoß dieser Gemeinschaft kann der
Sinn des Buddha-Dharmas sich am besten aktualisieren.
Mondo
Du hast eben von ‚nicht-fühlenden Wesen’ gesprochen. Was ist ein ‚nicht-fühlendes Wesen’?
Traditionell unterscheidet man fühlende Wesen, d.h. Wesen, die Wahrnehmungen und
Empfindungen haben, die die Fähigkeit haben, etwas auswählen oder abweisen zu können, und
nicht-fühlende Wesen. In der Regel sind die fühlenden Wesen Menschen und Tiere. Man kann
entsprechend der buddhistischen Kosmologie noch Wesen hinzufügen, wie z.B. die Gaki. Aber
auch Wesen, die in der Hölle oder im Paradies wohnen, sind fühlende Wesen. Letztlich alle Wesen,
die ein Karma haben, die also im Samsara transmigrieren. Das Samsara ist die Welt der fühlenden
Wesen. Im Unterschied dazu ist das Nirvana die Welt der Buddhas. Das ist die traditionelle
Sichtweise. Nicht-fühlende Wesen sind z.B. Berge, Flüsse, Sterne, … Sie haben kein Karma, keine
Empfindungen, keine Möglichkeiten etwas auszuwählen oder abzulehnen.
Durch seine Zazen-Praxis, durch das Verständnis seiner Buddha-Natur, ist Meister Dogen dazu
gekommen zu sagen, dass alle Wesen die Buddha-Natur haben, dass es tief gesehen keinen
Unterschied gibt, weil es eine tiefere Wirklichkeit gibt als das Karma und die Empfindsamkeit, die
Auswahl oder Ablehnung erzeugen. Diese tiefere Wirklichkeit ist die Existenz in völliger
Wechselbeziehung. Das ist der grundlegendste Punkt, in dem alle Wesen sich ähneln, der Punkt,
den alle Wesen gemeinsam haben. Das ist die Essenz selbst der Existenz: die Tatsache in Beziehung
zu existieren. Diese Wirklichkeit ist tiefer als Wirklichkeit der fühlenden Wesen mit ihrem Karma
und ihrem Bewusstsein. Das ist der Punkt, wo die fühlenden und nicht-fühlenden Wesen sich
ähneln und eine Einheit bilden. Das bewirkt, dass – im Geist von Zazen – man selbst und ein Baum,
man selbst und ein Berg nicht getrennt, nicht unterschieden ist.
Zen-Mönche haben durch ihre intensive Praxis diesen Sinn für die Nicht-Getrenntheit mit Wesen
entwickelt, die man nicht-sensibel nennt, die aber selbst auch das Dharma ausdrücken. Deshalb sind
Mönche oder Praktizierende auch erwacht, als sie eine Blume gesehen, einen Kieselstein oder einen
Bergbach gehört haben. Eine Blume oder das Geräusch eines Bergbachs in einem Tal sind
traditionellerweise nicht-fühlende Wesen. Aber in ihrer Wirklichkeit bringen sie völlig das zum
Ausdruck, was wir mit ihnen gemeinsam haben, die völlige Wechselbeziehung, die Existenz ohne
Substanz.
Vielleicht zeigen sie es uns sogar besser als fühlende Wesen: Fühlende Wesen sind kompliziert. Sie
vernebeln unsern Geist mit Wörtern. Aber eine Blume und ein Bergbach drücken direkt das
Wesentliche aus, – wenn man es zu sehen versteht. Das ist jenseits des Unterschiedes zwischen
fühlenden und nicht-fühlenden Wesen. Dies zu spüren ist sehr wichtig für unsere Beziehung zu der
Welt, in der wir leben. Das bedeutet, dass alle Dinge der Natur uns erwecken können. Sie
manifestieren dieselbe Essenz der Existenz wie wir, aber vielleicht noch auf eine direktere Art und
Weise. Darum seid ihr eingeladen, die Natur zu kontemplieren. Oft ist das eine größere
Unterweisung als die Sutren.
Es gibt Leute, die nicht gerne Sutren lesen. Sie finden sie kompliziert. Dann geht in den Wald! Das
ist eine sehr schöne Unterweisung. Er ist voll mit fühlenden und nicht-fühlenden Wesen, die
hervorragend miteinander funktionieren. Bäume, Vögel, … sie funktionieren zusammen.
Jedes Wesen kann uns erwecken oder zumindest dazu beitragen, sofern man empfänglich ist. Zazen
entwickelt diese Empfänglichkeit. Umgekehrt gibt es uns ein Gefühl von Dankbarkeit, von
Wohlwollen allen Wesen gegenüber – nicht nur den fühlenden Wesen. Das ist die wahre spirituelle
Grundlage der Ökologie.
Zwei Leute, die ich kenne, haben sich zu Mönchen ordinieren lassen. Sie laufen aber immer noch
wie Bodhisattvas herum.
Was heißt das?
Sie tragen nur ein anderes Rakusu. Sie tragen kein Kolomo und kein Kesa. Ich habe sie gefragt,
warum sie das tun. Ihre Antwort war: „Das ist nicht wichtig.“ Wenn sie einmal Zeit hätten, würden
sie ein Kesa nähen.
Habe ich die ordiniert?
Nein.
Du willst wissen, was ich davon halte? – Im Grunde ist es wahr, dass Kolomo und Kesa nicht
wirklich so wichtig sind. Das sind nur Kleidungsstücke. Das Wichtigste ist die Praxis und der Geist,
mit dem man praktiziert. Und der Bodhisattva-Geist ist der tiefste Geist, der höchste Geist. Wenn
man Mönch ist, dann um den Bodhisattva-Geist zu vertiefen. Für mich ist Bodhisattva zu sein
wirklich das Wesentliche. Mönch zu sein ist ein Weg unter anderen, um seine Berufung als
Bodhisattva zu leben.
Das heißt aber nicht, dass Kolomo und Kesa überhaupt nicht wichtig sind. Insbesondere das Kesa:
Das Kesa ist das Symbol der Weitergabe. Das Kesa nicht tragen zu wollen, ist in gewisser Hinsicht
eine Vernachlässigung der Weitergabe. Ich werde niemanden ordinieren, der bei der Ordination
kein Kesa und keinen Kolomo hat. Nicht weil ich denke, dass es ausreicht, einen Kolomo und ein
Kesa zu haben, um Mönch zu werden. – Das reicht überhaupt nicht. – Wenn man aber nicht einmal
die Anstrengung unternimmt ein Kesa zu nähen und einen Kolomo zu kaufen, zeigt mir das, dass
man nicht den engagierten Geist hat, um Mönch zu werden: Man möchte keine Anstrengung
unternehmen, um der Tradition zu folgen. Die Tradition ist wichtig.
Dogen sagte: „Man gibt niemandem die Ordination, der nicht die drei Kesas, seine Schale, Kolomo
und Kimono hat.“ Er sagte auch, dass man sie sich nicht nur ausleihen dürfe. Für Dogen war es so,
dass man, wenn man sich diese Dinge zur Ordination auslieh, mit der Ordination nicht wirklich
Mönch wurde. Ich vertraue völlig der Unterweisung Dogens und wenn er so strikt in diesen Punkten
war, dann wird er gute Gründe dafür gehabt haben. Ich denke, dass diejenigen, die die Ordination
empfangen möchten, über diese Unterweisung meditieren sollten.
Dogen war kein Formalist. Für ihn drückte die Form den Geist aus und half, ihn zu vertiefen. Den
Hishiryo-Geist kann man z.B. nicht erfassen. Wenn man sich aber darauf konzentriert, ein Kesa zu
nähen, kann man Hishiryo vertiefen, wie wenn man Zazen macht. Der Buddha-Geist ist nichts, das
man sehen oder erfassen kann, wie ich vorhin schon gesagt habe. Wenn man dem Buddha-Geist
gegenüber seine Dankbarkeit, seinen Respekt ausdrücken möchte, hat man keinen Gegenstand,
demgegenüber man das tun kann, also respektiert man das Kesa als Symbol. – Symbole sind auch
wichtig. Der Geist funktioniert mit Symbolen. Man braucht sie. Man sollte das Kesa respektieren.
Es ist schade, dass der Godo, der diejenigen ordiniert hat, dies nicht unterweisen konnte.
Du hast heute in zwei verschiedenen Kusen Gegensätzliches gesagt: Einmal sagtest du, dass ich,
wenn ich sitze und immer wieder meine Haltung korrigiere und auf meine Atmung achte, nicht
erwachen kann, wenn ich nicht die Frage nach dem ‚Was bin ich? Was praktiziert da?’ stelle. Dann
sagtest du, dass, wenn ich praktiziere, meine linke Hirnhälfte zur Ruhe kommt, und dass es dadurch
möglich wird zu erwachen. Das erste hat mich etwas verunsichert, weil die Frage nicht in mir ist,
ich sie nicht spüre. Aber ich habe großes Vertrauen in diese zweite Aussage. Was ist richtig?
Beide sind wahr. Grundlage von Zazen ist die Praxis der Konzentration. Aber die Konzentration
allein reicht, wie Meister Deshimaru selbst unterwiesen hat, nicht. Man muss sich konzentrieren,
um die richtige Beobachtung zu ermöglichen. Aber es ist nicht das intellektuelle Gehirn, das
Gehirn, das Trennungen schafft, das wirklich die Frage stellen kann: „Was bin ich?“ Auf jeden Fall
kann es darauf nicht antworten. Das ist genau die Frage, auf die das Mentale nicht antworten kann.
Aber die Tatsache, dass man sich die Frage nicht beantworten kann, heißt nicht, dass man sie sich
nicht stellen sollte.
Ist es nicht so, dass diese Frage von innen kommen muss, dass man diese Frage beantwortet haben
will, weil sie sich gestellt hat?
Das stimmt. Aber wenn ihr denkt, dass es ausreicht, sich nur auf die Haltung zu konzentrieren, dann
denke ich, dass ihr an der wichtigen Frage vorbeilauft, die euch hilft, zu erwachen. Deshalb sagte
Meister Deshimaru nach sieben Jahren der Unterweisung der Konzentration auf die Haltung und
der Atmung: „Das reicht nicht aus. Ihr müsst euch beobachten.“ Ich kann mich daran gut erinnern,
denn ich war dabei, ich habe das übersetzt.
Ob du die Frage benutzt: „Wer bin ich? Was bin ich?“ ist nicht wichtig. Aber beobachte dich selbst.
Was nützt es, seinen Geist zu klären, wenn man nicht mit ihm sieht? Es ist wichtig zu sehen. – Das
heißt nicht, dass es etwas zu sehen gibt. – Gut sehen, dass es letztlich nichts zu sehen gibt. Dafür
muss man sich bemühen zu sehen.
Ich werde es versuchen.
Kodo Sawaki soll gesagt haben: „Wer das Shobogenzo als Laie liest, ohne Yogachara-Philosophie,
der ist wie jemand, der mit Reis handelt, aber keinen Messbecher oder Waage hat.“ – Wo kann
man etwas über Yogachara erfahren?
Indem man bestimmte Sutren studiert. Das Wichtigste ist das Lankavatara-Sutra. Das ist ein langer
Text. Man kann ihn abschnittsweise lesen. Einen Ausschnitt lesen, dann etwas überspringen, dann
wieder einen Abschnitt lesen. In diesem Sutra werden die großen Thesen des Yogachara immer
wieder ausgedrückt.
Es gibt aber einen viel kürzeren Text, weil die Zen-Mönche, die Zen-Praktizierenden wie ihr, nicht
so gerne lesen und lieber kürzere Texte mögen. Der Text hat weniger als hundert Seiten. In
Englisch heißt er „Awakening of faith in Mahayana“. Das ist ein sehr guter Text, aber er ist so
konzentriert wie das Hannya Shingyo im Vergleich zu Prajnaparamita. Weil er sehr konzentriert
ist, ist er etwas schwierig zu lesen.
Kodo Sawaki hat in gewisser Hinsicht Recht, weil Dogen von dieser Unterweisung geprägt war.
Aber ich glaube, dass er noch mehr von der Prajnaparamita geprägt war. Prajnaparamita ist auch
sehr lang. Wenn ihr das Hannya Shingyo versteht, versteht ihr das Wesentliche von
Prajnaparamita. Wenn ihr noch das Diamant-Sutra dazunehmt, ergibt das ein ganz gutes
Verständnis von Prajnaparamita. Damit könnt ihr das Shobogenzo lesen.
Es stimmt, dass Dogen eine außergewöhnliche religiöse und philosophische Kultur hatte. Er fing im
Alter von acht Jahren an, Sutren zu lesen. Wenn er sich ausdrückt, verwendet er diese ganze Kultur.
Manchmal verwendet er Zitate, ohne es zu sagen. Wenn man nichts davon weiß, versteht man nicht,
wovon er spricht, worauf er anspielt. Das macht es sehr schwierig, das Shobogenzo zu lesen.
Aber es gibt noch eine andere Weise das Shobogenzo zu lesen: Es aus der Erfahrung heraus zu
lesen, die wir mit Dogen teilen, aus der Erfahrung von Zazen, von Shikantaza heraus. Der
wesentliche Punkt des Shobogenzo ist es, dass Dogen alle Sutren durch seine Erfahrung von
Shikantaza hindurch neu ausdrückt.
Man kann nicht alles verstehen, weil einem diese Kultur fehlt, aber die wichtigen Punkte versteht
man immerhin. Und es ist auch nicht nötig zu bedauern, dass man nicht alles versteht. Wenn man
10 Prozent des Shobogenzo versteht, ist es schon nicht schlecht. Es ist gut, von Zeit zu Zeit das
Shobogenzo zu lesen. Wenn ihr alle Kapitel eins nach dem anderen lesen wollt, bekommt ihr
Kopfschmerzen. Man muss ab und zu eine oder zwei Seiten lesen und sich immer fragen: „Was
bedeutet das in Bezug auf Zazen?“ – Das ist der Schlüssel.

 

7.10.2006, 7 Uhr
Kehrt während Zazen immer wieder auf die Konzentration auf euren Körper zurück. Folgt nicht
euren Gedanken. Folgt eher eurer Atmung. Indem man sich auf die Körperhaltung konzentriert,
hört man auf, mit der linken Gehirnhälfte, dem Gehirn der Sprache, zu denken. Man hält die
Funktionsweise des Geistes an, die Trennungen und Gegensätze schafft. Die rechte Gehirnhälfte,
die augenblicklich und umfassend wahrnimmt, wird aktiv, ohne Konzepte oder Worte zu benutzen.
So kommt man jenseits der Gedanken direkt mit der Wirklichkeit unseres Lebens in Berührung.
In diesem Moment ist das, was wir unser eigenes Leben nennen, nicht mehr nur unser Leben,
sondern das Leben aller Wesen des ganzen Universums. Man erlebt sich als Teil der Gesamtheit.
Alle Wesen praktizieren Zazen hier und jetzt mit uns, ohne Trennung. Das ist die Verwirklichung
der Buddha-Natur, der Natur ohne Trennungen.
Eines Tages wollte Bodhidharma sehen, wie weit seine engen Schüler in ihrem Verständnis waren.
Er bat sie, ihr Verständnis ihm gegenüber auszudrücken. Der erste Schüler gab eine Antwort und
Bodhidharma sagte: „Du hast meine Haut erlangt.“ Der zweite gab eine andere Antwort und
Bodhidharma sagte darauf: „Du hast mein Fleisch erlangt.“ Der dritte gab wieder eine andere
Antwort und Bodhidharma hat sagte: „Du hast meine Knochen erlangt.“ Der vierte Schüler, Eka,
stand auf und machte, ohne ein Wort zu sagen, einfach Sampai. Bodhidharma sagte zu ihm: „Du
hast mein Mark erlangt.“ – So wurde Eka der zweite Patriarch in China, der Nachfolger
Bodhidharmas.
Im Allgemeinen denkt man, dass Eka ein tieferes Verständnis als die anderen hatte. So wie das
Mark mehr im Inneren unseres Körpers ist, tiefer als die Haut, das Fleisch oder die Knochen.
Dogen lehnt diese Interpretation ab, denn sie ist zu dualistisch. Sie ermutigt es, Kategorien und
Trennungen zu schaffen. In Wirklichkeit können Haut, Fleisch, Knochen und Mark in unserem
Körper nicht getrennt werden. Sie funktionieren zusammen. So wie alles im Universum zusammen
funktioniert. Nichts existiert getrennt.
Es ist genau dieses Verständnis des Nicht-Getrenntseins, das die Verwirklichung der Buddha-Natur
ist, die Essenz des Erwachens. – Wenn man dies nur auf der Ebene der Sprache, der Erklärungen,
der Wörter versteht, reicht das nicht. Es reicht nicht, um unser Leben umzuwandeln und uns zu
ermöglichen, unseren engen, begrenzten Geist aufzugeben. Um wahrhaft zu erwachen, muss man
dies mit Körper und Geist in Einheit verwirklichen. Körper und Geist zusammen, in Einheit mit
allen Wesen.
Dies kann man am besten verwirklichen, indem man völlig auf die Körperhaltung in Zazen
konzentriert ist, indem man völlig auf die Atmung konzentriert ist, von der Atmung absorbiert wird,
der Atmung, die uns von Augenblick zu Augenblick mit unserer Umgebung vereint, die die
Trennung zwischen Innen und Außen überschreitet. Dieses Nicht-Getrenntsein verwirklicht sich
nicht nur in der Dimension des Raumes – innen und außen, ich und die anderen, man selbst und alle
Wesen -, sondern auch in der Zeit. Denn die Wesen und die Zeit sind nicht getrennt.
Als Bodhidharma sagte: „Ihr habt meine Haut, mein Fleisch, meine Knochen, mein Mark erlangt“,
sprach er nicht nur zu seinen vier nahen Schülern. Er spricht auch zu uns in diesem Dojo, hier und
jetzt. Alle, die Shikantaza praktizieren, die das Zazen Bodhidharmas praktizieren, indem sie sich in
der Konzentration auf Körper und Atmung völlig selbst vergessen, erlangen seine Haut, sein
Fleisch, seine Knochen und sein Mark. Es handelt sich nicht nur um die Haut, das Fleisch, die
Knochen von Bodhidharma, sondern um die Essenz des Lebens Buddhas, des Lebens aller Wesen,
jenseits von hier und anderswo, von jetzt und früher.

 

7.10.2006, 11 Uhr
Wenn man Zazen praktiziert, wird man tief vertraut mit sich selbst. Das heißt nicht, dass man selbst
zum Objekt des Wissens wird. Das Selbst, mit dem man in Zazen vertraut wird, ist nicht etwas.
Nichts, was fassbar ist. Meister Dogen nannte es Buddha-Natur. Die Buddha-Natur ist nichts, was
man in der Tiefe seiner selbst besitzt, sondern die wahre Natur unserer Existenz. Eine Natur, die
nicht von unserer Existenz getrennt ist.
Auch kann man die Buddha-Natur nicht mit Konzepten beschreiben. Sie ist nicht Sein im
Gegensatz zum Nicht-Sein, nicht das tiefe Sein im Gegensatz zum scheinbaren Sein. Sie ist auch
nicht das ursprüngliche Sein im Gegensatz zum aktuellen Sein. Alle Begriffe, mit denen man
versucht sie zu beschreiben, sind nicht angemessen. Sie ist kein Begriff, sondern eine Erfahrung.
Deshalb sagt Dogen nicht: „Alle Wesen haben die Buddha-Natur“, sondern „Alle Wesen sind
Buddha-Natur“. – Sie ist nicht der Geist im Gegensatz zum Körper oder zur Materie. Sie ist nicht
die Substanz, die Essenz im Gegensatz zur Form. Sie ist unser Leben, so wie es ist, das all dies
umfasst, sich aber nicht durch derartige Begriffe begrenzen lässt.
Diese Erfahrung der Gesamtheit unserer Existenz, der Gesamtheit des Seins in Einheit mit allen
Wesen, wird nicht durch das Karma beeinflusst. Meister Dogen unterstreicht diesen Punkt. Auch
Meister Deshimaru sagte immer wieder: „Die Welt von Zazen ist nicht die Welt des Karmas. Sie ist
die Welt von Mushotoku.“ Sie kann nicht von unserer Gier und unseren Wünschen ergriffen
werden, und sie kann nicht durch unsere Unwissenheit oder unseren Hass unterdrückt werden.
Die Buddha-Natur kann nicht einfach auf natürliche Weise verwirklicht werden, d.h. ohne Praxis.
Denn auf natürliche Weise und ohne Praxis manifestiert sich nur unsere bedingte Natur, unser
Karma. Dogen sagt, dass sie auch nicht durch wunderbare Kräfte verwirklicht werden kann. D.h.
beten, oder Mantren rezitieren, hilft nicht, die Buddha-Natur zu realisieren. Er sagt auch, dass die
Verwirklichung nicht von angesammelten Verdiensten, von gutem Karma abhängt. Gutes Karma
schafft nur die Bedingungen für eine gute Praxis. Es schafft die Möglichkeit, dem Dharma zu
begegnen. Aber die Praxis und die Verwirklichung des Dharmas sind jenseits von Verdienst und
Karma, jenseits von allem, was unser Ego glaubt fassen zu können.
Zugleich sind wir so mit ihr vertraut, dass sie sich sofort verwirklicht, sobald wir aufhören, etwas
fassen zu wollen, indem wir uns einfach für die Wirklichkeit, so wie sie ist, öffnen, für die
Wirklichkeit des Lebens ohne Trennungen.
In dieser verwirklichten Einheit verschwindet die Frage nach dem Sinn unserer Existenz, sie löst
sich völlig auf. Denn es gibt nichts anderes, als dies hier und jetzt zu realisieren. Das hängt von
nichts anderem ab, als von der Praxis hier und jetzt. Die Erfahrung, die man während Zazen
realisiert, wird unser tägliches Leben völlig inspirieren und ihm einen Sinn geben. Er besteht darin,
dieses Leben ohne Trennungen in allen täglichen Handlungen zu aktualisieren.
In diesem Augenblick, ist die große Praxis der Bodhisattvas, sind die sechs Paramita, keine
Tugenden, die man praktiziert, um das Erwachen zu erlangen, sind die Paramita keine spirituellen
Übungen, sondern einfach Ausdruck der realisierten Buddha-Natur, eine natürliche Seinsweise, eine
Seinsweise in Harmonie mit dem, was wir in Wirklichkeit sind.
Unsere heutige Zeit braucht es, dass mehr und mehr Wesen dies realisieren, um alle Ursachen von
Gegensätzen, Konflikten und Leiden zu überwinden.
Mondo
Wenn die Welt wechselseitig abhängig ist, was ist dann die Rolle und Bedeutung des Buddhisten?
Wenn vor fünf Jahren etwas Zazen gemacht hat, das aussieht wie ich, und wenn jetzt etwas Zazen
macht, das aussieht wie ich, und in fünf Jahren wieder: Was verbindet das?
Selbst wenn man sich in jedem Augenblick aufgrund der wechselseitigen Abhängigkeit verändert,
gibt es doch ein Gedächtnis. Man erinnert sich an das, was vergangen ist. Wenn man sich an das
erinnert, was früher war, merkt man, dass sich etwas geändert hat, dass es kein festes Ego gibt, kein
stabiles Subjekt. Aber es gibt eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen: das
Gedächtnis. Aber auch das Gedächtnis ist nichts Permanentes. Die Erinnerung verändert sich
ebenfalls, aber nicht völlig. Wenn man abends einschläft und morgens aufwacht, ist man nicht
genau die gleiche Person, nicht genau das gleiche Subjekt, aber auch nicht jemand völlig anderes.
Das Subjekt wandelt sich, das Ego wandelt sich. Da ist nichts, von dem man sagen könnte, dass es
ewig existiert. Zum Glück übrigens: Da wir uns meistens in der Illusion befinden, könnten wir,
wenn das Ich fest wäre, nicht erwachen.
Wenn über den absoluten Aspekt nachdenken möchte, ist das Subjekt eine Folge von dharmischen
Positionen. Es ist wie ein Koordinatenkreuz, in der Mitte ist ein Punkt. In einem Augenblick ist der
Punkt hier, dann ist er da, dann ist er dort. Das ist die wechselseitige Abhängigkeit. Dieses Netz der
Wechselbeziehungen schafft eine Situation, die das Subjekt konditioniert, das Ego konditioniert.
Wenn sich in dieser Wechselbeziehung etwas ändert, ändert sich auch das Ego.
Aber es ändert sich nicht alles zur gleichen Zeit. In unserem Körper z.B. sterben in jeder Sekunde
mehrere tausend Zellen und mehrere tausend Zellen werden geboren. Auch unser Gehirn ändert sich
ständig. Aber die Gesamtheit ändert sich nicht auf einmal. Es gibt da eine Kontinuität.
Ist es nicht mehr als Erinnerung? Die Erinnerung allein bewirkt ja nicht, dass ich morgen wieder
Zazen mache.
Nicht nur die Erinnerung. Es sind auch die fünf Aggregate: Körper, Empfindung, Wahrnehmungen.
Im Aggregat ‚geistige Erzeugungen’ gibt es nicht nur die Erinnerung. Die Erinnerung schafft das
Band mit der Vergangenheit. Aber Bodaishin, der Geist des Erwachens, ist ebenfalls Teil des
vierten Aggregats. Doch auch der Geist des Erwachens ändert sich. Er dauert an und ändert sich
zugleich. Ich spüre, dass mein Geist des Erwachens nicht der gleiche ist wie vor 32 Jahren, aber es
ist immer noch der Geist des Erwachens. Er nimmt eine andere Form an, drückt sich anders aus.
Das ist eine heikle Frage, eine große Frage im Buddhismus: Wenn es keine feste Substanz gibt, was
besteht dann fort? – Es ist die Wechselbeziehung, die fortbesteht. Und wie ich bereits gesagt habe,
in der Wechselbeziehung ändert sich nicht alles auf einmal. Die Umwandlung geschieht nach und
nach. Wenn du ein Foto von dir als Baby betrachtest, ähnelt es nicht mehr deinem jetzigen
Aussehen. Da gibt es einen großen Unterschied. Aber du vor einer Woche und du jetzt, das ist fast
gleich, da gibt es nicht viel Unterschied. Aber trotzdem, es ändert sich. – Warum fragst du?
Die Frage tauchte gestern im Kusen auf. Wenn alles aus Bedingtheit entsteht, kann das alles in
einer kosmischen Weisheit sein, aber zufällig. Ich erlebe einen Antrieb in mir, ein Ich oder ein Ego,
das sagt: „Mach Zazen!“ Es ist schwierig für mich, das zusammenzufügen und zu verstehen.
Ich glaube nicht, dass es eine kosmische Persönlichkeit gibt, einen Willen außerhalb von uns, der
uns sagt, was wir zu tun haben, keine Person oder Geist, der uns sagt: „Das musst du tun.“ Aber du
kannst glauben, was du willst. Ich glaube nicht daran.
Ich glaube, dass es eine kosmische Ordnung gibt, die man Dharma nennt, die nach ihren Gesetzen
funktioniert. Diese Wirklichkeit, so wie sie ist, zieht uns dahin, sie zu verstehen sie anzuerkennen
und uns mit ihr zu harmonisieren. Wenn wir das nicht versuchen, leiden wir. Uns treibt die
Notwendigkeit an, uns mit der Wirklichkeit zu harmonisieren. Sich nicht mit der Wirklichkeit zu
harmonisieren, ist sehr schmerzhaft.
Weisheit ist eher das Streben in uns, uns mit der kosmischen Ordnung zu harmonisieren, weil wir
wahrnehmen, dass dort der Schlüssel zum Glück liegt. Wenn wir nicht dahin kommen, werden wir
immer unglücklich und ängstlich, hoffnungslos und sorgenvoll sein. Daher suchen wir nach
Weisheit. Das kommt aus uns, aber aus uns in Berührung mit der kosmischen Ordnung. Die
kosmische Ordnung funktioniert auch in uns. Wir sind ein Teil der kosmischen Ordnung. Das ist
wie eine Notwendigkeit, uns selbst zu erkennen.
Auf der Gendronnière hast du gesagt, dass es zwei Arten gibt sich zu befreien. Die erste werde oft
unterwiesen, das sei der Weg der Beobachtung und der Konzentration, des Loslassens. Der zweite
Weg sei tiefgehender. Er sei nicht auf der Ebene des Loslassens, sondern auf der Ebene direkt zu
sehen, was ist: Was ist dieses Ich, das etwas will? Das Sehen, dass Illusionen und Anhaftungen
nicht wirklich wichtig sind.
Ich habe über die beiden Wege nachgedacht und finde keine Linie, wo die beiden getrennt sind. Ich
glaube, in der Praxis muss man zuerst das eine machen, das andere folgt dann.
Ja, der zweite ist eigentlich die Intuition, die aus der Praxis kommt. Sie direkter ist und tiefer.
Ist das der Unterschied der in den beiden berühmten Gedichten von Jinshu und Eno beschrieben
wird?
Das Gedicht von Jinshu ist ein Loblied auf die Praxis der Konzentration. Sie hilft, die Gedanken
vorbeiziehen zu lassen und sich nicht an die Illusion zu klammern. So wie man den Staub wegfegt
oder den Spiegel säubert. Die Art von Eno ist, sofort zu sehen, dass es keinen Spiegel, dass es
keinen Staub gibt. Jinshu ist in der relativen Wirklichkeit, in der Wirklichkeit der Phänomene. Wir
leben alle in dieser Wirklichkeit. Deshalb ist das auch wichtig. Aber Eno stellt radikal die Fragen:
„Was ist das für ein Staub? Was ist das für ein Spiegel? Was ist die Bedeutung des Staubs, was ist
die Bedeutung des Spiegels?“ – Es gibt keinen Staub, der wegzuwischen ist, es gibt auch keinen
Spiegel.
Aber das ist Teil der Beobachtung.
Ja, ein Teil der tiefen Beobachtung.
Eno war Küchenhilfe. Das ist eine schwere Arbeit. Kann es sein, dass er dachte: „Durch die Arbeit
allein kann ich viel lernen, durch die Arbeit sehe ich, was wichtig im Leben ist“?
Eno war schon erwacht, bevor er in diesen Tempel kam. Er erwachte, als er den berühmten Satz aus
dem Diamant-Sutra hörte, dass wenn der Geist nirgends verweilt, sich der wirkliche Geistes zeigt.
Eno hatte bereits das Verständnis des leeren Spiegels. Dass der Geist selbst nicht fassbar ist, hatte er
schon vorher verstanden. Als er Konin traf, gab es ein Mondo. Konin hat sofort erkannt, dass Eno
erwacht war. Das war nicht die Arbeit in der Küche. Die war für ihn eine Gelegenheit sein
Verständnis zu vertiefen. Das ist alles.
Ich habe manchmal Schwierigkeiten mit der Konzentration, um Gesprochenes richtig zu verstehen.
Wenn ich Texte höre, nehme ich sie oft nur als Musik wahr und verstehe dann Inhalt nicht. Nicht,
weil ich die Sprache nicht verstehe.
Ich finde es interessanter, die Musik der Stimme von jemandem zu hören als den Inhalt der Worte.
Die Musik der Stimme drückt wesentlich mehr die Seinsweise einer Person aus als der Inhalt ihrer
Worte. Ich bin Therapeut. Wenn jemand etwas zu mir sagt, höre ich in einem bestimmten Moment
gar nicht mehr, was er sagt, dann höre ich nur noch auf seine Musik. Das ist viel interessanter. Das
offenbart viel mehr über den Zustand dieser Person als das Ego der Person. Du kannst so
weitermachen.
Während der Unterweisung im Dojo sagt dir die Musik des Unterweisenden vielleicht etwas über
den Geist der Person, die spricht, aber nicht über das Dharma. Aber im Dojo ist das Dharma
wichtig.
Was den Kontakt mit anderen Personen angeht: Wenn du nur Musik hörst, bekommst du
Kommunikationsprobleme. Wenn du es schaffst, den Worten zuzuhören und gleichzeitig die Musik
wahrzunehmen, ist das am besten. Die Musik sagt dir über die Worte hinaus, was die Person sagen
will. Du kannst dann deine Intuition entwickeln und vielleicht sogar besser kommunizieren.
Du hast heute Morgen beim Zazen gesagt: „Beim Zazen erfahren wir uns selbst. Wir lernen uns
selbst kennen.“ Dann hast du gesagt: „Dieses Selbst ist identisch mit der Buddha-Natur.“ Das
würde bedeuten: Dein Selbst ist nicht verschieden von meinem Selbst. Meinst du nicht, dass das
Selbst auch etwas Individuelles enthält?
An der Oberfläche: ja. Die Oberfläche der verschiedenen Selbst ist individuell, ist unterschiedlich.
Man kann aber sagen, dass die wahre Natur des Selbst die gleiche ist. Deine persönlichen
Eigenschaften sind anders als meine. Du hast ein anderes Karma, eine andere Geschichte als ich.
Du bist eine Frau, ich bin ein Mann. Da gibt es viele Unterschiede. Wenn man sich in der Zazen-
Praxis selbst kennen lernt, sieht man nicht nur seine Unterschiede, seine Besonderheiten, sondern
wirklich die Essenz unserer Existenz.
Man kann auf die Frage nach dem Selbst nicht antworten: „Ich bin eine Person mit diesen und jenen
Empfindungen, diesen und jenen Werten.“ Das ist nicht die Antwort. Das ist eine Beschreibung des
Egos, der Persönlichkeit. Die ist natürlich unterschiedlich. Wenn nach dem vom Selbst fragt, fragt
man im Zen: „Was bildet die Essenz meiner Existenz?“ – Im Zen ist das Selbst das Nicht-Selbst,
d.h. ohne Substanz. Das ist genau das gleich für dich, für mich, für die Bäume, für den Himmel, für
alle Existenzen.
Ich denke noch mal darüber nach.
Denke gut darüber nach.

 

8.10.2006, 7 Uhr
Wenn man weiter Zazen macht, indem man sich auf Körper und Atmung konzentriert, funktioniert
der Geist wie ein Spiegel. Alle Phänomene, die auftauchen, werden reflektiert ohne anzuhaften.
Dem Geist zu ermöglichen, wie ein Spiegel zu funktionieren, ist die Aufgabe der Praxis der
Konzentration. Das kann man auch im täglichen Leben weiterführen, indem man so oft wie möglich
zur Konzentration auf Körper und Atmung zurückkehrt, egal welche Haltung man gerade hat und
welche Handlung man gerade ausführt.
Die Metapher des Spiegels kann den Eindruck erwecken, der Spiegel, d.h. man selbst, sei das
Subjekt, und alle Objekte, die sich widerspiegeln, seien außen vor dem Spiegel. Aus diesem Grund
spricht man oft vom Staub, der sich auf dem Spiegel ablegt, so als ob er nichts mit dem Spiegel zu
tun hätte, als wenn er etwas außerhalb wäre. Ein tieferes Verständnis bringt uns dazu zu sehen, dass
dieser Staub ohne Substanz ist. Die Intuition der Leerheit ermöglicht es, die Wurzel unserer Illusion
zu durchschneiden und auch inmitten aller möglichen Phänomene die Freiheit wieder zu finden.
Diese Sichtweise macht viele Dinge leichter. Daher vergleicht man unsere Illusionen oft mit
Wolken, die am Himmel vorbei ziehen. Sie haben die Leichtigkeit von Dampf und werden wie er
sehr schnell verschwinden.
Aber diese Sichtweise bleibt dualistisch. Da gibt es noch mich, mein Bewusstsein, das wie ein
Spiegel funktioniert, und die äußeren Objekte. Diese Sichtweise kann zu Irrtümern führen. Deshalb
sagt Meister Dogen im Bussho: „Die ganze Welt ist völlig frei von Staub und von Objekten, die den
Subjekten gegenüber stehen. Denn genau hier und jetzt gibt es keine zweite Person.“ Alles, was sich
in unserem Geist widerspiegelt, ist Teil des Geistes. Das ist nicht etwas außerhalb, etwas
Getrenntes. Die Phänomene, die wir wahrnehmen, sind die augenblickliche Form, die der Geist
angenommen hat.
Nicht nur sind alle Wesen Buddha-Natur, sondern jedes Wesen ist an sich die Gesamtheit aller
Wesen. Das ist die wirkliche Bedeutung der Buddha-Natur. Das, was wir in der Regel Illusionen
nennen, sind keine Dinge, die von außerhalb kommen wie Besucher, sondern Manifestationen
unseres Geistes. Auch Buddha ist kein Besucher. Er ist die wahre Form unseres Geistes. Aus
diesem Grund sagt man im Zen immer: „Sucht Buddha nicht außerhalb. Ihr seid Buddha.“ Buddha
ist keine zweite Person, kein Objekt. Weder Buddha noch die Illusionen sind Objekte. Und weil es
keine Objekte gibt, gibt es auch kein Subjekt. Nur die Gesamtheit, ein Ganzes. Ohne Trennung.
Und jeder ist diese Gesamtheit.
Solange man dies nicht tief und vertraut versteht, läuft man weiter den Illusionen hinterher. Man
bleibt Gefangener einer dualistischen Sichtweise und erkennt nicht, dass in Wirklichkeit die Wurzel
der Illusionen schon abgeschnitten ist. – Deshalb kann man nicht durch willentliche Anstrengung
erwachen. Solange man glaubt, dass es etwas abzuschneiden gelte, bleibt unsere Praxis illusorisch
und hält ständig Hass und Gier aufrecht. Man ist frustriert, weil man glaubt, dass es etwas zu
erhalten gäbe und etwas, das verhindert, dass man es erhält. Man bleibt in der Illusion der Trennung
von Subjekt und Objekte gefangen. Dann bleiben Gott und Buddha weit entfernt, versteckt,
verborgen, und man hat den Eindruck, nirgends zuhause, Fremder in dieser Welt zu sein. Man sieht
nicht, dass die Trennung an der man leidet, von uns selbst erzeugt ist.
Aber weil all das ohne Substanz ist, kann es sich schnell ändern. Wenn man sich mit Vertrauen
völlig der Zazen-Praxis hingibt, hat Zazen die Kraft, uns aus unseren geistigen Erzeugnissen heraus
und zu unserem wahren, ursprünglichen Zustand jenseits aller Trennungen zurück zu bringen. Dann
können wir das Leben Buddhas erfahren, das erwachte Leben. Das Leben, so wie es in Wirklichkeit
ist.

 

8.10.2006, 11 Uhr
Während des Mondos gestern fragte jemand, wie es um das Subjekt stehe, wenn alles unbeständig
und wechselseitig abhängig sei. Da wird unterstellt, dass es ein bewusstes Subjekt jenseits der sich
verändernden Phänomene geben muss, ein getrenntes, permanentes Subjekt, das die
Unbeständigkeit der Dinge und die wechselseitige Abhängigkeit betrachtet. Einige glauben, dass
dieses Subjekt das wahre Selbst ist und verwechseln dies mit der Buddha-Natur. Sie machen aus der
Buddha-Natur und aus dem Selbst ein geistiges Konstrukt und sind in der Dualität zwischen Subjekt
und Objekt, zwischen einem selbst und der Welt gefangen. Wenn man so denkt, bleibt man
Gefangener der grundlegenden Wurzel der Täuschung. Meister Dogen hat dies sein ganzes Leben
lang kritisiert.
Es ist die natürliche Neigung unseres Geistes, Objekte zu erzeugen, die er sich dann aneignen kann.
Der Sinn der Praxis des Buddha-Weges liegt genau darin, uns davon zu befreien. Um diese
Befreiung zu verwirklichen, können wir nicht unser persönliches Bewusstsein benutzen. Denn man
kann das Feuer nicht mit Feuer löschen. Deshalb impliziert das wirkliche Sich-Selbst-Kennenlernen
das Sich-Selbst-Vergessen. Wenn man sich selbst nicht vergisst, kann man sich selbst nicht
verstehen. Wenn man die bedingte Funktionsweise des Geistes nicht aufgibt, kann man nicht zur
Wirklichkeit erwachen.
Sich auf die Zazen-Praxis konzentrieren, wie wir es hier tun, auf die Praxis des Gyoji, ist die uns
gegebene Möglichkeit, uns selbst, die bedingte Funktionsweise unseres Geistes zu vergessen,
darüber hinaus zu gehen und so die Intuition zu entwickeln. Man nennt das manchmal Weisheit,
Prajna, mit einem weiten Blick sehen, mit einem weiten Geist verstehen, der die Pole all unserer
Dualitäten umfasst, der sich nicht von unseren geistigen Konstrukten täuschen lässt.
Deswegen nennt man dies ‚Erwachen’. Als würde man aus seinem Traum erwachen. Wir halten
unsere Vorstellungen für die Wirklichkeit. Aber natürlich sind Traum und Vorstellung auch Teil der
Wirklichkeit. Die Unterschiede, die Dualität, shiki und ku sind auch Teil der Wirklichkeit.
Sich selbst vergessen, unsere durch unser Karma begrenzte Sichtweise aufzugeben heißt durch alle
Phänomene erweckt sein zu können. Dieses Erwachen kann sich in jedem Augenblick des täglichen
Lebens fortsetzen. Denn alle Wesen sind Natur des Erwachens, Buddha-Natur. Wir können dem
nicht entgehen. Meist stellt man sich vor, es ginge um etwas anderes, um etwas weit Entferntes,
Verborgenes. Zazen praktizieren, an Sesshins teilnehmen ist eine Gelegenheit mit dem vertraut zu
werden, was wir in Wirklichkeit sind: lebende Buddhas.

Das ewige Leben – 05.2016 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 30. April – 8. Mai 2016
während des Frühjahrslagers in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

 

30.4.2016, 7 Uhr
Konzentriert euch von Beginn des Zazen an völlig auf eure Haltung. Lasst euch nicht von den
Gedanken ablenken. Bringt eure Aufmerksamkeit auf die Senkrechte eures Rückens zurück. Dank
der richtigen Höhe des Zafus ist das Becken gut nach vorne geneigt, sodass man keine Muskeln
anspannen muss. Man drückt gut mit den Knien auf den Boden. Der Bauch ist entspannt. Das
Körpergewicht verteilt sich auf die Knie und das Zentrum des Damms, das auf das Kissen drückt.
Das gibt der Haltung eine stabile Basis.
Ausgehend von der Taille streckt man die Wirbelsäule und den Nacken. Man lässt alle Spannungen
des Rückens und der Schultern los. Das Kinn ist zurückgezogen, und man drückt mit der
Schädeldecke in den Himmel und mit den Knien in die Erde. Auf diese Weise ist die Haltung wie
eine Verbindung zwischen Himmel und Erde.
Das Gesicht ist entspannt, auch der Blick. Er ruht vor einem auf dem Boden. Man schließt die
Augen nicht. Nicht die Objekte des Sehens stören die Konzentration, sondern dass man sich an sie
klammert. Wenn man sich nicht an die visuellen Objekte klammert, kann man alles klar sehen, ohne
auf irgendetwas zu verweilen. Das Gleiche gilt für alle anderen Sinnesobjekte, einschließlich der
geistigen.
Während Zazen bemüht man sich nicht, die Gedanken zu unterdrücken, sondern man folgt ihnen
nicht, klammert sich nicht an sie. Man beobachtet ihre Unbeständigkeit und Leerheit und lässt sie
vorüberziehen, indem man zur Konzentration auf den Körper zurückkehrt. Die Zunge liegt am
Gaumen an. Das hilft, alle innere Diskussion anzuhalten. Wenn in Zazen Gedanken auftauchen,
unterscheidet man sie nicht bezüglich ihres Inhalts. Man betrachtet sie wie Wolken am Himmel und
lässt sie vorüberziehen.
Die linke Hand liegt in der rechten, die Daumen sind waagerecht, die Handkanten haben Kontakt
mit dem Unterleib. Die Schultern sind gut entspannt. Die Hände bilden das Mudra von Hokkai join,
das Siegel, in, des Samadhis, jo, des Dharma-Ozeans, hokkai. Wenn man sich völlig in der
Konzentration auf die Körperhaltung absorbiert, hört das geistige Unterscheiden auf. Man schafft
keinen Unterschied mehr zwischen innerhalb und außerhalb von einem selbst, also auch nicht
zwischen einem selbst und den andern. Im Dojo sind wir völlig in Einheit. Man schafft auch keinen
Unterschied mehr zwischen sich selbst und der Natur. Man ist mit ihr in Einheit. Man schafft auch
keinen Unterschied mehr zwischen Gott oder Buddha und einem selbst. Das ist das Verdienst von
hokai jo, des Samadhis des Dharma-Ozeans. Durch die Konzentration wird der Geist wie das weite
Meer, wenn der Wind aufgehört hat, die Oberfläche aufzuwühlen. Dann spiegelt er das ganze
Universum genau und wird bis in die Tiefe durchsichtig.
Vor allen Dingen schafft der Geist in Zazen keine Trennungen mehr zwischen der Praxis hier und
jetzt und der Verwirklichung, dem Satori. Wenn die Praxis richtig ist, d.h. wenn man sich völlig der
Praxis hingibt, wenn unser kleines Ego in der Praxis aufgesogen ist, ist die Praxis selbst
Verwirklichung, Leben ohne Trennung, Leben in Einklang mit dem Dharma-Ozean, erwachtes
Leben.
Während eines Sesshins behält man diese Konzentration in allen Praktiken des Tages bei: beim
Spaziergang nach Zazen, beim Rezitieren der Sutren während der Zeremonie, beim Sanpai, beim
Gassho, beim Essen, wenn man Samu macht, und selbst, wenn man in der Bar ist oder sich ausruht.
Man ist immer völlig gegenwärtig für die Wirklichkeit des Augenblicks. Dafür darf der Geist auf
nichts verweilen und muss immer völlig verfügbar bleiben. Wenn der Geist auf nichts stehen bleibt,
manifestiert sich der wirkliche Geist, der erwachte Geist.

 

30.4.2016, 16.30 Uhr
Bleibt während Zazen immer auf die Haltung konzentriert. Lasst euch nicht von den Gedanken
ablenken. Statt euren Gedanken zu folgen, folgt eher eurer Atmung. Sich auf die Haltung zu
konzentrieren, bringt uns an diesen Ort. Auf die Atmung achtsam zu sein, bringt uns in den
gegenwärtigen Augenblick. So lernt man in Zazen, den gegenwärtigen Augenblick tief zu leben, mit
der Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks in Kontakt zu treten, ohne in seinen Gedanken
eingeschlossen zu bleiben. Zazen weckt uns aus unserem täuschenden Traum.
Shantideva hat einen Text geschrieben mit dem Titel Der Weg des Lebens zum Erwachen. Es ist die
Praxis unter dem Blickwinkel des Erwachens: Was tun, damit uns die Praxis zum Erwachen
Buddhas führt?
Erwachen bedeutet, in Kontakt mit der Wirklichkeit zu treten, so wie sie ist – jenseits unserer
Gedanken. In Zazen kann man unmittelbar die Unbeständigkeit dessen erleben, was unsere Existenz
ausmacht. Unsere Körperempfindungen verändern sich unablässig; auch unsere Wahrnehmungen.
Gedanken erscheinen und verschwinden wieder. Es gibt nichts zu ergreifen. Zazen erlaubt es uns,
dies zu sehen, aber vor allem auch, dies zu akzeptieren, einen sanften, geschmeidigen Geist zu
verwirklichen, einen Geist, der in jedem Augenblick unsere Neigung, uns an alle Phänomene zu
klammern, loslassen kann.
Während Zazen denkt man mit dem ganzen Körper, nicht nur mit seinem Kopf, seinem Hirn. Wenn
man mit dem ganzen Körper denkt schafft man keine Unterscheidungen mehr, kein Klammern an
Konzepte. Dies gestattet uns, unsere Einheit mit allen Wesen zu sehen und nicht mehr zu
unterscheiden zwischen dem, was wir mögen, und dem, was wir nicht mögen, und so die Gifte des
Geistes, Hass und Gier, aufzugeben.
Wenn man von diesen Geistesgiften befreit ist, kann man in der Praxis selbst das Glück, die
Befreiung finden. Man benutzt nicht die Praxis um Glück und Befreiung zu erlangen, die Praxis
selbst wird Glück und Befreiung.
Wenn man mit der Praxis gar nichts mehr erlangen möchte, wird aus einer Praxis mit dem Ziel, das
Erwachen zu erlangen, hier und jetzt die Praxis des Erwachens. Der Praxis dieses Augenblicks fehlt
es an nichts. Man kann damit zufrieden sein, einfach zu sitzen.
Einfach sitzen.

 

30.4.2016, 20.30 Uhr
Die Blüten der Kirsche im Frühling,
Die scharlachroten Blätter im Herbst,
Der weiße Schnee im Winter.
Ich kann die Anziehungskraft nicht erklären,
die kein Ende findet.
Ein Gedicht von Meister Dogen.

 

1.5.2016, 7 Uhr
Bringt während Zazen eure Achtsamkeit immer wieder zurück zur Körperhaltung, insbesondere auf
die Senkrechte des Rückens. Das Kinn ist zurück gezogen, und die Schultern sind gut entspannt.
Statt den Gedanken zu folgen, legt man all seine Achtsamkeit in die Atmung. Wenn wir einatmen
sind wir völlig dieser KörperGeist, der einatmet. Wenn wir ausatmen, sind wir völlig dieser
KörperGeist, der ausatmet. Diese Achtsamkeit ermöglicht es, die Gedanken vorüber ziehen zu
lassen und sich nicht mehr an sie zu klammern, und so einen fließenden Geist wieder zu finden, der
auf nichts stehen bleibt. Die geistige Aufgeregtheit beruhigt sich und unsere Sicht wird klar.
Wir können die Schatten unserer Bonnos erhellen und ihre Wurzel abschneiden, unsere Anhaftung
an unser kleines Ego. Unsere Anhaftung an unser Selbst zeigt, dass wir uns mehr lieben als alles
andere. Wir sind für uns das Allerwichtigste. Alles, was diese Wünsche des Egos stört, führt dazu,
dass wir leiden.
Die Konzentration in Zazen ermöglicht es, dies klar zu sehen und einen noch größeren Wunsch
entstehen zu lassen: den Wunsch, zur tiefsten Wirklichkeit unserer Existenz zu erwachen. Das nennt
man Bodaishin. – Nur ein Wunsch, der viel größer ist als all die vielen kleinen Wünsche, erlaubt es
uns, diese auszurotten und all unsere Energie für die Praxis des Weges zu mobilisieren.
Wir haben die Möglichkeit gehabt, den Weg zu finden. Das ist eine ganz außergewöhnliche
Möglichkeit, also darf man sie nicht vergeuden. Der Wunsch zu erwachen wird ein sehr großer
Wunsch, wenn er alle Wesen einschließt. Wenn alles was wir praktizieren, dazu beiträgt, allen
Wesen zu helfen sich zu erwecken, wird alles Gelegenheit, auf dem Weg voranzuschreiten, alle
Umstände werden dann von Bodaishin genutzt. Die Menschen, die uns selbst leiden lassen, werden
zu unseren Wohltätern. Alle Wesen werden unsere Freunde.
In der Tiefe gibt es keine Trennung zwischen einem selbst und den anderen. So bedarf es keiner
großen Anstrengung, uns an ihre Stelle zu versetzen und ihnen gegenüber großes Mitgefühl zu
empfinden. Dann kann man nur wünschen, den Weg mit allen Wesen zu teilen. Dieses Gelübde
belebt unsere ganze Existenz, gibt ihr einen tiefen Sinn, eine starke Richtung.

 

1.5.2016, 16.30
Mondo
Du hast heute morgen im Workshop gesagt: „Soheit ist die positive Bezeichnung für Leerheit.“ Ich
sehe zwischen Soheit und Leerheit keinen Unterschied. Gibt es doch einen Unterschied?
Nein es gibt keinen wirklichen Unterschied. Soheit bezeichnet die Existenz so, wie sie ist, ohne
Substanz, ohne etwas Festes, vor allem jenseits aller unseren geistigen Projektionen. Es ist absolut
‚so’. Wenn man verstehen möchte, was es heißt, absolut so zu sein, versteht man, dass es bedeutet,
in völliger Wechselbeziehung mit allem Existierenden zu existieren, also ohne getrennte Existenz
zu sein, aber zu existieren.
Warum hat man begonnen, diesen Begriff zu benutzen? – Weil es einen etwas zu negativen
Eindruck erweckt, nur von der Leerheit zu sprechen. Wenn die Menschen das Wort ‚Leerheit’
hören, denken sie an das Nichts, an das Nicht-Existieren. Das Wort Leerheit selbst trägt zu dieser
Konfusion bei. Das ist der Grund weshalb, der Begriff Soheit erschienen ist.
Im Sanskrit ist ‚so’ tathata. Man sagt, dass Buddha der Tathagata ist, derjenige, der so gekommen
ist, der aus dieser Existenz ohne Substanz kommt, einer Existenz, die sich nicht in unseren
Konzepten einschließen lässt, die jenseits unserer Gedanken ist.
In der gleichen Denkrichtung hat man die Auffassung entwickelt, dass alles Geist ist. Auch das ist
ein Versuch, die tiefste Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, in einer positiveren Weise als
einfach zu sagen: „Alles es ist Leerheit, alles ist ohne Substanz.“
Es gibt diese zwei Annäherungen: ‚Alles ist einfach so.’ oder ‚Alles ist einfach Geist.’ Das sind
zwei positive Weisen zu sagen, dass alles, was existiert, nur in Wechselbeziehung existiert, also
ohne Substanz; leer von Substanz, aber nicht leer von Existenz.
Ich bin sehr zuvorkommend, dass ich versuche die Soheit zu erklären. Normalerweise ist die Soheit
etwas, was man nicht erklären kann. Es ist jenseits von jeder Erklärung.
Als ich zum Sesshin kam, haben mir viele Leute gesagt: „Lange, dass wir dich nicht gesehen
haben.“ Ich schiebe es immer wieder vor mir her, zu einem Sesshin zu gehen. Zazen ist
anstrengend, und ich bin sehr schläfrig. Ich kann nicht gut schlafen. Dann denke ich: ‚Na ja, ich
bin Nonne, gehe ich mal wieder hin.’ – Was sagst du dazu?
Ich finde gut, dass du gekommen bist.
Ein Sesshin zu machen, wenn man keine Lust dazu hat, ist eine sehr gute Praxis. Es bedeutet, dass
man in der Lage ist, sein Ego aufzugeben, das kein Lust hat, sich zu bemühen, das es vorzieht,
bequem zu Hause zu bleiben. Trotz alle dem, sagt man sich: „Ich muss den Weg mit der Sangha
praktizieren.“ und unternimmt die Bemühung zu kommen. Diese Entscheidung zu kommen, obwohl
unser Ego Widerstand leistet und keine Lust hat, ist eine Art loszulassen, ist ein kleines Satori.

 

1.5.2016, 20.30 Uhr
Ein anderes Gedicht von Meister Dogen:
Die wahre Person ist niemand Besonderes.
Wie die tiefblaue Farbe
Des unbegrenzten Himmels
Ist sie jede Person,
Überall in der Welt.

 

2.5.2016, 7 Uhr
Um diese Frühjahrslager praktizieren zu können, sind manche mit Freude gekommen, andere haben
sich sehr bemühen müssen, um zu kommen, sind spät angekommen. Selbstverständlich stoßen wir
im Leben auf alle möglichen Hindernisse, wenn wir den Weg praktizieren wollen. Äußere
Hindernisse, aber vor allem unsere eigenen Hindernisse, unsere Bonnos, unsere Anhaftungen.
Um über diese Hindernisse hinwegzugehen, muss man einen Wunsch entwickeln, der größer ist als
seine kleinen persönlichen Wünsche. Den Wunsch, den Weg mit den anderen und für die anderen
zu realisieren. Das ist Bodaishin, der Geist des Erwachens.
In der Tiefe hat jeder diesen Geist des Erwachens. Jeder hat das Bedürfnis, er selbst zu werden, die
wirkliche Natur unserer Existenz zu realisieren, ohne die man das wirkliche Glück nicht kennen
kann. Ohne Bodaishin, ohne diesen Geist des Erwachens, ist die Praxis des Weges schwierig. Selbst
wenn man intellektuell von seinem Wert überzeugt ist, wenn das Herz nicht folgt, ist es schwierig,
seine Energie in die Praxis zu legen. Alle möglichen Widerstände und Hindernisse tauchen auf.
Alles in der gegenwärtigen Welt steht im Gegensatz zu Bodaishin: Individualismus und
Materialismus haben alle Aspekte des Lebens überschwemmt.
Mit dem Geist des Erwachsen, der Praxis von Zazen, der Praxis des Gyoji, wird das Leben das, was
Shantideva das ‚Gehen zum Licht’ nennt: Die Praxis eines jeden Tages erhellt unser Leben, ist in
sich selbst bereits eine Praxis des Erwachens und keine Übung, um es später zu erlangen.
Shantideva sagt, dass Bodaishin es uns ermöglicht, die Leiden zu durchqueren, das Schlechte
entfernt und es erlaubt, sich wirklichen Glücks zu erfreuen. Es ist das Glück, in Einklang mit
unserer wirklichen Natur zu leben, mit dem, was wir in Wirklichkeit sind. Das suchen alle in der
Tiefe, aber auf falsche Weise.
Bodaishin manifestiert sich in dem Wunsch, den Gelübden zu folgen, und in den Geboten der
Bodhisattvas, d.h. im Empfang der Bodhisattva-Ordination. Durch sie wird man zu einem
wirklichen Sohn, zu einer wirklichen Tochter Buddhas. Wenn man mit Bodaishin Zazen praktiziert,
wird der eigene Körper der Körper Buddhas.
Dafür ist es erforderlich, eine starke Verbindung zwischen sich selbst und Buddha zu schaffen,
indem man die gleiche spirituelle Erfahrung wie macht er: die Erfahrung der Unbeständigkeit und
der Leerheit unseres kleinen Egos und die Erfahrung unseres wirklichen Lebens in Einheit mit allen
Wesen. Dann bemüht man sich auf natürliche Weise durch Körper, Geist und Worte, diesen Geist
mit anderen zu teilen, ihn bei anderen zu erwecken. Dann kann man Zazen mit wirklichem
Loslassen praktizieren, das heißt, man kann sich Zazen hingeben, alle seine Energie, alle seine
Aufmerksamkeit der Praxis geben. Die Praxis wird dadurch viel stärker und trägt uns über die
Hindernisse hinaus, die unser Ego stellt. Die Praxis selbst wird Praxis des Erwachens und stimuliert
ihrerseits Bodaishin, das nicht aufhört, anzuwachsen, wie auch unser Wunsch, das mit anderen zu
teilen.
Obwohl man manchmal Bodaishin als den Anfang des Weges ansieht, sagt Meister Dogen, dass
sich mit Bodaishin das höchste Erwachen verwirklicht. Es gibt keinen Unterschied zwischen
Bodaishin und dem höchsten Erwachen.
Dann wird alles leicht. Man braucht sich nicht mehr so sehr anzustrengen, um zu praktizieren. Es ist
die Praxis, die uns voran trägt. Man muss ihr nur folgen.
Alle Phänomene, denen wir begegnen, werden Gelegenheiten, den Weg zu praktizieren, ihn zu
vertiefen, zu erwachen. Jeder Tag wird ein guter Tag, und alle Orte werden gute Orte, um zu
praktizieren, gemeinsam mit allen Wesen.
Schlaft nicht! Konzentriert euch auf eure Haltung, insbesondere auf die Handhaltung!

 

2.5.2016, 16.30 Uhr
Das Zen, das wir hier praktizieren, ist keine therapeutische Meditation und auch keine
Wohlbefindensmeditation oder eine Art der Persönlichkeitsentwicklung. Es ist die Meditation
Buddhas, d.h. die Meditation, die das Erwachen Buddhas realisiert, die die wirkliche tiefe Natur
unserer Existenz realisiert, sogar jenseits unserer Gedanken.
Das ist nichts, was man mit dem Geist erfassen kann. Das verwirklicht sich, wenn man völlig
absorbiert ist in der Konzentration auf die Körperhaltung in Einheit mit dem ganzen Universum.
Das verwirklicht sich, wenn man völlig achtsam auf die Atmung ist in völliger Einheit mit jedem
Augenblick an dem Punkt, wo jede Trennung verschwindet, die Trennung zwischen hier und
woanders, zwischen nah und fern, zwischen jetzt und früher, zwischen jetzt und später. Aller Raum
und alle Zeiten sind hier und jetzt versammelt. Weil dieses Zazen bereits die Verwirklichung des
Erwachens ist, praktizieren wir nicht mit der Erwartung, dass etwas kommt, aber weil wir in Einheit
mit allen Wesen praktizieren, beeinflusst unsere Praxis sie und hilft ihnen, in den Weg einzutreten.
Wir praktizieren in der völligen Wechselbeziehung mit allen Wesen.
Wenn man den Geist des Erwachens, Bodaishin, realisiert, trägt alles zu seiner Entwicklung bei.
Alles zeigt uns das Dharma, insbesondere Geburt und Tod, die sich in jedem Augenblick
verwirklichen, d.h. die Unbeständigkeit aller Existenz. Alles taucht von Augenblick zu Augenblick
auf und verschwindet. Das ermöglicht es dem vergangenen schlechten Karma zu verschwinden. Die
Bonnos können verschwinden, und alles Gute kann erscheinen, denn es gibt Raum in unserem
Geist. Er ist nicht von dem vergangenen Karma verdunkelt.
Aber selbst wenn wir dies realisieren, dürfen wir nicht stolz auf unsere Verwirklichung sein, denn
das Dharma ist letztlich unfassbar, zu weit, um in unserem Geist eingeschlossen zu werden. In der
gleichen Weise kann man weder den Augenblick noch die Ewigkeit fassen. Die beiden Extreme der
Zeit sind nicht fassbar, genauso wenig wie das unendlich Kleine und das unendlich Große. Wenn
man das intuitiv wahrnimmt, kann man nur seinen Wunsch loslassen, etwas zu erfassen, was auch
immer das sein mag. Das ist in sich selbst eine große Befreiung. Denn Gier ebenso wie Hass sind
große Ursachen von Leiden.
Zazen mit Bodaishin praktizieren heilt nicht nur diese Leiden, sondern ist Quelle unendlichen
Glücks.

 

2.5.2016, 20.30
Ein anderes Gedicht von Meister Dogen:
Erwachen, während man die Blüten des Pfirsichbaumes sieht
Die Blütenblätter des Pfirsichbaumes
Öffnen sich im Frühlingswind
Und fegen alle Zweifel
Der Ablenkungen der Äste und der Blätter weg.

 

3.5.2016, 7 Uhr
Kehrt während Zazen immer wieder zur Konzentration auf die Körperhaltung zurück. Folgt nicht
euren Gedanken.
Während Zazen durchqueren alle möglichen Gedanken unseren Geist. Wünsche, Sorgen, Ängste
stören unablässig den Frieden unseres Geistes. Dennoch klammern wir uns an sie.
Shantideva fragt: „Wie kann ich nur Sklave meiner Bonnos werden. Sie stören mich, aber ich
befreie mich nicht von ihnen. Welch absurde Leidenschaft!“ – Manchmal handeln wir wie unser
schlimmster Feind. Wir sind auf den Weg der Großen Befreiung gestoßen, aber statt alle Energie
und Achtsamkeit darauf zu richten, diese Befreiung zu verwirklichen, lassen wir uns von unseren
illusorischen Gedanken ablenken. Wir wissen, was richtig ist, machen aber das Falsche. So als
würde uns völlig das Mitgefühl mit uns selbst fehlen.
Glücklicherweise sind unsere Bonnos einfach Fata Morganas. Zazen hat die Kraft, uns das zu
zeigen. Also lassen wir uns durch Zazen erhellen, lassen wir uns von Bodaishin führen. Dafür
müssen wir uns immer wieder daran erinnern, dass die Unbeständigkeit beständig ist, dass es keine
Zeit zu verlieren gibt. Diese Zeit des Sesshins, während der wir gemeinsam den Buddhaweg
praktizieren, ist sehr kostbar. Lassen wir sie nicht nutzlos verstreichen. Alles ist unbeständig, also
lasst uns das Gute tun, solange wir die Fähigkeit dazu haben.

 

3.5.2016, 20.30 Uhr
Ein weiteres Gedicht von Meister Dogen:
Das ursprüngliche Gesicht
Im Frühling die Kirschblüten,
Im Sommer der Ruf des Kuckucks,
Im Herbst der leuchtende Mond,
Im Winter der gefrorene Schnee.
Wie rein und klar sind die Jahreszeiten.

 

4.5.2016, 7 Uhr
Lasst während Zazen euren Geist nicht aus der Konzentration auf die Körperhaltung entweichen.
Seid völlig achtsam auf die Atmung. Ständig achtsam und sich völlig dessen bewusst zu sein, was
innerhalb und außerhalb von uns geschieht, ist erforderlich, um wirklich den Weg zu verwirklichen.
Wenn man nicht achtsam ist, geschehen alle möglichen Irrtümer in unserem Leben. Man ruft
Unfälle hervor. Man sagt Dinge, die man anschließend bedauert. Man macht, was man nicht
machen sollte, und unterlässt das, was man tun sollte.
Um in Einklang mit dem Weg zu sein, muss man seinen Geist frei von jeder Ablenkung halten.
Wenn unser Geist abgelenkt ist, muss man zum Körper zurückkehren. Nicht handeln. Einfach zur
Gegenwärtigkeit für einen selbst zurückkehren. Ruhig ausatmen, die geistige Unruhe sich beruhigen
lassen.
Wenn wir unser Leben betrachten, nehmen wir wahr, dass alle Gefahren, alle Leiden, die
geschehen, aus unserem Geisteszustand kommen. Wenn man wachsam ist, wenn der Geist achtsam
ist, wird man nicht mehr von seinen Bonnos gestört. Die Bonnos sind wie Diebe: Wenn man sie
überwacht, halten sie sich versteckt. Sobald man abgelenkt ist, nutzen sie das aus, um uns zu
überschwemmen.
Um die Paramita wirklich zu praktizieren, d.h. die Praktiken der Bodhisattvas, die es ermöglichen,
über die begrenzte Welt unseres kleinen Egos hinaus zu gehen, muss man unablässig vollkommen
bewusst sein, muss man seinen Geist kontrollieren. Denn alles kommt aus unserem Geist. Wenn
unser Geist von Wut erfüllt ist, erscheint uns die Welt um uns herum voller Feinde. Wenn unser
Geist zum Frieden zurückfindet, gibt es keine Feinde mehr. Selbst wenn Menschen Irrtümer
begehen, lösen sie unser Mitgefühl aus, nicht unseren Zorn. So kann man mit ihnen befreundet
bleiben.
Wenn unser Geist unablässig abgelenkt ist, in Sanran ist, immer mit allem möglichen beschäftigt,
oder wenn er andererseits schwer und schläfrig ist, werden alle Praktiken nutzlos. Sie fügen nur
noch Aufgeregtheit hinzu.
In Zazen können wir besonders gut unseren Geisteszustand beobachten, können wir sehen, wie er
sich von Gedanken ablenken lässt und wie er sie loslassen kann. Insbesondere indem man zur
Aufmerksamkeit auf die Atmung zurückkehrt. Wenn man völlig gegenwärtig in seiner Atmung ist,
klärt sich der Himmel unseres Geistes sehr schnell, die Wolken verziehen sich.
Unser Geist ist ohne Form, ohne alles Substanzielle, wie ein weiter Spiegel. Unablässig zeigen sich
alle möglichen geistigen Objekte vor diesem Spiegel. Wenn man sie in dem Augenblick betrachtet,
in dem sie auftauchen, wenn man ihre Leerheit wahrnimmt, kann man sie schnell zu ihrem
Ursprung zurückkehren lassen, sich nicht von ihnen überschwemmen lassen.
In Zazen kann man lernen, achtsam auf das Auftauchen der Gedanken zu sein, und auf diese Weise
sich nicht von ihnen überschwemmen zu lassen. Lernen, seinen Geist zu kontrollieren, bedeutet sich
die Fähigkeit zu geben, in mitten der Phänomene frei zu sein, sich nicht von ihnen konditionieren zu
lassen. Das erlaubt es loszulassen und immer verfügbar zu bleiben, um das zu empfangen, was sich
von neuem zeigt.
Völlig sich dessen bewusst zu sein, was geschieht, ohne etwas festzuhalten oder zurückzuweisen,
macht die Praxis des Weges einfach. Dafür bedarf es nicht des Studiums vieler Dinge. Einfach nur
einen achtsamen Geist kultivieren. Dann lehren uns alle Phänomene das Dharma und geben uns die
Möglichkeit zu erwachen.

 

4.5.2016, 16.30
Mondo
Du hast heute morgen im Seminar gesagt, dass im interreligiösen Dialog die Gefahr besteht, dass
durch die westlichen Benennungen und die Analogisierungen die Reinheit der Lehre beschmutzt
werden könnte. Ich glaube auch, dass diese Gefahr besteht. Wie soll man dann einen
interreligiösen Dialog führen?
Ich bin nicht gegen den interreligiösen Dialog. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass sich Angehörige
verschiedener Religionen verstehen. Ich glaube, dass der Mensch in der Tiefe ein religiöses Wesen
ist. Religion ist der Wortbedeutung nach das, was uns hilft, uns mit anderen verbunden zu fühlen,
jenseits unseres Egos, das unablässig Unterschiede schafft. Sich zu bemühen, den religiösen Geist
anderer zu verstehen, der sich in unterschiedlichen religiösen Formen manifestiert, ist wichtig. Das
verhindert Intoleranz und religiösen Fanatismus, verhindert die Auffassung zu glauben, dass nur die
eigene Form die richtige Form von Religion ist.
Die Gefahr besteht aber darin, dass man zu sehr zeigen möchte, dass wir in der Tiefe ähnlich sind,
was Philosophie und Lehre angeht. Das führt dazu, dass man sich manchmal bemüht, das Zen in
religiöse Modelle zu pressen, die aus dem Westen stammen und ihm eigentlich fremd sind. Auch
ich laufe immer wieder Gefahr, das zu tun. Man glaubt, auf der Lehrebene sei es das Gleiche, aber
es ist nicht wirklich das Gleiche.
Es gibt aber eine wichtigere Ebene, die Ebene der spirituellen Erfahrung. Ich glaube, der
interreligiöse Dialog kann dort am wichtigsten sein, wo es darum geht, sich auf der
Erfahrungsebene auszutauschen, nicht auf der Ebene der Lehre.
Es gibt eine Vereinigung für den interreligiösen Klosterdialog, der es darum geht, die Erfahrung der
andern zu teilen, indem man die Praxis mit den anderen zusammen lebt. Zum Beispiel sind
japanische Mönche in Benediktiner-Kloster gegangen und haben mit den Benediktinern zusammen
praktiziert. Sie kamen nicht, um über Theologie oder Buddhanatur zu sprechen, sondern um die
Erfahrung eines Benediktinermönchs zu leben. Und umgekehrt haben christliche Mönche in Zen-
Klöstern in Japan gelebt.
Ich glaube, dass das Gyoji zu teilen, ohne zu sagen: „Das mache ich nicht.“, erlaubt, sich auf der
Erfahrungsebene dem Geist jenseits der Worte und Konzepte anzunähern.
Im interreligiösen Dialog läuft man Gefahr, die Unterschiede aus dem Bedürfnis nach Bruderschaft
hinwegzuwischen.
Wie kann man religiöse Extremisten erreichen?
Ich glaube, dass man sich da sehr um Verstehen bemühen muss. Seit Jahrhunderten sind die
Moslems bezogen auf ihre Kultur erniedrigt worden. In der Bestätigung ihrer religiösen Werte
suchen sie, zu einem Stolz zurückzufinden. Darüber hinaus sind sie – wie wir alle – mit dem
Materialismus und dem Individualismus der westlichen Gesellschaft konfrontiert, der bezogen auf
die Spiritualität kein gutes Beispiel ist. So geht es also darum, die ursprünglichen Werte des Islams
wieder zu finden, indem man wie vor Jahrhunderten in Arabien praktiziert. Auf diese Weise möchte
man eine Reinheit wieder finden, die später korrumpiert worden ist. Das ist insbesondere im
Salafismus der Fall. Diese Leute sind nicht so sehr nach außen hin fanatisch, sondern es betrifft ihre
Art und Weise sich zu kleiden, ihre Aussehen.
Gefährlich wird es, wenn Politiker die Religionen und insbesondere den Islam benutzen, um
Menschen aufzuwiegeln, damit sie ihnen helfen, an die Macht zu kommen. Die Führer des IS sind
keine religiösen Führer. Die Religion ist für sie lediglich ein Mittel. Der Islamische Staat hat nichts
wirklich Islamisches. Sein Handeln geht gegen alle Werte des Islam.
Wenn extremistische Moslems junge Franzosen dazu auffordern, Attentate zu machen, ist das die
Ausbeutung einer bestimmten Hoffnungslosigkeit der französischen Jugend, die sich nicht in die
französische Gesellschaft integriert fühlt. 1968 wären sie vielleicht Linke geworden. Jetzt drücken
sie ihre Revolte gegen die Gesellschaft aus und werden von etwas ausgebeutet, das letztlich nichts
Religiöses hat.
Aber es gibt nicht nur islamische Extremisten, sondern auch christliche Extremisten: Vor ein paar
Jahren wollten wir in Osnabrück einen Raum der Stille etablieren, und machten dafür ein bisschen
Werbung auf der Straße. Wir wurden von einer Gruppe sehr radikaler Christen niedergeschrieen.
Man konnte überhaupt nicht mit ihnen reden. Wie kann man die erreichen? Die richten ja Schaden
an.
Ich glaube, dass es wichtig ist zu verstehen, warum sie so geworden sind. Jedes Karma hat eine
Ursache. Man muss also versuchen zu verstehen. Bevor man verurteilt oder kritisiert, sollte man
versuchen zu verstehen, warum sie dahin gekommen sind. Ihr Glaube wird nicht sehr fest sein.
Wenn man keinen starken Glauben hat, wird man von anderen gestört. Aber ich kann darauf keine
wirkliche Antwort geben.
Das hieße letzten Endes, in einen langen Dialog zu gehen.
Ja. Wenn man sich wirklich verstehen will, muss man sich Zeit lassen. Das Problem ist, dass wir in
einer Welt leben, in der es alle eilig haben. Wir lassen uns nicht die Zeit, die anderen zu verstehen
und auf diese Weise die Ursachen von Missverständnissen aufzulösen. Wir haben es eilig, uns eine
Meinung und ein Urteil zu bilden und dann die Leute zurückzuweisen.

 

6.5.2016, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von den Gedanken ablenken. Bringt eure Achtsamkeit unablässig
auf die Körperhaltung zurück, auf die Senkrechte des Rückens. Die Schultern sind entspannt, das
Kinn ist zurückgezogen. Die linke Hand liegt in der rechten, die Daumen sind waagerecht. Man
atmet ruhig durch die Nase ein und aus und lässt alle Gedanken vorüberziehen.
So lernt man, wieder mit dem ganzen Körper zu denken. Man findet die Einheit von Körper und
Geist wieder. Körper und Geist in Einheit sind immer im Hier und Jetzt, gegenwärtig für das
wirkliche Leben eines jeden Augenblicks. Sie verlieren sich nicht in der virtuellen Welt unserer
Vorstellungen. Hier und Jetzt ist alles in Frieden.
Wenn man das Dojo betritt und Gassho vor Buddha macht, gibt man all seine Energie in die Praxis
mit dem Körper. Dann befriedet sich der unterscheidende Geist. Man harmonisiert sich auf
natürliche Weise mit der Buddhanatur, mit dem Leben in Einheit mit allen Wesen. Man gibt sich
selbst völlig der Praxis hin, ohne irgendetwas zurückzubehalten.
Die Praxis von Zazen ist die Praxis des Gebens, des Fuse. Man gibt seine Energie der Praxis und
bringt die Verdienste dieser Praxis allen Wesen dar.
Im friedlichen Geist von Zazen verschwindet aller Zorn, alle Wesen werden unsere Freunde. Unsere
Seinsweise in der Welt hängt vollständig von unserem Geisteszustand ab. Wenn unser Geist
friedlich ist, wird alles um uns herum friedlich. Seinen Geist zu befrieden ist also die beste Gabe,
die man machen kann, um die Welt zu befrieden.
In Zazen hört jeder Kampf auf. Man kämpft nicht einmal gegen sich selbst. Wenn man klar die
Leerheit seines Egos sieht, verschwindet jede Täuschung. Selbst wenn Spuren unserer vergangenen
Täuschungen sich manifestieren, betrachtet man sie einen Augenblick lang und lässt sie
vorüberziehen, indem man all seine Aufmerksamkeit auf die Senkrechte der Haltung richtet und
sich auf die Atmung konzentriert.

 

6.5.2016, 11 Uhr
Während Zazen bleiben wir unbeweglich. Nichts lässt uns uns bewegen. So lernen wir Geduld.
Weder Wut noch Gier bringen uns in Bewegung. Weil Gier und Hass den Geistesfrieden stören,
erlaubt es die Praxis von Zazen, unseren Geistesfrieden wieder zu finden. Ohne Geistesfrieden kann
man weder Freude noch Wohlbefinden empfinden.
Wenn jedoch Schmerz auftaucht und man darunter leidet, kann auch das Gelegenheit zum
Erwachen werden: Was leidet? Wo kommt dieser Schmerz her? – Es gibt notwendigerweise eine
Ursache. Die Ursache des Schmerzes zu verstehen, erlaubt es, ihn zu heilen. Die Ursache des
Leidens zu verstehen, bedeutet unseren Geist zu verstehen, der leidet. Er leidet aufgrund seiner
Anhaftungen. Weil wir Leid empfinden, wünschen wir, den Weg zu praktizieren. Also gibt es
letztlich keinen Grund, das Leiden zu verachten. Das Leiden führt uns zum Erwachen.
Wenn wir aufgrund des Verhaltens anderer Wesen leiden, müssen wir verstehen, dass auch diese
Wesen Opfer von Leiden sind. Also gibt es keinen Grund, sie zu verachten. Es ist besser, sie
verstehen zu lassen, was die Ursache ihres Leids ist.
Auch unsere Bonnos sind die Ergebnisse von Ursachen. Also gibt es keinen Grund, unsere Bonnos
zu verachten. Wir müssen einfach durch die Praxis der Betrachtung ihre Ursache verstehen. Dass
alles, was geschieht, aufgrund von Ursachen geschieht, bedeutet, dass nichts eine eigene Substanz
hat. Absolut Schlechtes existiert nicht. Ursachen und Bedingungen führen es herbei. Also gibt es
auch Heilmittel dagegen.
Es geht nicht darum zu bekämpfen, sondern darum zu heilen.
Shantideva sagt: „Ich mag den Schmerz nicht, aber ich mag die Ursache des Schmerzes.“ d.h. die
Täuschungen, die Bonnos.
Es ist gut, diese Hellsichtigkeit zu haben. Wenn man die Dinge des Lebens auf diese Weise
betrachtet, ist alles, was geschieht, eine Gelegenheit zu erwachen. Selbst die aller unangenehmsten
Dinge werden Gelegenheit, Geduld zu lernen, also das Loslassen, also das Satori.
So geben uns alle Wesen die Gelegenheit, den Buddhaweg zu praktizieren. Shantideva empfiehlt,
sie wie Buddha zu verehren.

 

6.5.2016, 16.30 Uhr
Fahrt während Zazen damit fort, all eure Energie in die Haltung zu legen und all eure
Aufmerksamkeit der Atmung zu geben.
Shantideva sagt: „Das Erwachen, Bodhi, hat seinen Sitz in der Energie. Denn die Energie ist der
Mut zum Guten.“ Wir geben all unsere Energie der Praxis des Rechten und vermeiden, was falsch
ist. Das ist die Essenz des Paramitas der Energie. Manchmal verwendet man auch den Begriff
‚Bemühung’. Bemühung im Sinnes dieses Paramitas besteht darin, seine Energie in die richtige
Richtung zu kanalisieren, für den Weg.
Shantideva sagt: „Die Gegner des Paramitas der Energie sind die Anhaftung an den Irrtum, an das,
was schlecht ist, die Entmutigung und die Selbstverachtung.“ Nicht das zu praktizieren, was recht
ist, ist eine Art und Weise sich selbst zu verachten.
Sich um sich selbst zu kümmern, bedeutet die höchste Dimension unserer Existenz in einer Praxis
zu aktualisieren, die ihr ihren wirklichen Sinn gibt. Der Sinn unserer Existenz ist, zur Wirklichkeit
zu erwachen. Und auf diese Weise ein rechtes, ein authentisches Leben zu führen, ohne unsere
wirkliche Natur zu verraten.
Faulheit liegt an unserem Geschmack für unmittelbare Vergnügen. Vor allem aber an unserer Nicht-
Sensibilität dem Schmerz des Samsara gegenüber. Wenn man sich der Schmerzen des Samsara
bewusst wird, spürt man die Dringlichkeit, etwas dagegen zu tun. Das ermöglicht es, seine Energie
für die Praxis des Weges zu mobilisieren. Dies wird etwas Natürliches, Offenkundiges, kein Opfer.
Denn man wünscht nichts mehr, als den Weg zu verwirklichen. Das wird die Priorität in unserem
Leben, für unser eigenes Glück und das Glück der anderen.
Shantideva empfiehlt uns, unsere Faulheit abzuschütteln, bevor der Tod kommt. Er sagt von sich,
daß er sich wie ein Fisch in, einem Wasserbecken fühlt, in das man die Fische setzt, bevor man sie
isst.
In einem solchen Becken zu sein, ist eine gefährliche Situation. Man kann sich nur wünschen,
daraus zu entkommen. Dann wird es leicht, seine Energie für die Praxis zu mobilisieren, und man
wird nie entmutigt sein, selbst wenn man ein bisschen leiden muss. Denn manchmal muss man ein
wenig leiden, um die viel größeren Leiden zu überwinden. Aber das heißt nicht, dass man sich
Kasteiungen oder eine extreme Askese auferlegt. Shantideva unterstreicht, dass die Ärzte mit
sanften Mitteln schwere Krankheiten heilen. Sich zum Beispiel im Geben üben, im Fuse, ist ein
sanftes Heilmittel gegen Gier.
Man sagt, dass die Bodhisattvas aus Mitgefühl im Samsara bleiben und ihr Eintreten in das Nirvana
hinausschieben, solange es noch Wesen gibt, die im Samsara leiden. Aber diese Ausdrucksweise ist
ein bisschen falsch. Denn diese Ausdrucksweise läßt glauben, dass Samsara und Nirvana zwei
verschiedene, voneinander getrennte Orte sind. So wie man zum Beispiel das Leben in der
Gesellschaft dem Leben im Kloster gegenüberstellt.
In Wirklichkeit ist das alles eine Frage des Geisteszustandes. In einem Kloster zu leben kann die
Hölle sein. In der Gesellschaft zu leben und dort die Gelübde der Bodhisattvas zu praktizieren,
macht aus diesem Leben in der Gesellschaft ein Nirvana. Denn das Nirvana ist nichts Anderes als
ein Leben, in dem man die drei Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung aufgibt. Jedes Mal, wenn
man diese drei großen Bonnos aufgibt, öffnet sich das Tor des Nirvanas unmittelbar, hier und jetzt,
völlig gleichgültig, an welchem Ort man sich befindet. Wenn man diese drei Gifte nicht aufgibt,
wird das Leben, selbst wenn man in einem Kloster praktiziert, das schlechteste der Samsara.
Nirvana bedeutet, mit Bodaishin zu leben, mit einem großzügigen Geist, der gelobt, all seine
Energie und Weisheit zu verwenden, um den Wesen zu Hilfe zu eilen, die leiden. Das ist der Sinn
der Bodhisattva-Ordination und natürlich auch der Mönch- und Nonnenordination. Denn Mönch
oder Nonne zu werden bedeutet, den Bodhisattva-Gelübden die absolute Priorität in seinem Leben
zu geben. Wenn wir so leben, wird unser Leben Nirvana.
Mondo
In dem, was du gerade im Kusen gesagt hast, kann ich mich tief wieder finden. Als ich letztes Jahr
dein Sekretär war, hast du zu mir gesagt, dass du Bananen brauchst, weil du ein Affe bist, der einen
Tiger reitet.
Affe ist mein chinesisches Sternzeichen. Das war ein bisschen ein Spaß, das darfst du nicht zu ernst
nehmen. Ich mag einfach nur Bananen.
Ich denke mir oft, dass ich ein Esel bin, der eine Schildkröte reitet.
Die arme Schildkröte.
Wie kann ich das Gefährt wechseln?
Nimm die Schildkröte auf deinen Rücken.
Was möchtest du mit dem Vergleich sagen? Ein Esel auf einer Schildkröte, was heißt das für dich,
für dein Leben, in deiner Praxis?
Wenn ich Sesshins mache, kann ich diese Erfahrung aktualisieren. Aber im Alltag kehre ich immer
wieder zurück in die Verblendung, in die Faulheit und das Nicht-Sehen-Wollen.
Was willst du nicht sehen?
Das, was ist.
Siehst du denn klar, bis zu welchem Punkt du deine Täuschungen magst?
Ja.
Das ist schon mal eine gute Grundlage.
Aber ich folge den Täuschungen.
Dann musst du wirklich Energie einsetzen, ihnen nicht zu folgen.
Ich glaube, dass du deshalb das Kusen gemocht hast. Shantideva sagt: „Energie ist der Sitz des
Erwachens.“ Du verwendest viel Energie, um Zazen zu machen, aber nicht viel Energie, um den
Weg in deinem Alltag fortzusetzen. Im Alltag muß man jede Handlung, alles, was im Alltag ist, als
Praxis des Weges sehen, auf der gleichen Ebene wie Zazen. So weit möglich sollte man jeden Tag
mit Zazen beginnen, selbst wenn es nur eine Viertelstunde zuhause ist, um dem Tag eine gute
Richtung zu geben. Vergiss nicht, dass du Mönch bist, und handle im Alltag wirklich wie ein
Mensch des Weges.
Einverstanden?
Einverstanden.
Es ist sehr einfach, mit dem Mund zuzustimmen. Aber Körper und Geist müssen in ihrer Ganzheit
zustimmen.
Ich habe immer wieder gehört, dass ein Mönch oder eine Nonne drei Kesas braucht. Das Rakusu,
das siebenbahnige und das neunbahnige Kesa. Ich habe angefangen, das neunbahnige Kesa zu
nähen, frage mich aber immer wieder, wozu man das eigentlich braucht, ob es überhaupt nötig ist,
es zu haben, oder ob das eine veraltete Idee ist.
Ja, es ist die Tradition, aber eine gute Tradition. Selbst wenn sie alt ist. Zunächst einmal verpflichtet
es dich dazu, dich auf das Nähen eines Kesas zu konzentrieren. Das ist für dich nicht einfach, du
studierst, du arbeitest. Aber genau weil es nicht einfach ist, ist die Zeit, die Energie, die Geduld, die
du in das Nähen dieses Kesas gibst, eine hervorragende Praxis. Das führt dazu, dass du das Kesa
noch mehr liebst. Und das Kesa wird dir umso mehr helfen, weil du viel für es gegeben hast.
Wenn ich es dann habe, dann habe ich ja zwei Kesas. Ich kann nicht beide zum Zazen anziehen.
Wenn es sehr kalt ist, kannst du das eine auf das andere ziehen, z.B. wenn es im Dojo keine
Heizung gibt. Die Mönche in China waren früher sehr arm, hatten wenig Geld und wenig
Möglichkeit zu heizen. Daher haben sie mehrere Kesas übereinander getragen.
Das siebenbahnige Kesa trägt man in der täglichen Praxis, wenn man der Wand gegenübersitzt. Das
neunbahnige Kesa ist für den Fall, dass man eine Verantwortung im Dojo hat. Wenn du deine
beiden Kesas zum Sesshin mitbringst, kannst du, wenn du eine Verantwortung hast, das
siebenbahnige jemand anderem leihen, der eine Funktion, aber kein Kesa hat und du selbst trägst
das neunbahnige. Das gibt anderen die Möglichkeit, mit dem Kesa zu praktizieren. Oft hat es einen
guten Einfluss. Viele Leute waren sehr beeindruckt, zum ersten Mal Zazen mit einem Kesa zu
machen. Oft führt das zu dem Wunsch, selbst ein Kesa zu nähen und um die Ordination zu bitten.
Meister Deshimaru sagte oft, dass man die wirkliche spirituelle Dimension von Zazen spüren kann,
wenn man Zazen mit dem Kesa praktiziert. Ohne Kesa kann Zazen zu einer Entspannungstechnik
werden, aber mit dem Kesa spürt man seine religiöse Dimension. Es trägt dazu bei, die Praxis zu
vertiefen und hat Einfluß auf die anderen. Deshalb bittet man die Pfeiler, ein Kesa zu tragen. Wenn
jemand das Kesa trägt, empfangen alle, den guten Einfluss des Kesas.
Du nähst also das Kesa nicht nur für dich. Die Bemühung, die Energie, die du in das Kesa-Nähen
legst, hilft den anderen.
Heute morgen habe ich im Kusen gehört, dass die Bonnos dem Geist entspringen. Mein Wissen
zeigt mir, dass ich diese Bonnos mehr aufgrund der Erfahrungen habe, die mein Leben geprägt
haben.
Aber diese Erfahrungen hast du mit deinem Geist gelebt.
Diese Antwort ist einfach.
Ja. Man lebt mit seinem Geist. Das gleiche Ereignis kann für zwei Menschen unterschiedliche
Folgen haben. Ein Unfall oder eine schwere Krankheit ist für eine Person eine Gelegenheit zu
erwachen, bei jemand anderen löst das eine schwere Depression. Die Umstände des Lebens
erzeugen nicht die gleichen Ergebnisse. Es hängt von dem Geisteszustand ab, welche Ergebnisse sie
erzeugen.
Ich möchte eine Frage anschließen: Ich habe im letzten Jahr von dir gehört, dass es 108 benannte
Bonnos gibt. Gibt es auch das Pendant zu den Bonnos, Zugewandtheit, Freundlichkeit,
Aufmerksamkeit, u.a.?
Ja klar. Ich habe begonnen die ‚108 Pforten des Dharmas’ zu kommentieren. Es sind 108
wunderbare Unterweisungen des Dharmas. Das ist ein Sutra, das Meister Dogen dem Shobogenzo
hinzugefügt hat, bevor er starb, ohne es zu kommentieren. 45 Pforten des Dharmas habe ich bereits
kommentiert.
Man spricht von 108 Bonnos oder von 108 Pforten des Dharmas. In Wirklichkeit sind die Bonnos
aber unzählig, sehr, sehr zahlreich, und natürlich auch die Pforten des Dharmas.
Manchmal sind die Bonnos Pforten des Dharmas. Ein Bonno ist etwas, was uns leiden macht. Eine
Anhaftung wird Ursache von Leiden. Und weil wir nicht leiden wollen, bewegt uns das Leid dazu,
ein Heilmittel gegen dieses Bonno zu finden.
Es sind oft Bonnos, die uns dahin bringen, den Weg zu praktizieren. Jemand, der nicht so viele
Anhaftungen, wenige Bonnos hat, kann ein recht bequemes Leben führen und wird nicht so
gedrängt sein, das Erwachen zu suchen, wie jemand, der aufgrund seiner Bonnos leidet. Das heißt
aber nicht, dass man die Bonnos kultivieren sollte.
Im Diamant-Sutra heißt es, dass der Buddha kein Dharma gelehrt hat und nichts zu lehren hatte.
Trotzdem gibt es von dir eine Unterweisung. In welchem Maße muss ein Schüler von dir deine
Unterweisung intellektuell verstehen um i shin den shin zu praktizieren?
Natürlich kann die Unterweisung auf einer intellektuellen Ebene verstanden werden, d.h. bewusst,
mit Vernunft. Aber das ist nicht das wirkliche, tiefe Verstehen. Das tiefe Verstehen vollzieht sich
dadurch, dass man den Wert der Unterweisung in der Praxis und im Leben beweist, indem man die
Lehre in die Praxis umsetzt.
Die Worte, die Sätze zu verstehen ist nicht so schwer, zumal ich mich immer bemühe, mich klar
auszudrücken. Also haben die Leute den Eindruck, dass sie das verstehen, was ich sagen will. Aber
das reicht nicht. Ich selbst verstehe sehr gut das, was ich sage. Aber ich habe manchmal
Schwierigkeiten, es zu praktizieren.
Wirkliches Verstehen besteht also darin die Unterweisung durch die Ganzheit von Körper und Geist
im Leben zu verwirklichen.
Was die Aussage im Diamant-Sutra angeht, dass Buddha nichts gelehrt hat, so handelt es sich da
um die Sichtweise der Leerheit, um die tiefste Wirklichkeit. Die tiefste Dimension ist, dass alles
unbeständig und ohne Substanz ist. Selbst das Dharma. Alles ist Leerheit. Das bedeutet, dass nichts
unterwiesen werden kann. Aber wenn man das tief versteht, realisiert man wirklich das Erwachen
Buddhas, ohne sich noch an Worte, an Sätze, an Konzepte, an Wahrheiten zu klammern.
7.5.2016, 7 Uhr
Seid während Zazen völlig gegenwärtig in der Praxis jeden Augenblicks, ohne euch von den
Gedanken stören zu lassen. Wir praktizieren den Weg, um uns von den Leidensursachen zu befreien
und das wirkliche Glück zu finden. Wenn wir wirklich in Einheit mit der Praxis eines jeden
Augenblicks sind, fehlt uns nichts. Wir sind unmittelbar jenseits von Unglück und Glück. Das nennt
man die große Befreiung. Sie erlaubt es, den Frieden des Geistes zu finden, ohne Furcht und ohne
Erwartung zu sein. Denn hier und jetzt brauchen wir nichts zu fürchten, brauchen wir nichts, denn
wir sind völlig in Einheit mit dem Leben. Wir brauchen nichts anderes als voll zu sitzen.
Heute Morgen werden wir die Zeremonie Verstorbenen widmen. Das ist unser Gebet dafür, dass sie
ihren spirituellen Weg fortsetzen können.
Das Glück, das wir in der Praxis erleben, treibt uns dazu zu wünschen, es mit den anderen zu teilen,
mit den Lebenden und denjenigen, die jenseits des Todes in einem neuen Leben wiedergeboren
werden. In jedem Augenblick werden wir in ein neues Leben wiedergeboren. Unsere Praxis besteht
darin, befreit wiedergeboren zu werden, befreit von unserem begrenzten Ego.
Es ist diese Erfahrung, die wir mit allen Wesen zu teilen wünschen, denn sie ist Quelle unendlicher
Freude.
7.5.2016, 11 Uhr
Während Zazen macht man nichts, will man nichts, sucht man nichts. Man ist einfach zufrieden, zu
sein, im Augenblick gegenwärtig zu sein, Körper und Geist in Einheit mit der Praxis.
Ein Sesshin zu praktizieren bedeutet, unsere Vertrautheit mit unserem wirklichen Geist wieder zu
finden, indem wir alle Sorgen fallen lassen, die uns von ihm trennen.
Wenn man jemanden liebt, wünscht man, mit dem geliebten Wesen vereint zu sein, und leidet
darunter, von ihm getrennt zu sein. Der Wunsch wird aus der Trennung geboren. Und selbst, wenn
man in Gegenwart des geliebten Wesens ist, ist man getrennt, ist man nicht wirklich eins mit dem
anderen, wenn der Geist mit Gedanken befasst ist.
Um die Einheit wieder zu finden, muss man die Funktionsweise des Geistes aufgeben, der sich an
die Gedanken klammert, der unterscheidet. Zazen ermöglicht es uns, dieses Aufgeben zu
verwirklichen. Deshalb ermöglicht es Zazen, den religiösen Geist vor allen Religionen zu
verwirklichen, den Geist, der sich in Einheit mit allen Wesen fühlt.
Oft heißt es, dass es keine glückliche Liebe gibt, einfach, weil wir, wenn wir mit unserem Ego
lieben, aus dem anderen ein Objekt machen. Wir schaffen die Trennung und erzeugen unsere eigene
Einsamkeit. Aber in Wirklichkeit existiert diese Trennung nicht, sie ist nur ein geistiges Erzeugnis,
sie ist Leerheit. Also kann man sie aufgeben, sich von ihr befreien.
Wenn uns diese Befreiung manchmal schwierig erscheint, dann deshalb, weil wir Angst haben, das
zu verlieren, an das wir gewöhnt sind, die Welt unserer Bonnos, unserer Anhaftungen, die uns den
ganzen Tag beschäftigen und uns all unsere Energie nehmen.
In Zazen kann man eine völlig andere Seinsweise erfahren: zur wirklichen Natur unserer Existenz
erwachen, die nicht ein Etwas ist, sondern eine Seinsweise im Einklang mit dem Leben, mit dem
wirklichen Leben, so wie es ist, ohne die vom Geist erzeugten Trennungen. Wenn man das in Zazen
erfährt, ist es eine große Befreiung und ein großes Glück. Man kann nur wünschen, das auch im
Alltag zu leben und diese Seinsweise mit den anderen zu teilen.
Deshalb lieben wir es, uns zu treffen, um gemeinsam Sesshins zu machen, um eine erwachte
Seinsweise zu realisieren, die völlig anders ist, als die in einer gesellschaftlichen Welt.
Das Leben, das man während eines Sesshins erfährt, ist das Heilmittel gegen unsere Sehnsucht,
unsere Sehnsucht nach dem Himmelreich, das in Wirklichkeit nicht weit weg ist, sondern in
unserem eigenen Herzen, wenn es sich für die Einheit mit allen Wesen öffnet. Das genau ist die
Bedeutung des Wortes Sesshin: die Einheit mit dem wirklichen Geist ohne Trennung wieder zu
finden, die Religion vor den Religionen. Das erlaubt es uns aufzuhören auf dieser Erde
herumzuirren wie Fremde und sich überall zu Hause zu fühlen. Wirklich eins mit allen Wesen
jenseits unserer Zu- und Abneigungen.
Das ist nicht sehr schwer zu verwirklichen. Die Praxis von Zazen belegt, dass das hier und jetzt
möglich ist. Also, lasst uns auf diese Erfahrung von Zazen vertrauen. Denn sie zeigt uns den
wirklichen Weg, die rechte Seinsweise, in Einklang mit dem, was wir in der Tiefe und in
Wirklichkeit sind, in Einklang mit allen Wesen.
Glückliche Liebe ist möglich, wenn sie ohne Eigennutz ist: Das ist die Liebe Buddhas, die Liebe der
Bodhisattvas

 

7. 5.2016, 16.30 Uhr
Mondo
Zazen hat das Ziel, sich vom Ego zu befreien. Wenn man unter Ego die Struktur des Charakters
versteht, ist auch das Ziel mancher Psychotherapie, oder?
Ziel der Psychotherapie ist es, dem Ego zu ermöglichen, besser zu funktionieren, d.h. die Blockaden
zu lösen, die aus alten Traumata entstanden sind und verhindern, dass sich gesunde Wünsche auf
normale Weise verwirklichen. Die Psychotherapie hat also das Ziel, dem Ego eine gesunde
Funktionsweise zu ermöglichen, um genug Befriedigung im Leben zu finden. Die Praxis von Zazen
hat das Ziel, über diese Dimension des Egos hinaus zu gehen.
Es geht nicht darum, das Ego zu zerstören. Jeder hat das Bedürfnis nach einem normal
funktionierenden Ich, das in der Lage ist, im Leben Befriedigung zu empfinden. Aber das Ego lässt
uns in einer sehr begrenzten Weise leben, weil es sich ausgehend von der Trennung zwischen dem,
was es ist, und dem, was außerhalb von ihm ist, geschaffen hat. Das Ego hat also die Funktion der
Unterscheidung, der Trennung. Wenn das Ego einen zu wichtigen Platz im Leben einnimmt, wenn
man egozentrisch wird, dann fehlt uns eine viel tiefere und weitere Dimension der Existenz, das
Leben in dem man sich in Sympathie und Harmonie mit allen Wesen fühlt.
Das Ego ist wie eine Haut. Eine Haut ist da, um etwas zu schützen und zu enthalten. Aber zur
gleichen Zeit trennt uns die Haut von dem, was außen ist. Eine normale Haut ermöglicht das
Atmen. Aber wenn die Haut sich zu sehr verhärtet und ein Panzer wird, ist man völlig blockiert und
rigide und kann nicht mehr in einem gesunden Kontakt mit der Umwelt sein.
Die Zazen-Praxis lässt dem Ego seinen Platz. Es hat seine Funktion. Es ermöglicht uns, uns zu
identifizieren, uns von anderen zu unterscheiden, unsere Bedürfnisse zu sehen und eine gesunde
Möglichkeit zu finden, sie zu befriedigen. Aber da hört seine Funktion auf. Zu einer viel weiteren
Dimension zu erwachen, zur Wirklichkeit, dazu, dass wir unablässig in völliger Einheit und völliger
Wechselbeziehung mit dem Universum stehen, ermöglicht das Ego nicht. Seine Funktion besteht
wirklich darin zu trennen und zu schützen. Es erlaubt nicht die Kommunion, die Rückkehr zur
Einheit, zur Nicht-Getrenntheit. Das suchen die Religionen.
Der religiöse Geist ist der Geist, der die Einheit mit dem sucht, was über das Ego hinaus geht.
Wenn man von einem spirituellen Weg spricht, spricht man von einem Weg, der über das Ego
hinaus geht. Oft verwenden Religionen lediglich Glauben und Riten, um eine Wahrnehmung dieser
Dimension jenseits des Egos zu ermöglichen, oft unterdrücken sie das Ego, häufig auch mit
Schuldgefühlen.
In der Praxis von Zazen ist es nicht so. Die Dimension jenseits des Egos verwirklicht sich durch die
Praxis der Konzentration und der Beobachtung. Die Konzentration hilft uns, unsere durch die
Vergangenheit konditionierten Gewohnheiten loszulassen. Sie erlaubt es auch, wirklich hier und
jetzt zu leben, d.h. aus den Konditionierungen unseres Egos herauszutreten, aus unseren alten
Gewohnheiten, aus unseren Verteidigungssystemen. Die Beobachtung erlaubt es uns zu sehen, dass
das, von dem wir glauben, dass es unser Ego ausmacht, in der Tiefe, in der Wirklichkeit, keine
getrennte Realität hat. Es hat keine Substanz.
Das rezitieren wir, wenn wir das Hannya Shingyo rezitieren. Der Körper ist ohne Substanz. Er
besteht aus Partikeln des ganzen Universums, die sich vorübergehend in dieser Form
zusammengefunden haben. Empfindungen und Wahrnehmungen stehen völlig in
Wechselbeziehung mit der Welt, die uns umgibt. Sie verändern sich unablässig.
So ist es auch mit unserem Bewusstsein: Es gibt kein getrenntes Bewusstsein. Man hat immer das
Bewusstsein von etwas. Und dieses Etwas verändert sich unablässig. Man ist sich z.B. seines
Körpers, seiner Wahrnehmungen, seiner Empfindungen bewusst. Die Objekte des Bewusstseins
sind unbeständig, also ist auch das Bewusstsein unbeständig.
Nichts, was das Ego ausmacht, hat eine permanente, autonome Substanz. Dies ist die grundlegende
Unterweisung Buddhas. Ihr Ziel ist es, uns von der Täuschung der Getrenntheit zu befreien.
Die Unterweisung der Zen-Meister unterscheidet sich sehr von der Unterweisung der
Psychotherapeuten: Eka hatte einen Geist, der voller Leiden war. Hätte er einen Psychotherapeuten
aufgesucht, hätte dieser ihn vielleicht aufgefordert, von seiner Kindheit zu erzählen. Aber er suchte
Bodhidharma auf. Der sagte einfach nur: „Zeig‘ mir deinen Geist!“ Er hat ihn also völlig ins Hier
und Jetzt gebracht. Er hat nicht Ursachen und Umstände der Vergangenheit analysiert. Eka wurde
sich bewusst, dass sein Geist nicht fassbar ist, dass er kein Objekt ist. Bodhidharma sagte: „Wenn
du wirklich verstanden hast, dass dein Geist nicht fassbar ist, ist er von seinen Leiden befreit.“
Der Geist ist nicht etwas. Er ist immer jenseits dessen, was ihn durchquert. Also kann man immer
das Objekt seines Leidens loslassen. Es hat keine Substanz. – Das ist eine viel radikalere Methode
als die Psychotherapie.
Ich weiß nicht, welches Ergebnis es hätte, würde ein Neurotiker einen Psychotherapeuten aufsuchen
und dieser ihn wie Bodhidharma behandeln. – Ich selbst habe das als Psychotherapeut noch nie
versucht. Ich glaube, dass die Methode Bodhidharmas sich nur für Menschen eignet, die eine tiefe
Meditationspraxis haben. Sie haben bereits erfahren, dass der Geist nicht fassbar ist, und können
das unmittelbar verbinden. Menschen, die keine Meditationserfahrung haben, können das nicht
verstehen.
Im Alltag fällt mir der Umgang mit der ersten Edlen Wahrheit schwer. Sie steht in Widerspruch zu
dem, was ich bei den Menschen sehe. Ich sehe Menschen, die leiden, die aber sehr gute Mittel
finden, um ihre Leiden zu lösen. Andere Menschen leiden überhaupt nicht.
Du hast den Eindruck, du siehst etwas, was andere nicht sehen. Wenn Buddha von Dukkha spricht,
sagt er nicht, dass alle Menschen unablässig leiden, aber wenn wir nicht zur wahren Dimension
unseres Lebens erwacht sind, werden wir früher oder später zwingend leiden. Hier und jetzt ist
bereits Unzufriedenheit vorhanden. Diese kann das Ego häufig maskieren.
Das ganze soziale und ökonomische Leben baut darauf auf, nicht zu sehen, dass das gewöhnliche
Leben nicht zufrieden stellend ist. Daraus zieht die Wirtschaft ihren Profit. Unablässig sagt sie den
Menschen: „Kauft dieses Produkt, das wir entwickelt haben. Es wird eure Bedürfnisse erfüllen. Und
wenn ihr keine Bedürfnisse habt, werden wir welche für euch entwickeln. Es kann nicht sein, dass
ihr unsere wunderbaren Produkte nicht braucht.“
Das bewirkt, dass die Menschen nicht unablässig das Leid berühren. Sie sind von der Täuschung
erfasst, dass es ein Mittel gibt, wirkliche Befriedigung zu erlangen. Leiden ist nur ein Zufall. Oder
es existiert, weil sie noch nicht das gefunden haben, was sie befriedigen wird. Noch nicht den
richtigen Partner, noch nicht die richtige Partnerin, noch nicht den richtigen Weg, um viel Geld zu
verdienen.
Viele Menschen glauben, das Glück sei möglich, wenn es ihnen nur gelänge, sich die Objekte
anzueignen, die es ermöglichen, diesen Wunsch nach Glück zu befriedigen. Menschen, die wenige
Wünsche haben, halten sich für nicht normal und gehen dann zum Psychotherapeuten, damit dieser
ihnen hilft, ihre wirklichen Bedürfnisse zu entdecken. Es gibt tatsächlich Menschen, die darunter
leiden, keine Wünsche zu haben. Sie sind nicht befreit, weil sie darunter leiden.
In der Gesellschaft gibt es alle möglichen Mechanismen, die verhindern, dass sich die Menschen die
wirkliche, grundlegende Frage nach dem Leiden stellen, nach dem Leiden im Sinne der nicht
zufrieden stellenden Existenz.
Wie kann man das so jemandem erklären?
Es geht nicht darum, das jemandem zu erklären. Menschen, die keine Probleme haben, die glücklich
sind, muss man in Ruhe lassen. Es geht nicht darum, denen zu sagen: „Ihr irrt euch! Ihr seid gar
nicht glücklich!“ – Wenn die betreffende Person nicht das Bedürfnis verspürt, zu der tieferen
Dimension der Existenz zu erwachen, heißt das nur, dass es jetzt nicht der richtige Moment ist.
Buddha hat nie zu den Menschen gesagt, dass sie unglücklich sind und dem Weg folgen müssen.
Wenn Menschen sich Fragen stellten und ihn nach Antworten fragten, wenn sie also in der Lage
waren, ihre gewöhnlichen Verhaltensweisen in Frage zu stellen, dann hat er ihnen geantwortet.
Man muss in der Lage sein zu erkennen, wann ein Mensch das Bedürfnis hat, dass man vom Weg
spricht. – Auch ein Psychotherapeut kann nur Menschen helfen, die ihn um Hilfe bitten. –
Bodhisattvas müssen auf das achten, was im Geist der Menschen und in ihren Beziehungen
geschieht. Dann können sie, wenn sich eine Gelegenheit zeigt, in der Dukkha verstanden werden
kann, vom Weg sprechen.
Deshalb sagt z.B. Keizan: „Sprecht nur vom Weg, wenn man euch mindestens drei Mal danach
fragt.“ – Man sollte nicht versuchen, Menschen zu essen zu geben, die keinen Hunger haben.
Was ist Geist? Habe ich einen Geist? Wenn ich meditiere, erlebe ich, dass ich denke, dass ich fühle.
Ich merke auch, dass da jemand ist, der das Zazen beobachtet. Ist das dann Geist? Sind Geist,
Psyche und Seele unterschiedlich?
Ja, da gibt es große Unterschiede. Man kann sagen, es gibt einen Geist, der aber alle möglichen
Formen annimmt und alle möglichen Funktionen hat. Der Geist ist nicht etwas, er ist nichts Festes.
Also kann man den Geist auch nicht definieren. Aber gibt geistige und spirituelle Funktionen, die
man mit dem Nicht-Fassbaren in Verbindung bringt, das man den Geist nennt.
Gedanken tauchen auf, also unterstellt man, dass es einen Geist gibt, der denkt. Es wird unterstellt,
dass der Geist das ist, was die Gedanken erzeugt. Manchmal hat man Empfindungen. Dann
unterstellt man, dass der Geist das ist, was das angenehme oder unangenehme Gefühl empfindet.
Manchmal hat man Wünsche. Dann denkt man: ‚Mein Geist wünscht etwas.‘
Wie eine Quelle…
Ja, das ist eine Hypothese, das wird unterstellt. Deswegen ist der Geist in der Tiefe nicht fassbar.
Man kann sagen „ein Geist“. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um ein Kaleidoskop, denn es gibt
viele Funktionen.
Und es gibt auch das, was man den Geist des Erwachens nennt. Das ist der Geist, der das Erwachen
sucht. Und auch den Geist, der erwacht ist. Das ist der Geist, der die Dimension der Existenz ohne
Trennungen realisiert. Den nennt man dann Buddha-Geist, erwachten Geist.
Dieser Geist erzeugt andere Funktionen, z.B. Großzügigkeit, Mitgefühl, Wohlwollen. Deswegen
kann man sagen, es gibt den Geist des Mitgefühls, den Geist des Wohlwollens, den Geist des Fuse.
All das ist der Geist.
In gewissem Sinn ist dann alles Geist. Weil man alles, was man in der Existenz erfährt, durch das
erfährt, was man als Geist bezeichnet, was aber nicht fassbar ist. Man wird sich etwas bewusst
aufgrund der Funktionsweise des Geistes, Bewusstsein zu schaffen.
Könnte es so sein, dass es eine Quelle ist, aus der die Gedanken oder die Gefühle entstehen?
Ja, sicher.
Es gibt auch die Vorstellung eines Speichers. Im Buddhismus gibt es eine ganze Schule, die den
Geist sehr studiert hat. Sie wird Yogacara genannt. Diese Schule hat zumindest drei verschiedene
Ebenen des Geistes beschrieben: In der tiefsten Ebene des Geistes befindet sich das, was man das
Alaya-Bewusstsein, Speicher-Bewußtsein, nennt. In ihm befinden sich die Samen aller Gedanken,
aller Wünsche. Und dieser Speicher enthält auch die Spuren aller Erfahrungen der Vergangenheit.
Das ist wirklich das tiefste Bewusstsein. Das ist, was du als Quelle bezeichnest.
In vielen Religionen gibt es vorgeschriebene Fastenzeiten, z.B. den Ramadan. Gibt es so etwas im
Zen? Wenn nicht, warum deiner Meinung nach?
Soweit ich weiß, gibt es keine Fastenzeiten. Einfach, weil der Buddhaweg der Weg der Mitte ist.
Buddha empfahl, mit Mäßigung zu essen. Er selbst hatte die Erfahrung des Fastens gemacht.
Nachdem er fast gestorben war, hat er diese Kasteiung, das Fasten, aufgegeben. Er sah das als eine
extreme Sichtweise an.
Buddha war immer gegen Exzesse, dagegen sich an seine Nahrung zu klammern, zuviel zu essen,
nur Leckeres essen zu wollen. Er war aber auch gegen strenge Diäten, dagegen nur Reis zu essen,
die Reismenge immer weiter zu verringern, bis man nur noch ein Reiskorn pro Tag aß. Er hatte die
Erfahrung gemacht, dass das nur den Körper schwächt. Er hatte sehr exzessiv gefastet.
Das Fasten kann natürlich eine therapeutische Methode sein. Aber das ist nicht mit dem
Buddhismus verknüpft. Es gibt viele Menschen, die sich durch Fasten heilen. Aber es ist nicht der
Buddhismus, der das vorschreibt.
Die Unterweisung Buddhas ist wirklich der Weg der Mitte. Es geht nicht darum, sich Quellen des
Vergnügens zu entziehen. Wenn man keine Quelle des Vergnügens hat, läuft man Gefahr, jemand
Trauriges zu werden. Das ist nicht gut. Man muss Vergnügen finden. Aber unablässig nach dem
Vergnügen zu suchen, ist das völlige Gegenteil des Weges. Der Mensch hat eine große Neigung,
von allen möglichen Dingen abhängig zu werden: von Zigaretten, von Alkohol, von Nahrung, etc.,
etc. Einfach, weil in der Tiefe der Geist nicht erwacht ist. Er sucht immer irgendwo nach einer
Ersatzbefriedigung: kein Erwachen, aber kleine Kompensationen, z.B. Schokolade essen, weil man
frustriert ist.
Das ist die Geschichte von dem Menschen, der von einem Tiger verfolgt wird. Der Tiger rennt
hinter dem Menschen her. Plötzlich befindet sich der Fliehende am Rande eines Abgrunds. Er sieht,
dass da eine Liane hängt, ergreift sie und klettert nach unten. Unten wartet ein Monster auf ihn.
Dann nimmt er wahr, dass eine Ratte begonnen hat, über ihm an der Liane zu nagen. Die Situation
ist also wirklich hoffnungslos. Auf einmal sieht er eine Erdbeere, die am Felsen wächst. Er nimmt
diese Erdbeere. „Ahh, wie gut das schmeckt!“ – Für einen Augenblick vergisst er den sicheren Tod,
der ihn erwartet. Das ist ein Bild für das menschliche Leben.
Die meisten Menschen verhalten sich so. Man wird von Unbeständigkeit bedroht, der Tod ist sicher.
Aber während man darauf wartet, bemüht man sich, Walderdbeeren zu finden, alle möglichen
kleinen Freuden. Und wenn man nicht mehr weiß, welche Freude man finden soll, wird man
depressiv und geht zum Psychiater, der einem dann hilft, bestimmte Wünsche zu finden, die man
vergessen hat. Hat man dann neue Wünsche hat, glaubt man, geheilt zu sein.
In einem Kapitel des Shobogenzo sagt Dogen: „Alles ist Geist, auch Berge und Flüsse.“ Wie
kommt er zu dieser Aussage? Wie muss man das verstehen?
Weil alles, was existiert, durch den Geist wahrgenommen wird, auch die Berge. Man kann von
Bergen sprechen, weil unser Geist einen Berg sieht. Der Berg wird zum Berg durch den Geist, der
den Berg sieht. Anders gesagt: Die Wirklichkeit selbst ist nicht fassbar.
Von dieser Blume hier (zeigt auf eine Blume vor sich) kann ich ein Bild haben. Ich sehe ihre
Farben, ich kann sie berühren, ich kann ihren Duft riechen. Aber die Blume selbst, die Wirklichkeit
der Blume selbst, kann ich nicht erfassen. Alles, was ich erfassen kann, sind die Wahrnehmungen,
die diese Blume an mich sendet. Die Blume ist also mein Geist.
Darüber hinaus ist das völlig wechselseitig abhängig. Ohne Geist gibt es keine Welt. Es gibt
Menschen, die daraus einen Schluss gezogen haben, mit dem ich überhaupt nicht übereinstimme.
Sie sagen, dass alles, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, eine Projektion unseres Geistes ist. In
der Philosophie nennt man das Idealismus. Im Buddhismus gibt es die Strömung des Vijnanavada,
den Weg des Bewusstseins. Sie sagt: „Alles ist nur Projektion des Bewusstseins.“
Das finde ich übertrieben. Ich bin damit einverstanden zu sagen: „Alles ist Geist.“, in dem Sinne,
wie ich es eben erklärt habe: Man kann mit der Welt nur mit dem Geist in Kontakt sein. Die Sache
selbst kann man nicht erfassen. Man kann nur die Informationen erfassen, die sie uns liefert. Aber
die Sache selbst kann man nicht erfassen. In diesem Sinne kann man sagen, dass alles Geist ist, weil
alles, was ich wahrnehme, eine Rekonstruktion meines Gehirns ist. Aber zu sagen, dass alles, was
um mich herum existiert, nur Projektion meines Geistes ist, ist falsch. Es gibt eine Wirklichkeit
außerhalb des Geistes.
Wenn Menschen denken, dass alles Projektion des Geistes ist, ist das sehr gefährlich. Wenn man
z.B. glaubt, der Bürgersteig zehn Stockwerke tiefer sei nur eine Projektion des Geistes und man
könne sich nicht wehtun, wenn man aus dem Fenster springt, irrt man sich. Der Beton, auf dem man
dann zerschellt, ist keine Projektion deines Geistes.
Wenn jemand stirbt, verschwindet seine subjektive Welt. Für die anderen geht die Welt weiter.
Ich finde, dass diese idealistische Konzeption vollkommen übertrieben ist. Buddha hat das auch nie
gesagt. Es waren Philosophen nach ihm, die diese Konstruktionen aufgebaut haben. Buddha wollte
nur sagen, dass die Wirklichkeit nicht fassbar ist, dass sie keine Substanz hat. Er hat nie gesagt, dass
sie nicht existiert. Die Idealisten glauben, dass die Wirklichkeit nicht existiert, sondern nur eine
Projektion des Geistes ist. Das ist nicht der Weg der Mitte.
Sagt Nagarjuna das nicht auch?
Nagarjuna vertritt genau das, den Weg der Mitte. Alles existiert in Wechselbeziehung. Nichts
existiert getrennt. Das heißt aber nicht, dass nichts existiert. Die Natur der Wirklichkeit ist es, in
Wechselbeziehung zu stehen.
In der traditionellen indischen Philosophie ist nur das wirklich, was eine feste Substanz hat. Was
keine feste Substanz hat, ist nicht wirklich. Alles, was unbeständig ist, ist wie ein Traum, hat keine
Existenz. Aber Dogen sagt, die Träume existieren, auch die Träume sind Wirklichkeit.

 

8.5.2016, 7 Uhr
Die neun Tage des Frühjahrslagers sind sehr schnell vorbeigegangen, das Lager wird bald zu Ende
sein.
Unser Leben ist ein Zustand unablässiger Veränderung, ein Zustand der Unbeständigkeit. Wenn wir
diese Wirklichkeit nicht annehmen, entstehen daraus alle möglichen Arten von Leiden. Wenn wir
dank der Praxis von Zazen einen geschmeidigen Geist verwirklichen, einen Geist, der sich mit der
Unbeständigkeit der Welt in Einklang bringt, der sie als etwas Natürliches akzeptiert, verschwindet
jeder Anlass von Furcht, und man kann seine Anhaftungen leicht loslassen. Der Weg, den wir
praktizieren, ist der Weg des Einklangs, des sich mit der kosmischen Ordnung Harmonisierens.
Meister Dogen sagt, dass wir niemals vergessen dürfen, nicht einmal einen kleinsten Augenblick,
dass unser Leben ein unablässiger Zustand von Geburt und Tod ist. Wenn wir das im Geist behalten
und geloben, den anderen zu helfen, das andere Ufer zu erreichen, bevor wir es selbst erreichen,
erscheint unmittelbar das ewige Leben vor uns. Das ewige Leben ist das Leben jenseits unseres
kleinen Egos.

 

8.5.2016, 11 Uhr
Das Sesshin wird bald zu Ende sein, und alle werden nach hause fahren. Aber während des Sesshins
haben wir erfahren können, dass sich das wirkliche Zuhause in Zazen findet, dass der Weg unter
unseren Füßen ist und der Himmel in unserem Herzen ist. Wenn man das erlebt, verspürt man eine
große Freude. Selbst inmitten der Phänomene des Lebens verlässt uns diese Freude nicht mehr.
Denn überall kann man in Einklang mit dem Weg leben und den Geist des Weges mit allen Wesen
teilen. Auch das ist eine große Freude. Alle Wesen sind uns nahe gekommen, und wir werden uns
niemals mehr allein fühlen. Auch das ist eine große Freude. Alle Phänomene, die uns begegnen,
zeigen uns das Dharma, drücken die tiefste Wirklichkeit aus und bieten uns die Gelegenheit, unser
Erwachen zu erneuern. Auch das ist eine Quelle von Freude.
Wenn wir die Praxis mit der Sangha fortsetzen, wenn wir gemeinsam das Dharma weiter vertiefen
und unsere Dankbarkeit Buddha gegenüber zum Ausdruck bringen, dann schützen wir die Drei
Kostbarkeiten. Auch das ist eine Quelle von Freude.
Wenn man das empfindet, kann man nur wünschen, gemeinsam weiter zu praktizieren. Also eine
gute Fortsetzung eurer Praxis und bis bald auf dem Weg!

Das Geschenk von Zazen – 01.2012 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 20.-22. Januar 2012
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

 

Freitag, 20.1.12, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen gut auf die Haltung eures Körpers. Neigt gut das Becken
nach vorne und drückt gut mit den Knien auf den Boden. Euer Zafu muss die richtige Höhe
haben, damit ihr die Muskeln nicht unnötig anspannen müsst. Entspannt gut den Bauch und
lasst das Körpergewicht auf das Zafu drücken. Ihr müsst euch gut in der Haltung verwurzelt
fühlen. Streckt von der Taille an gut die Wirbelsäule und den Nacken. Entspannt gut die
Schultern und den Rücken. Das Kinn ist zurückgezogen, das Gesicht entspannt, insbesondere
die Kiefer. Der Mund ist geschlossen, die Zunge liegt am Gaumen an. – Indem ihr euch auf
den Punkt konzentriert, wo die Zunge den Gaumen berührt, beruhigt ihr sofort den inneren
Dialog.
In Zazen ist es wichtig, jede Diskussion mit sich selbst aufzuhören, das ganze geistige
Wiederkäuen, indem man zum Körper zurückkommt, d.h. auf die Wirklichkeit unseres
Lebens hier und jetzt, vollständig in diesem Dojo auf diesem Zafu sitzend.
Der Blick fällt nach vorne vor sich auf den Boden. Die Augen sind halb geschlossen. Man
fixiert kein bestimmtes Objekt und keinen bestimmten Punkt. Der Blick ruht einfach vor
einem und umfasst alles, was vor einem ist. Es ist nicht nötig, die Augen zu schließen, um
konzentriert zu sein. Den Geist stören nicht die Dinge oder Wesen um uns herum, sondern
die Tatsache, dass wir uns an sie hängen, sei es, dass wir sie ergreifen oder dass wir sie
zurückweisen wollen, dass man sie liebt oder sie hasst.
In Zazen entwickelt man einen Geist, der ohne Anhaftung und Zurückweisung ist, der jedes
Ding und jedes Wesen so willkommen heißt, wie es ist, jenseits unserer Beurteilungen und
Gefühle. Der Geist empfängt aber auch unsere Gefühle und unsere Beurteilungen, so wie sie
sind, ohne sich an sie zu hängen oder sie zurückzuweisen. Man sieht sie einfach nur als
momentane Erscheinungen an, die erscheinen und verschwinden. Man lässt sie vorbeiziehen
wie Wolken am Himmel. Der Himmel wird nicht von den vorbeiziehenden Wolken gestört.
Der Geist in Zazen wird ebenso wenig gestört vom Vorüberziehen der geistigen Konstruktionen,
denn er ergreift sie nicht und weist sie nicht zurück.
Das ist wie die Hände in der Position von Hokaijoin: die linke Hand in der rechten Hand, die
Daumen waagerecht und die Handkanten in Kontakt mit dem Unterbauch. In dieser Haltung
ergreifen die Hände nichts und erschaffen nichts. Dieses Mudra nennt man Hokaijoin. Hokai
ist der ‚Ozean des Dharmas’, join ist das ‚Siegel des Samadhi’. Wenn man sich auf diese
Handhaltung konzentriert, hilft das, in diesen Zustand des Samadhi einzutreten, in dem
Körper und Geist in Einheit mit dem Ozean des Dharmas sind.
Es ist der Sinn eines Sesshins, vertraut mit dem wahren Geist zu werden, der alles umfasst,
der alle Dinge widerspiegelt, wie sie sind. Kehrt während des Sesshins so oft wie möglich zu
diesem Geisteszustand zurück, indem ihr euch auf den Körper konzentriert, auf die Gesten,
sei es in Zazen, Kinhin, Sanpai, beim Singen, beim Essen, beim Gehen, beim
Gemüseschneiden, oder wenn ihr euch ausruht. Alles ist Gelegenheit, das Samadhi zu
praktizieren.
Alles ist eine Gelegenheit, im Ozean des Dharmas zu schwimmen, vorausgesetzt dass wir
einen Geist verwirklichen, der nichts zurückweist und nichts ergreift. Wenn man es nicht so
macht, kann selbst das Zen zu einem Gegenstand der Anhaftung werden, und man verfehlt
völlig die wirkliche Befreiung. Konzentriert euch also während des Sesshins gut auf diesen
Punkt. Beobachtet euren Körper und euren Geist und fahrt mit dem Loslassen fort.

 

Freitag, 20.1.12, 11 Uhr
Während Zazen sitzt man einfach. Der ist Rücken senkrecht, die Daumen sind waagrecht.
Man sucht nicht nach einem besonderen Zustand. Man gibt sich damit zufrieden, einfach
völlig eins mit der Körperhaltung zu sein, völlig gegenwärtig hier und jetzt. Man identifiziert
sich mit keinem einzigen Gedanken, nicht einmal mit dem an das Erwachen.
Als er die Dharmahalle seines neuen Klosters Koshoji einweihte, sagte Meister Dogen zu
seinen Schülern: „Ich habe mich nicht in vielen Klöstern aufgehalten. Seit ich Meister Nyojo
getroffen habe, habe ich ganz klar erkannt, dass meine Augen waagerecht sind und meine
Nase senkrecht. Ohne mich von anderen täuschen zu lassen, bin ich mit leeren Händen nach
Japan zurückgekommen. Ich bin ohne Buddhismus. Am Morgen erhebt sich die Sonne im
Osten. In der Nacht geht der Mond im Westen unter. Die Wolken haben sich aufgelöst, und
die Berge sind klar. Der Regen hat aufgehört, und die nahen Berge scheinen niedrig. – Was
heißt das?“ Nach einem Schweigen ergänzte Dogen: „Ein Schaltjahr erscheint alle vier Jahre,
und der Hahn schreit früh am Morgen.“ Dann erhob er sich und ging.
Die Zazen-Praxis ist nicht die Suche nach einem besonderem Zustand. Sie ist einfach sitzen,
wenn man sitzt, gehen, wenn man geht, sich während der Mahlzeiten auf das Essen
konzentrieren, während des Samu auf das Arbeiten. Seine ganze Energie und Aufmerksamkeit
in die Praxis jeden Augenblicks geben. Aufhören, immer nach außen zu sehen und etwas
anderes zu suchen.
Wenn man sich in der Praxis des Weges engagiert, möchte man oft etwas anderes sein, als
man ist. Oft wollten die Mönche Buddha werden. Jetzt wollen wir das Erwachen erreichen. –
Aber das wirkliche Erwachen besteht einfach darin, unsere geistigen Konstruktionen
loszulassen und die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist; unsere eigene Wirklichkeit so zu
sehen, wie sie ist: die Augen waagrecht, die Nase senkrecht; sich völlig mit sich selbst zu
versöhnen; die wahre Natur unserer Existenz zu verwirklichen, die nicht etwas ist, die nicht
etwas ist, das man ergreifen kann, die sich aber ständig manifestiert. Um sie zu realisieren,
braucht man einen Geist, der auf nichts verweilt. Das ist Hishiryo. Den Geist aufgeben, der
bewertet, der misst, der urteilt, der alle Dinge kompliziert macht. Zazen zu praktizieren
bedeutet, insbeson-dere während eines Sesshins, zur größtmöglichen Einfachheit
zurückzukehren; aufzuhören ständig etwas anderes zu wünschen; wirklich vertraut zu werden
mit dem, was wir in der Tiefe sind, in dem nichts fehlt und nichts zuviel ist.
Wenn man das realisiert, kann man wirklich im Frieden sein. Das ist das Nirvana hier und
jetzt, das Erlöschen aller unserer Illusionen. Das geschieht, wenn man sich im Spiegel von
Zazen betrachtet, einem Spiegel, der nicht deformiert. Es ist das Gleiche wie seinen Meister
zu treffen. Wenn der Geist des einen sich im Geist des anderen spiegelt. Dann ist alles völlig klar.
Nichts ist mehr notwendig.

 

Freitag, 20.1.12, 16.30 Uhr
Meister Dogen sagte: „Ohne mich von anderen täuschen zu lassen, bin ich mit leeren Händen
nach Japan zurückgekommen. Ich bin ohne Buddhismus.”
Wir haben oft die Neigung, die Wahrheit außerhalb von uns selbst zu suchen. Weil wir immer
etwas ergreifen oder zurückweisen wollen, werden wir von unserem begrenzten Ego
gesteuert. Dadurch lassen wir uns oft von anderen täuschen, nicht nur durch ihre Irrtümer oder
Illusio-nen, sondern auch durch ihre Wahrheit. Das kommt daher, dass wir kein Vertrauen
dazu haben, dass die Wahrheit in uns selbst existiert.
Kommen, um ein Sesshin zu machen, und mit dem Gesicht zur Wand zu sitzen bedeutet
aufzuhören, nach außen zu sehen, aufzuhören auf der Suche nach irgend etwas umher zu
rennen, seinen Blick vollständig nach innen, auf sich selber zu richten und zu realisieren, dass
der Weg in unserem eigenen Körper und in unserem eigenen Geist existiert.
Wenn man mit sich selbst vertraut wird, erkennt man, dass dieser Körper und dieser Geist
ohne Substanz sind, ohne Trennung vom ganzen Universum, dass sie nicht aus sich selbst
heraus existieren. Dann zerbricht die Schale unseres Egos, und wir können das Leben mit
einem neuen Blick entdecken, der nicht mehr durch unsere geistigen Konstruktionen verdunkelt
ist. Wir lassen uns nicht mehr durch uns selbst täuschen.
Die anderen sind nicht ich. Deshalb ist ihr Verständnis nicht das meine. Jeder und jede muss
den Weg durch sich selbst realisieren. Das bedeutet, sich nicht von anderen täuschen zulassen.
– Sich von den anderen täuschen zu lassen, bedeutet auch, fertige Wahrheiten zu bevorzugen,
Glaubenssätze und Dogmen zu übernehmen, statt die Wahrheit direkt durch sich selbst zu
erfahren.
Shakyamuni Buddha hat nicht aufgehört, seinen Schülern zu sagen, dass sie nicht glauben
sollten, was er sagt, sondern dass sie die Wahrheit seiner Unterweisung durch sich selbst
erfahren müssten. Buddha und die Meister der Weitergabe haben eine Richtung, einen Weg,
eine Art zu praktizieren, gezeigt, die es jedem und jeder ermöglicht, die Wahrheit durch sich
selbst zu realisieren.
Die Weitergabe des Dharma ist nicht die Weitergabe von etwas. Sie ist die Bestätigung, dass
das Dharma durch sich selbst erfahren wurde: Meister und Schüler kommunizieren in der
gleichen Erfahrung der Wirklichkeit, ohne sich von einander täuschen zu lassen.
Das Haupthindernis für diese Realisation besteht darin, dass sich selbst zu verstehen sich
selbst zu vergessen bedeutet. Das Ego will sich nicht selbst vergessen. Oft eignet es sich das
Dharma an, um sich selbst zu bestätigen. Deshalb müssen wir unseren Blick immer wieder
nach innen richten und unsere Illusionen erhellen, und niemals glauben, dass wir den Illusionen
ein Ende gesetzt haben.
Wenn man die Leerheit klar sieht, hat die Illusion weniger Macht, uns zu verführen und zu
täuschen. Man kann schneller loslassen. Zazen ist ein Training dieses Loslassens. In Zazen
kommen immer wieder alle möglichen Illusionen hervor. Ganz schnell lässt man sie los. Sie
verlieren ihre Verführungsmacht. Man lässt sich nicht mehr durch sich selbst täuschen und
noch weniger von den anderen.
Dogen sagte: „Ich bin mit leeren Händen zurück gekommen. Ich bin ohne Buddhismus.”
Trotzdem hatte er die Dharma-Weitergabe von Meister Nyojō bekommen. Aber er hat daraus
nicht etwas gemacht. Mit leeren Händen zurückzukommen bedeutet, immer wieder zu Ku, zur
Leerheit, zurückzukommen; bei jeder Ausatmung jeden Begriff und jedes geistige Konstrukt
loslassen.
‚Ohne Buddhismus zu sein’ bedeutet, wirklich eins zu sein mit der Essenz des Buddhismus.
Ohne Buddha zu sein bedeutet, Buddha ähnlich zu sein. Das heißt, wirklich man selbst zu
sein, ohne Trennung vom gesamten Universum, nicht etwas Besonderes. Es heißt außerdem,
ohne Geburt und Tod zu sein, nichts Greifbares. Nichts, was uns täuschen kann.

Mondo
Du hast gesagt, dass es die Weitergabe des Dharma ist, wenn Meister und Schüler die gleiche
Erfahrung machen. Ist das an eine bestimmte Methode, an Zazen, gebunden, oder war es das
gleiche, als Buddha die Blume drehte?
Diese Realisation ist natürlich prinzipiell an Zazen gebunden, aber sie ist nicht auf Zazen
begrenzt. Als Buddha die Blume nahm und sie drehte, war das Ausdruck einer völligen Aufmerksamkeit,
einer völligen Präsenz für die Wirklichkeit, wie sie ist. In Zazen ist unser
eigener Körper diese Blume. Wir sind völlig auf unseren Körper konzentriert, völlig achtsam
auf das, was ist. Das ist das gleiche, wie eine Blume zwischen den Fingern zu drehen, völlig
eins sein mit der Wirklichkeit, wie sie in diesem Moment ist.
Alle, die in der richtigen Weise Zazen praktizieren, müssten dies verwirklichen, und zwar
nicht nur, wenn sie in Zazen sitzen, sondern auch in anderen Momenten des Lebens. Die
Realisation des Dharma geschieht wirklich in der Praxis selbst. Das ist die Essenz des Zen,
wie es uns von Dogen weitergegeben wurde. Die Weitergabe findet also auch im Dojo statt ,
unter allen, die mit dem gleichen Geisteszustand, mit dem gleichen Hishiryo-Bewusstsein
praktizieren. Die Weitergabe des Dharma ist nicht auf das Shiho begrenzt. Ich hoffe, dass
alle, mit mir Zazen im Dojo praktizieren, diese Erfahrungen realisieren und realisieren, dass
das Dharma in ihnen und überall existiert.
Wenn unser Körper und unser Geist keine Substanz haben, wo ist dann die Substanz, und was
ist sie?
Sie ist nirgendwo. Es gibt nirgendwo Substanz. ‚Substanz’ ist nur ein geistiges Erzeugnis.
‚Substanz’ ist nur ein Wort in unserem Geist. Es gibt keine Substanz, wenn man unter
‚Substanz’ etwas Festes, Permanentes versteht, etwas, was sich nie ändert, was immer
identisch bleibt. Dieser Begriff der Substanz wurde von Buddha kritisiert. Er wird auch in der
Praxis von Zazen kritisiert, weil wir uns in Zazen bewusst werden, dass es nichts Festes,
nichts Permanentes gibt. – Suchst du irgendwo eine feste Substanz? Du fragst mich, wo sie ist.
Vielleicht besteht ein Unterschied zwischen einer Substanz und etwas Festem, das zu etwas
Absolutem führt.
Es gibt nichts Absolutes. Das, was man das ‚Absolute’ nennt, existiert nur bezogen auf das
Relative. Man kann nur von einer absoluten Wahrheit bezogen auf etwas anderes sprechen,
das die relative Wahrheit ist. Sie existieren nicht unabhängig von einander. In Wirklichkeit
gibt es nichts Absolutes, d.h. nichts Getrenntes.
Ich verwende lieber den Begriff ‚tiefe Wahrheit’. Aber ‚tief’ heißt ‚nicht oberflächlich’.
Beides existiert nicht getrennt voneinander. Es gibt keine Tiefe ohne Oberfläche. Wenn wir
Worte benutzen, funktionieren wir in der Dualität. ‚Absolute Wahrheit’, ‚permanente Substanz’
sind Begriffe, geistige Konstruktionen, die nur im Verhältnis zu anderen geistigen
Konstruktionen Sinn machen, das Hohe im Verhältnis zum Tiefen, das Ich im Verhältnis zum
Du, usw..
Unsere Praxis des Weges besteht darin, das tief zu verstehen und uns nicht mehr von diesen
geistigen Konstruktionen täuschen zu lassen und eine Intuition zu haben, die sich nicht mehr
in diese Begriffe und geistige Konstruktionen einschließen lässt. Es ist schwierig, das dann zu
benennen. Man kann es ‚das Leben’ nennen. Buddha hat es vorgezogen, eine Blume zu
nehmen und zwischen seinen Fingern zu drehen. In der Praxis mit dem Körper, in den Gesten,
in Gassho, in Sanpai drückt man viel mehr die Wirklichkeit, so wie sie ist, aus als mit
Worten. Deshalb besteht man im Zen so sehr auf der Praxis mit dem Körper. Man muss alle
geistigen Konstruktionen loslassen.
Dogen hat davon gesprochen, dass er mit leeren Händen und ohne Buddhismus nach Japan
zurückkam. Wäre es in unserer Praxis richtig und vielleicht auch hilfreich, statt von
‚Erleuchtung’ eher von ‚Ernüchterung’ zu sprechen oder vom ‚Verlieren der Illusionen’?
Wenn man vom Erwachen spricht, meint das, die Illusionen zu erhellen und sie fallen zu
lassen. Es passiert oft, dass die Menschen schnell die Bedeutung der Worte vergessen, die sie
benutzen, und sich an ihre eigenen Ideen bezüglich des Erwachens klammern. Jedes Mal,
wenn ich von ‚Erwachen’ spreche, spreche ich davon, aus seinen Illusionen zu erwachen und
ihre Leerheit zu sehen. Ich habe nie vom Erwachen als etwas gesprochen, das man ergreifen
kann.
Das Problem besteht darin, dass es immer einen Unterschied gibt zwischen der Unterweisung,
wie ich sie gebe, und der Weise, wie jeder einzelne sie hört und versteht. Um zu vermeiden,
dass die Unterweisung falsch verstanden wird, muss man sie immer wieder wiederholen. –
Aber in dem Moment, wo man spricht, muss man Worte benutzen.
Wie ich in letzter Zeit mehrfach gesagt habe, benutze ich lieber das Verb ‚erwachen’ als das
Nomen ‚Erwachen’. Erwachen ist eine Handlung, eine Praxis, eine Funktionsweise. Es geht
nicht darum, etwas zu erlangen.

 

Samstag, 21.1.12, 7 Uhr
Wenn die Sangha hier in Grube Louise versammelt ist, wird dieser Ort ein Kloster, selbst für
ein einfaches Wochenende. Das Kloster ist der Ort, an dem wir eins mit dem Weg werden.
Das heißt eins mit uns selbst, eins mit der wahren Natur unserer Existenz. Diese Natur haben
wir mit allen Wesen gemeinsam.
Meister Dogen sagte: „Der Bereich Buddhas ist identisch mit allen Dingen. Das Kloster ist
der beste Ort für diesen Buddha-Geist. Dort schlage ich einmal auf meinen Stuhl. Ich schlage
dreimal die Trommel, und ich lasse die wunderbare Stimme des Tathagata erklingen. Was
sagt ihr Mönche jetzt?“ – Nach einer kurzen Stille fügte Dogen hinzu: „Jeder Ort ist der
Buddha-Geist. So sind die einfachen Menschen immer mit ihm identisch.“
Der Buddha-Geist ist der Geist, der sich in Zazen verwirklicht, der erwachte Geist, der zur
wahren Sicht der Wirklichkeit erwacht ist. Das geschieht, wenn man sich nicht mehr an seine
geistigen Konstruktionen klammert, wenn man mit dem ganzen Körper denkt, wenn man der
Intuition erlaubt, sich zu entfalten. Die Intuition nennt man Prajna.
Prajna ist die Intuition, die wirkliche Weisheit erzeugt. Sie funktioniert, wenn unser Geist
auf nichts stehen bleibt, wenn er sich nicht mehr mit Begriffen und Konzepten identifiziert,
wenn man jenseits der Worte denkt. – Worte habe die Eigenart, die Realität zu fixieren. Im
Gegensatz dazu ist das Bewusstsein in Zazen fließend und harmonisiert sich auf natürliche
Weise mit der Nicht-Fassbarkeit der Wirklichkeit.
Um dies an andere weitergeben zu können, benutzt man Worte, macht Kusen, hält Vorträge.
Man versucht, das Dharma in einer möglichst richtigen Art und Weise auszudrücken.
Man spricht von den drei Siegeln des Dharma: Man sieht, dass alle Dinge unbeständig sind,
dass alles, was existiert, ohne Substanz ist, und dass alles, was existiert, völlig gegenseitig
abhängig ist. Wenn man das nicht versteht, wenn man das nicht akzeptiert, wird alles Leid.
Selbst Glück wird zu Leid. Denn man klammert sich an es und wünscht, dass es andauert,
wohingegen es unbeständig ist. Aber wenn man die drei Siegel des Dharma akzeptiert und
sie aus dem Grund seines Körpers und Geistes heraus versteht und sich mit ihnen in der
konkreten Praxis harmonisiert, dann realisiert man unmittelbar das Nirvana.
Das Nirvana ist kein Ort, an dem man nach dem Tod wiedergeboren wird. Es ist der Ort, an
dem wir in jedem Augenblick nach dem Tod unseres Egos und unserer geistigen Konstruktionen
wiedergeboren werden, im völligen Loslassen all unserer Anhaftungen. Das kann
man nicht willentlich realisieren. Das Ego kann nicht loslassen. Es ist die Praxis von Zazen,
die das Loslassen verwirklicht, die Praxis des Zazen, das uns über die Grenzen unseres
kleinen Egos hinaus trägt in den Bereich des Buddha-Geistes, der identisch mit allen Dingen
ist. Da es die Praxis ist, die das verwirklicht, ist das Kloster der beste Ort, um diesen Buddha-
Geist zu verwirklichen. Das wirkliche Kloster ist der Ort, an dem man den Weg praktiziert.

 

Samstag, 21.1.12, 11 Uhr
„Was ist die Praxis des Weges?“ Auf diese Frage Dogens antwortete der alte Tenzo: Der Weg
existiert überall.“ – „Was trennt uns dann von ihm?“ – „Nichts!“
Wir sind nie vom Weg getrennt. Aber wir vergessen das und halten uns für getrennte Wesen,
weil wir von dem dualistischen Geist konditioniert sind. Der Geist, der durch die Sprache
konditioniert ist, hat die Gewohnheit angenommen, die Wirklichkeit zu zerlegen und zu
trennen. Wir identifizieren uns mit einem getrennten Ego. Wir sagen: „Ich denke dies.“, „Ich
denke das.“, „Damit bin ich nicht einverstanden.“ „Ich möchte dies.“, „Ich möchte das.“ So
wird man ein egozentrisches Wesen und verliert den Kontakt mit der tiefen Wirklichkeit der
Existenz. Deshalb leidet man und ist unzufrieden. Man versucht, diesen Mangel zu kompensieren,
indem man allen möglichen Objekten nachläuft. Je mehr man das macht, umso mehr
entfernt man sich von der Wirklichkeit. Das ist wie eine Drogenabhängigkeit: Man muss
immer wieder die Dosis erhöhen, um eine Wirkung zu erzielen. Die Krise der heutigen Welt
ist eine Krise der Gier, der Gier des Egos, das völlig in der Täuschung lebt. Daher ist es sehr
dringlich, sich dessen bewusst zu werden und den Weg unter unseren Füßen wiederzufinden
und aufzuhören, immer etwas woanders, außerhalb zu suchen.
Wenn man in Zazen mit dem Gesicht zur Wand sitzt, nur auf die Senkrechte des Rückens
konzentriert, und nicht seinen Neigungen folgt, wird man völlig aufmerksam, ist man völlig
hier. Dieses Hier ist nicht getrennt vom Außen. Das Hier unseres Lebens zu durchdringen
bedeutet, die unbegrenzte Dimension unserer Existenz zu durchdringen, indem man sich
einfach auf seinen Körper hier konzentrieret. Denn so gibt man die Funktionsweisen des
Geistes auf, die Trennungen schafft.
Man atmet ruhig durch die Nase ein und aus, ist vollkommen gegenwärtig im Augenblick und
hat keinen Grund, sich über die Vergangenheit zu grämen oder sich um die Zukunft zu
sorgen. Der gegenwärtige Augenblick ist mit allen Zeiten verbunden. So ist er nicht begrenzt.
Den gegenwärtigen Augenblick vollständig zu leben, bedeutet, die Ewigkeit zu erfahren. Es
bedeutet, auf den Punkt konzentriert zu sein, der Vergangenheit und Zukunft umfasst.
In jedem Moment der Praxis des Weges kommt man ganz konkret auf das Hier und Jetzt
zurück, indem man völlig gegenwärtig in jeder seiner Handlungen ist. Man kann spüren, dass
hier und jetzt nichts fehlt. Dann kann man in Frieden praktizieren, seine Identität mit dem
gesamten Universum wiederfinden. Dies ist es, was Dogen den ‚Bereich des Buddha-Geistes’
nennt.
Der Ort des Dojos und die Zeit des Sesshins sind die besten Umstände, um dies zu erfahren,
um die Konditionierungen unserer Gewohnheiten zu verlassen und eine wirkliche spirituelle
Revolution zu realisieren, um eine andere Seinsweise zu erfahren und zu einer neuen Lebensweise
wiedergeboren zu werden. – Das hat nichts von einem Opfer. Denn das, was aufgegeben
wird, ist das, was uns begrenzt und leiden lässt, und das, was realisiert wird, ist die Quelle
wirklichen Glücks, d.h. das Leben in Einklang mit der kosmischen Ordnung, ein authentisches
Leben.
Wenn man dies erfährt, und sei es auch nur kurz, dann erscheint ein tiefes Vertrauen, ein
neues Vertrauen in das Selbst, in das Selbst, das nicht verschieden von Buddha ist. Das ist die
Quelle des wirklichen religiösen Geistes jenseits aller Religionen. Es ist die Rückkehr zu der
Wirklichkeit, von der man nie getrennt war. Deshalb hat man oft, wenn man mit Zazen
beginnt, das Gefühl nach hause gekommen zu sein. Dieses Haus ist das wirkliche Kloster, der
Ort, an dem sich der Weg realisiert. Das ist kein besonderer Ort. Jeder Ort ist ein guter Ort.
Alle Orte werden Kloster, wenn man sich auf die Praxis des Zazen konzentriert, wenn man
vom Zen-Geist geleitet wird.

 

Samstag, 21.1.12, 16.30 Uhr
Mondo
Während dieses Monats hatte ich ein Gefühl, das in meinem täglichen Leben sehr gegenwärtig
ist, eine gewisse Traurigkeit. Aber wenn ich Zazen mache, bleibt davon keine Spur.
Woran kann ich erkennen, dass ich mich in Zazen nicht verstecke?
Es ist nicht notwendig, das zu wissen. Warum willst du das wissen?
Ich frage mich, ob ich mich in Zazen vor diesem Gefühl verstecke, es unterdrücke, oder ob ich
mich im Alltag täusche.
Im Geist gibt es keine feste Substanz. Manchmal ist man traurig, manchmal ist man nicht
traurig. Wenn du im täglichen Leben traurig bist, kannst du dich fragen: „Was ist das, diese
Traurigkeit?“ Du nimmst dieses Gefühl als eine Art Koan, das dir etwas über dein Leben sagt.
„Was ist das, diese Traurigkeit?“
Wenn dieses Gefühl in Zazen verschwindet, liegt das daran, dass man in Zazen in einer
anderen Energie ist. Man ist weniger auf sein Ego zentriert. Normalerweise ist es das Ego, das
traurig oder frustriert ist, weil es nicht das bekommt, was es will. Ich glaube nicht, dass man
in Zazen das Ego unterdrückt. Man ist einfach in einem viel weiteren Geisteszustand als im
Alltag, in dem es diese Frustration des Egos nicht mehr gibt. Ich glaube, dass es so ist, aber du
musst es überprüfen.
Bedeutet man selbst werden, wie es in der Unterweisung gesagt wurde, dass es eine Form der
kosmischen Identität gibt?
Ja. Die kosmische Identität ist Ku, Leerheit. Sie ist nichts, was man ergreifen kann. Sie ist
etwas, das sich nicht in das einschließen lässt, was man normalerweise Identität nennt.
Normalerweise sagt man ‚meine Identität’ mit Bezug auf bestimmte Kriterien: „Ich bin
jemand, der so und so ist.“, also anders als die anderen. Unsere Identität baut sich aus Unterscheidungen
und Trennungen auf. Diese Identität ist etwas Konstruiertes, ein geistiges
Produkt. Im Grunde, in der Wirklichkeit, hat sie keine feste Substanz.
Diese Dimension unseres Lebens ohne feste Substanz zu erfahren, ist unsere wirkliche Identität.
Denn darin ist man mit allen Wesen des Universums identisch. Der gemeinsame Punkt
zwischen uns und allen Existenzen ist, dass wir ohne Substanz sind. Das ist wirkliche der
gemeinsame Punk vom Atom bis zur Galaxie. Berge, Flüsse, Menschen, alle Existenzen
existieren nur in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, d.h. sie sind ohne feste, eigene
Substanz. Das ist es, was ich meine, wenn ich von einer ‚wirklichen’ Identität spreche. Die
wirkliche Identität ist keine Identität.
Wenn man das Wort Identität benutzt, meint man, dass etwas identisch bleibt. Aber in Wirklichkeit
gibt es nichts, was immer gleich bleibt. Alles ändert sich unablässig. Unsere wirkliche
Identität ist, dass wir unbeständig und ohne Substanz sind. Das wirkliche Selbst ist das Nicht-
Selbst.
Man selbst zu sein bedeutet, in Harmonie mit der Unbeständigkeit zu sein?
Genau. – Das ist etwas anderes, als wenn man in der Persönlichkeitsentwicklung davon
spricht, man selbst zu werden. Dort geht es darum, seine Wünsche zu befriedigen: „Bisher
habe ich mich immer so verhalten, wie meine Familie es wollte. Jetzt will ich endlich ich
selber sein. Ich will meine eigenen Wünsche befriedigen.“ Das heißt aber eigentlich, dass man
sein Ego verwirklichen will. Es ist im Allgemeinen das Ziel von Therapien und von Techniken
der Persönlichkeitsentwicklungen, das Ego zu stärken.
Zen fängt genau jenseits davon an, indem man realisiert, dass das eine Illusion ist. Seine Zeit
damit zu verbringen, so zu werden, wie die anderen es erwarten, ist eine Illusion. Aber sich
mit seinen Wünschen identifizieren zu wollen, ist auch eine Illusion. Zen ist also wirklich sich
mit dem zu harmonisieren, was man das Dharma, die kosmische Ordnung, nennt, mit der
wirklichen, der tiefsten Natur der Existenz – also mit der Unbeständigkeit, der wechselseitigen
Abhängigkeit, dem Nicht-Selbst. Das impliziert nicht nur ein intellektuelles Verständnis,
sondern auch ein wirkliches Loslassen und ein sich mit dieser Dimension Harmonisieren.
Wenn man sich damit harmonisiert, resultiert daraus eine große Befreiung, eine wirklich
radikale Lösung aller Leidensursachen. Das hat Buddha ‚Nirvana’ genannt, das Verlöschen
aller Geistesgifte, das Verlöschen von Gier, Hass und Verblendung.
Wenn es heißt, dass das wahre Leben die Harmonie mit der kosmischen Bewegung ist, was
sind dann die Gesetze dieser kosmischen Bewegung?
Oh, es gibt viele Arten von Gesetzen. Aber die grundlegenden Gesetze sind das der Unbeständigkeit
und das der wechselseitigen Abhängigkeit. Es reicht für unser Leben, das zu
verstehen. Denn das bedeutet, einen geschmeidigen Geist anzunehmen, der auf nichts
verweilt, einen offenen Geist, der mit Empathie funktionieren kann, Empathie mit allen
lebenden Wesen, mit denen wir die gleichen Bedingungen teilen. Also weniger egoistisch und
viel solidarischer mit den anderen zu sein, mit mehr Mitgefühl, mit mehr Wohlwollen zu sein.
Das ist die natürlichen Haltung der Bodhisattvas, die diese Dimension der Existenz realisiert
haben. Sie ist ein Träger von wirklichen Werten, die unserem Leben einen Sinn geben.
Wenn du einen wissenschaftlichen Geist hast, kannst du die kosmischen Gesetze untersuchen.
Aber da geht es um eine andere Ebene, z.B. um Gesetze der Meteorologie, Gesetze des Blutkreislaufs,
Gesetze der Biologie. Es gibt viele Gesetze. Aber sie funktionieren alle im selben
Prozess von wechselseitiger Abhängigkeit und Unbeständigkeit. Es gibt keine Existenz im
Universum, von der kleinsten bis zur größten Einheit, vom Atom und bis zur Galaxie, die
nicht den Gesetzen der Unbeständigkeit und der wechselseitigen Abhängigkeit unterworfen
ist.
Der menschliche Geist liebt es, die Gesetze zu untersuchen, die die verschiedenen Bereiche
der Existenz bestimmen, um in der Lage zu sein, sie zu beherrschen. Um die ökonomische
Krise meistern zu können, studiert man z.B. die Gesetze der Ökonomie.
Wenn man von der Lehre Buddhas durchdrungen ist, wird man die Dinge untersuchen wollen,
die das dazu beitragen, das Leid zu lösen und Gutes um einen herum zu schaffen. Es ist z.B.
gut, Medizin, Psychotherapie oder ähnliches zu studieren; also etwas, was wirklich dahin
führt, die Probleme der Menschen zu lösen.
Auf dem Sesshin kommt bei mir einiges hoch. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich mich,
wenn ich in den Alltag zurückkomme, wieder in allen möglichen Dingen verliere.
Was kommt beim Zazen hoch? Was hast du Angst zu verlieren?
Bei Zazen kommt z.B. der Wunsch, ein ruhigeres Leben, einfacheres Leben zu führen.
Das wünsche ich mir auch!
Ich habe Angst, mich in den Komplikationen des Alltags zu verlieren, den Reizen zu folgen.
Dann musst du jeden Tag Zazen machen. Du musst zweimal am Tag Zazen machen, morgens
und abends. Das ist das Rezept, das ich dir gebe: Zazen wiederholen, morgens und abends.
Und wenn du während des Tages in Komplikationen kommst, dich verstrickst, kannst du auch
während des Tages kurz Zazen machen. Du musst nicht drei oder vier Mal am Tag ins Dojo
gehen. Es ist auch möglich, dort, wo man ist, fünf oder zehn Minuten Zazen zu machen, selbst
in deinem Auto, in deinem Büro: Du konzentrierst dich auf deinen Körper und atmest ruhig
aus, lässt die Gedanken vorbeiziehen, und die Komplikationen werden aufhören.
Es gibt auch eine andere Methode. Sie beruht mehr auf der Beobachtung. Wenn wieder
komplizierte Sachen, komplizierte Gedanken auftauchen, frage dich: „Wenn ich jetzt sterben
müsste, was wäre dann wichtig?“ – Das ist sehr radikal.
Ich möchte eine Frage in Bezug auf das Karma stellen: In welchem Moment trifft man
wirklich eine Entscheidung über sein Leben?
In jedem Moment.
Und wo ist das Karma?
Wenn ich jetzt z.B. die Entscheidung treffe, auf die Uhr zu schauen, ist das kein Karma.
Karma bedeutet eine Handlung, die einen ethischen Wert hat.
Ich meine nicht das Karma, das man erzeugt, sondern das Karma, das uns bis hierher
gebracht hat.
Du hast doch ein gutes Karma, wenn du Mönch bist. Du bist hier und machst Zazen, also ist
alles gut.
Wenn man sich in Zazen hinsetzt und praktiziert, ist das eine Auswirkung von gutem Karma
der Vergangenheit, oder ist das eine Entscheidung hier und jetzt?
Es ist eine Entscheidung hier und jetzt, die aber durch vergangenes Karma bedingt ist. Es gibt
nichts, was nicht bedingt ist. Das heißt aber nicht, dass es keine Freiheit gibt. Das ist ein sehr
heikler Punkt. Unser gesamtes Leben ist Folge von vergangenen Ursachen und Bedingungen.
Sie haben bewirkt, dass wir jetzt an dem Punkt sind, an dem wir sind. Je mehr Zazen man
praktiziert, um so klarer man sieht, was uns konditioniert, und um so ‚freiere’ Entscheidungen
kann man treffen.
Ich glaube nicht, dass man zu hundert Prozent von vergangenem Karma bedingt ist. Aber das
vergangene Karma schafft bestimmte Bedingungen. – Ich vergleiche das mit einem Kartenspiel:
Am Anfang bekommt man Karten und dann spielt man mit ihnen. Man kann die Karten
nicht wählen, aber man kann sich entscheiden, die eine oder die andere Karte zu spielen. Oder
man kann entscheiden, das Spiel zu beenden. Im Rahmen bestimmter Ursachen und Bedingungen
kann man wählen. Für viele Leute, die sich der Ursachen und Bedingungen nicht
ausreichend bewusst sind, ist die Wahlmöglichkeit jedoch sehr beschränkt. Sie werden von
ihrem Karma mitgerissen.
Wenn man Zazen praktiziert, wird man sich darüber immer klarer, wovon man konditioniert
wird. Man sieht sein Karma immer klarer. Das ermöglicht es, dem Karma gegenüber Stellung
zu beziehen: Möchte ich dieses Karma fortsetzen oder will ich etwas ändern? Je klarer man
ist, desto freier ist man.
In Zazen gibt es immer zwei Aspekte: Der eine ist die Beobachtung, die Weisheit und
Verständnis hervorbringt. Aber das reicht nicht: Selbst, wenn man verstanden hat, kann man
immer noch dieselben Irrtümer begehen. Der zweite, sehr wichtige Aspekt der Praxis ist die
Konzentration. Sie erlaubt es loszulassen, nicht zu folgen. Wenn man es schafft, sich gut auf
den Körper und die Atmung zu konzentrieren, geschieht ein Loslassen all dessen, was uns
konditioniert. Man sieht es, wird von ihm aber nicht mehr angetrieben.
Es gibt z.B. sehr cholerische Leute. Wenn sie Zazen praktizieren, sehen sie die Gründe für
ihre Wut auftauchen. Sie sehen auch das Gefühl, das auftaucht und größer wird. Aber sie sind
in der Lage, sich nicht zu bewegen: nichts sagen, nicht bewegen, nicht zuschlagen, ausatmen
und vorbeiziehen lassen. So hat man die Wut nicht unterdrückt, man hat klar gesehen, wie sie
sich manifestiert, aber man hat sich von ihr nicht mitreißen lassen. – Das gilt für alle Gefühle.
Man kann ein Gefühl haben, z.B. Traurigkeit, und darin schwelgen. Man kann aber auch die
Traurigkeit einfach sehen, sich auf die Atmung konzentrieren, hier und jetzt sein und die
Traurigkeit vorbeiziehen lassen, wie sie aufgetaucht ist, ohne dass sie uns völlig aufsaugt.
Dass wir in der Lage sind, all dem nicht mehr zu folgen, was uns konditioniert, ist wirklich
die Voraussetzung von Freiheit. Klar sehen, was uns konditioniert, ihm aber nicht folgen. Das
ist wirklich die Frucht der Zazen-Praxis.
Während eines Sesshins sitzen hier siebzig Leute. Viel Karma manifestiert sich. Wenn wir
nicht im Dojo wären, würde jeder etwas machen, etwas sagen, würde sich aufregen, würde
weinen. Und jetzt: Alles zieht vorbei wie ein Film. Man lässt sich davon nicht mitreißen. Das
ist eine sehr wertvolle Erfahrung.
Dann gibt es Leute, die sagen: „Was mache ich nach dem Sesshin? Da bin ich wieder in
Schwierigkeiten, in Emotionen.” Deshalb habe ich gesagt: „Dann muss man auf Zazen
zurückkommen.“ Zazen ist wirklich ein Rezept, das man immer wieder erneuern muss. Wie
bei chronischen Krankheiten: Man muss ein Rezept haben, das für immer gilt.
In der Praxis taucht vergangenes Karma auf. Das kann Angst machen. Ich sehe oft im Dojo,
dass Leute über diesen Punkt nicht hinauskommen. Es geht ihnen schlecht, und dann kommen
sie nicht mehr. Mir hat einmal eine alte Nonne gesagt: „Zazen macht den Koffer auf.“ Hast
du einen Rat, wie man solchen Leuten helfen kann, trotzdem weiterzumachen?
Vielleicht, indem man sagt: „Das ist eine Phase, die vorbeigeht. Wir haben alle diese Erfahrung
gemacht.“
Das sage ich ja schon. Aber es nutzt nichts.
Die Leute haben kein Vertrauen. Deshalb ist es sehr wichtig zu versuchen, dieses Vertrauen
weiterzugeben. Eine Möglichkeit besteht darin, die Beispiele der alten Meister zu verwenden,
die auch ein Karma und verschiedene Erfahrungen hatten, die aber am Ende wirklich den
tiefen Frieden des Nirvanas gefunden haben.
Meister Deshimaru hat uns dazu gesagt: „Je stärker die Illusionen, die Anhaftungen, die
Bonnos, desto größer das Satori.“ Wenn die Leute große Bonnos, große Täuschungen, haben,
die sie leiden lassen, sollte man sie an diese Unterweisung erinnern. Oft ist es so, dass Leute,
die völlig verzweifelt sind, ganz plötzlich loslassen. So wird tiefe Hoffnungslosigkeit Quelle
des Erwachens.
Dazu muss man natürlich mit der Praxis weitermachen. Wenn man weiter praktiziert, werden
alle Hindernisse, die einem auf dem Weg begegnen, Gelegenheiten zu erwachen. Aber viele
Leute mögen diese Hindernisse nicht. Sie hätten lieber einen glatten Weg ohne Hindernisse.
Sie sagen sich: „Ein Weg mit Hindernissen ist kein guter Weg.“ Aber im Gegenteil: Der Wert
der Praxis, der Wert des Weges, zeigt sich darin, wie man die Hindernisse überwindet. Wenn
es im Verlauf der Praxis einen großen Zweifel oder ein großes Problem gibt, muss man sich
sagen: „Das ist eine hervorragende Etappe, durch die ich hindurch muss. Was geschieht hier
jetzt?“
Für dich als Verantwortliche eines Dojos ist es vielleicht auch wichtig, wenn die Leute Vertrauen
zu dir haben, sie zu fragen: „Was passiert gerade in deinem Leben? Was passiert wirklich?
Wie kann man das transformieren?“
Dann fangen die Leute an, ihr ganzes Leben zu erzählen.
Man muss auch zuhören können. Kannon ist der Bodhisattva, der die Klagen der Welt hört.
Oft fällt es einem schwer zuzuhören, weil man glaubt, man müsse eine Antwort geben. Es ist
nicht nötig eine Antwort zu geben, oft muss man nur zuhören. Das reicht. Nach und nach wird
das Klagen weniger. Wie bei einem Baby, das weint. Man wiegt es in den Armen und ganz
allmählich beruhigt es sich.
Ich habe früher in Zazen auch immer mal gerne gelitten. Da habe ich mir gesagt: „Niemand
zwingt dich zu leiden. Du hast die Wahl zu leiden oder nicht zu leiden.“ Und ich habe mich
entschieden, nicht zu leiden. Das hat geholfen. Der Mensch ist frei zu leiden oder nicht zu
leiden. Er muss sich nur entscheiden.
Gibt es gutes und schlechtes Karma oder gibt es einfach nur Karma?
Karma ist immer gut oder schlecht. Es ist nicht neutral. Karma ist im Bereich der Ethik
angesiedelt, im Bereich von gut und schlecht, von richtig und falsch. Aber Karma verändert
sich ständig. Deshalb ist ein schlechtes Karma nicht zwingend für immer schlecht. Ein
schlechtes Karma, das Leiden erzeugt, kann auch die Gelegenheit für eine radikale Änderung
des Lebens sein. Je schmerzhafter das Karma ist, um so mehr kann man den Wunsch
verspüren, dieses Karma zu beenden und z.B. in die Praxis des Weges einzutreten. – Ich habe
im Gefängnis Leute gesehen, die wirklich ein ganz übles vergangenes Karma hatten, das für
sie aber eine große Anregung war, Zazen zu praktizieren und ihr Karma zu ändern.
Es gibt sehr wohlwollende Leute, denen es sehr gut geht und die sich fragen: „Warum sollte
ich Zazen machen? Das brauche ich nicht.“ Es ist oft so, dass das, was wir schlechtes Karma
nennen, zur Gelegenheit wird, den Weg zu betreten. – Ich will damit nicht sagen, dass alle, die
Zazen praktizieren, notwendigerweise ein schlechtes Karma haben. Aber man muss sehen,
dass schlechtes Karma oft Bodaishin, den Geist des Erwachens, weckt. Es braucht jedoch
auch gutes Karma, um den Weg zu betreten. Man braucht beides. Man braucht das schlechte
Karma, das das Leiden und den Wunsch, aus ihm herauszukommen, schafft, und man braucht
das gute Karma, das die Gelegenheit eröffnet, dem Zen zu begegnen, ein Buch, einen Meister,
ein Dojo zu finden. Man braucht auch eine Gelegenheit für den Kontakt zum Zen. Das ist das
Ergebnis des gute Karmas.
In unserem Leben mischen sich gut und schlecht unablässig. Deshalb ist es sehr kompliziert.
Daher ist es besser Zazen zu machen und das Karma fallen zu lassen.

 

Sonntag, 22.1.12, 7 Uhr
Konzentriert euch auf die senkrechte Haltung. Streckt gut die Wirbelsäule nach oben und
entspannt den Rückens und die Schultern. Drückt mit der Schädeldecke gegen den Himmel
und mit den Knien in den Boden. Atmet ruhig durch die Nase ein und aus, und lasst euch
nicht von den Gedanken forttragen. Seht sie so, wie sie sind, und kommt zur Haltung und zur
Atmung zurück.
Jedes Mal, wenn wir zur Haltung und zur Atmung zurückkommen, lassen wir los. Unser Geist
findet seine Verfügbarkeit wieder. Die Tatsache, dass wir loslassen können, bestätigt, dass
alle Objekte des Denkens und der Wahrnehmung ohne Substanz, nicht fassbar sind.
Deswegen kann man sie loslassen.
Während eines Sesshin geht man durch viele Erfahrungen hindurch. Gestern hatten einige
Knieschmerzen. Aber denkt nicht, dass eure Praxis nicht gut ist, weil ihr Knieschmerzen habt.
Die Praxis besteht aus dem Loslassen, auch aus dem Loslassen des Egos, das sich gegen die
Knieschmerzen wehrt, des Egos, das nicht einverstanden ist mit der Wirklichkeit, wie sie hier
und jetzt ist.
Wir haben drei Tage in Grube Louise verbracht, einem schönen Ort in der Natur, aber leider
regnet es. Manchmal bedauert man das schlechte Wetter, aber das Wetter ist jenseits unserer
Macht. So wie auch Krankheit, Alter und Tod jenseits unserer Macht sind. In unserer Macht
steht jedoch, wie wir diesen Aspekten der Wirklichkeit begegnen. Deswegen sagte Meister
Sosan: „Den Weg zu durchdringen, ist nicht schwer.“ Es geht nicht darum, die Welt zu
ändern. Sosan ergänzte: „Es genügt, ohne Gier und Hass, ohne Auswahl und Zurückweisung
zu sein.“
In Zazen geht es darum, durch alle Erfahrungen, die wir machen, hindurchzugehen, durch alle
Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Geisteszustände, ohne sich an irgendetwas zu
klammern oder irgendetwas zurückzuweisen; unablässig über unsere Neigung hinauszugehen,
ständig auf etwas verharren zu wollen.
Sinn des Buddha-Dharmas ist die Befreiung, Befreiung in Bezug auf unserer eigenes Ego, in
Bezug auf unseren begrenzten Geist, der Trennung schafft, der sich in engen Begriffen
einschließt, indem er sich mit bestimmten Ideen und Dingen identifiziert: „Ich bin jemand, der
so oder so ist.“ Davon ausgehend ist man bereit, gegen alles zu kämpfen, was einen stört, und
gegen alles, was das Bild stört, das man sich von sich macht.
Während des Mondos gestern gab es viele Fragen, und auch an der Bar haben mir einige
junge Leute viele Fragen gestellt. Aber zu viele Fragen führen nur zur Verwirrung. Man muss
dahin kommen, sich nur eine einzige Frage zu stellen, die essentielle Frage seines Lebens, die
Frage, die Meister Eno seinem jungen Schüler Nanganku stellte: „Woher kommst du? Was
kommt so?“ Was ist das, dieses Ego, dieses Ich? Und vollständig auf diese Frage konzentriert
bleiben. Das ist das wahre Koan unseres Lebens. Man muss es bis auf den Grund
durchdringen, vollständig. – Nach sieben Jahren Praxis mit diesem Koan kam Nanganku zu
der Antwort: „Es ist nicht etwas.“
Was ist die wirkliche Natur unserer Existenz? Es ist nicht etwas. Es ist nichts Greifbares. Es
ist nichts Begrenztes. Deshalb gibt es keine Seite, von der aus man es ergreifen kann. Es ist
immer in Einheit mit dem ganzen Universum. – So verweist diese Frage direkt auf unsere
wirkliche Buddha-Natur, die nichts Greifbares ist, die sich manifestiert, wenn man den Geist
loslässt, der immer etwas ergreifen will.
Deshalb gab Nanganku auf die Frage von Meister Eno: „Existiert das in der Praxis und der
Realisation oder nicht?“ die berühmte Antwort: „Es ist nicht so, dass es weder Praxis noch
Realisation ist. Es ist nur so, dass sie nicht beschmutzt werden kann.“ Meister Eno sagte:
„Deine Antwort ist wunderbar. Diese Existenz ohne Beschmutzungen wurde von allen
Buddhas beschützt. Du bist so, und ich bin auch so.“ – So sein ist die Existenz ohne
Beschmutzung, nyoze. Jenseits aller Begriffe. Jenseits aller Begrenzungen.
Zazen bringt uns in Kontakt mit dieser Wirklichkeit, die sich nicht in Konzepte fassen lässt,
die nicht von Begriffen beschmutzt ist. Es macht uns vertraut mit dem Leben ohne Trennung.
Ohne Trennung zwischen Körper und Geist, zwischen einem selbst und den anderen,
zwischen einem selbst und der Natur, zwischen einem selbst und Buddha. Zwischen beidem
keine Trennung, keine Beschmutzung: nicht zwei. Es ist der Geist des Vertrauens, der damit
vertraut wird.

 

Sonntag, 22.1.12, 11 Uhr
Während eines Sesshins wird man mit seinem wirklichen Geist vertraut, mit dem Geist
Buddhas, d.h. mit dem Geist, der keine Trennungen mehr schafft. Das ist die wirkliche
Vertrautheit. Wir sind oft wie Fremde auf dieser Erde, weil wir ohne Unterlass Trennungen
und Unterscheidungen schaffen. Zazen ist der Moment, in dem wir eine andere Seinsweise,
erfahren können, eine Seinsweise, in der unser Geist weit wird und alles umfasst.
Meister Dogen sagte: „Wenn ihr das wirkliche Erwachen realisiert, und nicht einfach nur
einen Traum, werdet ihr feststellen, dass der Bereich der kosmischen Ordnung nicht weit und
ein Atom nicht klein ist. Das erste als weit und das zweite als klein anzusehen, ist nicht
richtig. Also wo kommt ein Satz des Dharma her?
Ich wage zu sagen, dass eine Kröte auf dem Grund eines Brunnens den Mond verschluckt. Ein
Hase auf dem Mond schläft in den Wolken.“
„Eine Kröte, die auf dem Grund eines Brunnens den Mond verschluckt“, ist der Bereich des
Erwachens jenseits von Identität und Unterschied. „Ein Hase, der in den Wolken schläft“, ist
der Bereich jenseits des Weiten und des Kleinen, d.h. der Bereich des Hishiryo-Bewusstsein
während Zazen, der Bereich des Erwachens, der Bereich der Harmonie mit der tiefsten
Wirklichkeit.
Nicht nur verschluckt eine Kröte den Mond, sondern sie wird auch vom Mond verschluckt.
Denn der Mond ist nicht nur der Mond am Himmel. Er ist der Geist von Zazen, der alles
widerspiegelt. In Zazen verschluckt der Mond unseres Geistes alles in seinem Licht. So gibt
es keine Dualität, keine Trennung mehr, zwischen einem selbst und allen Gegenständen der
Welt, zwischen einem selbst und allen Wesen des Universums.
„Also was ist das? Es hat etwas Unbeschreibbares.“ – Das, was nicht mit Worten beschrieben
werden kann, müssen wir beschützen. Weil es die Kraft hat, uns von allen Anhaftungen und
Leidesursachen, von der Anhaftung an ein begrenztes, eingebildetes Ego zu befreien. Das
erlaubt es uns, darüber hinaus zu gehen und uns völlig solidarisch mit allen Wesen zu fühlen,
die im Grunde nicht verschieden von uns sind. So verschwindet jedes Hindernis für Wohlwollen
und Mitgefühl, für wirkliche Liebe. Alle Knoten, die uns einengen, sind aufgelöst. Das
bedeutet Buddha zu sein, wirklich befreit. So können wir uns auf natürliche Weise mit der
wahren Natur unserer Existenz harmonisieren, mit dem Tao, mit dem Weg.
Wenn man das in Zazen realisiert, kann man nur noch ewig mit dieser Praxis fortfahren;
fortfahren, diese Dimension der Existenz in der Praxis zu aktualisieren – und von Zazen aus
auch in allen Handlungen Alltags, in jedem Augenblick Alltags. So werden alle Tage gute
Tage und alle Orte gute Orte, um den Weg zu verwirklichen. Das ist das Geschenk von Zazen.
Nehmt es an!

Das Herz des großen Baumes – 02.2002 – Schlagstein

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 25.-27. Februar
2002 während des Sesshins in Schlagstein auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

 

25.2.2000, 7 Uhr
Nehmt zu Beginn des Zazen gut die Haltung ein. Legt die Fäuste auf die Knie, die
Handoberflächen weisen zum Boden, und pendelt energisch sieben- oder achtmal hin und
her. Dann macht Gassho. Man faltet die Hände auf Höhe des Gesichts, neigt sich tief nach
vorne, richtet sich dann von der Taille aus wieder auf und legt die linke Hand in die rechte.
Die Handkanten berühren den Unterleib, die Daumen sind waagrecht. Man atmet zweioder
dreimal tief ein und aus und entspannt gut Solarplexus und Bauch. Man lässt das
Körpergewicht gut auf das Zafu drücken, insbesondere mit dem Punkt der Dammmitte,
zwischen dem After und den Geschlechtsteilen, der ein Energiepunkt ist. Es ist wichtig,
diese Grundlage der Haltung herzustellen.
Man muss dynamisch sitzen. Ausgehend von der Taille streckt man gut die Wirbelsäule
und lässt alle Spannung im Rücken los. Man streckt den Nacken, zieht das Kinn zurück
und entspannt die Schultern. Man stößt mit der Schädeldecke in den Himmel und drückt
die Erde mit den Knien. Gesicht, Stirn und Blick sind ebenfalls entspannt. Der Blick ruht
vor einem auf dem Boden, ohne einen besonderen Punkt zu fixieren. So wird er weit. Der
Kiefer ist entspannt, die Zunge liegt am Gaumen.
Alle diese wichtigen Punkte der Haltung zu beachten, trägt dazu bei, die Einheit von
Körper und Geist zu realisieren: Der Geist verliert sich nicht in Gedanken, sondern kehrt
immer wieder zurück dazu, die Haltung zu spüren, insbesondere die der beiden Daumen,
die sich leicht berühren und weder Berg noch Tal bilden. Die Daumen und die
Handflächen formen ein weites Oval. In dieser Haltung machen die Hände nichts und
ergreifen nichts. So wie der Geist von Zazen, der nirgends verweilt.
Wenn der Geist nirgends verweilt, nichts ergreift, kann man den gierigen Geist des Egos
aufgeben. Unsere übliche mentale Funktionsweise, die uns treibt, immer etwas ertreifen zu
wollen, ist aufgegeben. Dies nennt man das Ego aufgeben. In Wirklichkeit gibt es nichts,
das aufgegeben wird. Es handelt sich lediglich um eine Funktionsweise, die sich verändert,
um einen Geist, der frei wird.
Diese Freiheit des Geistes verwirklicht sich im Augenblick, in dem Augenblick, in dem
man einen Gedanken vorüberziehen lässt, in dem man sich wieder auf die Atmung
konzentriert.
Die Praxis geschieht in der Zeit, man wiederholt die Praxis unermütlich Tag für Tag. In
jedem Zazen konzentriert man sich auf Haltung und Atmung. Das Loslassen geschieht im
Augenblick. Es ist nicht eine Frage der Dauer. Es ist jenseits unserer Bemühung und
unseres Willens. Es ist die Frucht von Zazen, die unmittelbare Auswirkung von Zazen.
Zieht das Kinn zurück!

 

25.2.2000, 11 Uhr
Ob man Zazen in einem Dojo praktiziert oder während eines Sesshins, ob man Anfänger
ist oder bereits 10, 20 oder 30 Jahre praktiziert – es ist genau die gleiche Praxis, die
unterwiesen und praktiziert wird. Man beharrt sehr auf dem Hier und Jetzt der Praxis.
Wenn die Praxis hier und jetzt richtig ist, ist die Praxis selbst Erweckung und Befreiung.
Das heißt nicht, daß es keine Entwicklung in der Praxis eines jeden gibt. Aber diese
Entwicklung geschieht immer Augenblick für Augenblick.
Eines Tages ging ein Brahmane zu Buddha und fragte ihn nach seiner Art, den Weg zu
unterweisen. Er sagte: “Ein Bogenschütze hat eine fortschreitende Art der Unterweisung.”
Meister Deshimaru erzählte uns immer wieder die Geschichte eines Samurai, der bei
einem großen Meister lernte, mit dem Säbel umzugehen. Dieser Meister hat den Schüler
ein Jahr lang gelehrt, entlang der Tatami in Kinhin zu laufen. Im zweiten Jahr brachte er
ihm bei, mit einer Axt Holz zu hacken. Er hat ihm nie beigebracht, mit dem Säbel
umzugehen. Eines Tages wurde der Samurai etwas ungeduldig und fragte: “Wann werdet
Ihr mir beibringen, mit dem Säbel umzugehen?” Da brachte der Meister ihn an den Rand
eines Abgrundes. Dort gab es einen Baumstamm, der als Brücke diente. Der Meister sagte
zu ihm: “Los, geh darüber!” Der Samurai-Lehrling traute sich nicht, über diese Leere zu
schreiten. Der Meister sagte zu ihm: “Ein ganzes Jahr lang hast du gelernt, an der Tatami
entlang zu gehen, Schritt für Schritt. Das ist genau das Gleiche”. Aber der Mann wagte es
nicht. Plötzlich kam ein Blinder mit seinem Stock. Er hat mit dem Stock den Baumstamm
wahrgenommen und dann den Abgrund überquert. Da verstand der Samurai und
überquerte auch den Abgrund. – Das ist eine fortschreitende Unterweisung.
Zurück zu Buddhas Geschichte. – Der Brahmane sagte: „Ich selbst bin Buchhalter. In der
Buchhaltung lernt man zuerst das Rechnen, danach lernt man kompliziertere Techniken,
Schritt für Schritt. Ist es auch möglich, in Ihrer Lehre eine schrittweise Unterweisung zu
bekommen?”
Da erklärte Buddha: “Ja, es gibt eine schrittweise Unterweisung. Wenn ein Novize kommt,
bringen wir ihm zuerst bei, seine Sinne zu kontrollieren und die Regeln und Gebote des
Klosters zu befolgen. Wir bringen ihm bei, sehr aufmerksam zu sein und keine Fehler zu
machen.
Wenn ihr z.B. mit euren Augen eine Form wahrgenommen habt, seid von dieser
Erscheinung nicht gestört. Sonst bedeutet das, daß euere visuelle Wahrnehmung, euer
Blick nicht beherrscht ist. Daraus können alle möglichen schlechten Konsequenzen
entstehen. Zum Beispiel kann Gier und Traurigkeit in eure Gedanken eindringen.”
Buddha unterwies nicht, die Augen zu schließen oder sich das Gesicht zu verdecken, er
unterwies nicht, die Wahrnehmungen abzuschneiden, sondern sich ihrer bewußt zu werden
und die Auswirkung zu kontrollieren. Dies gilt nicht nur für die Augen sondern für
sämtliche Sinnesorgane, für Nase, Zunge, Geschmack, den Körper und den Verstand. Er
hat unterwiesen, was passiert, wenn man in Kontakt mit den Objekten tritt: Sehe ich den
Gegenstand so, wie er ist, oder deformiere ich ihn durch meine Illusionen, indem ich meine
eigenen Gedanken, meine Begierden darauf projiziere? Welche Gefühle, Begierden und
Gedanken entstehen bei dieser Wahrnehmung? – Sich einfach auf diese Wahrnehmung zu
konzentrieren ist die Praxis des Weges. Man kann sagen, daß es eine Etappe in einem
schrittweisen Vorangehen ist, aber zugleich kann man sehen, dass sich auf jede
Wahrnehmung zu konzentrieren, eine Gelegenheit ist, hier und jetzt zu erwachen. Seine
eigenen Illusionen zu beobachten, wenn sie hochkommen, von einer Wahrnehmung nicht
automatisch in Bewegung gesetzt zu werden, sondern die Freiheit zu haben, zu reagieren
oder nicht zu reagieren.
Im Zazen lernt man sehr, vorbeiziehen zu lassen. Im täglichen Leben ist es nicht immer
gut, alles vorbeiziehen zu lassen. Wichtig ist, dass, wenn man etwas nicht vorbeiziehen
läßt, man nicht automatisch reagiert, sondern eine bewußte, freie Handlung geschieht.
Viele Praktizierende, viele Mönche erwachten bei der Wahrnehmung von Klängen. Sotoba
als er das Geräusch des Donners im Tal hörte oder Kyogen, als er hörte, wie ein
Kieselstein gegen einen Bambus stieß.
Als Buddha die Essenz seiner Unterweisung weitergeben wollte, hat er nur eine Blume in
die Hand genommen und sie zwischen den Fingern gedreht.
Die Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmung kann eine schrittweise Übung sein, eine
Übung der Selbstkontrolle. Sie kann auch Gelegenheit eines plötzlichen Erwachens in der
Wirklichkeit sein, so wie sie ist, so wie sie sich in jedem Phänomen darstellt. Jenseits der
Trennung zwischen sich und dem Gegenstand, den man betrachtet. Dieselbe Praxis kann
zugleich schrittweise und plötzlich sein. Am wichtigsten ist, mit welchem Geisteszustand
man praktiziert.

 

25. 2.2000, 16.30 Uhr
Während des Sesshins nimmt man auch die Mahlzeiten im Dojo ein. Vor dem Essen singt
man das Bussho-Kapila. Im Bussho-Kapila heißt es, dass man die Nahrung einnimmt, um
den Weg zu praktizieren, um diesen Körper zu erhalten, sodaß man weiterhin unter guten
Bedingungen Zazen machen kann.
Das ist ein Teil der Unterweisung Buddhas. Als er seine schrittweise Art zu unterweisen
erklärte, sagte er: „Wenn ein Schüler seine Sinnesorange beherrscht und kontrolliert, dann
bringt man ihm bei, wenn er ißt, bescheiden zu sein.” Nicht aus Lust zu essen oder um
stark zu sein, sondern einfach, um diesen Körper zu erhalten, damit er den Weg
praktizieren kann, den Weg, der alle neuen Leiden beenden kann.
Dann unterwies er die Wachsamkeit. Das ist genau das, was man während des Sesshins
praktiziert. “Wenn ihr geht oder wenn ihr unbeweglich seid, wenn ihr eure Gedanken
reinigt, selbst wenn ihr nachts aufwacht, praktiziert weiterhin die Konzentration.”
Desweiteren brachte Buddha seinen Schülern bei, aufmerksam und achtsam auf alle
Handlungen des täglichen Lebens zu bleiben: “Wenn man sich bewegt, wenn man seine
Schale trägt, wenn man das Kesa anzieht, wenn man ißt, wenn man trinkt, wenn man auf
die Toilette geht, bleibt man immer aufmerksam und bewusst, auch wenn man einschläft,
wenn man spricht, wenn man schweigt.”
Das heißt, dass alle Augenblicke Gelegenheit sind, den Weg zu praktizieren. Es gibt keine
Handlungen, die Praxis des Weges sind, und andere, die es nicht sind. Nicht das, was wir
tun, ist wichtig, sondern wie wir es tun. Oft denken die Leute, nur Zazen sei die Praxis des
Weges, Arbeit und Familienleben seien verlorene Zeit oder Hindernisse. Wenn man diese
Achtsamkeit, diese Aufmerksamkeit auf jeden Augenblick praktiziert, die Aufmerksamkeit
auf sich selbst und auf die anderen, ist jeder Tag und jeder Ort, der Tag und der Ort, um
den Weg zu praktizieren.
Dann unterwies Buddha direkt die Zazenpraxis. Er schlug vor, einen ruhigen Ort zu finden,
möglichst in der Einsamkeit, weit weg von der Aufregung. Die Beschreibung von Zazen ist
sehr einfach: Der Mönch setzt sich hin, kreuzt die Beine, den Körper richtet er auf und er
fixiert seine Aufmerksamkeit. Wichtig ist, dass er die Gier aufgibt, nicht nur die weltlichen
Gegenstände und den weltlichen Nutzen, sondern jede Art von Nutzen. Buddha rät auch,
alle Handlungen des Hasses, des Zurückweisens aufzugeben, d.h. selbstverständlich den
Haß auf die anderen, aber auch den Haß, den man manchmal sich selbst gegenüber
empfindet. Wenn man mit sich selber nicht zufrieden ist, sich schuldig fühlt. Alle Formen
des Hasses und der Ablehnung sind Hindernisse auf dem Weg.
Man sieht, daß Buddha das gleiche sagte wie Meister Sosan zu Beginn des Shinjinmei. Der
sagt in seinem ersten Gedicht: “Den Weg zu durchdringen ist nicht schwierig. Man muss
nur frei sein von Liebe und Haß, ( – Liebe im Sinn von Gier, Anhaftung – ), frei von
Zuneigung und Ablehnung.”
Buddha riet auch alle Faulheit aufzugeben, das Dahindämmern, Kontin, und alle
Aufgeregtheit, Sanran, und auch das Bedauern. Bedauern ist ein großes Hindernis für die
Praxis, ständig etwas zu bedauern, ständig an die Vergangenheit zu denken, sich zu sagen:
„Ich hätte das nicht sagen sollen und das nicht machen sollen“. Das schafft nur Aufregung.
Buddha rät des weiteren, den Zweifel aufzugeben. Es gibt den Zweifel, der den Weg, die
Praxis betrifft. Wenn man zweifelt, kann man nicht seine ganze Kraft in die Praxis legen.
Wenn man seine ganze Energie nicht voller Vertrauen in die Praxis legt, kann die Praxis
nicht stark werden. Dies nährt wiederum den Zweifel. So entsteht ein Teufelskreis.
All diese Hindernisse sollen vom Schüler aufgegeben werden, weil sie der Intuition
schaden. Wenn man Zazen praktiziert, ist es wichtig wahrzunehmen, wenn man von diesen
Zuständen eingenommen ist, von der Gier, dem Haß, der Aufregung, der Müdigkeit, von
Zweifeln oder von Bedauern, und diese Zustände rasch fallenzulassen, nicht in ihnen zu
stagnieren, sondern sie zu durchqueren, indem man auf die Haltung, auf die Atmung
konzentriert bleibt.
So zu praktizieren bedeutet, sich vollständig in der Zazenpraxis aufzugeben. Wenn man
seine ganze Aufmerksamkeit dem Zazen gibt, gibt man seinem kleinen Ego wenig
Wichtigkeit. Das nannte Dogen “Shin shin datsu raku“ praktizieren, Körper und Geist in
die Zazenpraxis aufgeben. Dieses Aufgeben ist kein Fortschreiten in Richtung des Weges,
sondern man wird augenblicklich Buddha ähnlich, d.h. von seinen Fesseln befreit.

Mondo
F: Ich habe eine Frage über die Furcht. Bei Meister Deshimaru habe ich etwas über die 5
Elemente gelesen und die Gefühle dazu, die Wut, die Freude, die Nachdenklichkeit, die
Angst und Furcht. Ich habe festgestellt, daß ich heute nicht mehr weiß was Furcht ist.
Als Kind habe ich mich gefürchtet. Das war nicht negativ, es hatte mit meinem
christlichen Glauben zu tun. Ich habe Gott gefürchtet. In der Bibel steht angeblich: “Die
Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit.” Gibt es im Buddhismus eine ähnliche
Furcht. Was ist diese Furcht?“
RR: Als ich Meister Deshimaru das erste Mal gesehen habe, 1972 in Sinal, war das erste,
was ich von ihm gehört habe: “Ihr müßt Furcht haben. Ihr müßt die kosmische
Ordnung fürchten.” Das ist genau das, was du sagst, d.h. zu fürchten, der kosmischen
Ordnung nicht zu folgen. Gottesfurcht ist das gleiche.
Es gibt einen Unterschied zwischen Angst und Furcht. Angst ist ein Hindernis auf
dem Weg. Furcht bringt einen dazu, vorsichtig zu sein, z.B. keinen Autounfall zu
verursachen. Oder ihr fürchtet, andere Leiden zu lassen und ihr paßt auf eure
Handlungen auf. Furcht zwingt zur Achtsamkeit, zur Aufmerksamkeit. Diese Art von
Furcht ermöglicht es, Gefahren zu vermeiden. Furcht ist nicht immer negativ.
Heutzutage ist es sehr wichtig, sich davor zu fürchten, den Planeten zu vergiften. Nur
wenn man sich wirklich einer Gefahr bewusst ist, wenn man sich von dieser Gefahr
betroffen fühlt, kann man sein Bewußtsein und sein Handeln ändern.
Aber wenn diese Furcht zu stark und zur Angst wird, wirkt sie wie ein Gift. Das
stimuliert nicht mehr, regt nicht mehr zum rechten Handeln an, man ist gelähmt. Man
hat dann nur noch das Angstgefühl im Kopf. Dieses Angstgefühl nimmt alle Energie.
Das ist schlecht. Ein bißchen Furcht ist gut.
Während des Krieges nahm die amerikanische Luftwaffe die Piloten, die sich
fürchteten, für schwierige Einsätze. Diejenigen, die zu mutig waren, waren gefährlich:
Sie haben sich abschießen lassen und kamen nicht von ihrer Mission zurück, weil
ihnen die Furcht fehlte. Diejenigen, die zu ängstlich waren, gingen erst gar nicht zur
Luftwaffe. Diejenigen, die ein angemessenes Maß an Furcht hatten, hatten am meisten
Erfolg. Die Furcht, die man braucht, um vorsichtig zu sein, ohne aber gelähmt zu
werden.
Gefühle haben eine Funktion. Manche Leute sagen, daß man auf dem Weg keine
Gefühle mehr hat. Damit bin ich nicht einverstanden. Man muß seine Gefühle
kontrollieren können, darf sich aber nicht von ihnen einengen lassen. Angst ist Furcht,
die eine so große Dimension einnimmt, daß man gar nicht mehr handeln kann.
F: Man spricht im Zen oft vom Aufgeben des Egos. Ich habe bei Meister Sosan gelesen,
im Kosmos herrsche vollkommene Egolosigkeit. Ich frage mich, wo die Grenze
zwischen dem ist, was uns einzigartig macht, und zwischen dem Ego. Wo fängt das Ego
an? Ist nicht das Bestreben nach Erleuchtung und Erweckung, nach Weisheit eine
egoistische Form der Verwirklichung?
RR: Das ist eine sehr interessante Frage, eine sehr weite Frage. Im Grunde gibt es kein
aufzugebendes Ego. Eigentlich ist es lächerlich zu sagen “Das Ego aufgeben”, weil es
in Wirklichkeit kein Ego gibt. Wenn du das verstehst, kannst du das Ego auf
natürliche Weise aufgeben.
Jeder von uns hat seine Persönlichkeit, seine Vorlieben, seine Charakteristika. Man
muss nicht seine Persönlichkeit aufgeben. – Jeder hat seine Eigenschaften. Meister
Deshimaru hatte auch sehr starke Eigenschaften. Was man aufgeben sollte, ist die
Täuschung, das, was in Wirklichkeit nur karmisch bedingte geistige Erzeugnisse sind,
würde ein Ego bilden.
Natürlich hat man einen Körper und Wahrnehmungen, Gefühle, Gedächtnis, seine
Geschichte, Wünsche, Willen, Bewußtsein. Das existiert und bildet das, was man die
Persönlichkeit nennt. Von da aus gesehen ist jeder wegen seines vergangenen Karmas
verschieden. Aber all das bildet kein Ego, ist unbeständig, hängt völlig von der
Geschichte und der Umgebung ab. Man kann nicht isoliert sein: “Das bin ich.” Es ist
nur ein Netzwerk von wechselseitiger Abhängigkeit. Wenn man das versteht, kann
man weniger egoistisch sein. Man kann die Illusion aufgeben, ein Ego zu haben. Das
bedeutet es, zu erwachen, d.h. die Realität, die wahre Natur unseres Lebens zu sehen
und auf natürliche Weise weniger gierig, weniger besitzergreifend zu werden.
Du fragst jetzt, ob es egoistisch ist, erwachen zu wollen. Vielleicht. Das Satori
erlangen zu wollen, kann egoistisch sein: wenn man sich das Satori als große
Glückseligkeit vorstellt und man diese Glückseligkeit für sich haben will. Es gibt viele
Leute, die diese Illusion haben. Sie haben jede Menge Freude in ihrem Leben und
glauben, daß immer noch etwas fehlt. Für sie ist das Satori die Kirsche auf dem
Sahnehäubchen. Das hat nichts mit wahrem Erwachen zu tun. Wahres Erwachen ist,
sich selbst zu verstehen, nichts Außergewöhnliches, nichts Glückseliges. Es ist seine
Illusionen fallen lassen, um auf eine richtige Weise zu leben. Mehr in der Harmonie
mit der Wirklichkeit, mit unserer wahren Natur.
Das kann nicht egoistisch sein. Wenn eine Person auf diese Art und Weise erwacht,
werden sich auch die Leute wohlfühlen, die mit dieser Person Kontakt haben.
Erwachen kann man nicht nur für sich selbst. Spezifisch am Erwachen ist, dass man
sich mit den anderen solidarisch fühlt. Es bringt uns auf natürliche Weise zum
Mitgefühl, dazu, den anderen helfen zu wollen, sich von ihren eigenen Leiden zu
befreien.
Erwachen nur für einen selbst existiert nicht. Wenn es nur für einen selbst ist, ist es
nicht das wahre Erwachen, denn dann versteht man sich nicht selbst, versteht nicht,
daß das Selbst nur in Wechselbeziehungen mit den anderen besteht. Derjenige, der
glaubt, das Erwachen für sich verwirklicht zu haben, hat überhaupt nichts
verwirklicht. Das ist nur eine Illusion. Es kann kein egoistisches Erwachen geben.
F: Ich habe eine Frage zur Praxis von Zen. Wieviel Aktivität und wieviel Passivität
brauchen wir?
RR: Fifty-fifty
F: Einerseits heißt es, man solle die Gedanken kommen und gehen lassen, andererseits
verlangt man Konzentration und Aufmerksamkeit.
RR: Wenn man nicht aufmerksam ist, läßt man sich von den Gedanken einnehmen.
Aufmerksam sein bedeutet nicht, seine Gedanken zu ergreifen, sondern einfach sie zu
sehen.
F: Aufmerksamkeit bedeutet also nicht, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt
zu fokusieren, sondern nur allgemein wahrnehmen.
RR: Es kann helfen, wenn man seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt richtet.
Aber es ist dann kein Gedanke, den man empfängt, sondern ein Empfinden, z. B. das
Spüren des Kontakts der Daumen oder das Empfinden der Luft, wenn man atmet.
Nyojo sprach von der Wölbung der linken Hand. Meister Deshimaru sprach vor allem
von der Berührung der Daumen. Seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu richten,
hilft, völlig gegenwärtig zu sein. Es vermeidet, daß sich der Geist zerstreut und allen
möglichen Gedanken folgt. Es ist eine Unterstützung, aufmerksam zu bleiben auf all
das, was passiert, ohne sich einfangen zu lassen.
Dies ist die hauptsächliche Funktion der Konzentration auf Körper und Atmung. Es ist
kein Anhaften an den Körper oder die Atmung, sondern es geht nur darum, auf den
Körper, auf die Haltung aufmerksam zu sein. Das ermöglicht, den Geist zu befreien,
einen Geist zu haben, der wie ein Spiegel funktioniert.
Der Spiegel gibt genau das wieeder, was ist, aber er hält nichts fest. Wenn der Spiegel
die Bilder festhalten würde, würde er nicht mehr wie ein Spiegel funktionieren. Ein
Spiegel ist zugleich sehr aufmerksam, weil er alles widerspiegelt, was da ist, ohne zu
wählen “Der da ist häßlich, den werde ich nicht widerspiegeln. Die da hat ein
hübsches Gesicht, die will ich festhalten”. Ein Spiegel spiegelt alles wider und läßt es
vorbeiziehen. Das Bewußtsein in Zazen funktioniert, wenn man wirklich aufmerksam
ist, wie ein Spiegel. Die Konzentration auf einen bestimmten Punkt hilft dabei. Das
kannst du erfahren, das ist nichts, was man intellektuell verstehen kann . Aber wenn
du es ausprobierst, wirst du sehen, dass es funktioniert.
F: Ich habe eine weitere Frage. Sie sprachen gerade über das Satori, im Rinzai-Zen ist das
eine Sache, über die viel gesprochen wird, im Soto-Zen nicht.
RR: Doch darüber spricht man auch im Soto. Aber im Rinzai ist das der Gegenstand der
Praxis und wird schnell zur Illusion. Z.B. gibt es in den „3 Pfeilern des Zen“ einen
Wettlauf zum Satori. In Frankreich gibt es ein Kinderspiel, bei dem man eine Jagd
organisiert, um ein Tier zu fangen, das nicht existiert. Im Rinzai-Zen sagt man oft, um
die Schüler zu stimulieren, z.B. nachmittags, wenn sie müde sind: “Wir haben nur
noch zwei Tage Sesshin und ihr habt immer noch nicht das Satori erlangt! Jetzt
konzentriert euch!” Man benutzt die Gier des Geistes, der etwas erreichen möchte, um
zu stimulieren.
Das wahre Satori kann aber nur verwirklicht werden, wenn man diesen Geist aufgibt.
Satori bedeutet “verstehen”, tief zu verstehen, daß es nicht zu ergreifen gibt. In diesem
Moment kann man frei praktizieren. Es ist der wahre Sinn der Praxis, die Wesen von
ihrer Gier zu befreien, die sie zum Leiden bringt.

 

25.2.2000, 20.30 Uhr
Von Anfang des Sesshins an habe ich von der Unterweisung Buddhas bezüglich der
schrittweisen Praxis gesprochen, in der er einem Brahmanen, der ihn darüber befragt hatte,
seine Pädagogik erklärte.
In der Regel unterweist man seit der Geschichte mit der Nachfolge von Konin im Zen das
augenblickliche Erwachen. Damals wurde die Trennung geschaffen zwischen der Schule
des Südens von Meister Eno, der die augenblickliche Praxis unterwies, die plötzliche
Praxis, und der Schule des Nordens von Jinshu, der die schrittweise Praxis unterwies.
Ich glaube, dieser Gegensatz ist ein Irrtum. Er ist die Auswirkung der Ambitionen der
Schüler von Eno, der die Unterweisung von Jinshu kritisiert hatte. Buddhas Unterweisung
ist jenseits des Gegensatzes zwischen schrittweise und plötzlich. Denn beide sind
kontemplär. Es ist nicht nötig, sie einander gegenüber zu stellen.
Meister Dogen z.B. kritisierte oft das Plattform-Sutra und betrachtete es als falsch, als von
Schülern geschaffen und nicht die wahre Unterweisung von Eno darstellend. Über das
berühmte Gedicht über den Spiegel sagte Dogen: „Putzt den Spiegel, säubert ihn.” Das ist
die grundlegende Praxis. Den Spiegel zu säubern ist in sich selbst Praxis des Erwachens.
In einem Sutra erklärt Buddha, daß er zuerst die Regeln und die Gebote unterweist, dann
die Kontrolle der Sinnesorgane, danach die Achtsamkeit und die Aufmerksamkeit im
täglichen Leben und schließlich die Zazenpraxis.
Was die Zazenpraxis angeht, so teilt er sie in vier Etappen, die die vier Dhyana genannt
werden. Bei der 1. Etappe gibt es noch eine Art von bewußtem Nachdenken, aber man hat
bereits Gier und Haß aufgegeben, das Auswählen, das Ablehnen, die Zweifel, die geistige
Aufregung, die Schläfrigkeit. In diesem Zustand der Konzentration empfinden die Schüler
große Freude und großes Glück.
Dann geben die Schüler auch alles bewußte Denken auf. So wird der Geist geeint, das
dualistische Denken aufgegeben, das Trennungen schafftt. Man hört auf, ständig pro und
contra einander entgegenzusetzen, das Wahre und das Falsche. So kann man einen großen,
inneren Frieden verwirklichen. Die Schüler, die auf diese Weise praktizieren, empfinden
ein großes Glück.
Aber dann wird sogar dieses große Glück aufgegeben. Der Schüler verweilt in völliger
Gleichmut. Er klammert sich weder an Glück noch an Unglück. Manche empfinden z.B.
beim Zazen eine große Freude und haften daran. Sie denken, es wäre Satori. Dies wird zu
einem Hindernis in ihrer Praxis. Denn der Geist verhaftet sich und verweilt in dieser
Anhaftung.
Schließlich gibt der Schüler jegliche Traurigkeit und jegliches Anhaften an Freude auf. Er
macht weiter Zazen, indem er einfach nur aufmerksam bleibt, völlig aufmerksam auf das,
was ist, in einem völlig ausgeglichenen Geisteszustand.
Diese Pädagogik Buddhas, um Zazen zu unterweisen, war der indischen Mentalität
angepaßt, die gerne alle Zustände analysiert. In der Zen-Schule spricht man nicht so sehr
von diesen verschiedenen Stufen, denn diese verschiedenen Stufen werden in der
Zazenpraxis ständig durchquert, in einer Praxis in der wir auf keinem Zustand verweilen,
in der wir weder am Nachdenken haften noch an Gedanken, weder am Glück, noch an
Freude und an keinen anderen Gefühlen, aber auch ohne vor ihnen zu fliehen. Sie einfach
durchqueren, über sie hinausgehen, ohne auf etwas zu verweilen. Dieser Geist, der auf
nichts verweilt, ist der wahre, erweckte Geist, der Geist, der frei von allen geistigen
Fixierungen ist.
Das nannte Hyakujo das augenblickliche Erwachen.
Als Shakyamuni Buddha sagte, daß er auf diese Weise seine Schüler unterweise, bezog er
sich auf die, die noch nicht das Erwachen erreicht hatten, die noch nicht von ihren
Bindungen befreit waren. Die, die bereits befreit waren, lehrte er genau dasselbe. Denn für
sie wird es zur Praxis des Erwachens. Es ist kein Mittel, um das Erwachen zu erreichen, es
ist die Verwirklichung selbst.
Laßt euren Kopf nicht nach vorne fallen, zieht gut das Kinn zurück.

 

26.2.2000, 7 Uhr
Konzentriert euch zu Beginn des Zazen gut auf die Haltung und haltet eure Energie nicht
zurück. Nehmt in jedem Augenblick die bestmögliche Haltung ein. Streckt gut die
Nierengegend, streckt gut die Wirbelsäule, macht keinen Buckel, streckt den Nacken und
zieht das Kinn zurück. Drückt den Kopf gegen den Himmel, laßt die Schultern locker,
entspannt gut den Bauch. Konzentriert euch auf jede Ausatmung.
Verliert nicht eure Zeit, indem ihr euren Gedanken folgt. Betrachtet sie einen Augenblick,
laßt sie dann vorüberziehen und kehrt zur Konzentration auf die Haltung und die
Ausatmung zurück. Laßt euren Geist nicht in irgendeinem Zustand verweilen.
Nachdem er dem Brahmanen Ganaka erklärt hatte, wie er seine Schüler unterweist, fragte
dieser Buddha: „Verwirklichen alle eure Schüler die letztendliche Befreiung oder gibt es
einige, die sie nicht erreichen.“ Buddha antwortete: „Einige der Schüler, die meine
Unterweisung erhalten haben, verwirklichen diese Befreiung, und andere, die meine
Unterweisung erhalten haben, verwirkliche sie nicht“. Der Brahmane fragte: „Wieso ist das
so?” Buddha antwortete ihm: „Ist es ihnen möglich den Weg zu zeigen, der nach Ragdir,
der nach Aachen führt?“ „Ja, ja.” „Was meinen Sie: Wenn Sie jemand nach dem Weg nach
Ragdir fragt und Sie erklären ihm den Weg – geradeaus, im nächsten Dorf gehen Sie nach
links, dann nehmen Sie die Autobahn nach links und geradeaus kommen Sie direkt nach
Aachen – und diese Person, der sie den Weg erklärt haben, Ihren Erklärungen nicht folgt
und nach rechts geht statt nach links, glauben Sie dann, daß sie zum Ziel, nach Aachen
kommt?” “Natürlich nicht.” “Ist das dann Ihr Fehler?“ Der Brahmane antwortete:
“Sicherlich nicht. – Ich bin nur jemand, der den Weg zeigt.” Buddha sagte: „Ich auch.”
In der Unterweisung des Weges sieht man die Rolle des Meisters als sehr wichtig an. Aber
diese Rolle hat Grenzen. Sie beschränkt sich darauf, den Weg zu zeigen, zu zeigen, wie
man praktiziert, die Sackgassen zu zeigen, die man vermeiden sollte. Dann ist es an jedem
einzelnen, den Weg zu gehen. Niemand kann jemand anderem das Erwachen geben.
Niemand kann es an Stelle von jemand anderem realisieren.

 

26.2.2000, 11 Uhr
In der Zen-Unterweisung spricht man oft vom Aufgeben des Ego. Gestern nachmittag gab
es zu diesem Thema auch eine Frage. Das war ebenfalls Thema einer weiteren Predigt, die
Buddha vor seinen Schülern hielt.
Er sagte ihnen: “Der Körper, die Form – Shiki im Hannya Shingyo – ist nicht das Ich, das
Selbst.” Wäre der Körper das Selbst, wäre er nicht Krankheiten unterworfen und man
könnte seinen Körper vollständig kontrollieren. Man könnte willentlich erreichen, daß er
so oder so wäre. Aber weil der Körper nicht das Selbst ist und Krankheiten unterworfen ist,
haben wir keine Möglichkeit zu wollen, daß er so oder so wird. Selbst wenn man sich um
seinen Körper kümmern kann, ihn pflegen kann, ist der Körper jenseits unserer Kontrolle.
Selbst der beste Arzt kann Krankheit und Tod nicht vermeiden. Das ist völlig jenseits
unserer Kontrolle.
Im Zazen konzentriert man sich auf seinen Körper. So kann man realisieren, daß dieser
Körper uns nicht gehört. Man kann ihn nicht völlig kontrollieren. So kann man das
Anhaften an seinen eigenen Körper aufgeben. Das bedeutet nicht, ihn zu verachten. Man
kümmert sich um ihn als das Mittel zur Praxis des Weges, akzeptiert aber, daß er jenseits
unserer Kontrolle ist. Dieses Loslassen ist sehr wichtig: Dieser Körper gehört mir letztlich
nicht. Dieser Körper ist nicht mein Ego. Er hat keine Substanz, ist kein Selbst, ist nicht
beständig.
Das Gleiche gilt für die Empfindungen. Buddha sagte: “Wenn die Empfindungen das
Selbst wären, wären sie nicht den Krankheiten unterworfen.” Man hätte die Möglichkeit,
seine Empfindungen zu kontrollieren.
Wenn man z.B. im Zazen Knieschmerzen oder Rückenschmerzen hat, wenn man müde ist,
sind diese Empfindungen jenseits unserer Kontrolle. Man kann nicht entscheiden, einen
Schmerz verschwinden zu lassen. Selbst wenn man keine Schmerzen haben möchte, sind
sie da. Wir können nur unsere Haltung dem Schmerz gegenüber ändern, indem wir
dedramatisieren und die Schmerzen nicht verstärken, indem wir uns im Geist an sie
klammern. Empfindungen bilden also kein Ego, kein Selbst.
Auch die Wahrnehmungen sind nicht das Selbst. Buddha benutzte die gleiche
Argumentation: “Wenn die Wahrnehmungen das Selbst wären, wären sie nicht der
Krankheit unterworfen.”
Mit dem Alter wird der Blick schwächer, manche Menschen werden taub. Unsere
Wahrnehmungen sind nicht sehr verläßlich. Manchmal sieht man eine Fata Morgana und
hält sie für die Wirklichkeit. Wenn man verliebt ist, hält man den Partner für den schönsten
Menschen der Welt. Aber wenn die Empfindungen sich ändern, ändert sich auch die
Wahrnehmung. Deshalb konstituiert auch die Wahrnehmung kein Ego.
Dann gibt es noch die Gewohnheiten, das 4. Skandha, die Motivationen, das Wollen, das
Begehren. Oft hält man sie für ein Ego. Man verwechselt das Ego mit dem Willen: Ich bin
jemand, der dies oder jenes möchte.
Wenn wir unser Leben betrachten, sehen wir, daß auch unsere Motivationen sich
entwickeln: Manchmal ist unsere Arbeit das wichtigste in unserem Leben, manchmal der
Partner, manchmal das Zen. Auch unsere Motivation können wir nicht immer
kontrollierten. Darum bilden diese Motivationen ebenfalls kein Ego.
Schließlich.gibt es das Bewußtsein. Das Bewußtsein von all dem, das Bewusstsein unseres
Körpers, unserer Empfindungen, unserer Wahrnehmungen, unserer Wünsche. Während
Zazen kann man sich all dessen bewußt werden, was in uns passiert.
Auch dieses Bewußtsein ändert sich fortwährend. Bewußtsein existiert nur in Bezug auf
irgend etwas. Sich selbst kennenzulernen, ist dies tiefgehend beobachten. So kann man
bemerken, daß das, was man als sein Ego betrachtet, in Wirklichkeit unfaßbar ist. Dann
gibt es kein Ego, das man aufgeben müsste, sondern nur eine Täuschung, die man
vorbeiziehen lassen kann. Daher ist es nicht nötig, mit sich selbst zu kämpfen. Nur tief
unsere Existenz betrachten und realisieren, daß sie nicht nur die unsrige ist.
Laßt euren Kopf nicht nach vorne fallen. Wenn ihr am Ende von Zazen etwas
Schwierigkeiten habt, werdet ihr diese Schwierigkeiten nicht überwinden, wenn ihr den
Kopf hängen laßt und schlaff werdet. Legt im Gegenteil alle eure Energie in eure Haltung,
nehmt eine starke Haltung ein. Die Energie, die ihr in eure Haltung gebt, kommt zu euch
zurück. Im Zazen ist geben gleich erhalten. Das ist ein Gesetz der kosmischen Ordnung.

 

26.2.2000, 16.30 Uhr
Heute morgen habe ich von der Unterweisung Buddhas an seine fünf ersten Schüler
gesprochen. Das war Nähe von Benares. Kurz nachdem er die 4 edlen Wahrheiten gelehrt
hatte. Es war der Beginn der Sangha und der Beginn der Unterweisung.
Für uns ist es sehr interessant, zu diesem Ursprung zurückzukehren, zu diesem
Ausgangspunkt der Weitergabe des Dharma. Man spricht oft darüber, das Ego aufzugeben,
das Erwachen, die Befreiung zu verwirklichen. Das sind immer etwas vage Ausdrücke,
man versteht nicht so richtig, was sie bedeuten.
Wenn man die ursprüngliche Unterweisung Buddhas studiert, wird es sehr klar. Zur
damaligen Zeit erwachten die Leute sehr schnell. Z.B. erwachten seine ersten fünf Schüler
augenblicklich, als sie die Predigt über das Nicht-Selbst hörten.
Ich werde euch jetzt weiter diese Unterweisung vorstellen, und wir werden sehen, was
dann passieren wird.
Heute morgen sagte H-J, man würde zuviel unterweisen und stelle zu wenig Fragen.
Buddha stellte seinen Schülern gerne Fragen. Er fragte sie: „Was denkt ihr, Mönche, ist der
Körper und alles was eine Form hat beständig oder unbeständig?“ “Sie sind unbeständig”,
antwortete ein Schüler. “Wenn etwas unbeständig ist, zählt es dann zum Glück oder zum
Unglück?” fragte Buddha. “Zum Unglück”, antwortete ein Schüler. “Das was unbeständig,
was Unglück, was Veränderung unterworfen ist, kann man das als sein Selbst, sein Ego
betrachten und sagen: ‘Das bin ich?'” “Natürlich nicht”, antwortete ein Schüler.
Buddha stellte Fragen und seine Schüler antworten. Wenn die Frage gut gestellt ist, ist die
Antwort offensichtlich. Buddha fragte weiter: “Ist die Empfindung beständig?” – “Nein.”
Und er stellte die gleichen Fragen, zur Wahrnehmung, zu den Neigungen, zum
Bewußtsein.
So konnte jeder realisieren, daß man von allem, was in den Bereich des Körpers gehört,
und von allem, was die Empfindungen betrifft, die Wahrnehmungen, die Neigungen, das
Bewußtsein, sei es in der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart, wenn man es
mit Weisheit betrachtet, nur sagen kann: “Das ist nicht ich, ich bin nicht das.”
Wenn man die Dinge so sieht, kann man nicht am Körper, an Empfindungen, an
Wahrnehmungen haften und auch nicht an Neigungen und am Bewußtsein. Weil man
daran nicht haftet, ist man ohne Gier. Ohne Gier wird man völlig frei. Das realisierten
diese fünf Mönche. Es war nicht mehr notwendig, in den sechs Welten des Leidens zu
transmigrieren. Die reine Praxis wird realisiert. Was vollendet werden soll, ist vollendet.
Es gibt nichts mehr zu tun. Es gibt nichts mehr zu realisieren.
Aufgrund des Mondos mit Buddha waren die Mönche sehr glücklich, denn ihre Gedanken
waren vollständig von Bonnos und Verschmutzungen gereinigt. Das Sutra endet, daß es ab
diesem Zeitpunkt sechs Arhats in der Welt gab.
Man kann sagen, daß dieses Mondo der Prototyp der Zen-Unterweisung ist. Alle großen
Mondos der Patriarchen hatten kein anderes Ziel, als dies zu realisieren:
Bodhidharma fragte Eka: “Zeig mir deinen Geist!” Eka antwortete. “Mein Geist ist
unfaßbar.” “Wenn du das bereits realisiert hast, bist du von deinen Leiden befreit,”
antwortete Bodhidharma.
“Was kommt so?” fragte Eno Nangaku. Viele Jahre später antwortete Nangaku: “Das ist
nicht etwas.”
Buddha und die Patriarchen, die Weitergabe des Zen wollen uns nur das realisieren, das
erfahren lassen und so wirklich frei von seinen Täuschungen zu werden. Die Möglichkeit
erscheint, mit der Wirklichkeit in Harmonie zu leben. Manchmal nennt man das ‘die
Buddha-Natur verwirklichen’, Buddha ähnlich werden, die gleiche Erfahrung realisieren
wie seine ersten fünf Schüler.

Mondo
F: Ich bin sehr froh über das Kusen, weil es mir erlaubt, dem Punkt näher zu kommen, an
dem ich nicht mit Buddha übereinstimme, wo ich mich frage, ob er nicht ein bißchen
sehr indisch ist.
RR: Oh ja, er ist sehr indisch.
F: Es ist völlig klar, daß Veränderungen Schmerzen mit sich bringen können. Ich empfinde
das nicht als Unglück. Es ist der Preis des Lebens, Leben ist Veränderung. Ich frage
mich, ob die Unterweisung, wie du sie jetzt dargelegt hast, deiner Auffassung entspricht.
RR: Ich stelle mir diese Frage auch. Ich denke, im Grunde hat Buddha recht. Aber es ist
schwer, es völlig zu akzeptieren. Deswegen erwachen die Leute heutzutage nicht
mehr. Alle denken ein bisschen wie Du, ich auch. Wir sagen uns: ‘Im Grunde hat er
recht,’ aber wir können uns trotzdem mit der Unbeständigkeit arrangieren. Man kann
sich mit dem Leiden, mit dem Tod arrangieren. Wir haben einen Modus, Freude und
Gefallen zu finden, selbst wenn sie unbeständig sind. Wir versuchen alle, uns zu
arrangieren und Kompromisse zu finden. Wir versuchen schlau zu sein, um uns mit
den Gründen des Leidens zu arrangieren: Man bemüht sich, seine Gesundheit zu
schützen, man versucht zu lieben, ohne zu sehr zu leiden, obwohl dies sehr schwierig
ist. Das ist genau die Haltung des Ego. Man meint, es wird schlau genug sein, da raus
zu kommen.
F: Ich zweifle, ob das die Haltung des Ego ist. Ist es nicht die kosmische Ordnung, die
genau Veränderung ist? Ist nicht genau das nicht die Auffassung des Ego, sondern das
Akzeptieren der kosmischen Ordnung ?
RR: Natürlich. Der Sinn der Unterweisung Buddhas ist, genau diese Unbeständigkeit zu
akzeptieren. Wenn man die Unbeständigkeit wirklich akzeptiert, kann man nicht mehr
an einem Begriff des Egos haften.
F: Damit bin ich vollkommen einverstanden. Die Frage ist für mich diese negative
Sichtweise des Lebens: Veränderung ist Unglück …
RR: Ich glaube nicht, daß das negativ ist. Man neigt dazu, es negativ zu sehen und zu
sagen: ‘Buddha ist ein Pessimist’. Er ist nur Realist.
F: Aber das war doch die Unterweisung, die er den Mönchen gegeben hat.
RR: Ja. Aber als die Mönche diese Unterweisung verstanden, wurden sie sehr glücklich.
Die Leute, die seine Schüler sahen, waren sehr erstaunt darüber zu sehen, wie
glücklich diese waren. Es macht glücklich, loszulassen. Aber wenn wir weiter unsere
Anhaftungen unterhalten, macht dies das Leben kompliziert.
F: Es bleiben Zweifel.
RR: Alle hier werden weiterhin Zweifel haben. Ich auch ein bisschen. Es ist eine
Unterweisung, die schwierig zu schlucken ist. Das finde ich auch. Das ist einer der
Gründe, weshalb ich von diesen eigentlich bekannten Sutren selten gesprochen habe.
Denn ich weiß genau, daß ihr so reagieren werdet, weil ich auch dazu neige, so zu
reagieren. Dennoch denke ich, daß man diese Unterweisung nicht vermeiden sollte.
Ich glaube, es ist die tiefste Wahrheit. An dem Tag, an dem wir das wirklich
akzeptieren können, werden wir Buddha ähnlich werden. Im Moment versuchen wir,
darum herumzukommen.
Ich glaube zu Zeiten Buddhas verstanden die Leute sehr schnell, deshalb erwachten
sie sehr rasch.
F: Ich habe noch eine Frage zu dem spontanen Erwachen der alten Inder: Kann es
vielleicht sein, daß in den Sutren unterschieden wird zwischen dem Verstehen mit dem
Kopf und dem anschließenden Praktizieren des Verstandenen. Ich denke, da wird es erst
interessant.
Die Sutren hören nach einer Unterweisung auf: Fünf Leute sind erwacht. Danach könnte
es weitergehen und vier Wochen später ist alles beim alten.
RR: Was meinst du damit, dass vier Wochen später alles beim alten ist?
F: Die fünf haben etwas verstanden, sind glücklich, verlassen den Ort, treffen ihre alten
Freunde wieder, schauen, ob sie was zu essen finden und plötzlich vergessen sie es
wieder.
RR: Nicht Buddhas Schüler. Nach dem, was man in der Sangha-Geschichte lesen kann,
nicht. Es gab keinen Rückfall in den alten Zustand. Die Schüler, die wirklich
verstanden hatten, hatten verstanden. Es war nicht einfach eine kleine Intuition. Es
änderte ihr Leben vollständig.
Aber im Unterschied zu uns waren das Leute, die im Grunde sehr unter ihrer Existenz
gelitten haben. Sie waren bereit, für den Weg alles aufzugeben. Schon der Geist, mit
dem sie praktizierten, war anders. Sie waren von Anfang an überzeugt, daß es keinen
Kompromiß gab. Aus diesem Grund haben sie ihr Haus, ihre Familie, ihre Arbeit usw.
verlassen. Nur der Weg der Befreiung zählte. Sie brauchten nur ein kleines Etwas, um
über ihre Zweifel hinauszugehen. Es waren Leute, die bereits überzeugt waren, daß es
kein Heil gab in den Kompromissen dieser Welt.
Ich glaube, wir müssen uns wirklich die Frage stellen, mit welchem Geist wir
praktizieren. Bis zu welchem Punkt sind wir entschieden, den Weg zu verwirklichen?
Bis zu welchem Punkt ist der Weg eine Art Luxus, der zu anderen Befriedigungen des
Alltags hinzugefügt wird? Für diese Mönche war es wirklich eine Frage von Leben
und Tod, sie waren in dieser Praxis vollkommen engagiert.
Wenn man Dogen und seine Schülern betrachtet, so hatte er das gleiche Problem. Zur
Zeit Dogens sagte man: “Früher, zu Zeiten Buddhas, haben die Schüler das Erwachen
schnell realisiert. Heute ist das nicht mehr möglich.” Zur Zeit Dogens glaubte man,
besonders in Japan, man sei in der Mappo-Epoche, einer dunklen Zeit, in der es zwar
noch die Unterweisung gebe, jedoch keine Realisation mehr. Dogen war damit nicht
einverstanden. Er sagte: “Das hängt nur von eurem Engagement auf dem Weg ab.”
Deswegen wurde er auch nach und nach in seiner Unterweisung strenger und
rigoroser, in der Erziehung des Shukke. Shuke war für ihn sehr wichtig, für ihn hieß
das, alles für den Weg aufgeben. Das war der Geist. den die Schüler Buddha
Shakyamunis hatten.
F:Wenn ich die Unterweisung Buddhas richtig verstehe, die du uns gerade gegeben hast,
dann müßte ich die kleine Stimme völlig aufgeben, die zu mir spricht und die ich Hubert
nenne.
RR: Das hängt davon ab, was die kleine Stimme dir sagt. Buddha spricht in den Sutren
nicht davon, ein Ego aufzugeben. Für ihn ist das Ego eine Illusion, also kann man es
auch nicht aufgeben.
Das heißt aber nicht, daß es keinen Hubert gibt. Natürlich gibt es Hubert. Buddha
verneint nicht, daß jeder seine Eigenschaften, seinen Körper, Vergangenheit,
Erinnerungen, einen Namen usw hat. Es geht nicht darum zu sagen: “Ich existiere
nicht.” Man existiert. Aber wie existiert man? Welche Natur hat diese Existenz? Das
ist der wichtige Punkt.
Buddha zeigt, daß unsere Existenz ohne Substanz ist, die man als Selbst, als Atman
bezeichnen könnte. Damals glaubten die Leute an ein Atman, ein Selbst, wie im
Christentum der Glaube an eine unsterbliche Seele. Buddha sagte: “Wenn ihr an
dieses Selbst glaubt, so ist das die Wurzel all eurer Anhaftungen, dann werdet ihr euch
nicht befreien können.” Und er versuchte, das Illusionäre dieses Selbst zu zeigen. Er
forderte seine Schüler auf, diese Illusionen aufzugeben. Für Buddha gab es nichts zum
Abschneiden, sondern es galt nur, eine Illusion zu sehen.
F: Bodhidharma antwortete auf die Frage „Wer bist du?” „Ich weiß es nicht“.
RR: Aber er sagte nicht: “Ich heiße nicht Bodhidharma.” Das mußt du verstehen. Er
antwortete auf der Ebene der absoluten Realität. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.
Nagarjuna hat das sehr hervorgehoben. Wenn man das nicht versteht, dann versteht
man diese Mondos und diese Unterweisung nicht.
Als Bodhidharma, nachdem ihn der Kaiser gefragt hatte “Wer bist du?”, “Ich weiß es
nicht”, geantwortet hat, dann nicht, weil er verrückt geworden war. Er weiß sehr gut,
daß er Bodhidharma heißt, daß er Inder ist, daß er nach China gekommen ist, um
Buddhismus zu lehren. Er weiß das sehr gut. Er sagt: “Ich weiß es nicht”, weil im
Grunde die Essenz seines Egos nicht erfaßbar ist. “Ich kann es nicht ergreifen, nicht
definieren. Ich kann nicht sagen: “Das bin ich. Ich bin das.” Das lehrte Buddha seine
Schüler: “Ihr könnt nicht sagen: ‘Ich bin das.'”
F: Ich habe aber den Eindruck, in meinem Kopf ist Hubert, der spricht und ich sage: “Das
bin ich.”
RR: Vielleicht. Aber glaubst du, daß du seit immer existierst? Wenn du das glaubst, dann
irrst du dich. Du kannst sagen, seit deiner Geburt.
F: Genau. Ich möchte wissen, ob ich das aufgeben soll oder nicht.
RR: Was Du aufgeben mußt, sind die ganzen geistigen Konstruktionen um diesen Hubert
herum. Das heiß nicht, daß Hubert nicht existiert.
F: Es geht um das Kusen von heute morgen über den Meister, der den Weg zeigt. Der
Meister erklärt, wie man nach Aachen kommt. Der Schüler macht sich seine eigenen
Gedanken und hat sich in den Wäldern der Eifel verlaufen. Ist es für ihn möglich,
Aachen zu finden?
RR: Selbstverständlich. Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung. Manchmal macht man
riesige Umwege, aber das heißt nicht, daß man sich endgütig verlaufen hat.
Der Brahmane war sehr neugierig auf Buddhas Unterweisung. Er stand in der
Tradtion einer spirituellen Lehre. Buddha war ein neuer spiritueller Meister. Viele
Brahmanen waren nicht eifersüchtig, sahen in ihm keine Konkurrenz. Sie wollten
sehen, was er unterwies, denn er hatte großen Erfolg. Sie fragten: “Was lehrt Ihr eure
Schüler?” Und Buddha erklärte seine Methode, so wie ich es gestern erklärt habe, die
schrittweise Methode. Der Brahmane fragte: “Die Leute, die eurer Unterweisung
folgen, müssen doch alle das Erwachen realisieren?” Wahrscheinlich hatte er die
gleichen Probleme, er hatte auch Schüler und wusste, dass einige Probleme hatten. Er
wollte wissen, ob alle Schüler Buddhas das Erwachen realisierten. Buddha sagte:
“Nein, manche realisieren es nicht.”
Das heißt nicht, daß die Unterweisung schlecht ist. Man kann unterweisen, wie man
will, es gibt immer Leute, die der Unterweisung nicht folgen. Solange sie nicht folgen,
können sie nicht erwachen. Das heißt nicht, daß sie nie erwachen. In irgendeinem
Moment erwachen einige, andere erwachen nicht. Manche gehen weg und verlassen
die Sangha, manche oder stellen sich gegen die Lehre.
F: Man kann Fehler machen und dann verstehen, dass man Fehler gemacht hat.
RR: Im allgemeinen entwickelt man sich auf dem Weg aus Fehlern heraus. Wenn man sich
ihrer bewusst wird.
F: Aber der Weg der Schüler ist doch voll von Fehlern.
RR: Man darf sich auch nicht in die Fehler hineinsteigern. Du mußt die Unterweisung des
Meisters verstehen. Die Leute fragen sich: “Was heißt es, Schüler zu sein?” Eigentlich
ist das sehr einfach: Ein wirklicher Schüler ist jemand, der versucht, die Unterweisung
seines Meisters in die Praxis umzusetzen. Das ist keine Frage von Liebe, kein i shin
den shin, nichts Mysteriöses. Jemand unterweist etwas, und wenn man diese
Unterweisung als richtig empfindet, versucht man ihr zu folgen. Man bittet ihn um
Hilfe, um Anleitung, damit man ihm folgen kann. Das ist alles. Wenn man eine
Unterweisung hört, der man nicht folgt, verliert man seine Zeit.
Der Meister selbst bemüht sich auch, seiner Unterweisung zu folgen. Die
Unterweisung, die ich gebe, ist auch eine Unterweisung, die ich mit selber gebe. Ich
bin auch Schüler dieses Dharmas, dieser Unterweisung. Ich gebe nicht vor, dass ich
die Unterweisung zu 100 Prozent realisiert habe. Aber ich spüre ganz tief, daß es der
richtige Weg ist.
F: Die zweite Frage ist eine physiologische Frage. Ich habe auf der Gendro eines Tages ein
Gespräch zwischen zwei Godos mitbekommen. Der eine sagte zu dem anderen. „In
Zazen schlafe ich völlig ein.” Der andere meinte: „Wenn du richtig einschläfst, fällst du
um.” – Als ich schwanger war, war ich während Zazen sehr müde. Vielleicht war es eine
Illusion, aber ich schlief, ich träumte. Die Kyosaku-Leute gingen an mir vorbei, aber sie
sahen nichts. Ich hatte zwar die Augen geschlossen, aber ich behielt die Haltung bei. Ist
das möglich?
RR: Selbstverständlich. Ich habe diese Erfahrung auch gemacht. Wenn man eine stabile
Haltung hat, kann man in Zazen einschlafen. Das ist gefährlich, denn es ist verlorene
Zeit.
F: Ich mußte an die Geschichte des Meisters denken, der in Zazen gestorben ist.
RR: Sekito ist in Zazen gestorben. Weil er schon alt und krank war, wußten die Leute
nicht, ob er schlief oder gestorben war. Sie haben lange gebraucht, bis sie entdeckten,
daß er wirklich gestorben war. Ihnen kamen Zweifel, aber niemand wagte es, ihn zu
berühren. Dann merkten sie, daß er wirklich tot war. Er macht weiterhin Zazen. Man
hat ihn in dieser Haltung mumifiziert. Man kann ihn in Soji-ji sehen. Er ist nur ein
wenig geschrumpft.
Das ist also möglich und es zeigt, daß du eine stabile und ausgeglichene Haltung hast.
Aber es ist auch eine Falle: Wenn du in Zazen schlafen kannst und die Kyosaku-Leute
merken es nicht, dann hilft dir keiner, dann verlierst du deine Zeit.
Wenn man manchmal sehr müde ist, ist es besser, eine Minute zu schlafen und
wirklich loszulassen. Das erfrischt manchmal ganz plötzlich den Geist. Dann verliert
man ein wenig das Gleichgewicht, wacht auf und ist dann wieder richtig wach.
Aber die Kyosaku-Leute müssen dich gut im Auge behalten.
F: Ich habe zwei Fragen, aber ich mache es kurz.
Besitzen wir die Buddha-Natur? Ja oder nein?
RR: Nein.
F: Wie kann man unter diesen Bedingungen sagen, daß Buddhas Schüler und Buddha
selbst das definitive Erwachen erlangt haben? Wenn alles unbeständig ist, dann doch
auch ihr Erwachen.
RR: Soweit ich weiß, hat man nicht von Schülern Buddhas gehört, die das Erwachen
realisiert haben und danach wieder völlig in die Täuschungen zurückgefallen sind.
Vielleicht gab es welche, bei denen dies passiert ist, die Legende hat sie vergessen,
um nur die guten Beispiele beizubehalten.
Devadata war, glaube ich, kein Arhat. Das müßte man nachschlagen.
Was die Buddha-Natur angeht: Man besitzt nicht die Buddha-Natur, sie ist nicht
etwas, das man besitzen kann. Wir sind Buddha-Natur; unser ganzes Sein ist Buddha-
Natur. Denn unser ganzes Sein ist Unbeständigkeit. Realisieren heißt, dies zu
integrieren. Die Unbeständigkeit völlig zu akzeptieren ist, die Buddha-Natur zu
realisieren, und schließlich auch, das Erwachen zu realisieren. Sie in all ihren
Aspekten und mit allen Folgen akzeptieren. Die Buddha-Natur ist die
Unbeständigkeit. Wir sind die Unbeständigkeit. Alle Wesen sind Unbeständigkeit.
Alle Wesen sind Buddha-Natur. Wenn wir versuchen dagegen zu leben, so zu tun als
wäre es nicht so, dann leben wir in den Illusionen und wir werden alle möglichen
Leiden erleiden, weil wir nicht in Harmonie sind.

 

27.2.2000, 7 Uhr
In ein Dojo können alle die gehen, die praktizieren möchten und die Dojo-Regeln
respektieren. Aber was praktiziert jeder wirklich im Dojo? Was kann man tun, damit die
Praktizierenden nicht in ihrer Praxis stagnieren? Dafür gibt es keine Regel. Dieses Problem
gab es schon zu Buddhas Zeiten. Einige wurden Mönche, um nicht zum Militärdienst
gehen zu müssen. Einige wurden Mönche, weil sie einfach an Nahrung kamen. Nach
einiger Zeit war diese Gemeinschaft voller Leute, die kein Bodaishin hatten. Die
Gemeinschaft hatte kein Recht und keine Macht, sie auszuschließen. Das einzige, was
Buddha tun konnte, war, sie zu ermutigen, weiterzumachen und sich in ihrer Praxis zu
entwickeln.
Am Tag nach der Abreise von Devadata, der in der Gemeinschaft ein Schisma geschaffen
und sie mit einigen Schülern verlassen hatte, hielt Buddha eine Predigt, die den Titel “das
Herz eines großen, starken Baumes” hat. Sie ist sehr wichtig für den Sinn unserer eigenen
Praxis. Es ist ein recht langes Sutra, ich werde es zusammenfassen.
Buddha sagt: “Ein Sohn einer Familie hat das Familienleben verlassen, um den Weg zu
praktizieren, weil er dachte: ‘Ich bin vielen Arten von Leid ausgesetzt. Wenn ich den Weg
praktiziere, kann ich das Leiden vielleicht beenden.’ In dieser Hoffnung wurde er Mönch.
Als er Mönch geworden war, respektieren ihn die weltlichen Leute deshalb und er bekam
Gaben. Deswegen war er zufrieden und wurde faul, nachlässig. Er ist zu vergleichen mit
jemandem, der das Herz eines großen, starken Baumes sucht, und, wenn er einen großen
Baum sieht, das Herz vernachlässigt und sich damit zufrieden gibt, Blätter und kleine
Zweige zu sammeln.”
Danach spricht Buddha von einem anderen Mönch, der auch Respekt und Gaben von
anderen erhalten hat, damit nicht zufrieden war und weiter praktizierte. Er hat seinen Geist
diszipliniert, indem er den Geboten und den Regeln folgte. Dann war er zufrieden und
hörte mit seiner Praxis auf, weil er dachte, das Ziel erreicht zu haben. Er wurde stolz und
hielt sich für den anderen Mönchen überlegen, weil er die Disziplin verwirklicht hatte. Er
kritisierte die anderen und vernachlässigte seine eigene Praxis. Er ist wie jemand, der das
Herz eines großen Baumes sucht und sich damit zufrieden gibt, junge Triebe zu sammeln.
Danach spricht Buddha vom Fall eines anderen Mönchs, der sich nicht damit zufrieden
gibt, Gaben und Respekt der anderen zu erhalten und die Disziplin verwirklicht zu haben.
Er macht in seiner Praxis weiter und verwirklicht eine große geistige Konzentration. Damit
ist er zufrieden, und er glaubt, daß sein Ziel erreicht ist. Er schmeichelt sich selbst und
sagt: ‘Mir ist es möglich, mich gut zu konzentrieren. Die anderen können sich nicht so
konzentrieren wie ich.’ So hört er auf, in seiner Praxis voranzukommen. Er wird auch
jemand, der auf der Suche nach dem Herzen des großen Baumes ist und sich damit
zufrieden gibt, Triebe einzusammeln.
Danach spricht Buddha von einem anderen Mönch, der sich nicht damit zufrieden gibt,
Gaben und Respekt zu erhalten, die Disziplin erreicht zu haben, und auch nicht damit, die
geistige Konzentration verwirklicht zu haben. Er vertieft weiter seine Praxis und
verwirklicht Erkennen und Intuition. Er ist zufrieden und glaubt, sein Ziel erreicht zu
haben. Er ist jemand, der auf der Suche nach dem Herzen des großen Baumes ist und der
sich auch damit zufrieden gibt, Blätter und Triebe einzusammeln.
Dann spricht Buddha von einem anderen Mönch, der mit diesen verschiedenen
Verdiensten nicht zufrieden ist, seine Praxis weiterführt und eine zeitlich begrenzte
Befreiung verwirklicht. Er hält sich für glücklich, zufrieden und hört auf, sich auf seine
Praxis zu konzentrieren. Dies ist wieder jemand, der demjenigen ähnelt, der auf der Suche
nach dem Herzen des großen Baumes ist und sich damit zufrieden gibt, Blätter und junge
Triebe einzusammeln.
Zum Schluß spricht Buddha von einem anderen Mönch, der, obwohl er all dies realisiert
hat, nicht zufrieden ist. Er lobt sich nicht seiner Verdienste, kritisiert nicht die anderen und
versucht weiter, seine Praxis zu vertiefen und realisiert auf diese Weise die unbegrenzte
Befreiung. Buddha antwortet auf C.’s Frage im Mondo und sagt: “Es ist unmöglich für
einen solchen Mönch, diese Befreiung wieder zu verlieren.”
Der Sinn der Unterweisung Buddhas ist es nicht, kleine Verdienste zu erhalten, auch nicht
die geistige Konzentration und auch nicht das Verständnis durch Weisheit. Shakyamuni
sagt am Ende seiner Predigt: “Es handelt sich um die vollständige Befreiung. Das wahre
Herz des Weges.”
Heutzutage interessieren sich viele Leute für die Zazenpraxis. Sie finden jede Menge
Vorzüge und Verdienste. Zazen ermöglicht ihnen, den Streß zu kontrollieren, ihre
Konzentration zu verbessern, einen gewissen Geistesfrieden zu realisieren. All diese
Verdienste bergen die Gefahr zu stagnieren, weil man glaubt, etwas verwirklicht zu haben.
Aber man darf nicht vergessen, was das Herz des Weges ist.
Wir sollten nicht so sein wie diejenigen, die sich damit zufrieden geben, Blätter und junge
Triebe einzusammeln.
Das Herz ist das, was wir jeden Morgen und jeden Abend singen, wenn wir die vier
Gelübde des Bodhisattva singen, insbesonders das 4. Gelübde
Butsu do mujo seigando
Ohne Grenzen ist der Buddha-Weg,
Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

 

27.2. 2000, 11Uhr
Selbst wenn man oft Zazen macht, sollte es keine Gewohnheit werden. Zu Beginn eines
jeden Zazen sollte man die Haltung einnehmen, als würde man zum ersten Mal Zazen
machen, mit der gleichen Aufmerksamkeit. Streckt gut die Nierengegend und drückt die
Knie fest in den Boden. Sitzt so auf dem Zafu, als wolltet ihr, daß der After nicht das Zafu
berührt. So kann eure Haltung dynamisch werden. Von der Taille aus streckt man gut die
Wirbelsäule und den Nacken, das Kinn ist zurückgezogen.
Bei diesem Sesshin haben alle eine gute Haltung. Deshalb wiederhole ich nicht immer alle
Punkte. Zu Beginn eines jeden Zazen sollte man sie für sich wiederholen, vor allem die
Beckenneigung nach vorne, insbesondere auch das zurückgezogene Kinn und das Lockern
der Schultern. Und vergeßt nicht, mit eurer Atmung in Berührung zu bleiben. Atmet tief
ein und aus. Folgt eher eurer Atmung als euren Gedanken.
Das ist die Grundlage unserer Praxis. Das heißt aber nicht, daß wir Haltungstechniker
werden sollen. Selbst ein Gelähmter, der im Rollstuhl sitzt, kann Zazen praktizieren. Wenn
man glaubt, wenn man diese gute Haltung eingenommen hat, hätte man das Ziel des
Weges erreicht, würde man auch das Herz des großen Baumes mit den Blättern und
Zweigen verwechseln.
Eines Tages sprach Meister Dogen von jemandem, der sich für einen Meister hielt. Er
sagte über ihn, er habe nie das Erwachen verwirklicht, weil er sich nie die richtige Frage
gestellt habe.
In Buddhas Sangha gab es einen Schüler, der eines Tages zu Buddha sagte: “Wenn Ihr
nicht meine Fragen beantwortet, gehe ich weg.” Er hatte alle möglichen Fragen. Er wollte
wissen, ob das Universum im Raum begrenzt oder unbegrenzt ist, ob es in der Zeit
begrenzt oder unbegrenzt ist, ob es einen Ursprung habe oder nicht. Er wollte wissen, ob
das Lebensprinzip das gleiche sei wie der Körper, er wollte wissen, ob Buddha auch nach
dem Tod existiere oder nicht. Auf all diese Fragen hat Buddha ihm geantwortet: “Sind Sie
gekommen, um eine Antwort auf diese Fragen zu finden? Hängt die Praxis des Weges für
Sie von diesen Fragen ab?” Und er sagte ihm – ich fasse es zusammen: “Obwohl es zu
diesen Themen viele Meinungen gibt, hängt die Verwirklichung des Weges nicht von
ihnen ab.” Obwohl es z.B. die Auffassung gibt, daß Buddha auch nach dem Tod existiert,
gibt es auch die andere Meinung, daß Buddha nach dem Tod nicht existiert.
Buddha sagte: “Es gibt Sachen, die ich erklärt habe, und andere Sachen, die ich nicht
erklärt habe. Ich habe nicht erklärt, ob das Universum ewig ist oder nicht, ob es Grenzen
hat oder nicht, ob das Lebensprinzip das gleiche wie der Körper ist, ob der Tatagata nach
dem Tod existiert oder nicht. Ich habe das alles nicht erklärt, weil es nicht nützlich ist. Es
ist nicht grundlegend verbunden mit der Verwirklichung des Weges. Es führt nicht zur
Befreiung, zur Beendigung des Leidens, zum Frieden, zum tiefen Verständnis, zur
vollständigen Verwirklichung des Nirvana.” – Für Buddha war das kein Zustand nach dem
Tod, sondern eine Verwirklichung hier und jetzt. – Und er sagte: “Deshalb habe ich dies
nicht erklärt. – Welche Sachen habe ich erklärt? Ich habe Dukkha erklärt.” – Er sagte nicht
Leiden, sondern Dukkha, denn Dukkha umfasst auch Glück, Freude, das Gefallen. Dukkha
ist all das, was im Leben nicht zufriedenstellend ist, weil es unbeständig ist. Dukkha hängt
grundlegend von unserem Geisteszustand ab. Das hat Buddha erklärt. Er hat die Ursache
davon erklärt, die Beendigung und den Weg der zu dieser Beendigung führt. Dies führt zur
Befreiung, zum wahren Erwachen.
Ich erzähle euch von diesem Sutra und beende mit ihm dieses Sesshin, weil ich glaube, daß
es für jede und jeden wichtig ist, zu verstehen, was für sie, was für ihn die wichtige Frage
ist.
Buddha hat das Erwachen realisiert, weil er sich die richtige Frage stellte. Er hat sich nur
auf eine Frage konzentriert, ohne seine Zeit zu verlieren. Bestimmt denken einige, daß für
sie die Leidensfrage nicht die Frage ist, daß das Leiden normal und ein Teil des Lebens ist.
Für die hat die Unterweisung Buddhas nicht viel zu sagen.
Ich glaube, man sollte das Leiden in weitem Sinne, im Sinne Dukkhas verstehen, wie das
Symptom einer Krankheit, das Symptom dafür, daß wir nicht im Normalzustand sind, das
Symptom dafür, dass wir nicht in Harmonie mit unserer tiefen Wahrheit leben. Dann geht
es nicht nur darum, das Leiden zu Ende zu bringen, sondern den wahren Sinn unseres
Lebens zu verwirklichen. Im Zen nennt man das, seine wahre Natur zu verwirklichen.
Ich wünsche euch eine gute Fortsetzung eurer Praxis. Ich wünsche auch, daß ihr über eure
wahre Frage nachdenkt, wenn ihr eine habt.

Das Koan unserer Praxis – 05.2014 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 24. Mai – 1. Juni 2014
während des Frühjahrs-Lagers in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

Samstag, 24.5.14, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen vollständig auf eure Körperhaltung. Neigt gut das Becken
nach vorne und drückt gut mit den Knien auf den Boden. Entspannt den Leib und lasst das
Körpergewicht gut auf das Zafu drücken. Streckt von der Taille aus gut die Wirbelsäule und lasst
dabei die Anspannung im Rücken und in den Schultern los. Zieht das Kinn zurück und entspannt
gut das Gesicht. Die Stirn ist entspannt, auch die Kiefer. Die Zunge liegt hinter den oberen
Schneidezähnen am Gaumenrand. – Wenn ihr euch auf die Empfindung der Zunge am Gaumen
konzentriert, hilft euch das, den inneren Dialog zu befrieden. Der Geist beruhigt sich schnell.
Man hört alle Diskussionen auf, indem man zum Körper zurückkehrt, d.h. zur Gegenwärtigkeit
hier und jetzt.
Die Augen sind halb geschlossen. Der Blick ruht einfach vor einem auf dem Boden. Wenn man
sich nicht an die Objekte des Blicks klammert, stören diese nicht die Konzentration. Man braucht
also nicht die Augen zu schließen, um konzentriert zu sein. – Das Gleiche gilt für alle
Sinnesorgane. Wenn man sich nicht an die Objekte des Gehörs, d.h. an die Klänge klammert,
braucht man sich nicht die Ohren zu verstopfen. Wenn man sich nicht an die Gedanken
klammert, die auftauchen, braucht man sich nicht zu bemühen, sie zu unterdrücken.
Das Gleiche gilt für alle geistigen Erzeugnisse: In Zazen unterdrückt man nichts. Man
unterdrückt z.B. auch seine Gefühle nicht. Man verjagt seine Gedanken nicht, man unterdrückt
sie nicht. Man begnügt sich damit, sie zu betrachten, wenn sie auftauchen, und kehrt sofort zur
Konzentration auf den Körper und zur Achtsamkeit auf die Atmung zurück.
So ziehen alle Wahrnehmungen und Gedanken schnell vorüber. Man ist völlig gegenwärtig für
die Welt, die uns umgibt, und für die innere Welt. Aber man klammert sich nicht daran. So kann
kein Phänomen die Praxis von Zazen stören. Daher kann man Zazen überall praktizieren. Man
braucht sich nicht von der Welt zu isolieren, um zu meditieren. Man muss einfach lernen, seine
Neigung loszulassen, die Gedanken und die Wahrnehmungen ergreifen, ihnen folgen und über
sie nachdenken zu wollen.
Schließlich legt man seine Aufmerksamkeit auf die Hände. Insbesondere auf den Kontakt der
waagrechten Daumen. Die Daumen dürfen weder Berg noch Tal bilden. Das hilft, einen ausgeglichenen
Geisteszustand zu haben, weder in Sanran, d.h. in geistiger Aufgeregtheit, noch in
Kontin, d.h. im Dahindämmern zu sein. Ruhig, wachsam. Völlig bewusst wissen, was geschieht
und was auftaucht, ohne sich an irgendetwas zu klammern.
Das Mudra, das die Hände während Zazen bilden, nennt man Hokkai join. Hokai bedeutet
‚Ozean des Dharmas’, join ‚Siegel des Samadhi’. Im Samadhi von Zazen, in der großen
Konzentration, ist man in Einheit mit dem Ozean des Dharmas, d.h. in Einheit mit allen
Existenzen. Vor allem aber in Einheit mit der kosmischen Ordnung. Dann ist die Anhaftung an
das Ego auf natürliche Weise aufgegeben, und Zazen selbst wird Erwachen und Verwirklichung.
Erwachen zur Wirklichkeit unserer Existenz, zur Tiefenexistenz, ist Verwirklichung, das heißt,
Harmonie mit dieser Wirklichkeit. Indem man einen Geist verwirklicht, der auf nichts stehen
bleibt, der sich auf natürliche Weise mit der Unbeständigkeit und der wechselseitigen Abhängigkeit
aller Phänomene harmonisiert. Das sind die zwei wesentlichen Punkte des Dharmas
Buddhas.
Wenn diese Harmonie nicht besteht, gibt es Leiden. Wenn diese Harmonie sich einstellt, handelt
es sich um den Frieden des Nirvanas, um die Rückkehr zu unserem wirklichen, normalen und
ursprünglichen Zustand. Diese Rückkehr ist der Sinn des Sesshins. – Aber dies nicht nur während
Zazen, sondern während aller Aspekte des Tages.

24.5.2014, 16.30 Uhr
Verliert nicht die kostbare Zeit von Zazen, indem ihr euren Gedanken folgt. Folgt eher eurer
Atmung. Wenn ihr einatmet, seid ein Körper und Geist, der einatmet, völlig in Einheit mit der
Einatmung. Das Gleiche für die Ausatmung.
Jedes Mal, wenn man zur Aufmerksamkeit die Atmung zurückkehrt, lässt man unbewusst und
natürlich die Gedanken los, die einen beschäftigen, insbesondere alle Gedanken, die unser
eigenes Selbst betreffen. Man lässt sie schnell vorüberziehen. Das zeigt uns, dass sie völlig
unbeständig und substanzlos sind. Wenn ich wissen möchte, wer ich bin, meinen Blick nach
innen wende und mich selbst betrachte, dann entdecke ich kein Ego, keine Substanz eines Ichs.
Nur Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken, die von Augenblick zu Augenblick
auftauchen und verschwinden.
Dieses unablässige Auftauchen und Verschwinden der Phänomene nennt man Mujo,
Unbeständig- keit. Sie ist das wesentliche Charakteristikum aller Phänomene. Alles, was
erscheint, verschwindet schließlich. Deshalb sagt man, dass es Leerheit sei. Leerheit ist kein
Nichts. Es ist die Abwesenheit fester Substanz. Diese Abwesenheit bringt das sehr Positive
unserer Beziehung mit dem ganzen Universum zum Ausdruck, die Buddha-Natur.
Den Weg zu durchdringen ist nicht schwierig. Einfach DAS sehen. Das Dharma sehen, die
Wirklichkeit, so wie sie ist. Aber das ist auch nicht so einfach, denn unser Mentales ist durch all
unser vergangenes Karma, durch unsere Geschichte konditioniert: In uns gibt es alle möglichen
Erinnerungen, Emotionen, Gedanken, die unser gegenwärtiges Sein konditionieren, die
bewirken, dass man unablässig auswählt und zurückweist. Abhängigkeit von unseren
persönlichen Prä- ferenzen, die ihrerseits von unserer Konditionierung abhängt. Dann klammert
man sich an das, woran man glaubt, dass es für unser Ego günstig sei, an Dinge, die uns an
vergangene positive Erlebnisse erinnern. Und man lehnt das ab, was unser Ego stört, das, was
uns an vergangene schlechte Dinge erinnert. Oft ist man sogar von seiner ganz frühen Kindheit
konditioniert und reagiert überhaupt nicht auf die gegenwärtige Situation bezogen, ist
konditioniert durch die Vergangenheit. So sieht man die Wirklichkeit nicht in ihrem ganzen
Umfang. Man sieht nur das, was man sehen möchte, und verbringt seine Zeit damit, auszuwählen
und zurückzuweisen. Anders gesagt, man ist nie wirklich frei.
In Zazen kann man sich dessen bewusst werden und lernen, nicht mehr auszuwählen, sondern in
jedem Augenblick alles zu empfangen, was sich zeigt. Ohne Gier, ohne Hass, ohne Auswahl,
ohne Zurückweisung. Das ist zum einen eine Weise zu praktizieren, der Weg als eine Weise zu
gehen. Zugleich ist es der Weg als Verwirklichung. Denn wenn man so praktiziert, harmonisiert
man sich mit der kosmischen Ordnung, in der die Pole unserer Dualitäten gemeinsam existieren,
so wie Tag und Nacht, hoch und tief, Geburt und Tod. Nichts von dem existiert getrennt, alles
existiert gemeinsam in völliger Wechselbeziehung.
Der Geist von Zazen, Hishiryo, der sich an keinen besonderen Gedanken klammert, umfasst alle
Phänomene mit einem Blick, erwacht so zur Wirklichkeit, befreit sich von allen alten Konditionierungen
und beginnt im Einklang mit dem Dharma zu funktionieren. Während das Zurückweisen
der Wirklichkeit zum Leiden führt, ist diese Seinsweise, diese Funktionsweise, die glücklichste
Lebensweise, befreit von den Begrenzungen unseres kleinen Egos.
Wenn man Zazen praktiziert, kann man sich davon überzeugen. Nur durch die Wiederholung der
Praxis wird das wirklich unsere Sichtweise, nicht nur eine vorübergehende Intuition, sondern
eine Seinsweise, eine Lebensweise. Wenn man viel Zazen praktiziert wie während eines
Sesshins, ist dies eine Gelegenheit, auf dem Weg voranzuschreiten und sich immer mehr mit ihm
zu harmonisieren.

25.5.2014, 7 Uhr
Begnügt euch während Zazen damit, einfach zu sitzen, eins mit der Haltung des Körpers. Drückt
den Himmel mit der Schädeldecke und die Erde mit den Knien. Und lasst gut alle Spannungen in
den Rücken und in den Schultern los. Entspannt den Bauch, und atmet ruhig durch die Nase ein
und aus. Folgt eher eure Atmung als euren Gedanken.
Wenn wir hier sind, dann weil wir uns entschieden haben, dieses Sesshin zu machen. Unser Ego
hat sich entschieden, dem Weg zu folgen. Das ist der gute Aspekt des Geistes der
Unterscheidung: das auszuwählen, was richtig ist, und das aufzugeben, was zu Leid führt.
Auswählen bedeutet zugleich zurückweisen. Das, was man mag, wählt man aus, das, was man
nicht mag, weist man zurück. Wir sind so daran gewöhnt, auf diese Weise zu funktionieren, dass
es uns schwer fällt, diese Verhaltensweise in Frage zu stellen. In Zazen gibt man diese
Funktions- weise auf. Man setzt sich und begnügt sich damit, einfach zu sitzen. Man bemüht sich
nicht, irgendetwas zu ergreifen und weist nichts ab. Man hört jede Diskussion, jeden Kampf auf
und realisiert einen willkommen heißenden Geist, einen weiten Geist.
Unser Ego hat sich entwickelt, indem es alles außerhalb von sich selbst zurückgewiesen hat, was
es nicht als sich selbst ansah. So wurde unser Geist begrenzt, und man fühlt sich
notwendigerweise eingeschränkt.
Unser Ego ist wie ein Topf mit Wasser verglichen mit dem weiten Ozean. Weil es so klein ist, ist
es sehr schnell aufgewühlt. Wenn man einen Stein in einen Topf mit Wasser wirft, ist das Wasser
sofort bewegt. Wenn man den gleichen Stein ins Meer wirft, wird das Meer davon nicht aufgewühlt.
All unsere Emotionen kommen daher, dass unser Geist zu eng geworden ist, dass man
nur einen Teil der Wirklichkeit akzeptiert und alles andere zurückweist. Weil man sich begrenzt
fühlt, ist man unzufrieden und sucht unablässig nach Kompensationen für dieses Gefühl des
Mangels und der Unzufriedenheit, indem man allen möglichen Gegenstände der Wünsche
schafft, denen man dann hinterherläuft, weil man fälschlicherweise glaubt, dass irgendeines
dieser Objekte letztlich unseren Wunsch befriedigen kann. Die ganze Werbung versucht, uns das
glauben zu machen. Aber die Lebenserfahrung zeigt, dass wir mit keinem Gegenstand zufrieden
sein können. Denn uns fehlt, in Einheit mit der Wirklichkeit zu sein, mit dem ganzen Universum,
sowohl mit seinen leuchtenden Seiten, als auch mit seinen Schattenseiten. Mit der Sonne und mit
den Wolken.
In Zazen gibt man den Geist des Auswählens auf und realisiert einen geschmeidigen Geist. Man
lernt, seine egozentrischen Wünsche aufzugeben. So findet der Geist seine wirkliche Freiheit
wieder, und jeder Tag wird wieder ein guter Tag, jeder Umstand ein guter Umstand, um den Weg
zu realisieren, d.h. um sich mit der Wirklichkeit zu harmonisieren, so wie sie ist, um wieder das
zu werden, was wir wirklich sind, eins mit dem Universum. Das nennt man ‚den Weg
durchdringen’, ‚den Weg verwirklichen’, ‚sich mit dem Weg harmonisieren’, ‚in Frieden sein’,
‚glücklich und frei sein’, ‚unabhängig von den Umständen sein’.

26.5.2014, 7 Uhr
Während Zazen sitzen wir einfach nur. Wir atmen ruhig durch die Nase ein und aus, sehen
Gedan- ken und Wünsche auftauchen und verschwinden. Wir lassen sie vorüberziehen, indem
wir zur Konzentration auf die Atmung zurückkehren. Verliert nicht eure Zeit damit, euren
Gedanken zu folgen. Vergeudet eure Energie nicht damit, sie zu unterdrücken.
Immer etwas ergreifen oder zurückweisen zu wollen, ist die Krankheit des Geistes, die Ursache
aller Bonnos, aller Anhaftungen, der Ursachen des Leidens. Sich dessen bewusst zu werden, ist
der Ursprung des Weges des Erwachens, des Buddhaweges.
Wie sich von der Gier auf all das, was wir mögen, und dem Hass auf alles, was uns stört und uns
leiden lässt, befreien? Gier und Hass sind Grundlage aller Bonnos, all dessen, was Karma produziert.
Die Welt von Zazen ist eine Welt ohne Karma – unter der Voraussetzung, dass man während
Zazen aufhört, irgendetwas ergreifen oder zurückweisen zu wollen. Unser Geist ist derart daran
gewöhnt, in der Dualität zu funktionieren, dass es sehr schwierig ist, sich zu ändern. Aber wenn
einem das schon nicht in Zazen gelingt, ist es im Alltag noch viel schwieriger. Denn in Zazen
kann man weder seine Wunschobjekte verfolgen, noch vor ihnen davonlaufen. Im Alltag hat man
eine gewisse Bewegungsfreiheit, also können sich die Bonnos des Geistes im Verhalten zeigen.
Wenn man während Zazen den Wunsch nach Nahrung hat, kann man nicht essen. Wenn man in
Zazen sexuelle Wünsche hat, kann man sie nicht verwirklichen. Wenn man in Zazen Wünsche
nach Macht oder Geld hat, kann man sie nicht verwirklichen. Aber im Alltag ist all das möglich.
Das ist der Grund, warum man in Klöstern Regeln aufstellt: um zu helfen, seine Bonnos zu
kontrollieren. Die Nahrung in den Klöstern ist einfach. Man isst nicht außerhalb der Mahlzeiten.
Der Alkoholkonsum ist untersagt, auch sexuelle Beziehungen. Das ist für das Ego sehr
frustrierend. Zugleich ist es auch eine Gelegenheit zu erfahren, was geschieht, wenn man nicht
mehr seine Wunschobjekte verfolgt. Es ist die Gelegenheit, eine große Freiheit des Geistes zu
entdecken, des Geistes, der all diese Kompensationen nicht mehr braucht, und so seine natürliche
Harmonie mit dem Weg wiederfinden kann, die letztlich viel befriedigender ist, als das Verfolgen
aller Wunschobjekte.
Aber wenn dieses Resultat nur durch Regeln und Verbote erreicht wird, kommen die Bonnos,
wenn diese Regeln und Verbote nicht mehr da sind, d.h. in der Welt außerhalb des Klosters oder
des Sesshins, oft noch viel stärker zurück. Wie Unkraut, das man abgeschnitten hat, ohne seine
Wurzeln zu entfernen, noch viel stärker wächst. Deshalb unterweist man im Zen, dass es nicht
reicht, nur die Äste und die Blätter abzuschneiden, sondern dass man die Wurzel ausreißen muss.
Das impliziert eine völlige Revolution des Geistes: Man muss die Wirklichkeit tief akzeptieren,
die Leerheit aller Gegenstände, ihren täuschenden Charakter. Dann ist nicht mehr sehr viel
Anstrengung erforderlich, um ihnen nicht mehr hinterherzulaufen. Sie verlieren ihre Attraktivität.
Das kann man in Zazen selbst erfahren. Dafür darf man nicht nur Konzentration praktizieren,
sondern muss auch die tiefe Betrachtung praktizieren. Durch die Konzentration auf den Körper
und die Atmung kann man die Gedanken vorüberziehen lassen. Aber sie kommen schnell zurück.
Die Wurzel ist nicht abgeschnitten. Aber wenn man ihre Leerheit wahrnimmt, ist der Wunsch,
ihnen zu folgen, nicht mehr so stark. Und selbst wenn Wünsche wiederkommen, hat man nicht
mehr so viel Energie nötig, um sie vorüberziehen zu lassen. Man kann sie sich auf natürliche
Weise auflösen lassen. Denn es ist ihre natürliche Weise, sich aufzulösen. Letztlich ist alles
unbeständig, ohne Substanz. Leerheit. Das anzuerkennen und zu akzeptieren, ist das wirkliche
Satori, das tiefe Verstehen. Das tiefe Verstehen ist etwas, was unsere Seinsweise verändert. Ein
Verstehen aus der Tiefe der Einheit von Körper und Geist. Aber diese Wirklichkeit darf nicht nur
gedacht, sondern muss gelebt, muss erfahren werden.
Im Zen bedeutet ‚verstehen’ verwirklichen. Wenn es keine Verwirklichung gibt, gibt es kein
wirk- liches Erwachen. Alle, die eine gewisse Zeit lang praktizieren, kennen die großen
Prinzipien des Zen und des Buddhismus. Die Unterweisung wiederholt sie unablässig. Aber sie
tatsächlich zu verwirklichen bedeutet, wirklich eins mit dem Dharma zu werden. Das Dharma
ganz konkret in seinem Leben zu verkörpern, indem man das Loslassen lernt und sein Ego
wirklich aufgibt.
Mit unserem eigenen Willen allein ist das schwierig. Indem man sich der Praxis von Zazen und
dem Gyoji hingibt, dem wirklichen Zazen von Shikantaza, nur sitzen, harmonisiert uns dieses
Zazen mit dem Geist Buddhas. In dem Augenblick bin ich nicht mehr ich selbst, der praktiziert.
Es ist der Geist Buddhas, der in mir praktiziert. – Für Christen ist es der Geist Gottes, der heilige
Geist, der in einem praktiziert. – In dem Augenblick kann man sich diesem Geist mit Vertrauen
hingeben und von ihm leiten lassen. Dann wird die Praxis wirklich einfach.
Diese Erfahrung zu machen, ist der Sinn der Praxis eines Sesshins.

26.5.2014, 16.30 Uhr
Während Zazen ist die Haltung unbeweglich wie ein hoher Berg. Der Geist ist wie der weite
Himmel. In Zazen umfasst der Geist alle Phänomene, die auftauchen, wie der weite Himmel die
Wolken umfasst und auch die Sonne, den Mond und die Sterne. Wolken, Sonne, Mond und
Sterne erscheinen am weiten Himmel aufgrund aller möglichen Ursachen und Bedingungen, aber
der weite Himmel ist nicht bedingt, so wird er durch nichts gestört. Er ist immer viel weiter als
die Phänomene, die ihn durchqueren. Dem weiten Himmel fehlt nichts und es ist nichts zu viel,
er hält nichts zurück und weist nichts zurück.
Das ist das vollkommene Bild des Zazen-Weges. Aus dem gleichen Grund wird der Bereich
Gottes das Himmelreich genannt. Aber so weit er auch ist, er existiert doch auch in unserem
tiefsten Inneren. Der Raum existiert überall seit immer. Er existiert im Herzen eines Atoms und
umfasst die Milliarden Galaxien. Zazen zu praktizieren bedeutet, einen diesem weiten Himmel,
diesem Raum ähnlichen weiten, geräumigen Geist wieder zu finden.
Der Geist verwirklicht das, weil er aufhört, sich an irgendetwas zu klammern. Die Methode dafür
ist es, unmittelbar und intuitiv die Leerheit all dessen zu realisieren, was unseren Geist
durchquert. Der Geist verweilt auf nichts, denn in Wirklichkeit gibt es nichts, auf dem man
verweilen könnte. Das Ego mag diese Situation bedauern, aber wenn man in Zazen damit
wirklich vertraut wird, ist dies die große Befreiung. Wird der begrenzte Geist aufgegeben, findet
unser Geist zum wirklichen Normalzustand zurück, zu der Fähigkeit, alles zu spiegeln und alles
zu umfassen, ohne auf irgendetwas zu verweilen.
Das bedeutet auch, dass wir Zazen praktizieren und dabei alle Phänomene unseres Lebens
umfassen. Sie spiegeln sich alle im Spiegel von Zazen. Zazen besteht nicht darin, die Phänomene
unseres Lebens zurückzuweisen und sich an die Leerheit zu klammern oder an das Nichtdenken.
Es geht darum, die wirkliche Natur der Phänomene unseres Lebens zu sehen, die nur aufgrund
von allen möglichen Wechselbeziehungen bestehen. Sie haben keine feste Substanz, so können
sie sich unablässig verändern, und man kann sie unablässig aufgeben. Alles ist vollkommenes
Fließen, selbst die schlimmsten Bonnos können sich transformieren in Satori, wenn man sie als
das erkennt, was sie sind, und sie loslässt. Dass man sie aufgeben kann, zeigt, dass sie in
Wirklichkeit keine Substanz haben. Deshalb bleiben die Wolken nicht unablässig am Himmel.
Dies vertraut zu realisieren, bedeutet ein tiefes Vertrauen in unsere Entwicklung zu finden. Es
gibt in uns nichts Festes, nichts Festgeklemmtes, unser ganzes Leben ist unablässige
Transformation, innerhalb des unbegrenzten Raums des Geistes, weit wie der Himmel.

26.5.2014, 7 Uhr
Drückt während Zazen mit der Schädeldecke in den Himmel und mit den Kien in den Boden.
Der Himmel ist die Welt der Leerheit, der alles umfasst. Die Erde ist die Welt der Phänomene.
Die Leerheit und Shiki, die Phänomene, sind in Wirklichkeit eine einzige Realität, die Leerheit
ist die wirkliche Natur der Phänomene. Unsere Praxis besteht darin, beide Aspekte dieser
Existenz zu harmonisieren, die unterscheiden, aber nicht getrennt sind. Stellt sie also nicht
einander gegenüber, trennt sie nicht.
Die Praxis von Zazen hat den Sinn, uns mit der tiefen Wirklichkeit zu harmonisieren. Das
bedeutet den Weg, das Tao, praktizieren. Die Taoisten bemühen sich, Yin und Yang zu
harmonisieren. Für sie sind dies die beiden Pole der Existenz. Für die, die dem Buddhaweg
folgen, sind es die Phäno- mene, die von der Kausalität bedingt sind, und die Leerheit.
Leerheit bedeutet einfach, dass die Phänomene, denen wir begegnen, die unsere Existenz,
unseren Körper und unseren Geist ausmachen, das Ergebnis von Ursachen und Wirkungen sind,
also keine feste Substanz haben. Sie existieren nicht aus sich selbst heraus, sondern aufgrund von
Wechsel- beziehungen. Was man Leerheit nennt, bedeutet also Wechselbeziehung und nicht
nichts. Das ist die wirkliche Natur der Phänomene.
In Zazen kann man das klar betrachten: Unsere körperlichen Empfindungen, unsere Sinneswahrnehmung,
unsere Gedanken, unsere Wünsche existieren wirklich, manifestieren sich von Augenblick
zu Augenblick, aber von Augenblick zu Augenblick verändern sie sich, erscheinen und verschwinden,
denn sie existieren nicht aus sich selbst heraus. Unsere Empfindungen sind von allen
möglichen Ursachen im Körper und Geist bedingt. Unsere Gedanken sind von unserer
Geschichte bedingt, von unserem Karma, von unseren gegenwärtigen Beziehungen, auch durch
unsere spirituelle Suche. Aber es gibt keinen einzigartigen, absoluten Gedanken. Man denkt
immer in Abhängigkeit von einer Situation. In Zazen kann man sich dessen bewusst werden und
dann weniger an seinen Gedanken haften. Man kann sie relativieren. Selbst das, was man
Wahrheit nennt, ist bedingt und relativ bezogen auf das, was man Irrtum oder Täuschung nennt.
Wenn man den Weg sucht, bemüht man sich, aus seinen Illusionen zu erwachen und neigt dazu,
sie zurückweisen und unterdrücken zu wollen. Man klammert sich an die Wahrheit. Und wenn
man versteht, dass die Wahrheit Leerheit bedeutet, hat man die Neigung sich auch an diese
Leerheit zu klammern. Aber weil die Leerheit nicht allein existiert, ist es ein Irrtum, sich an sie
zu klammern. Dieser Irrtum führt zu allen möglichen Formen von Leid: Man beginnt, alle
Phänomene zu verachten, möchte ständig in der Stille bleiben, sich von den Phänomenen des
Alltags entfernen. So wird das ganze Leben, wird der Geist begrenzt. Aufgrund dieser Anhaftung
kann man nicht mehr inmitten der Phänomene leben, kann also auch nicht mehr den anderen
helfen.
Man möchte sich auf den Berggipfel zurückziehen. Der Rückzug in die Berge – wie dieses Frühjahrslager
– ist eine Periode, um inmitten der Phänomene klarer zu sehen. Aber selbst während
eines Sesshins, selbst während Zazen sind die Phänomene immer gegenwärtig. Man kann die
Phänomene und die Leerheit nicht trennen. Einfach weil die Leerheit nichts anderes als die
wirkliche Natur der Phänomene ist. Beide sind so untrennbar wie hoch und tief, wie Himmel und
Erde, wie man selbst und die anderen, wie man selbst und das ganze Universum. Unterschieden,
aber nie getrennt. Und selbst die Unterschiede sind nur an der Oberfläche. In der Tiefe ist das,
was uns was unsere Funktionsweise ausmacht, nichts anderes als die Funktionsweise des ganzen
Universums.
Man selbst und die Welt folgt Regeln, Gesetzen der Wechselbeziehung. Die tiefste Weisheit besteht
darin, das zu sehen. Die relative Weisheit besteht darin, inmitten der Phänomene zu funktionieren.
Wenn man das gut versteht, wird unsere Praxis unablässig Verwirklichung.
Verwirklichung eines Lebens in Einklang mit dem Dharma, d.h. mit der Wirklichkeit. Das Ideal
liegt in der Wirklichkeit, die in ihrer Tiefe verstanden wird.
In der Bibel ist vom verborgenen Gott die Rede. Wo ist er verborgen? – In der Tiefe des Flusses,
in der Tiefe unseres Herzens. Das Himmelreich, das Nirvana, der Frieden des Satori existiert hier
und jetzt in unserem Körper und Geist, wenn wir unsere Tendenz loslassen, uns an die Pole der
Dualitäten zu klammern. Die Haltung von Zazen ist in sich selbst die Rückkehr zur Nicht-
Dualität, zur Harmonie von oben und unten, von Spannung und Entspannung, von Einatmen und
Ausatmen, von denken und nicht denken, von einem selbst und den anderen.
Wenn diese Harmonie gefunden wird, verschwinden die Gifte des Geistes. Gier und Hass sind
mit der Wurzel ausgerissen. Man kann in Frieden mit sich selbst und den anderen leben. Jeder
kann diese Erfahrung während des Sesshins machen und sich bemühen, diese Erfahrungen im
Alltag fortzusetzen.

27.5.2014, 16.30
Begnügt euch während Zazen damit, einfach zu sitzen. Das bedeutet aufzuhören, irgendetwas zu
machen. Selbstverständlich tauchen Gedanken auf, aber man denkt nicht über seine Gedanken
nach. Man lässt sie auftauchen und verschwinden. Natürlich atmen wir. Wir können uns sogar
unserer Atmung bewusst sein. Aber wir atmen nicht willentlich. Man lässt die Atmung
geschehen, wie man die Gedanken auftauchen und verschwinden lässt.
Man macht nicht einmal Zazen. Wirkliches Zazen besteht darin aufzuhören, irgendetwas zu
machen. Es ist das Loslassen jeder Absicht, jedes persönlichen Willens. Selbstverständlich bleibt
man unbeweglich, einfach weil man aufhört sich zu bewegen. Aber man klammert sich nicht an
die Unbeweglichkeit. Wenn man sich an die Unbeweglichkeit klammert, wird die Haltung starr.
Man begnügt sich einfach damit, jede Absicht sich zu bewegen, fallen zu lassen. – Außer wenn
die Haltung zu schmerzhaft wird. Dann ist es möglich, Gassho zu machen und sich zu bewegen.
– Man denkt nicht bewusst, willentlich, aber man bemüht sich auch nicht, die Gedanken zu
unterdrücken. Anders gesagt, in Zazen handelt man nicht mit seinem persönlichem Bewusstsein.
Man lässt das Ego fallen, das immer etwas ergreifen oder zurückweisen möchte. In diesem
Loslassen verwirk- licht sich das wahre Zazen, das Zazen, das uns wirklich von den Wurzeln
unserer Anhaftung befreit und auf natürliche Weise mit dem Dharma, der kosmischen Ordnung,
harmonisiert. Man bemüht sich nicht, irgendetwas zu erfassen. Man realisiert einfach, dass nichts
fassbar ist. So harmonisieren wir uns auf natürliche Weise mit der Wirklichkeit.
Diese Harmonie ist weder Aktivität, noch Passivität, ist jenseits von Handeln und Nichthandeln.
Sie ist das sein lassen, was ist, so wie es ist. Das ist dem Dharma folgen, ohne sich an das
Dharma zu klammern, ihm auf natürliche Weise folgen, da es die wahre Natur unserer
menschlichen Existenz ist.
Anders gesagt bedeutet es, sich mit sich selbst auszusöhnen. In der Wirklichkeit existieren alle
Pole, alle Dualitäten. Man hört auf, sie einander gegenüberzustellen, man umfasst sie mit einem
einzigen Blick. So finden wir unsere wirkliche Einheit wieder.
Im Alltag ist man oft geteilt, der Geist ist zerstreut, wir stehen zwischen verschiedenen
Meinungen. Aber in Zazen werden die Gegensätze versöhnt, wenn man gewahr ist, dass sie
niemals getrennt sein können. Anders gesagt: Die Einheit, die in der Praxis von Zazen wieder
gefunden wird, um- fasst die Unterschiedlichkeit, schließt sie nicht aus. Das ermöglicht es uns,
in den Alltag zurück- zukehren und inmitten der Phänomene des Alltags zu leben, ohne von
ihnen gestört zu werden, denn man behält den weiten Geist von Zazen bei, den Geist, der in der
Lage ist die Pole aller Dualitäten zu umfassen.
Anders gesagt: Man muss vermeiden Dinge nur von einer Seite aus zu sehen. Wenn eine Seite
existiert, existiert auch die andere Seite. Man muss alle Aspekte der Wirklichkeit mit beiden
Augen sehen. Das ist die richte Sicht, die sich in Zazen verwirklicht. Dafür müssen wir in der
Lage sein, unsere Abneigungen und Vorlieben aufzugeben, d.h. unsere durch das Karma bedingte
Sichtweisen.

28.5.2014, 7 Uhr
Fahrt während Zazen damit fort, euch gut auf eure Körperhaltung zu konzentrieren. Legt alle
eure Energie und Aufmerksamkeit in diese Haltung, die weder zu angespannt noch zu entspannt
sein darf. Seid aufmerksam auf eure Atmung, statt euren Gedanken zu folgen.
Wenn man auf diese Weise praktiziert, befreit man sich von der Anhaftung an seine Gedanken
seine Gefühle. Es gelingt einem, sie vorüberziehen zu lassen. Man sieht sie auftauchen und
verschwinden, ohne auf einem Gedanken oder Gefühl zu verweilen
Wenn es einem nicht gelingt, Gedanken und Gefühle vorüberziehen zu lassen, wenn man sich
weiterhin an sie klammert, muss man sich auf die Frage konzentrieren, was die wirkliche Natur
dieser Gedanken und Gefühle ist. Dann werden sie wie eine Koan: „Was ist dieser Gedanke?
Was ist dieses Gefühl? Was ist dieses Ego, das von ihm gestört wird?“
Das grundlegende Koan ist: „Was ist es?“ Es bedeutet sich Fragen über die Natur der Phänomene
zu stellen. Es ist nicht nötig, in alten Koan-Büchern nachzuschlagen Das Leben in jedem
Augenblick bietet uns Koans an. Jedes Phänomen ist ein Koan, d.h. Manifestation der tiefen
Wirklichkeit. Aber um sie wahrzunehmen, muss man sich Fragen über ihre wirkliche Natur
stellen, indem man sich fragt: „Was ist das?“
Je tiefer ihr euch befragt, um so klarer wird, dass es nicht möglich ist, den Ursprung dieser
Phäno- mene zu erfassen. Alle Phänomene sind ohne Substanz, d.h. sie sind in Wirklichkeit nicht
fassbar. Selbst wenn man glaubt, den Ursprung eines Gedanken oder Gefühls entdeckt zu haben,
gibt es wieder einen Ursprung des Ursprungs.
Was ist der Ursprung dieses Universums, dieser Phänomene? – Manche antworten: „Es ist die
Energie der Leerheit.“ Das ist die gegenwärtige wissenschaftliche Antwort. Aber was ist der
Ursprung dieser Energie dieser Leere? – Es ist unmöglich eine Antwort zu finden. Eine andere
Antwort ist „Gott, der Schöpfer.“ Aber was ist der Ursprung Gottes? Was hat Gott geschaffen?
Auch das ist nicht fassbar.
Die Wechselbeziehung hat keine Grenzen. Das nennt man Leerheit. Das zu realisieren, schneidet
den Geist der Anhaftung ab, befreit den Geist.
Ich bin nichts Fassbares, ihr auch nicht. Wir existieren jenseits aller Grenzen. Unsere Existenz
besteht aus Beziehungen. Es gibt keine Substanz, aber Beziehung. Das zu realisieren regt den
Geist des Mitgefühls an und löst das Hindernis auf, das wirklicher Liebe entgegensteht, unseren
Egoismus. Dann öffnet sich unser Herz für die Realisation unsere gemeinsamen Existenz.
Der Sinn unseres Lebens besteht darin, uns um diese gemeinsame Existenz zu kümmern, indem
wir harmonische Beziehungen herstellen zwischen den Menschen, zwischen den Menschen und
der Natur, Tieren und Pflanzen. Daraus entsteht tiefer Respekt vor allem, das an der gleichen
Wirklichkeit teilhat, an dieser gemeinsamen Existenz in Wechselbeziehung.
Um das zu verwirklichen muss man den Geist fallen lassen, der unablässig Trennungen schafft,
d.h. den gewöhnlichen Geist. Das verwirklicht die Praxis von Zazen.

28.5.2014, 16.30 Uhr
Mondo
Welche Bedeutung hat der Ahornring beim Rakusu? Warum haben unsere Rakusus keinen Ring?
Ich kenne den Grund nicht, warum unsere Rakusus ohne Ring sind. Der Ring stammt aus einer
chinesischen Tradition, und die japanischen Mönche der Soto-Schule haben diese Tradition übernommen.
Meister Deshimaru trug manchmal ein Rakusu mit Ring, hat uns aber geraten, keinen
Ring zu tragen. Ich habe mich selber nie mit dieser Frage befasst, einfach weil Meister
Deshimaru es uns nie gelehrt hat.
Es gibt viele verschiedene Stile und Formen. Zum Beispiel gibt es auch unterschiedliche Zagus,
die einen haben ein dunkles Quadrat in der Mitte, andere sind völlig weiß oder ganz und gar
gefärbt. Einige Mönche sagen, ihr Zagu entspräche dem Stile Kodo Sawakis und die anderen,
wie meines mit dem Quadrat in der Mitte, wären falsch. Derartige Betrachtungen finde ich
albern. Ich konzentriere mich darauf, der Form zu folgen, die mich mein Meister gelehrt hat.
Dabei kritisiere ich die anderen nicht, es kann ja andere Rakusu- oder Zagu-Stile geben.
Schlimm finde ich aber, wenn man einer Form anhaftet und behauptet, dies sei die wahre Form.
Ich denke, gerade bei Zen- Schülern ist dies ein schlimmer geistiger Irrtum. Es ist einfach
arrogant zu behaupten: „Ich habe die wahre Form, das wahre Rakusu.“ Am einfachsten ist, man
folgt der Weise, die einem gelehrt wurde.
Das Gleich gibt es bei der Haltung der Hände. Im Rinzai hält man die Hände anders, bei vielen
Buddhastatuen liegt die rechte Hand oben. Dann gibt es eine Vielzahl von komplizierten Erklärungen,
um den Unterschied zu rechtfertigen. Ich lege die linke Hand auf die rechte Hand, weil
ich es so von meinem Meister gelernt habe. Es ist gut, einfach dem zu folgen, was einem gelehrt
wurde. Letztlich sind Formen relativ. Eine Form ist möglich, eine andere ebenso. Daher ist es
unnötig, beweisen zu wollen, dass eine Form die beste oder wahre Form ist.
Machen die Mönche der Soto-Schule Bettelgänge?
In Japan sind Bettelgänge eine Tradition, die von der Bevölkerung verstanden und akzeptiert
wird. Der Staat gibt den Mönchen sogar die Erlaubnis zu betteln. Auch hier könnte man
Bettelgänge unternehmen, was vielleicht interessant wäre, aber man müsste der Bevölkerung die
Tradition erklären. Es ist nicht das gleiche Betteln wie das der Obdachlosen. Für den bettelnden
Mönch ist es ein Akt der Demut zu akzeptieren, von den Almosen der anderen abhängig zu sein.
Gleichzeitig macht er den anderen ein Fuse, indem er ihnen die Gelegenheit gibt, den Drei
Kostbarkeiten eine Spende zu machen. Wenn man einem Mönchen Almosen gibt, erhält man
große Verdienste, weil man den Drei Kostbarkeiten geholfen hat.
Der Mönch bedankt sich auch nicht dafür, Almosen erhalten zu haben. Er bleibt einfach gerade
stehen und hält seine Schale. Der Spender macht danach Gassho und dankt dem Mönch, dass
dieser das Fuse akzeptiert hat. Es ist eine lange Tradition, deren Bedeutung die Japaner kennen.
Wenn wir in den Kölner Straßen betteln würden, würde es die Kölner Bevölkerung sicherlich
nicht verstehen. Aber ich halte es für eine gute Idee, zu versuchen diese Praxis einzuführen. Man
müsste sich jedoch darauf vorbereiten, vorab die Stadt um Erlaubnis bitten und erklären, warum
man es tut. So könnte es funktionieren.
Warum wird Kannon in einer weiblichen Form dargestellt? Wird dadurch der Aspekt des Mitgefühls
unterstrichen?
Wahrscheinlich ja. Aber Kannon wird nicht immer in einer weiblichen Form dargestellt. Dies
begann erst in China. In Indien wird Avalokiteshvara nicht als Frau dargestellt. Im Allgemeinen
sieht man Mitgefühl, Liebe und Wohlwollen als eher weibliche Eigenschaften an, vermutlich
weil diese Eigenschaften von den Müttern stark entwickelt wurden. Kraft und Weisheit werden
eher als männliche Eigenschaften angesehen.
Eigentlich sollte Kannon keine besondere Form haben. In Wirklichkeit sind wir alle Kannon,
wenn wir unser Mitgefühl ausdrücken. Kannon nimmt alle möglichen Formen an. In der
asiatischen Literatur gibt es viele Geschichten über Kannon, in denen Kannon sich als
Verkörperung des Mitgefühls in unterschiedlichen Rollen manifestiert, in männlichen und
weiblichen. Wichtig ist, dass jeder unter uns den Geist Kannons in sich verwirklicht.
Ich habe von den Buddhas der zehn Richtungen gelesen. Welche sind diese zehn Richtungen?
Es sind Norden, Süden, Osten, Westen, Nordosten, Nordwesten, Südosten, Südwesten und oben
und unten. Die zehn Richtungen bedeuten das ganze Universum, alle Universen. Wenn man von
den Buddhas der zehn Richtungen spricht, meint man alle Buddhas in allen Universen.
Es mag seltsam klingen, wenn man von Universen spricht, weil das Universum im Allgemeinen
alles beinhaltet. Aber im Buddhismus und vor allem im Mahayana hat man eine äußerst weite
Sicht auf den Kosmos. Zum Beispiel geht es an einer Stelle im Brahma-Netz-Sutra um
Milliarden Buddhas, die die Unterweisungen des Haupt-Buddhas Vairocana studierten.
Ich mag diesen weiten, unbegrenzten Geist. Der Mahayana-Buddhismus ist völlig in Kontakt mit
der Unbegrenztheit, wodurch der Geist geöffnet wird. Er verhindert, dass man fanatisch oder
einseitig wird und von „meinem Buddha“ spricht. Zu allen Zeiten gab es Buddhas in allen
Universen. Auch hier und jetzt gibt es viele Buddhas. Jeder ist Buddha, wenn auch noch nicht
ganz verwirklicht.
Welches Vertrauen kann man in seine Gedanken haben? Du hast gesagt, dass sie ohne Substanz
sind und sich verändern. Aber das bedeutet doch nicht, dass sie bedeutungslos sind. Wie kann
ich unterscheiden, ob meine Gedanken aus dem Zen-Geist hervorgehen oder egozentrischen Ursprungs
sind?
Es gibt zwei Kriterien. Das eine stammt von Buddha. Es ist das rechte Denken, der erste Aspekt
des Achtfachen Pfades. Hier handelt es sich um das Denken, das das Dharma ausdrückt und mit
der tiefen Wirklichkeit übereinstimmt. Insbesondere erkennt dieses Denken deutlich die Unbeständigkeit
und die Abwesenheit von fester Substanz in allem, was existiert. Beides sind Siegel
des Dharma. Das ist wichtig. Es ist auch das Denken, das alle Konsequenzen zieht und keine
Anhaf- tungen schafft. Weil alles unbeständig und ohne Substanz ist, können wir nichts
festhalten, nicht einmal das rechte Denken, weil wir sonst dogmatisch werden. Wer dem rechten
Denken anhaftet, verfälscht es.
Aus diesem Grund spricht man immer von der Leerheit der Leerheit. Aus der Leerheit heraus
denken ist aus buddhistischer Sichtweise das rechte Denken. Wenn man diesem Denken aus der
Leerheit heraus anhaftet, wird dieses Denken etwas, ein Objekt der Anhaftung, und folglich ist es
nicht mehr Leerheit. Das ist das Kriterium der Unterweisung Buddhas.
Darüber hinaus gibt es eine Menge wissenschaftlicher Gedanken, die in einem gegebenen
Moment richtig sind, z.B. ‚Die Erde dreht sich um die Sonne.’ Dieser Gedanke ist wahr, aber er
entspricht nicht dem rechten Denken der buddhistischen Sichtweise. Vom buddhistischen
Standpunkt aus ist das rechte Denken ein Denken, das aufweckt und befreit. Es befreit ganz
konkret von den Leidens- ursachen, also den Illusionen. Im täglichen Leben ermöglicht das
rechte Denken die Befreiung von einer Anhaftung. Falsches Denken verursacht oder verstärkt
Anhaftungen und schafft dadurch Leiden.

30.5.2014, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Konzentriert euch ganz auf die
Haltung eures Körpers und seid völlig achtsam auf eure Atmung. Lasst alle Gedanken vorbeiziehen,
indem ihr zur Konzentration auf den Körper zurückkehrt. Jedes Mal, wenn man zum
Kör- per zurückkehrt, lässt man ganz natürlich seine Gedanken los, ohne dass man sie verwerfen
oder unterdrücken muss. So wie sie erschienen sind, verschwinden sie wieder, wenn man sie
nicht in Gang hält, wenn man ihnen nicht anhaftet. Am Ende verschwinden die Gedanken auch
wieder, wenn man ihnen anhaftet, aber es dauert und ist verlorene Zeit, verlorene Zeit für den
Weg, der uns zur Wirklichkeit unseres Lebens zurückbringt, zur Wirklichkeit eines Lebens ohne
Trennungen, in Einheit mit allen Existenzen.
Der direkteste Weg, um sie zu verwirklichen, ist die Konzentration auf den Körper. Legt all eure
Energie in die Haltung. Die Knie liegen fest auf dem Boden, das Körpergewicht drückt gut auf
das Zafu. Entspannt den Bauch, neigt das Becken nach vorne und streckt die Wirbelsäule. Drückt
den Kopf in den Himmel und die Knie auf den Boden. Lasst auch alle Spannungen im Rücken
und in den Schultern los. Das Kinn ist zurückgezogen, das Gesicht entspannt und die Zunge liegt
am Gaumen. Der Blick ruht einfach auf dem Boden, ohne dass man den visuellen Objekten um
einen herum anhaftet.
Wer den Sinnesobjekten nicht anhängt, braucht sie auch nicht zu verwerfen. Dann ist es zum
Beispiel nicht nötig, die Augen zu schließen, die Ohren zu verstopfen oder sich auf den Gipfel
eines hohen Berges zurückziehen, um die wahre Stille wiederzufinden. Die wahre Stille ist die
Stille im Geist. Beendet jede Diskussion, ob innerhalb oder außerhalb.
Die linke Hand liegt in der rechten Hand. Die Daumen sind waagerecht und die Handkanten in
Berührung mit dem Unterbauch. Sie bilden das Mudra Hokkai join, das Siegel des Samadhi des
Dharma-Ozeans. Das Samadhi ist die große Konzentration von Zazen. Wenn man aufhört, seine
Gedanken zu verfolgen oder zu verjagen, wenn man ganz klar ihre Leerheit sieht, bleibt man
nicht mehr an ihnen haften. Dann braucht man sie nicht mehr vertreiben, sondern lässt sie
einfach vorbeiziehen. Die Hände machen nichts, und der Geist hört auf, geistige Konstrukte zu
erschaffen. Die Hände ergreifen nichts, und der Geist ergreift auch nichts mehr. Selbst wenn man
etwas ergreifen möchte, realisiert man, dass letztlich alles unfassbar ist.
Die Ablehnung dieser Tatsache führt zu Leiden. Wer sie aber tief annimmt, erfährt eine große
Befreiung und braucht sich nicht mehr so sehr anstrengen, um zu praktizieren. Körper und Geist
sind ganz natürlich in Einheit und in Harmonie mit dem Weg. Wenn wir nicht mehr die wahre
Natur unserer Existenz verraten, kehren wir zu unserem normalen, ursprünglichen Zustand
zurück. Das ist der Sinn des Sesshins.
Wir harmonisieren uns unbewusst und natürlich mit Hokai, dem Dharma-Ozean, mit allen
Existenzen, mit der Buddha-Natur. Es ist nicht nötig, daran zu denken. Wir wenden uns ganz
einfach wieder der Zazen-Praxis zu und vergessen jede Absicht. Wir sitzen einfach, indem wir
alles andere fallenlassen. So ist die Praxis eines jeden Augenblicks Verwirklichung. Es ist nicht
nötig, auf eine zukünftige Verwirklichung zu warten. Hier und jetzt ist alles da. Alles ist gegenwärtig,
und wir harmonisieren uns damit.

30.5.2014, 11 Uhr
Wir sitzen vor einer Wand, um Zen zu praktizieren. Wer in der Natur praktizieren möchte, setzt
sich vor einen Baum oder einen Felsen, denn es ist der Sinn unserer Praxis, den Blick nach innen
zu wenden und unsere wahre Natur zu erhellen. Wenn wir unseren Blick nach innen richten,
entdecken wir anfangs alle möglichen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Erinnerungen, Bilder, alle
Arten von Phänomenen. Hängen wir diesen Phänomenen nach, können wir nicht den tiefen Sinn
der Praxis entdecken.
Ein Gedanke taucht auf. Woher kommt dieser Gedanke? Ich praktiziere Zazen. Was ist dieses
Ich, das Zazen praktiziert? Dies ist das wahre Koan unserer Praxis. Anstatt sich von den
Phänomenen mitreißen zu lassen, richten wir unseren Blick auf ihre Quelle, auf ihren Ursprung,
indem wir von Augenblick zu Augenblick äußerst aufmerksam auf das Erscheinen dieser
Phänomene sind.
Wenn man gut auf die Körperhaltung konzentriert ist, wirkt diese Konzentration wie ein weiter
Spiegel. Der kleinste Gedanke, die kleinste Wahrnehmung oder Empfindung wird sich in diesem
Spiegel reflektieren. Aber wo waren sie, bevor sie erschienen? Wer die Quelle, den Ursprung
sucht, entdeckt letztlich, dass sie nicht fassbar ist. Das ist das Ende jeder Suche. Das ist kein
Aufgeben, sondern die Verwirklichung, dass die Essenz, der Ursprung unseres Lebens unfassbar
ist. Damit harmonisieren wir uns ohne Bedauern, indem wir einen Geist verwirklichen, der auf
nichts stag- niert und sich so mit der völligen Unbeständigkeit aller Existenzen in Einklang
bringt.
Es könnte sein, dass unser Ego wehmütig nach etwas Substanz sucht, auf die es sich berufen
oder stützen kann. Der Geist hat allerhand Konzepte und Begriffe erfunden, um zu versuchen,
diese Substanz zu bilden: Sein mit großem ‚S’, Gott mit großem ‚G’, Buddha mit großem ‚B’.
Wenn wir uns aber fragen, was es wirklich in der Tiefe ist, ist es nicht fassbar, weil es
unbegrenzt, unendlich und unmöglich vom Ganzen zu trennen ist. Wir selbst können uns nicht
vom Ganzen trennen. Wir existieren nur durch eine Vielzahl von Ursachen und wechselseitigen
Abhängigkeiten, so wie die Welle und der Ozean. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist die tiefe
Wirklichkeit unseres Lebens. Das ist es, was man Buddha-Natur nennt: wechselseitig abhängige
Beziehungen. Aber um sie wirklich zu erfahren, ist es nötig aufzuhören, den unterschiedlichen
Formen der verschiedenen Phänomene anzuhängen und Augenblick für Augenblick seinen Blick
auf die Quelle zu richten. Sich nicht damit zufrieden geben, Blätter und Zweige zu sammeln,
sondern zur Wurzel gehen und vielleicht auch erkennen, dass die Wurzel selbst unfassbar ist, so
wie die Quelle nicht vom Himmel getrennt ist und auch nicht vom Regen, von den Wolken, vom
Ozean, von der Sonne, vom ganzen Universum.

Freitag, 3. Zazen, 16.30 Uhr
Während Zazen ist es besser, seiner Atmung zu folgen, statt seinen Gedanken nachzugehen. In
dem Moment, in dem wir einatmen, sind wir völlig ein Körper und Geist, der einatmet. Und im
Moment der Ausatmung sind wir ein Körper und Geist, der ausatmet. Die Konzentration auf die
Atmung bringt uns zurück zum Hier und Jetzt unseres reellen Lebens. Dann können wir leicht
alle geistigen Konstrukte aufgeben. Der Geist findet zurück zu seinem natürlichen Fluss.
Aber wenn ich meiner Atmung folge, gibt es noch ein Ego, das etwas tut. Besser ist es, die
Atmung machen zu lassen, sich der Atmung hinzugeben. Auf diese Weise verbindet die Atmung
uns mit unserem Leben jenseits des Egos, mit unserem wirklichen Leben.
Was macht ihr, wenn ihr Zazen macht? Yakusan beantwortete diese Frage so: „Ich mache nichts.“
Sein Meister, Sekito, fragte ihn daraufhin: „Was heißt, etwas zu tun, und was heißt, nichts zu
tun?“
Yakusan antwortete ihm: „Selbst zehntausend Gelehrte können es nicht erklären und auch nicht
Buddha.“ Sekito war sehr glücklich über diese Antwort.
Am Anfang strengt man sich an, um Zazen zu machen. Man fährt auf ein Sesshin, um Zazen zu
praktizieren. Aber Zazen machen ist noch zu viel, zu viel machen. Vor allem, wenn man es
bewusst macht. Hört auf, irgendetwas zu machen und begnügt euch damit, einfach zu sitzen.
Wer versucht, zu viel zu machen, vergisst, einfach zu sein. Dieses Vergessen ist bedauerlich. Es
ist die große Krise des Menschen. Es hindert uns daran, in Harmonie mit der kosmischen
Ordnung, mit dem Dharma zu sein. Und diese Trennung ist Ursache von vielen Leiden, von
Frustrationen und Unzufriedenheit. Dadurch multiplizieren sich die Wünsche.
Ein Sesshin machen heißt, sich selbst die Gelegenheit geben, dies zu verstehen, und zu lernen
sich damit zu begnügen, nur zu sitzen und einfach ein Sitzender zu sein. Einfach zu gehen,
einfach zu essen, einfach zu schlafen. Es bedeutet, in jedem Augenblick mit unserem Leben in
Einheit zu sein und zu realisieren, dass dieses Leben nicht uns gehört, sondern das Leben des
ganzen Universums ist.
Jeder hat ein anderes Leben, das von seinem Karma und von seiner Geschichte konditioniert ist.
Dies erzeugt viel Unverständnis. Aber in der Tiefe leben wir alle das gleiche Leben, ein Leben
ohne Trennungen. Mit jemand i shin den shin sein heißt, dieses Leben ohne Trennungen zu
teilen. Es verwirklicht sich, wenn man den gewöhnlichen Geist aufgibt und ohne zu denken
denkt. Hishiryo.
Mondo
Seit gut zehn Jahren hat man in Europa und in den USA die Begriffe ‚tiefe Meditation’ oder
‚Achtsamkeit’ auftauchen sehen, auf Betreiben von Jon Kabat-Zinn in den Staaten und Christoph
André in Frankreich. Was hältst du von der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, MBSR?
Der entscheidende Punkt ist, dass es sich um eine nicht-spirituelle Meditationspraxis handelt.
Jetzt müsste man erläutern, was ‚spirituell’ bedeutet. Aber eins ist klar: Wer Meditation benutzt,
um etwas zu bekommen, ob als Mittel gegen Stress oder Depressionen, oder um mit ihrer Hilfe
seine Leistung zu steigern, stellt die Meditation in den Dienst des menschlichen Egos. Der tiefe
Sinn der Meditation aber ist, die Anhaftung an das menschliche Ego aufzugeben. Man nennt es
die spiri- tuelle Dimension der Meditation. Die wahre Meditation beginnt genau jenseits dieser
Achtsam- keitsübungen. Sie beginnt in dem Moment, in dem wir ohne Absichten meditieren, in
dem wir mushotoku sind, ohne irgendetwas zu erwarten, ohne Hintergedanken. Die Benutzung
der Medi- tation mit unterschiedlichen Zielen, aber immer, um ein Resultat für sein kleines Ego
zu erlangen, verrät den tiefen Sinn der Meditation in dem Sinn, wie Buddha es gelehrt hatte.
Dennoch missbillige ich es nicht, weil ich glaube, dass die Mushotoku-Praxis sehr schwierig ist.
Menschen mit starken psychischen Leiden, die sehr gestresst oder tief deprimiert sind, deren Ego
völlig erschüttert ist und nicht mehr zufrieden gestellt werden kann, können nicht die
Anstrengung aufbringen, über ihr Ego, das wieder aufgebaut werden muss, hinauszugehen. Und
ich denke, die Unterweisung der Achtsamkeit in einem therapeutischen Rahmen und mit dem
Ziel, das Ego zu reparieren, ist in gewisser Hinsicht gut. Es ist die erste Ebene für einige
Menschen, die keine spirituelle Motivation haben und die sich überhaupt nicht vorstellen
können, etwas aufzugeben. Für sie es ist die erste Annäherung, um Zugang zu einer
Meditationspraxis zu finden.
Allerdings ist es wichtig, dass die Menschen, die solche Praktiken unterweisen, die Ehrlichkeit
haben, auch deren Grenzen zu benennen. Dies habe ich zum Beispiel Christoph André sagen
hören, als wir für eine Fernsehsendung zusammengearbeitet haben. Er war auch in der
Gendronnière, um Lehrgänge zu geben. Ich habe den Eindruck, dass er diese Ehrlichkeit hat. Am
Ende eines Kurses sagte er zu seinen Schülern: „Wenn ihr in diese Richtung weitergehen wollt,
dann macht ein Sesshin in der Gendronnière.“ Daher denke ich, dass diese große Bewegung die
Meditation begünstigt.
Wenn man vor zwanzig Jahren von Meditation sprach, dachten die Menschen sofort an Sekten.
Meditation hatte einen ganz schlechten Ruf. Heute möchten alle meditieren. Das ist großartig! Es
ist also jetzt an den Dojo-Leitern, den buddhistischen Unterweisenden und den Meistern, die
Unterschiede herauszustellen, dass diese Annäherung, diese erste Grundstufe eine Art
Einführung ist. Wenn man möchte, kann man auf diesem Weg weitergehen.
Menschen wie Jon Kabat-Zinn und Christoph André, die auch den Buddhismus praktizieren, sind
in der Lage, diese Grenzen aufzuzeigen. Das Problem ist, dass sie auch andere Therapeuten ausbilden,
die einfach versuchen, ein zusätzliches Mittel zu haben, um Geld zu verdienen und ihrer
Vielfalt von Therapieangeboten etwas hinzuzufügen. Ich fürchte, dass nicht alle dieser Leute in
der Lage sind, diese Unterschiede zu erkennen und ihren Patienten zu erklären.
Darüber hinaus kann es Menschen blockieren. Sie könnten sich sagen: „Das reicht mir aus.
Warum sollte ich weitergehen?“ Es gibt Menschen, die kommen ins Dojo und sagen: „Ich mache
lieber Achtsamkeitsübungen, die sind einfacher.“ Es gibt immer zwei Seiten. Aber alles in Allem
halte ich die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre für günstig unter der Voraussetzung, dass all
die, die darüber reden oder die Meditation unterweisen, in der Lage sind, die Unterschiede zu
zeigen.
Wenn die Godos der AZI von Wellness reden hören, werden sie misstrauisch. Sie missbilligen
diesen Begriff sogar und halten Wellness für materialistisch. Ich finde das nicht richtig. Es ist
legitim, eine Art Wohlergehen für sich zu suchen. Aber wir sollten mehr und mehr vertiefen, was
Wellness für uns wirklich bedeutet. In der ersten Zeit geht es vielleicht darum, besser schlafen zu
können, weniger gestresst zu sein oder aus einer Depression herauszukommen, was durchaus
sehr wichtig ist. Aber wirkliches Wohlergehen bedeutet, in Harmonie mit dem Wesentlichen
seines Lebens zu sein. Wellness oder Wohlergehen heißt, erwacht zu sein. Aber ich denke, dass
diese Dimension des Erwachens, in Harmonie mit dem Dharma oder der Buddha-Natur zu sein,
für manche Menschen viel zu weit geht, wo sie doch erst dabei sind, ihr Wohlergehen in ihren
jetzigen Bedürfnissen suchen. Meister Deshimaru missbilligte genauso wenig wie Buddha diese
mensch- lichen Bedürfnisse. Aber er zeigte immer, dass es darüber hinaus noch eine Dimension
gibt. Genau dies sollten wir auch tun.
Wie sollen wir mit Leidenschaften umgehen? Gibt es Menschen, die keine Leidenschaften
haben?
Vielleicht. Ich weiß es nicht. Das hängt davon ab, was man mit Leidenschaften meint. Es gibt
Menschen, die sagen, ohne Leidenschaften hätte das Leben keinen Wert, was bedeuten würde,
dass ihr Leben ohne Leidenschaften, die sie motivieren, deprimierend wäre. Für mich zum Beispiel
ist Zen absolut eine Leidenschaft. Seit vierzig Jahren widme ich mein Leben dem Zen. Da
kann ich sagen, es ist meine Leidenschaft, aber es ist keine schmerzhafte Leidenschaft.
Wenn man im Buddhismus von Leidenschaften spricht, spricht man von Bonno oder Klesa,
Beschmutzungen, anders gesagt, von Anhaftungen, und die sind extrem schmerzhaft. Der
Buddha versuchte, die Menschen zu lehren, wie sie sich von ihren Anhaftungen befreien können,
um ihre Leiden zu lindern. Die ganze Weisheit Buddhas konzentrierte sich auf diesen Punkt.
Dennoch war es seine Leidenschaft, die Menschen zu befreien. Es war sein tiefstes Gelübde,
dem er seine ganze Energie widmete.
Aber dies ist eine Leidenschaft, die kein Leiden schafft und dem Leben einen tiefen Sinn gibt.
Sie mobilisiert unsere Energie und regt uns an. Meister Deshimaru sagte, dass der gewöhnliche
Mensch eine Menge kleiner Wünsche und Leidenschaften hat. Der Bodhisattva hingegen hat
einen einzigen großen Wunsch: allen Menschen zu helfen, sich zu befreien, indem er die Praxis
des Weges mit ihnen teilt. Ich glaube, solange wir diesen Wunsch, Bodaishin, den Wunsch, allen
Wesen zu helfen, nicht haben, bleibt unser Leben begrenzt. Wir sind im Schneckenhaus unseres
kleinen Egos eingeschlossen und daher nicht in Harmonie mit der Buddha-Natur. Aus diesem
Grund leiden wir.
Wer leidet, wer sich nicht gut fühlt, sucht Abhilfe und denkt, er benötige neue Leidenschaften,
neue Wünsche, denen er nachgehen kann. „Ich reise leidenschaftlich gerne, aber am Ende sind
Reisen doch nicht so interessant. Ich muss wieder etwas anderes suchen. Dann interessiere ich
mich eben leidenschaftlich für Kunst oder für die Liebe, usw.“ Es hört nicht auf. Dies ist die Verkettung
der Bonnos. Folglich ist es das Wichtigste, seinen wahren Wunsch, seine tiefe Leidenschaft
zu finden.
Als praktizierender Zen-Buddhist denke ich, dass diese grundlegende Leidenschaft der Geist des
Erwachens ist. Für Christen kann es auch heißen, den Glauben an Christus zu vertiefen. Ich
denke, der Mensch ist in der Tiefe ein spirituelles Wesen. Erst in dem Moment, in dem er diese
Dimension in sich selbst gefunden hat, kann er wirklich befriedigt sein. Dann werden auch die
andern Leidenschaften, die Anhaftungen, die Bonnos und die kleinen Wünsche weniger wichtig.

31.5.2014, 7 Uhr
Richtet während Zazen eure ganze Energie auf die Haltung. Lenkt eure Aufmerksamkeit auf die
Atmung. Folgt nicht euren Gedanken und messt ihnen keine Bedeutung bei. Wenn wir unseren
Gedanken folgen, wenn wir ihnen nachhängen, leben wir in der begrenzten Welt unserer
geistigen Erzeugnisse. Wir machen uns ein Bild von uns selbst: ‚Ich bin jemand, der so oder so
ist.’ Damit schließen wir uns in eine Identität ein und trennen uns vom ganzen Universum, von
der Wirklich- keit. Dabei vergessen wir unseren wahren Ursprung, unsere wahre Buddha-Natur.
Diese Unwissenheit, die durch unsere Illusionen erzeugt wurde, verursacht alle Arten von
Leiden- schaften, hauptsächlich Gier nach allem, von dem wir glauben, dass es die fehlende
Einheit in unserem Leben kompensieren kann, und Hass gegen alles, was die Wünsche unseres
kleinen Egos stört. Wenn wir uns in Zazen setzen und uns völlig von der Praxis aufsaugen lassen,
wenn Körper und Geist in Einheit mit der Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks sind,
entsteht eine Öff- nung. Dann sind es nicht mehr unsere gewöhnlichen Auffassungen, die uns
leiten. Unser Bewusst- sein fängt an, im Hishiryo-Modus zu funktionieren, das heißt, es hört auf,
irgendeinem Begriff anzuhängen und Gefangener der Sprache zu sein, denn gewöhnlich bemüht
sich alles in uns, etwas zu ergreifen. Durch Zazen können wir unseren alten Geist loslassen und
einen neuen Geist wiederfinden, der offen für die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks ist,
für die Wirklichkeit, die sich in keine Sprache einschließen lässt und die sich in der Stille des
Geistes zeigt. Es ist so, als würden wir in das Reich Buddhas eintreten, uns Buddha anvertrauen,
uns von ihm leiten lassen und über uns selbst hinausgehen. Es sind nicht mehr wir, die
praktizieren, sondern es ist Buddha, der in uns praktiziert und das Hishiryo-Bewusstsein, das uns
leitet. Wir brauchen ihm nur zu folgen und uns ganz natürlich mit dem Dharma harmonisieren.
Dann wird die Praxis einfach, weil alle Hindernisse, die wir auf dem Weg aufgebaut haben,
verschwinden.
Aber wir sollten aufpassen, dass wir nicht neue Hindernisse aufbauen, indem wir neuen
Begriffen anhaften oder versuchen, diese Erfahrung der Buddha-Natur in unseren geistigen
Kategorien einzuschließen.
Auch wenn er sich fünfundvierzig Jahre lang mit Worten und Sätzen ausgedrückt hatte, gab
Buddha Shakyamuni letztlich die Essenz seiner Erfahrung jenseits der Worte weiter. Er drehte
einfach eine Blume zwischen seinen Fingern und war völlig aufmerksam auf die Blume, so wie
sie war.
Das Halten und Drehen der Blume bedeutet, die Zazen-Haltung einzunehmen und in der
Aufmerksamkeit auf Haltung und Atmung, so wie sie sind, aufzugehen. Wenn das jeder
praktiziert, entwickelt sich zwischen uns eine wahre i shin den shin-Verbindung. Wir teilen den
gleichen Geist und die gleiche Erfahrung genauso wie Buddha und Mahakashyapa. Dies ist die
Quelle der Weitergabe des Zen: immer frisch, immer neu.

31.5.2014, 11 Uhr
‚Sesshin’ bedeutet, mit dem wahren Geist vertraut werden, dem Geist, der auf nichts stagniert,
dem Geist, der alles umfasst und der nicht von unseren Gedanken begrenzt wird, dem wendigen
Geist, der durch die Praxis des Loslassens beweglich wird, dem Geist, der ganz deutlich die
Leerheit all unserer Anhaftungen erkennt, und auch unsere völlige Einheit mit allen Wesen
wahrnimmt, wenn alle Hindernisse verschwinden. Dann fühlen wir uns ganz natürlich
solidarisch mit allen Daseinsformen und der Geist des Mitgefühls entwickelt sich. Es ist dieser
Geist, der uns dazu bringt, die vier Bodhisattva-Gelübde abzulegen. Es ist der Geist des
Erwachens in uns, der diese Gelübde ausspricht. Wir sprechen die Bodhisattva-Gelübde aus, weil
wir die Verwirklichung des Weges mit allen Wesen teilen möchten. Ebenso ist es der Geist der
Wohlwollens und des Mit- gefühls, der uns das Gelübde ablegen lässt, die Wesen von ihren
Illusionen zu befreien und die Verwirklichung des Erwachens zu teilen.
Den Weg allein zu realisieren ist nicht die wahre Verwirklichung, denn die wahre Verwirklichung
ist die des Lebens ohne Trennungen. Wir können nicht anders, als dieses Leben mit den anderen
teilen zu wollen. Aus diesem Grund praktizieren wir gerne gemeinsam mit der Sangha. Auch
wenn wir das Gelübde ablegen, alle Bonnos, alle Leidensursachen, zu beseitigen, heißt dies
nicht, dass wir uns bereits von allen befreit haben. Wir müssen nicht vollkommene Buddhas sein,
voll- kommen erwacht, um den Wesen zu helfen, sich selbst zu befreien. Es reicht aus, den Weg
zu kennen und jedem zu helfen, ihn zu entdecken und ihn zu gehen. Dieser Weg ist unendlich,
und wir können nicht anders, als ewig auf dem Weg zu sein. In diesem Weitergehen mit den
anderen, mit dem Wunsch, diese Praxis mit anderen zu teilen, gibt es letztlich bereits Erwachen
und Verwirk- lichung. Das Ablegen der Bodhisattva-Gelübde ist bereits die Verwirklichung des
Erwachens, denn es bedeutet, jede Form von Ichbezogenheit aufzugeben und von einem
universellen Geist der Liebe erfüllt zu sein.

31.5.2014, 16.30 Uhr
Mondo
Wenn man Sex als eine Form von Meditation betrachtet, inwieweit kann man den Zen-Geist
verwirklichen?
Indem man auf seinen Partner, seine Partnerin, achtet und nicht egozentrisch ist. Die meisten
Leute sind beim Sex sehr erregt und denken nur an das eigene Vergnügen. Wichtig ist, dass die
sexuelle Beziehung ein wahrer Liebesakt wird, den beide Partner teilen. Bei diesem Teilen kann
man nicht egozentrisch sein, weil man sich in den anderen hineinfühlt. Auch ist es wichtig, treu
zu sein und den anderen nicht als Wegwerfobjekt zu betrachten.
Wenn ich die Übersetzung der Bodhisattva-Gelübde lese, halte ich sie nicht für realistisch.
Das stimmt. Die Gelübde repräsentieren ein Ideal, das nicht umsetzbar ist. Es ist ein Ideal, das
eine Richtung angibt. Wenn man tief über das erste Gelübde nachdenkt, alle fühlenden Wesen zu
retten, ist es offensichtlich, dass die Umsetzung für eine Einzelperson unmöglich ist.
Was heißt das, dieses Gelübde abzulegen, obwohl es einem nicht möglich ist, es umzusetzen?
Zuerst bedeutet es, dass ich nicht von mir glaube, selber in der Lage zu sein, alle Wesen zu
retten, sondern dass ich ihnen helfen kann, sich von ihren Leiden zu befreien. Ich kann ihnen
dabei helfen, den Weg zur Praxis zu finden, die es ihnen wirklich ermöglicht, sich selber von
ihren Leiden zu befreien.
Wenn wir von allen Wesen sprechen, dürfen wir nicht unterscheiden zwischen den Wesen, die
wir mögen, die uns nahe sind, und den anderen. Oft neigen wir dazu, mit den Menschen, die wir
gerne haben, mitfühlend und wohlwollend zu sein. Der Bodhisattva hat eine universelle Liebe,
das heißt eine Liebe, die keine Unterscheidung zwischen den Wesen macht. Hier können wir
unsere Gren- zen bei der Verwirklichung beobachten. Das ist sehr interessant. Meiner Meinung
nach ist dies eins der besten Kriterien des Erwachens. Bis zu welchem Punkt bin ich fähig,
mitfühlend und wohl- wollend den Wesen gegenüber zu sein, die ich nicht kenne oder die mir gar
feindlich gesinnt sind? Kann ich wirklich das Gelübde ablegen, allen Wesen zu helfen ohne
auszuwählen? Dies wird zu einer guten Praxis und zu einer interessanten Beobachtung, um zu
sehen, wo man selber in seiner eigenen Verwirklichung steht. In diesem Moment wird man
natürlich seine Grenzen finden, man sollte dabei aber keine Schuldgefühle entwickeln.
Das Gleiche gilt für die anderen Gelübde. Sie sind so groß, so enorm, dass uns unsere eigene
Verwirklichung, unsere Praxis im Vergleich zu den Gelübden immer ungenügend erscheint. Das
darf aber nicht zu Schuldgefühlen führen. Wir dürfen uns nicht sagen: „Was bin ich für ein
schlechter Bodhisattva, unfähig wie ich bin.“ Schuldgefühle sind eine Art Selbsthass, die gegen
das buddhistische Gebot ‚nicht hassen’ gehen. Wir sollten auch uns selbst gegenüber
wohlwollend sein. Daher ermuntert uns das Gelübde, jeden Tag unser Bestes zu geben und jeden
Tag im Rahmen unserer Möglichkeiten einen weiteren Schritt in die richtige Richtung zu
machen.
Wenn wir davon sprechen, alle Wesen zu retten, was bedeutet dabei ‚retten’? Im Buddhismus
bedeutet es, zu erwachen. Aber niemand kann jemanden retten. Selbst der Buddha kann das Erwachen
nicht jemand anderem geben. Aber wir können den Wesen helfen zu erwachen.
Wenn mir diese Art Fragen gestellt werden, zitiere ich immer Meister Eno, den sechsten Patriarchen.
Seine Worte haben mich sehr beeindruckt. Er sagte: „Ich, Eno, bin unfähig,
irgendjemanden zu retten.“ Meister Eno war ein großer Meister. „Ich, Eno, kann niemanden
retten. Aber die Wesen können durch die eigene Buddha-Natur gerettet werden.“ Es bedeutet,
dass die Macht dieses großen Meisters darauf beschränkt war, diese Buddha-Natur zu erwecken
und jeden anzuregen, in Kontakt mit der eigenen Buddha-Natur zu kommen. Wodurch wird dies
am ehesten realisiert? Durch Zazen. Letztlich ist die Rolle eines Bodhisattvas, die Zazen-Praxis
mit den anderen zu teilen, und die anderen anzuregen, Bodaishin zu entwickeln, das heißt das
Streben nach dem Erwachen, das einen ermuntert, Zazen zu praktizieren.
Die drei anderen Gelübde sind mit dem ersten verbunden. Sie sind die natürliche Konsequenz
des ersten Gelübdes. Um das erste, grundlegende Gelübde zu realisieren, müssen wir die Wurzel
aller Bonnos, aller Leidensursachen finden, indem wir uns selbst kennenlernen. Wir sind für uns
selber das beste Spielfeld von Erfahrungen. Wir haben alle unsere Illusionen, unsere
Anhaftungen, die mehr oder weniger entwickelt sind. Wenn wir uns darauf konzentrieren, unsere
eigenen Bonnos zu beseitigen, geben wir den anderen ein gutes Beispiel und ermutigen sie, es
uns gleichzutun. Außer- dem erlangen wir dadurch eine relative Weisheit, das heißt geeignete
Mittel, um den anderen den Weg zu zeigen, wie sie ihre eigenen Anhaftungen aufgeben können.
Dann spricht man davon, alle Dharmas, alle Unterweisungen Buddhas, zu studieren. Es geht
natürlich nicht darum, ein Experte für Buddhismus zu werden, sondern darum, aus der enormen
Weisheit Buddhas zu schöpfen, die er in seinen verschiedenen, vielfältigen Lehren ausdrückte.
Dabei findet man Mittel und Wege, zur Entwicklung der eigenen Weisheit, um den anderen zu
helfen.
Zuletzt heißt es: „So vollkommen der Weg Buddhas ist, ich gelobe, ihn zu verwirklichen.“ Der
Weg ist hier nicht nur der Weg, auf dem man vorangeht. Er ist auch der Weg im Sinne von
Bodhi, die Verwirklichung des Erwachens. Auch hier geht es nicht nur um einen selbst. Wer das
Erwachen verwirklicht, ist am besten in der Lage, die andern anzuleiten.
Beim Erwachen gibt es unterschiedliche Grade. Jedes Mal, wenn wir eine Illusion aufdecken und
sie aufgeben, gibt es ein kleines Erwachen. Sich selbst tiefgehend verstehen bedeutet, zu
erwachen. Das Erwachen eines vollkommenen Buddhas ist aber ein Erwachen, das die
Allwissenheit be- inhaltet. Weil Buddha allwissend ist, versteht er alles, die ganze Wirklichkeit,
und es fällt ihm leicht, allen Wesen zu helfen.
Dabei muss ich an Meister Deshimaru denken, der als Geschenk die Encyclopedia Britannica in
zwanzig Bänden erhielt. Er sagte immer, man müsse über alles auf dem Laufenden sein. Es wäre
nicht nötig, von allem und in jedem Bereich ein Spezialist zu sein, aber man müsse sich über
alles informieren. Ein Bodhisattva, ein Zen-Meister muss über viele Dinge Bescheid wissen, um
mit dem anderen Gespräche führen zu können. Ein Bodhisattva sollte die Probleme der
Menschen aus den verschiedenen sozialen Schichten, den verschiedenen Berufen verstehen
können. Umso mehr Kenntnisse man hat, desto besser kann man die Welt und die Wesen
verstehen.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Ein vollkommener Buddha ist in Einheit mit dem ganzen
Universum, folglich ist er buchstäblich das ganze Universum. Seine Allwissenheit bedeutet, dass
er alles ist. Das soll euch jedoch nicht entmutigen, die Bodhisattva-Gelübde abzulegen. Macht
jeden Tag, was ihr könnt.
Entsteht Angst aus Hass und Gier heraus? Oder kann Gier und Hass auch aus Angst entstehen?
Im Buddhismus sind Gier und Hass die beiden grundlegenden Bonnos. Sie werden nicht von der
Angst, sondern von der Unwissenheit erzeugt, das heißt von Illusionen, von Verkennung. Es geht
nicht um eine zufällige Unwissenheit, weil man etwas nicht weiß, sondern weil man nicht wissen
will. Man will die Wirklichkeit nicht sehen, wie sie ist. Nicht nur ist man nicht erwacht, man will
nicht erwachen, weil es das Ego stört. Das Erwachen stört das Ego, was vielleicht mit Angst zu
tun hat, Angst vor der Gefahr, dass man dieses Ego aufgibt, wenn man Gier und Hass abhelfen
will. Diesen Zusammenhang gibt es durchaus zwischen Angst und Gier und Hass.
Ein anderer Zusammenhang besteht, wenn man gierig ist und Angst hat, nicht zu bekommen,
was man begehrt. Vor allem hat man Angst zu verlieren, was man bereits erlangt hat. Besonders
wenn man sich mit Gewalt etwas angeeignet hat und dabei von Hassgefühlen geleitet wurde,
bekommt man automatisch Angst vor Vergeltung. Es ist eine sehr archaische Angst. Ein Säugling
pendelt ständig zwischen Gier und Hass hin und her. Alle Menschen sind durch diese Phase
gegangen, was als Ergebnis zur Folge hat, vor allem wenn die aggressiven Triebe sehr stark
waren, dass wir Vergeltung fürchten. Wir fürchten, von dem Objekt, das wir verabscheuen,
zerstört zu werden. Dies ist eine psychologische Betrachtung, die durchweg in die Richtung des
Buddhismus geht, weil im Buddhismus Gier und Hass als hauptsächliche Leidensursachen
betrachtet werden. Die Abhilfe für Gier ist letztlich das Erwachen zur Wirklichkeit, zur Tatsache,
dass es uns in Wirklichkeit an nichts mangelt. Nur weil wir uns mit einem kleinen, begrenzten
Ego identifizieren, das vom Rest getrennt ist, haben wir dieses Mangelgefühl. Wer diese Barriere
des Egos aufgibt, wer sich in Einheit mit allen Wesen fühlt, ist ganz natürlich jenseits von
Mangel und Überfluss.
Die Angst betrifft auch das Verhältnis, das ich zu Meister Deshimaru hatte. Ich hörte ihn zum
ersten Mal bei einem Vortrag. Sein erster Satz war: „Sie müssen Angst haben!“ Er fügte hinzu:
„Sie müssen Angst vor der kosmischen Ordnung haben.“ Danach referierte er über das Thema,
dass sich der Mensch völlig verrannt hatte, weil er nicht der kosmischen Ordnung folgte, was
sehr gefährlich für die Zukunft der Menschheit und des Planeten ist. Es war die erste ökologische
Rede, die ich gehört hatte, lange bevor man von Umweltschutz sprach.
Am Ende seines Lebens, während seiner letzten Monate, predigte er die Nicht-Angst. Mit Nicht-
Angst meinte er natürlich nicht, keine Angst zu haben vor den schlechten Folgen unserer Fehler
oder unseres schlechten Verhaltens. Dies ist eine heilsame Angst. Die Angst andere, die Natur
oder den Planeten zu schädigen ist eine Quelle der Weisheit, wir dürfen sie nicht verlieren.
Angst ist auf jeden Fall ein Alarmsignal bezogen auf Gefahren und daher sehr wertvoll. Während
des Krieges schickte man Kampfpiloten, die keine Angst hatten, nicht auf gefährliche Missionen,
weil sie übermäßige Risiken eingingen und von ihren Missionen nicht zurückkehrten. Angst hat
durchaus einen positiven Aspekt. Wir müssen jedoch die Ursache der Angst erkennen. Handelt es
sich um eine reale Gefahr oder ist die Angst mit Egoismus verbunden? Auch diese Angst ist
interessant, weil sie ein Signal des Egoismus ist: die Angst zu verlieren, die Angst nicht
genügend zu bekommen. Aber in dem Fall ist es gut, diese Angst loszulassen.
Kann es sein, dass man nicht selbst schuld ist an Geistesgiften? Aus Angst können andere Übel
entstehen, aber traumatisierte Menschen sind nicht schuld an ihrer Angst.
Natürlich. Wir leben in einem Netz von Ursachen und Bedingungen, die uns zu dem gemacht
haben, was wir sind. Ich kann sagen: „Es ist mein Karma.“ und mich daher verantwortlich sehen
für das, was ich geworden bin. Daraus könnten Schuldgefühle entstehen. Aber eigentlich machen
die karmischen Ursachen, die bestimmen, was wir geworden sind, nur einen kleinen Teil der
Ursachen und Bedingungen aus, die uns beeinflusst haben. Es gibt noch vieles andere, zum
Beispiel Traumata, für die wir nicht verantwortlich sind.
In der Sangha gibt es viele verschiedene Vorstellungen. Manche möchten nur Zazen praktizieren,
andere suchen Freunde oder eine Karriere, oder man erwartet psychologische Hilfe. Wie geht
man im Dojo mit diesen verschiedenen Vorstellungen um?
Das hängt davon ab, welche Position man im Dojo hat. Wenn man eine unterweisende Funktion
hat, muss man alle Vorstellungen empfangen und versuchen, sie umzuwandeln. Ich betrachte
viele Illusionen, unter anderem auch die Illusionen über Zen, als Gelegenheiten für die
Menschen, um mit der Praxis in Kontakt zu kommen. Wenn die Leute mit vielen Illusionen
kommen, dürfen wir sie nicht missbilligen. Aber wir sollten in der Lage sein, die Illusionen
schnell umzuwandeln, oder besser gesagt, wir sollten sie nicht selber umzuwandeln, sondern
dem anderen helfen, seine Vor- stellungen zu ändern, indem wir Boda shin lehren, die einzige
Motivation, mit der man Zazen praktiziert. Zazen praktizieren mit den anderen und das
Erwachen erlangen zum Wohle aller Wesen. Das ist der einzige Grund.
Aber für einen Anfänger ist dieser Gedanke nicht offensichtlich. Meister Deshimaru hatte aus
den unendlichen Verdiensten von Zazen zehn ausgewählt, die er gerne aufzählte. Er betonte die
guten, positiven Auswirkungen von Zazen: „Wenn ihr Zazen praktiziert, werdet ihr dieses oder
jenes erlangen und so oder so werden. Aber am Ende“ – Am Ende gab es immer ein ‚aber’. –
„müsst ihr immer mushotoku praktizieren, ohne zu versuchen, Verdienste zu erlangen. Diese
Verdienste sind Auswirkungen einer Praxis, die wahrhaft mushotoku ist. Anders gesagt, wenn ihr
ernsthaft prak- tiziert, indem ihr euch nur auf die Praxis selbst konzentriert, ohne etwas anderes
zu suchen, ohne eine Vorstellung zu haben, ist es die Praxis selbst, die euch befreit und gute
Auswirkungen zeigt.“
Ich meine, wir sollten wie Meister Deshimaru unterweisen. Wenn jemand ins Dojo kommt, weil
er sehr gestresst ist, können wie ihm sagen: „Gut, dass Sie gekommen sind. Zazen wird Ihnen
helfen, Ihren Stress zu verringern. Aber wenn Sie wirklich etwas gegen den Stress tun wollen,
sollten sie Ihre Gier aufgeben und mushotoku praktizieren.“ Manchmal muss man mit dieser
Unterweisung schrittweise vorgehen. Wer noch keine tiefe Praxiserfahrung hat, kann dies nicht
verstehen. Es könnte schockieren. Wir sollten den Leuten helfen, sich nach und nach dieser
Mushotoku- Dimension anzunähern, ohne sie ihnen aufzuzwingen, indem wir die Richtung
zeigen. Letztlich ist diese Dimension gar nicht so paradox, sondern ganz normal.

1.6.2014, 7 Uhr
Dieser Morgen ist ein glücklicher Morgen, weil zwei Schüler bei ihrer Ordination Zuflucht zu
den Drei Kostbarkeiten nehmen und die Bodhisattva-Gelübde ablegen werden. Die
Zufluchtnahme zu den Drei Kostbarkeiten ist der Ausdruck unseres Vertrauens in Buddha,
Dharma und der Sangha. Diese sind Kostbarkeiten, weil sie die Kraft haben, alle Wesen von
ihren Leiden zu befreien und denen, die ihnen folgen, Frieden und Glück zu bringen.
In den Versen des Sanki raimon, mit denen wir Zuflucht zu den Drei Kostbarkeiten nehmen,
sagen wir: „Wir nehmen Zuflucht zu Buddha mit allen Wesen. Mögen wir mit unserem Körper
verstehen und den großen Weg, dai do, und den höchsten Geist, hotsu mujoi, verwirklichen, den
Geist des Erwachens, den Geist des großen Mitgefühls.“
Zuflucht zu Buddha nehmen bedeutet, Vertrauen in Buddha Shakyamuni zu haben, Vertrauen in
sein Erwachen und in seine Unterweisung, sein Dharma. Diejenigen, die dieses Vertrauen haben
und gemeinsam das Dharma praktizieren, sind die Sangha.
Die Quelle der Drei Kostbarkeiten ist die Zazen-Praxis, die Meditation Buddhas, das wahre
Zazen, das in sich Erwachen und Verwirklichung ist. Es ist das Zazen, bei dem wir alle
Anhaftungen an Körper und Geist aufgeben, bei dem das Ego völlig aufgegeben wird. Auf diese
Weise können wir den großen Weg verwirklichen, tai ge dai do, mit unserem ganzen Körper.
Den Weg mit unserem ganzen Körper verwirklichen bedeutet, nicht nur mit unserem Kopf, mit
dem Intellekt, sondern die Unterweisung und die Praxis mit unserem ganzen Wesen verkörpern,
Körper und Geist in Einheit. Verstehen bedeutet praktizieren, es nicht nur im Dojo während
Zazen umsetzen, sondern im gan- zen Alltag.
Was praktizieren wir im Alltag? Wir praktizieren den Geist des großen Mitgefühls, hotsu mujoi,
denn im Zazen das Ego aufgeben heißt, eins zu werden mit allen fühlenden Wesen, sie zu
verstehen und zu lieben und das Gelübde abzulegen, ihnen zu helfen, sich selbst von ihren
Leiden zu befreien. Aus diesem Grund studieren wir das Dharma, insbesondere die Gebote, die
auch während der Ordination weitergegeben werden. Sie lehren uns, wie ein Buddha zu leben.
Die Gebote sind keine Verbote, sondern Empfehlungen, um mit der Buddha-Natur in Harmonie
zu leben und auch mit allen Wesen, indem wir ihnen Vertrauen in das Dharma geben, indem wir
in ihnen den Wunsch wecken, dem Dharma zu folgen und es zu praktizieren, und ihnen helfen,
sich selbst und die anderen zu befreien und damit der Welt Frieden zu bringen. Das ist der Sinn
des Wirkens eines Bodhisattvas. Daher ist es ein glücklicher Tag, wenn Personen für dieses
Engage- ment bereit sind, für sie selbst und für die ganze Menschheit.

1.6.2014, 11 Uhr
Konzentriert euch während des Zazen weiter auf die Haltung eures Körpers. Atmet langsam
durch die Nase ein und aus und lasst all eure Gedanken vorbeiziehen. Dies ist das Wesentliche
unserer Praxis. Es reicht aus, um Menschen die Zazen-Praxis nahezubringen. Dies bedeutet, das
Zazen Buddhas, das erwachte Zazen zu praktizieren, kein persönliches Zazen, bei dem man
unablässig seine Gedanken und Gefühle wiederkäut. Konzentriert euch auf Körper und Atmung
und lasst alle Anhaftungen fallen, indem ihr die Leerheit verwirklicht.
Diese Praxis ist die wahre Zufluchtnahme zum Dharma, das heißt, mit der mitfühlenden
Weisheit, die genauso weit ist wie der Ozean. Solange wir unseren Gedanken folgen, ist unser
Blick begrenzt, dann sind wir wie ein Frosch am Grund eines Brunnens. Sobald wir unsere
persönlichen Gedanken aufgeben, werden der Geist und der Blick weit und wir erkennen ganz
deutlich unsere Einheit mit allen Wesen. Der Geist des Mitgefühls und des Wohlwollens
entwickelt sich, und wir möchten ihn mit allen Wesen teilen. Aus diesem Grund heißt es im
dritten Vers des Sanki raimon: „Wir nehmen Zuflucht zu der Sangha mit allen Wesen. Mögen wir
mit der Sangha ein harmonisches Leben ohne Anhaftung leben.“
Solange wir an unserer persönlichen Sichtweise, an unserem Ego festhalten, kann es keine tiefe
Harmonie mit den anderen geben. In der Sangha teilen wir dieselben Werte, die gleiche Praxis,
die darin besteht, unser kleines Ego aufzugeben und völlig solidarisch mit allen Wesen zu
werden. Dies macht die Harmonie in der Sangha möglich. Wir können hier ein Leben in
Harmonie führen, das ohne Anhaftungen ist. Aus diesem Grund ist die Sangha eine Kostbarkeit,
die beschützt werden muss. Dazu müssen wir alle den gleichen Regeln und den gleichen
Geboten folgen. Wenn wir sie befolgen, geben wir ganz natürlich unser Ego auf, und die
Harmonie kann wieder in uns selbst und in die Gemeinschaft mit anderen einkehren.
Aber dies darf nicht auf einen kleinen Kreis wie das Dojo oder einen Verein begrenzt bleiben. Im
Sanki raimon singen wir jedes Mal ‚mit allen Wesen’: „Mögen wir mit allen Wesen mit unserem
Körper den großen Weg verstehen, den großen Weg, der zum höchsten Erwachen führt. Mögen
wir Zuflucht zum Dharma mit allen Wesen nehmen.“ Und wir geloben, die mitfühlende Weisheit
zu verkörpern, die so weit ist wie der Ozean. Zum Schluss nehmen wir Zuflucht zur Sangha,
wieder mit allen Wesen: „Mögen wir mit der Sangha ein harmonisches Leben führen, das ohne
Anhaftun- gen ist. Und möge diese Sangha alle Wesen empfangen und ihnen allen helfen, sich
von ihren Leiden zu befreien und das wahre Leben zu verwirklichen, das ohne Anhaftungen ist,
die wahre Freiheit und das wahre Glück.“
Ich wünsche euch allen, dies zu verwirklichen.

Kannon – 10.2012 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 5.-7. Oktober 2012 während
des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche übersetzt.

Freitag, 5.10.2012, 7 Uhr
Zu Beginn des Zazen atmet man zwei- oder dreimal tief ein und aus. Dann lässt man den natürlichen
Rhythmus der Atmung geschehen. Man konzentriert sich auf die wichtigen Punkte der Haltung:
Man neigt gut das Becken nach vorne und drückt mit den Knien fest in den Boden – dank der
richtigen Höhe des Zafus, ohne die Lendenmuskeln anzuspannen. Der Bauch ist entspannt, und man
fühlt sich gut in seiner Haltung verwurzelt, stabil. Ausgehend von der Taille streckt man die
Wirbelsäule und den Nacken. Man lässt gut die Verspannungen des Rückens und der Schultern los
und stößt mit der Schädeldecke in den Himmel.
All dies geschieht sanft. Der Körper ist weder zu angespannt noch zu entspannt. Er muss wie eine
Geige sein: Die Saiten sind weder zu sehr gespannt noch zu wenig gespannt. So geben sie den
richtigen Ton. Wenn der Körper im richtigen Tonus ist, beeinflusst das völlig den Geisteszustand.
Der Geist ist weder schläfrig noch aufgeregt, sondern in der richtigen Aufmerksamkeit. Völlig
gegenwärtig für all das, was hier und jetzt geschieht.
Das Gesicht ist entspannt, die Zunge am Gaumenrand. Wenn ihr dazu neigt, einen inneren Dialog
zu führen, konzentriert euch insbesondere auf die Stelle, an der die Zunge den Gaumen berührt.
Dann endet alle innere Diskussion. Körper und Geist finden ihre Einheit wieder. Der Geist flieht
nicht mehr aus der Haltung, sondern bleibt völlig gegenwärtig. Deshalb ist es nicht erforderlich, die
Augen zu schließen, um sich zu konzentrieren. Es genügt einfach, sich nicht an die Gegenstände der
Wahrnehmung zu klammern.
In Zazen geht es nicht darum oder man bemüht sich nicht darum, die Empfindungen, die Wahrnehmungen,
die Gedanken zu unterdrücken. Man wird sich ihrer in dem Augenblick bewusst, wo sie
auftauchen. Man nimmt ihre Leerheit wahr und lässt sie vorüberziehen. Man identifiziert sich mit
keinem einzigen Gedanken. So wird der Geist weit wie der Himmel, der alle Phänomene aufnehmen
kann, Sonne, Wolken, Mond, alle Galaxien. Alle Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft – spiegeln sich im Geist. Der Geist kann empfänglich sein, denn er verweilt auf nichts,
ergreift nichts. Er ist wie die Hände in der Haltung von Hokai Join, das Siegel des Samadhis des
Ozeans des Dharmas.
Die Daumen sind horizontal. Das beeinflusst den Geist. Wenn die Daumen einen Berg bilden, zeigt
das, dass es zu viel geistige Aufgeregtheit gibt – Sanran. Wenn die Daumen ein Tal bilden heißt das,
dass man dahindämmert – Kontin. Wenn man darauf achtet, die Daumen gut waagerecht zu halten,
hilft das, ein geistiges Gleichgewicht zu halten, weder aufgeregt noch schläfrig – klar, wach.
Dieser Geist schafft keine Gegensätze und Trennungen mehr. In der Haltung von Zazen sind oben
und unten ausgeglichen, auch Einatmung und Ausatmung. Auf harmonische Weise folgen Denken
und Nicht-Denken aufeinander. Der Geist umfasst all diese Polaritäten.
Durch die Aufmerksamkeit auf die Atmung sind Körper und Geist offen für die äußere Welt. Es gibt
keine Trennung mehr zwischen einem selbst und der Umgebung, zwischen einem selbst und den
anderen. Die Schranke des Geistes, die uns von den anderen trennt, ist aufgegeben, und wir können
unsere tiefe Einheit mit allen Wesen empfinden. So kann man sich auf natürliche Weise mit den
anderen harmonisieren. Nicht nur in Zazen, sondern während des ganzen Alltags. Während der
Mahlzeiten, während der Zeremonie, während dem Samu harmonisiert man sich in der gleichen
Konzentration.
Das ist nur möglich, weil wir die Anhaftung an unser kleines Ego aufgeben. Aber dieses Aufgeben
ist kein Opfer, sondern die Verwirklichung der wahren Natur unserer Existenz. Ein Sesshin praktizieren
ist, sich mit dieser wirklichen Natur zu harmonisieren. Ein Leben ohne Trennungen, ohne
Gegensätze. Das geschieht ganz natürlich, wenn man sich auf jede Praxis hier und jetzt konzentriert.

Freitag, 5.10.2012, 11 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Unsere Gedanken trennen uns vom
Hier und Jetzt. Wenn man seine Aufmerksamkeit zur Körperhaltung zurück bringt, kehrt man ganz
automatisch zu seinem Leben hier und jetzt zurück. Indem man sich auf die Körperhaltung und die
Atmung konzentriert, beruhigt sich der Geist. Man kann seine alltäglichen Sorgen aufgeben und den
Frieden des Geistes wiederfinden. Dann öffnet sich der Geist für die Wirklichkeit jenseits der
Grenzen unseres kleinen Egos. Das ermöglicht es dem natürlichen Mitgefühl sich zu manifestieren,
unserer Fähigkeit, sich durch Sympathie an die Stelle des anderen zu versetzen. Deshalb darf man
nicht von seinen eigenen Gedanken besessen sein. In Zazen lernt man, sie loszulassen, sie fallen zu
lassen.
Das ist eine große Befreiung. Das erlaubt es, das Nirvana inmitten des Samsara zu realisieren,
aufzuhören, ohne Ende zu transmigrieren, indem wir den Objekten unserer Wünsche hinterherlaufen
oder vor dem davonzulaufen, was wir nicht mögen. „Den Weg zu durchdringen, ist nicht
schwer,“ sagt Sosan, „man muss nur ohne Gier und Hass sein, ohne Auswahl und ohne Zurückweisung.“
Wenn man so praktiziert, wird man Kannon Bodhisattva ähnlich. Viele Buddhisten beten zu
Kannon, um von ihr Hilfe zu erlangen. Aber auf dem Zen-Weg wird man selbst zu Kannon und
entwickelt auf diese Weise die Fähigkeit, sich selbst und anderen zu helfen.
Zu Beginn des Shobogenzo Kannon zitiert Meister Dogen den Dialog zwischen Ungan und Dogo.
Beide waren Schüler von Meister Hyakusan gewesen und hatten mehrere Jahrzehnte gemeinsam
praktiziert. Sie hatten viele Koans studiert und mochten es, im Dialog zu sein. Eines Tages fragte
Ungan Dogo: „Was macht der Bodhisattva des Großen Mitgefühls mit der Vielzahl seiner Hände,
an deren jedem Fingerende sich ein Auge befindet?“ Dogo antwortete: „Das ist wie ein Mensch, der
in der Nacht tastend nach seinem Kopfkissen sucht.“ Ungan antwortete: „Ich habe verstanden! Ich
habe verstanden!“ Dogo fragte: „Was hast du verstanden?“ Ungan: „Der ganze Körper des Bodhisattvas
des Großen Mitgefühls ist nichts anderes als Hände und Augen.“ Dogo: „Das ist gut, aber du
hast nur 80% ausdrücken können.“ Ungan: „Ich kann nur das sagen, und du?“ Dogo: „Der Körper
in seiner Tiefe ist nichts anderes als Hände mit Augen.“
In der Praxis von Zazen entwickelt sich die Kraft des Mitgefühls. So sprechen wir die Gelübde der
Bodhisattvas aus. Deren erstes ist, allen Wesen zur Hilfe zu eilen, die leiden. Dabei geht es nicht
darum, Verdienste zu erlangen, und auch nicht darum, auf eine moralische Verpflichtung zu
antworten. Im Zen ist Liebe kein Gebot. Man muss nicht Mitgefühl haben, sondern das Mitgefühl
erscheint ganz natürlich, wenn man sich selbst vergisst, wenn man über die Fähigkeit verfügt, sich
an die Stelle des anderen zu versetzen, für einen Augenblick der andere zu werden, seine Sichtweise
zu wechseln. Wenn das geschieht, kann man niemanden mehr verurteilen oder verachten. Man
versteht, dass jeder aufgrund seines vergangenen Karmas und aufgrund seiner gegenwärtigen
Täuschungen handelt und dass deshalb viele Menschen leiden und Leiden um sich herum schaffen.
Dann erscheint der Wunsch, zu helfen das aufzulösen, zu helfen, das Leid der Welt zu erleichtern.
Das war der Ausgangspunkt des Bodaishin von Shakyamuni Buddha, den Weg zu realisieren, der
alle Wesen von ihrem Leid befreit, und diesen Weg mit den anderen zu teilen. Das machen wir,
wenn wir an einem Sesshin teilnehmen. Und über das Sesshin hinausgehend tun wir es, wenn wir
unser Leben im Geist von Bodaishin leben. Das ermöglicht es, in Harmonie mit dem Dharma zu
leben. Das gibt unserem Leben einen tiefen, wirklichen Sinn.
Je mehr wir das mit anderen teilen, umso mehr haben wir daran Teil, denen, die leiden, die Hoffnung
zu geben, dass eine Befreiung möglich ist. Eine authentische Realisation kann geschehen. Das
ist kein weit entferntes Projekt, sondern eine unmittelbare Möglichkeit. Dafür genügt es, seinen
Blick nach innen zu wenden, und die Leerheit all seiner Täuschungen zu sehen. Dann ist es einfach,
sie fallen zu lassen, und dem Geist zu ermöglichen, seine normale Funktionsweise wiederzufinden.
Meister Deshimaru sprach immer wieder davon, zum Normalzustand zurückzukehren, keinen
besonderen Zustand zu suchen. Einfach nur zum Normalzustand zurückkehren. Das bedeutet, sich
mit seinem Leben in völliger Wechselbeziehung mit allen Wesen zu harmonisieren und auf
natürliche Weise einen Sinn der Solidarität mit allen Wesen zu entwickeln. Das ist kein irreales
Ideal für eine andere Welt. Es ist eine Möglichkeit, die sich uns hier und jetzt bietet. Ein Sesshin
wie dieses ist eine Gelegenheit, das zu realisieren, eine andere Funktionsweise zu erleben.

Freitag, 5.10.2012, 16.30 Uhr
In Zazen macht man nichts. Man macht nicht einmal Zazen. Man begnügt sich damit, vollständig zu
sitzen. Auf die Körperhaltung konzentriert und achtsam auf die Atmung lässt man die Gedanken
vorüberziehen. Insbesondere machen die Hände nichts. Indem man aufhört, irgendetwas zu machen,
findet der Geist zu seiner Ruhe zurück und wird aufnahmefähig für alles, was geschieht. Der Körper
wird dem Körper Buddhas ähnlich, das heißt, er wird ein Körper, der unsere Einheit mit dem
ganzen Universum aktualisiert.
Wenn das Zazen vorbei ist, benutzt man von neuem seinen Körper und seine Hände. Bereits bevor
man das Dojo verlässt, macht man Gassho. Rechte und linke Hand in Einheit. Wenn man Gassho
macht, wird man völlig eins mit dem, vor dem man sich verneigt. So drückt Gassho vollständig den
Geist von Zazen aus, den Geist, der unmittelbar unsere völlige Einheit mit allen Wesen wahrnimmt,
der keine Trennungen mehr schafft.
Im Alltag wird man seine Hände und seinen Körper benutzen, um allen Wesen zur Hilfe zu
kommen. Wie Kannon. – Kannon wird mit zahlreichen Händen dargestellt In jeder Hand befinden
sich ganz unterschiedliche Werkzeuge. Und jede Hand verfügt über ein Auge. Die Hände sind die
Verlängerung des Körpers Buddhas, um das Mitgefühl von Zazen auszudrücken, und sie werden
vom Auge der rechten Sicht geleitet. Denn Mitgefühl bedarf der Weisheit. Es ist nicht einfach nur
ein Gefühl wie Mitleid. Aber die Weisheit drückt sich unbewusst und natürlich aus. Wenn man zu
bewusst helfen will, wird die Hilfe begrenzt. Die Hilfe der Bodhisattvas ist so, wie wenn man in der
Nacht mit der Hand nach seinem Kopfkissen tastet.
Das Auge der Weisheit, das Auge der rechten Sicht, lässt uns die Leerheit aller Gegenstände unserer
Anhaftung wahrnehmen. Also hat es die Kraft, uns von unserem eigenen Ego zu befreien und uns
verfügbarer für die anderen zu machen. Und dennoch sieht man alle Wesen nicht als nicht-existent –
als Leerheit – an. Alle Wesen existieren wie wir: in der Buddha-Natur, d.h. ohne Ego, indem sie
untereinander Wechselbeziehungen aufrechterhalten. Das nennt man Buddha-Natur, die Existenz
aller Wesen in völliger Wechselbeziehung.
Wirkliche Hilfe ist diejenige, die es allen Wesen ermöglicht, sich dieser Dimension der erwachten
Existenz bewusst zu werden. Sie ermöglicht es jedem, sich letztlich selbst zu befreien und nicht von
der Hilfe von jemand anderem abhängig zu werden.
Aber selbstverständlich gibt es auf der Ebene der konkreten Phänomene des Alltags auch eine
andere Form der Hilfe. Diese Hilfe besteht darin, auf die Bedürfnisse jeder Person zu reagieren.
Dafür sie bedarf es vieler Werkzeuge und großer Weisheit. Aber all diese Mittel haben als Quelle
unsere Fähigkeit, uns an die Stelle des anderen zu versetzen, und so intuitiv zu spüren, wessen der
andere bedarf.

Mondo
Meine Frage bezieht sich auf den Zustand nach dem Tod. Was glaubst du, was passiert, wenn die
Leute gestorben sind? Was passiert mit dem Geist?
Ich werde es dir sagen, wenn ich gestorben bin. (Gelächter) Im Augenblick weiß ich darüber nichts.
Aber es gibt verschiedene Theorien…
Das sind keine Theorien. Entweder handelt es sich um eine Erfahrung oder um eine Vorstellung. Für
Buddha Shakyamuni war es eine Erfahrung. Er hat klar seine vorhergehenden Leben gesehen und
klar gesehen, dass er selbst und alle Wesen aufgrund ihres Karmas wiedergeboren werden.
Nach dem Tod setzt sich also die Existenz einer Person in Form einer Wiedergeburt in einem
anderen Körper fort. Aber es ist nicht genau die gleiche Person, denn der Geist hat die Periode des
Todes durchschritten und auch die Periode zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Die neue
Person, die in der Folge der vorhergehenden Person geboren wird, übernimmt das Karma der
verstorbenen Person und ist dabei nicht völlig die gleiche, aber auch nicht völlig eine andere.
Nach Wahrnehmung Buddhas setzt sich die Verkettung der Ursachen und Bedingungen, der zwölf
wechselseitig abhängigen Kettenglieder, fort. Es gibt eine Verkettung. Die neue Geburt wird durch
das Karma bedingt. Man kann z.B. als Mensch wiedergeboren werden, und das ist das Beste, denn
als Mensch kann man erwachen.
Aber selbst bei einer Wiedergeburt als Mensch kann man mit unterschiedlichen Möglichkeiten
wiedergeboren werden. Diese Möglichkeiten hängen vom vergangenen Karma ab. Man kann mit
einer guten Gesundheit geboren werden oder kann bereits Krankheiten haben. Der Körper kann
mehr oder minder schön oder hässlich sein, man kann mehr oder minder intelligent. Man kann die
Möglichkeit haben, sehr schnell die Unterweisung Buddhas kennen zu lernen oder nicht. Das hängt
zum großen Teil vom vergangenen Karma ab.
Aber das vergangene Karma bedingt nicht alle unsere Handlungen. Es schafft nur die Existenzbedingungen.
Es ist wie beim Kartenspiel: Man erhält einen bestimmten Kartensatz, und dann kann
jeder mit dem Kartensatz, den er empfangen hat, das Spiel spielen. Da gibt es eine gewisse Freiheit.
Dieses Gesetz des Karmas, der Ursächlichkeit, bedingt nicht die ganze Existenz. Unsere Gedanken
hier und jetzt sind z.B. nicht völlig durch das vergangene Karma bedingt. Es gibt auch andere
Einflüsse. Also gibt es eine bestimmte Freiheit. Und diese Freiheit ist umso größer, je klarer man
sieht und je bewusster man sich dessen ist, insbesondere dieser Kausalität. Dann kann man sie unter
Umständen nutzen, um Ursachen zu schaffen, die gute Auswirkungen erzeugen.
Je weiter man im Verständnis voranschreitet, macht man diese positiven Handlungen nicht, um ein
persönliches Verdienst zu erlangen, sondern um den andern einen Dienst zu erweisen, um mehr in
der Lage zu sein, andern zu helfen. Das ist der Sinn des Lebens des Bodhisattvas: Wie diesen
Körper benutzen, um allen Wesen zu helfen? Allen andern Gelübde, die man ablegt – unsere
Anhaftungen, unsere Leidensursachen zu heilen, alle Unterweisungen Buddhas zu studieren, den
Weg zu realisieren – liegt der tiefe Wunsch zugrunde, den anderen zu Hilfe kommen zu können.
Das ist das Beste, was in einer neuen Wiedergeburt geschehen kann. Aber man sollte keine neue
Wiedergeburt erwarten. Im Zen beschäftigt man sich nicht so sehr mit der Existenz nach dem Tod.
Man kümmert sich um die Existenz in jedem Augenblick hier und jetzt. In dieser Existenz hier und
jetzt gibt es unablässig Geburt und Tod. Man stirbt und wird wiedergeboren – unablässig, denn
unser Körper und Geist ändern sich unablässig. Wenn man das versteht, wenn man die Unbestän-
digkeit vollständig versteht, hindert einen das daran, sich zu sehr an ein eigenes Ego zu klammern,
und man findet einen fließenderen Geist wieder, der sich damit harmonisiert.
Wie kann man sich das chemisch-physikalisch vorstellen.
Es ist schwierig, sich das vorzustellen. Ich habe darüber mit Môhan Wijayaratna gesprochen, einem
Theravada-Mönch, der den Pali-Kanon ins Französische übersetzt. Wir haben uns über die Frage
unterhalten, was der materielle Träger des Bewusstseins ist, das von einer Existenz in die nächste
Existenz geht. Er sagte: „Wir können dieses Wiedergeburtsbewusstsein, das in einen neuen Körper
eingehen wird, nicht objektiv erfassen. Aber wir sind in der Lage, Informationen von der Erde bis
zum Mars senden, einfach durch Radiowellen, die nicht sichtbar sind. Buddha hat erfahren, dass es
ein Bewusstsein gibt, das über einen selbst hinaus geht und weiter reist. Das ist eine Art von Wellen.
Auch das Gehirn kann Wellen erzeugen. Aber man kann es nicht völlig erklären.“
Es handelt sich bestimmt um etwas Derartiges. – Aus buddhistischer Sicht ist auf jeden Fall der
Geisteszustand zum Zeitpunkt des Todes sehr wichtig. Es kann natürlich passieren, dass man bei
einem Unfall stirbt oder aus dem Koma heraus stirbt. Aber soweit wie möglich sollte man bis zum
Augenblick des Todes bewusst bleiben und die Gelübde der Bodhisattvas kultivieren, seine Existenz
und seine zukünftigen Existenzen der Hilfe für alle Wesen widmen. Das erzeugt eine günstige
Wiedergeburt, in der man mehr in der Lage ist, diese Gelübde zu verwirklichen.
Buddha hat Tausende oder Millionen von Leben in der Vergangenheit verbracht und war immer von
demselben Gelübde beseelt. Jemand, der den Buddhaweg durch die Praxis von Zazen versteht, wird
sich letztlich bewusst, dass das der tiefste Sinn ist, den man seiner Existenz geben kann. Denn er
steht im Einklang mit der Wirklichkeit. Man wird also auf eine Weise praktizieren, dass es einem
gelingt, dieses Gelübde zu erfüllen.
Was ist für dich der Unterschied in der Beziehung zu einem normalen Praktizierenden und einem
Praktizierenden, der als Bodhisattva, Mönch oder Nonne ordiniert ist? Was ist da die unterschiedliche
Energie?
Mit jemandem, der als Bodhisattva, Mönch oder Nonne ordiniert ist, kann man in der Dimension
der Gelübde der Bodhisattvas in Verbindung sein. Normalerweise teilt man in der Tiefe das gleiche
Bodaishin. Bodaishin ist der tiefste Geist, der Geist Buddhas, der Geist des universellen Mitgefühls.
Aufgrund dessen ist es viel einfacher, einem andern Bodhisattva zu helfen. Denn die grundlegende
Hilfe besteht dann darin, ihn an seine Gelübde zu erinnern, und ihm zu helfen, Bodaishin zum
Ausdruck zu bringen.
Im Januar werden wir hier einen Ausbildungstag zur Sterbebegleitung machen. Als ich darüber
nachgedacht habe, habe ich gedacht: Es gibt alle möglichen Arten und Weisen, den Leuten zu
helfen, abhängig von ihren Bedürfnissen. Aber für uns als Praktizierende oder für mich als Dharma-
Lehrer besteht die beste Hilfe, die ich geben kann, darin, diesen Geist des Erwachens zu erwecken
oder wieder zu beleben, wenn er eingeschlafen ist.
Ich wurde vor vielen Jahren gebeten, M. zu besuchen, der in Düsseldorf in der Uniklinik war und
im Sterben lag. Er hatte Leukämie. Man hatte das Knochenmark ausgetauscht, aber diese Knochenmarkstransplantation
wurde zurück gewiesen. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn machen. Als
wir nachts ankamen, sagte der diensthabende Arzt: „Wenn Sie M. sehen wollen, gehen Sie hinein
und machen Sie, was Sie machen wollen. Wir können nichts mehr tun.“ M. war völlig zusammengefallen.
Er lag wirklich im Sterben. Ihm lief Speichel aus dem Mund, und er konnte kaum mehr
sprechen. Er hat seine völlige Hoffnungslosigkeit und seinen Hass auf die Ärzte zum Ausdruck
gebracht und gesagt, dass er nicht mehr leben will. Er war wirklich in einem höllischen Zustand.
Er lag in einem isolierten Bereich. Durch einen Plastikhandschuh habe ich seine Hand gegriffen. Ich
habe zu ihm gesagt: „Ich habe Dich vor drei Monaten zum Bodhisattva ordiniert. Selbst wenn du
nicht mehr leben willst, musst du weiterleben, um deine Bodhisattva-Gelübde zu erfüllen. Nicht für
dich leben, sondern für die anderen leben. Wenn es Dir gelingt, deine Krankheit zu überwinden, ist
das eine große Hilfe für alle Kranken, eine Hoffnung, für all diejenigen, die sich in den gleichen
Umständen befinden.“
Dann haben wir das Hannya Shingyo als Kito gesungen. Als er das Hannya Shingyo hörte, hat er
sich aufgerichtet und die Hände in Gassho zusammengeführt. Er konnte das kaum machen, aber er
hat das Hannya Shingyo mit den Lippen geformt. Das war für ihn ein Schock. In dem Augenblick,
in dem er das Hannya Shingyo rezitierte, hat sich sein Geist völlig verändert.
Am nächsten Tag bin ich nach Paris zurück gefahren. Man hat mich angerufen und mir gesagt:
„Außergewöhnlich! All seine Lebensfunktionen haben wieder angefangen zu funktionieren.“ –
Einen Monat später war er zuhause und ist Fahrrad gefahren. Und ein paar Monate später war er
hier auf der Grube Tenzo. Und ein Jahr später (weint) – entschuldigt, ich bin immer sehr bewegt,
wenn ich die Geschichte erzähle – haben wir hier einen Film gedreht. M. studierte an der Filmhochschule.
Für sein Abschlussexamen musste er einen Film machen. Als Thema hat er seine Krankheit
und seine Heilung genommen. Da haben wir hier wieder ein Kito gemacht. Der Film hat dann einen
ersten Preis gemacht und wurde im Fernsehen gezeigt.
Ich habe in dem Augenblick gespürt, dass es für mich leicht war, diesem jungen Mann zu helfen,
der im Sterben lag. Denn zwischen uns gab es etwas, das uns sehr verbunden hat: Wir hatten das
gleiche Ideal des Bodhisattvas. Selbst wenn er sich in völlig entgegengesetzten Gefühlen befand,
gab es diesen Samen in ihm. Zu helfen war ganz einfach: Ich musste nur diesen Samen nähren. Mit,
wie du sagst, ‚gewöhnlichen’ Leuten ist das viel schwieriger.
Ich glaube, dass alle Wesen die Buddha-Natur haben, und Bodaishin realisieren können. Aber es
bedarf einer Praxis. Ich glaube, dass es sehr viel schwieriger ist, diesen Geist bei einem Sterbenden
zu wecken, der nie auf einem spirituellen Weg war und das Dharma nicht kennt.
Wenn man einem Praktizierenden des Weges begegnet, der sich umbringen will, kann man ihm die
Unterweisung Buddhas und die Praxis ins Gedächtnis rufen. Das wird ihn stimulieren, über diese
Schwierigkeiten hinwegzugehen. Für Menschen, die nie Kontakt mit der Praxis des Weges hatten,
ist es schwieriger.
Aber ich glaube nicht, dass es hoffnungslos ist. Ich glaube, dass man sich die Geschichte Kannons
ins Gedächtnis rufen sollte, die allen Wesen hilft, wie jemand, der nachts nach seinem Kopfkissen
tastet. Wirklich auf eine natürliche, intuitive und unbewusste Weise den Kontakt finden. Denn selbst
wenn der andere keine spirituelle Praxis hat, so existiert doch in seinem Grunde dieser Buddha-
Geist.

Samstag, 6.10.2012, 7 Uhr
Kehrt während Zazen immer wieder zur Konzentration auf die Haltung des Körpers zurück. Streckt
gut die Wirbelsäule und den Nacken, lasst die Spannungen im Rücken und in der Schulter los,
drückt mit der Schädeldecke gegen den Himmel und mit den Knien in den Boden.
Während Kinhin konzentriert man sich auf den Körper, der geht, während der Zeremonie auf den
Körper, der singt und sich niederwirft, während des Essens auf den Körper, der isst, während Samu
auf den Körper der arbeitet.
Immer wieder zum Körper zurückzukehren ist die beste Methode, um vollständig im Hier und Jetzt
zu sein, d.h. um ein Leben im Einklang mit der Wirklichkeit zu führen, kein abstraktes Leben in
einer virtuellen Wirklichkeit. Dies bedeutet die Wirklichkeit eines jeden Augenblicks mit der Ganzheit
von Körpers und Geist zu durchdringen. Denn Körper und Geist sind nie getrennt, der Körper
wird vom Geist belebt. – Von welchem Geist? – Von dem Geist, der die Wirklichkeit durchdringt, so
wie sie ist.
Wenn man sich in Zazen auf den Körper konzentriert, realisiert man, dass dieser Körper, obwohl er
mit all seinen Empfindungen und Wahrnehmungen hier und jetzt existiert, zugleich ohne feste
Substanz ist, dass er uns in Wirklichkeit nicht gehört. Er besteht aus den Elementen, die dem ganzen
Universum gehören. Er ist aus Sternenstaub gemacht. Die Wirklichkeit seines Körpers zu durchdringen,
bedeutet also, die Wirklichkeit des ganzen Universums zu durchdringen.
Wenn man sich auf die Form des Körpers konzentriert, auf Shiki, begegnet man der Leerheit, Ku,
der Abwesenheit von fester Substanz. Wenn der Geist diese Wirklichkeit anerkennt, kann er all
seine Anhaftungen loslassen. Der Körper in seiner Tiefe wird eine Quelle von Weisheit. Sich auf
den Körper zu konzentrieren ermöglicht es uns, die rechte Sicht, Shoken, zu realisieren, nicht
mittels abstrakter, konzeptioneller Gedanken, sondern durch eine direkte Erfahrung. Dieser Körper
ist zugleich Wirklichkeit und andererseits ohne etwas Festes. Er ist aus Staub geworden und wird
wieder zu Staub.
Die meisten Menschen vermeiden es, sich mit dieser Wirklichkeit zu konfrontieren, und ziehen es
vor, in Illusionen zu verweilen. Zazen zu praktizieren, ein Sesshin zu praktizieren, bedeutet im
Gegensatz dazu, den Wunsch zu haben, sich mit dieser Wirklichkeit zu konfrontieren. Es ist eine
Wirklichkeit, die uns befreit.
Das hat Meister Dogo bezüglich Kannons realisiert: Der Körper in seiner Tiefe ist nichts anderes als
die mit Augen versehenen Hände, d.h. die Sicht.
Der Bodhisattva des Mitgefühls ist nicht nur Kannon, sondern vor allem Kanjizai, der
Avalokiteshvara des Hannya shingyo, der Shariputra (Sharishi) die tiefe Weisheit, Prajna paramita,
lehrt.
Der Bodhisattva des Mitgefühls ist niemand, der sein Erwachen opfert, bis alle Wesen vor ihm
erwacht sind. Der Bodhisattva des Mitgefühls ist schon immer ein wirklicher Buddha, ein Wesen
des Erwachens. Aber sein Erwachen hat seinen Ursprung im großen Mitgefühl. Denn er ist auch
Kannon, derjenige der die Schreie der Wesen hört, die leiden, und für sie großes Mitgefühl empfindet.
Er hat das Mittel gesucht, um ihnen zu helfen, sich aus ihrem Leid zu befreien, und hat sich
deshalb auf dem Weg engagiert, Zazen praktiziert und ist erwacht. Ausgehend von diesem Erwachen
hat er alle möglichen geeigneten Mittel entwickelt, die durch die vielen Arme und Hände
symbolisiert werden. Sie sind alle Upaya, geeignete Mittel, um anderen Wesen zu helfen.
Wenn ich auf diese Weise von Kannon und Kanjizai spreche, möchte ich in Wirklichkeit über jeden
von uns sprechen. Denn es ist die Praxis dieses Bodhisattvas des großen Mitgefühls, die unsere
eigene Praxis inspirieren sollte, denn er harmonisiert in sich Weisheit und Mitgefühl, ein aktives
Mitgefühl, das allen Handlungen unseren Lebens einen Sinn gibt, wenn wir dem gleichen Weg
folgen wie Kannon. – In Wirklichkeit haben wir diesen Weg bereits gewählt, indem wir Zazen praktizieren
und nach jedem Zazen das Shiguseiganmon rezitieren. Auf diesem Weg der Bodhisattvas
gibt es keine Trennung zwischen der Praxis von Zazen und dem Geist des Mitgefühls. Zazen
ermöglicht es uns, die Weisheit zu realisieren, die den anderen Wesen hilft, sich zu befreien. Zazen
befreit uns von den Hindernissen, die dem Mitgefühl im Weg stehen.

Samstag, 6.10.2012, 11 Uhr
Nachdem er aus China zurückgekehrt war, wo er bei seinem Meister Nyojo das Erwachen realisiert
hatte, sagte Meister Dogen: „Ich habe einfach nur realisiert, dass die Augen horizontal sind und die
Nase vertikal ist.“
Das ist die Rückkehr zum wirklichen Normalzustand des Menschen. Wir existieren an der Kreuzung
dieser beiden Dimensionen, der Senkrechten und der Waagerechten. In Zazen ist der Rücken
gut senkrecht, und man konzentriert sich auf diese Senkrechte, zugleich sind die Daumen horizontal,
und man konzentriert sich völlig auf diese Waagerechte der Daumen.
Die Senkrechte ist das Prinzip der Tiefe. Je mehr man sein Verständnis vertieft hat, um so mehr
realisiert man, dass Shiki, alle Phänomene, alle Formen, der eigene Körper, Ku, Leerheit, sind. Aber
Ku bezeichnet auch den weiten Himmel. Wenn wir die Leerheit unserer Täuschung realisieren, wird
unser Geist weit wie der Himmel.
Wenn die Tiefe darin besteht, die Leerheit zu realisieren, so öffnet uns diese Realisationen zur
waagerechten Dimension hin, für den weiten Geist, der alle Wesen umfasst, der die Existenz ohne
Trennungen realisiert.
Es gibt zwei Weisen, Bodaishin, den Geist des Erwachens, zu entwickeln. Im allgemeinen sagt man,
dass man damit beginnen muss, das relative Bodhicitta zu entwickeln, d.h. das Erwachen zu unserer
Wechselbeziehung mit allen Wesen, und auf diese Weise unseren Sinn der Solidarität und des
Mitgefühls zu entwickeln.
Die Wechselbeziehung unserer eigenen Existenz mit der Existenz aller Wesen, bedeutet, dass unsere
Existenz keine eigene Substanz hat, dass man nicht und niemals aus sich selbst heraus existiert.
Unsere Existenz ist Ku, leer von Eigensubstanz.
Wenn diese Leerheit realisiert wird, kann man beide Dimensionen umfassen, die senkrechte
Dimension, die Himmel und Erde verbindet, die Phänomene und die Leerheit, und die waagerechte
Dimension, die einen selbst und die anderen verbindet. Die senkrechte Dimension ist mehr auf der
Seite der Weisheit, des Erwachens zur wirklichen Natur der Existenz. Die waagerechte Dimension
ist mehr die Dimension des Mitgefühls, der Ausdruck des Erwachens in den Handlungen des
Alltags, indem wir unseren eigenen Körper und all unsere Hände wie Avalokiteshvara benutzen, wie
Kannon.
Wenn wir die Leerheit unserer Anhaftungen realisieren, sind wir von den Ursachen unseres Leidens
befreit. Vor allen Dingen werden wir aufnahmefähig und verfügbar für die anderen. Wenn der Geist
auf nichts verweilt, weil er auf nichts stehen bleibt, kann man viel leichter Empathie entwickeln,
d.h. sich an die Stelle des anderen versetzen, z.B. sich selbst, der man lebt, in die andere Person
versetzen, die sich im Sterbeprozess befindet, und so das angemessenste Mittel finden, um dieser
Person zu helfen. Sich aus empfundener Empathie an die Stelle des anderen versetzen, ermöglicht
es, Kontakt herzustellen.
Der Kontakt, der entsteht, wenn man den Unterschied zwischen sich selbst und den anderen aufgibt,
ist bereits eine große Hilfe. Denn die Menschen fühlen sich sehr allein, insbesondere die, die leiden.
Wenn ihnen jemand nahe sein kann, absichtslos, einfach nur aufnahmefähig für ihr Leiden, ist dies
bereits eine große Hilfe.
Sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, bedeutet auch, der Person die Gelegenheit zu geben,
ihren richtigen Platz zu finden. den Ort, wo sie selbst loslassen kann und zur wahren Natur ihrer
Existenz finden kann. Die geeigneten Mittel der Bodhisattvas, die Upaya, bestehen nicht nur darin
Leidende zu trösten, sondern auch darin, sich zu bemühen, sie von ihrem Leiden bis zum Erwachen
zu begleiten.
Das hat Buddha Shakyamuni während der 45 Jahre seines Lehrens getan. Seine Art, Sterbende zu
begleiten, war es, die drei Siegel des Dharmas ins Gedächtnis zu rufen und die letzen Augenblicke
des Lebens zu nutzen, um sie noch realisieren zu können und so das Nirvana inmitten des Samsara
kennen zu lernen. Das ist der tiefe Sinn unserer Praxis an dem Punkt, wo sich die senkrechte und
waagerechte Dimension unserer Existenz begegnen, wo Leerheiten und Phänomene nicht mehr als
zwei getrennte Aspekte gesehen, sondern gleichzeitig vollständig gelebt werden. Dann funktionieren
Weisheit und Mitgefühl gemeinsam, als die zwei Aspekte erwachten Lebens, die in Wirklichkeit
nicht trennbar sind.

Samstag, 6.10.2012, 16.30
Mondo
Als ich 2001 zum ersten Mal auf der Gendronnière war, war ich geschockt, weil sehr viele Leute
tranken, rauchten, in der Bar feierten. Dann habe ich verstanden – oder es für mich so interpretiert
–, dass Zazen das Wichtigste ist, dass es da sehr diszipliniert zugeht und ich meine ganze Energie
dahinein lege, dass die Feier aber gut ist, um den Kopf frei zu bekommen und nicht sehr eng zu
werden. Nun haben mir gestern Leute erzählt, dass es inzwischen die Tendenz gibt, keine Feier
mehr zu machen. Ich würde gerne wissen, wie du dazu stehst.
Ich war immer dafür, eine Fete zu machen. Wir haben die Sketche weggelassen, aber die Fete gibt’s
nach wie vor. Wir bemühen uns jedoch, sie viel stärker zu kontrollieren. Das heißt, wir achten
darauf, dass die Fete sich nicht so lange ausdehnt, dass sie viele Leute stört und dass die Leute am
Tag nach der Fete und sogar am ersten Sesshin-Tag noch müde sind. Das habe ich in meinen
Sesshins eigentlich immer schon so gemacht.. Ich glaube, alle Godos stimmen mit mir überein, dass
wir die Musik morgens um 2 Uhr abschalten, und dass wir die Bar um 2:30 Uhr zumachen. Aber es
gibt immer noch Musik, und man kann immer noch tanzen. Man kann etwas trinken, mit Freunden
zusammen sein. Die Fete gibt’s nach wie vor.
Wenn jemand nach ein paar Jahren der Praxis ein gewisses Verständnis des Dharma erlangt hat,
das es ihm ermöglicht hat, sich mit dem Dasein besser zu harmonisieren, und er dadurch ein
glücklicheres Leben führt, freue ich mich für ihn. Aber wenn er vor lauter Zufriedenheit in seiner
Praxis stagniert und sie vernachlässigt, frage ich mich, wie ich sie stimulieren kann.
Das hängt davon ab, ob die Person als Bodhisattva, Mönch oder Nonne ordiniert wurde. Wenn das
der Fall ist, dann muss man ihr die Bodhisattva-Gelübde in Erinnerung bringen. Man praktiziert
Zazen nicht, um in einen persönlich zufrieden stellenden Zustand zu kommen. Wenn man wirklich
tief Zazen praktiziert, kann man sich nicht damit zufrieden geben, ein Leben zu führen, das keine
Probleme hat. Denn wie ich schon seit Beginn des Sesshins sage, fühlt man sich viel solidarischer
mit den anderen und hat mehr Mitgefühl mit ihrem Leiden. Also möchte man natürlich dazu
beitragen, dieses Leiden zu erleichtern. Dafür muss man mit den anderen zusammen weiter
praktizieren und seine Praxis vertiefen, so wie es den vier Gelübden der Bodhisattvas entspricht. In
der Vertiefung der Praxis geht es nicht darum, sich selbst zu perfektionieren oder selbst ein
angenehmeres Leben zu führen, sondern in die Richtung zu gehen, ein vollkommener Buddha zu
werden, d.h. ein Buddha, der in der Lage ist, allen Wesen zu helfen.
Das ist keine moralische Verpflichtung. Man macht das nicht, weil man dem Willen Gottes oder
Buddhas gehorcht, sondern es ist die natürliche Entwicklung der Praxis. Das Gelübde des Mit-
gefühls ist nicht so wie im Christentum, wo Jesus gesagt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst.“ Buddha hat nie gesagt: „Ihr müsst lieben.“, „Ihr müsst Mitgefühl haben.“. Er hat einen Weg
unterwiesen, der auf natürliche Weise Mitgefühl und Wohlwollen erzeugt. Er hat die Praxis des Mitgefühls
und die Gebote unterwiesen. Aber die Menschen, die dem Buddhaweg folgen, praktizieren
sie nicht, um dem Gesetz Buddhas zu gehorchen. Denn das, was man im Buddhismus ‚das Gesetz‘
nennt, das Dharma, ist die Grundlage unserer eigenen Existenz, die Grundlage jeder Existenz.
Es ist also eine ganz natürliche Entwicklung, wenn man damit fortfährt, die Praxis zu vertiefen, zu
wünschen ein Bodhisattva zu werden, der über mehr Fähigkeiten verfügt, den anderen zu helfen.
Man kann nicht nur nicht mehr mit der Praxis aufhören, sondern man wünscht auch, sie mit den
anderen und für die anderen zu vertiefen. Nicht als Verpflichtung aus religiösen oder moralischen
Gründen, sondern einfach als eine natürliche Entwicklung des eigenen spirituellen Lebens.
Wenn die Leute in ihrer Praxis stehen bleiben, und sich mit einem gewissen Wohlbefinden zufrieden
geben, das die Praxis ihnen gegeben hat – sie haben weniger Stress, sie haben mehr Weisheit,
also geht es ihnen in ihrem Leben besser – bedeutet das, dass da etwas ist, das nicht realisiert
worden ist. Sie machen Zazen mit noch zuviel persönlichem Bewusstsein, mit zuviel Ego.
Aber sie werden früher oder später ein Problem haben. Denn alles ist unbeständig. Selbst das Wohlbefinden,
das man erlangt hat, dauert nicht ewig. Eines Tages wird etwas passieren – und sei es auch
nur aufgrund dieses Rests von schlechtem, egoistischem Karma. Wenn diese Menschen eines Tages
eine schwere Krise haben, Arbeitslosigkeit, Trennung, eine schwere Krankheit, schwindet ihr Wohlbefinden.
Dann gibt es nichts mehr, das ihnen wirklich helfen kann, denn sie haben sich ja nur an
das Wohlbefinden geklammert. Sie denken: ‚Das Leben ist uninteressant. Es ist nicht mehr lebenswert.’
Sie verlieren die Hoffnung und wollen sich umbringen. Es ist also besser, nicht in diese
Situation zu kommen.
Also muss man Bodaishin stimulieren. Bodaishin zu erwecken ist eine der wichtigen Aufgaben der
Unterweisenden des Zen.
In der Rezitation tauchen, bevor wir den Namen Buddha Shakyamunis erwähnen, sechs andere
Buddhas auf. Ich gehe davon aus, dass das Buddhas der Vergangenheit sind, also Buddhas vor
Shakyamuni. Ihre Bedeutung würde mich interessieren.
Buddha selbst hat gesagt, dass er einer unter unzähligen Buddhas ist. Er hat nie gesagt: „Ich bin der
einzige Buddha.“ Er hat gesagt, dass er selbst unter dem Buddha Dipankara den Weg praktiziert.
Im Buddhismus gibt es die Vorstellung, dass es keinen Ursprung der Welt gibt, dass es immer
Zyklen gegeben hat, dass die Welt eine Entwicklung durchläuft: Sie wird geboren, stirbt und eine
neue Welt entsteht. In jede Welt kommt eines Tages ein Buddha. Das ist eine sehr weite Sicht des
Kosmos. In diesen unzähligen Systemen – heute spricht man von Galaxien und planetaren Systemen
– gibt es mit Sicherheit Buddhas. Denn Buddha zu werden ist eine natürliche Entwicklung des
Lebens. Es ist der Höhepunkt einer Entwicklung. Also gibt es notwendigerweise auch jetzt Buddhas
in anderen planetaren Systemen. – Es ist wichtig, diese weite Vision eines kosmischen Systems zu
haben, die unbegrenzt ist.
Ich möchte um eine Präzisierung bitten, weil ich wirklich Angst davor habe, einen Irrtum zu
begehen. Als ich jung war, haben wir in meiner Familie sehr zu Gott gebetet. Es war eine
christliche Familie, und das war eine Unterstützung in schwierigen Situationen. Es waren
Bittgebete, Dankgebete, Gebete für andere. Da ich nicht mehr so sicher bin, dass ein Gott existiert,
und die Sicherheit auch nie haben werde, habe ich diese Art von Gebet beendet. Auf der
Gendronnière habe ich gehört, dass du gesagt hast: Man betet zu Buddha. Was hast du damit sagen
wollen?
Man kann z.B. zu Buddha in der Form von Kannon beten. Kannon ist eine Emanation Buddhas, ein
Aspekt von Buddha, der Buddha des Mitgefühls. Man kann zu Kannon beten oder sie um etwas
bitten, für einen selbst und für andere. Wenn man Kito macht, geht es eigentlich darum. Die Kraft
von Prajna Paramita und von Kannon werden angerufen, um zu helfen. Kitos sind Gebete.
Ist es nicht vielleicht ein Fehler, eine Hilfe von außen zu suchen, wo es doch eigentlich darum
gehen könnte, selbst in dem Leiden klarer zu sehen?
Ja, das stimmt. Im Zen neigt man dazu, mehr nach der Kraft der eigenen Praxis zu suchen. Die
Unterweisung des Zen soll unabhängig von der Kraft von jemand anderem machen. Aber unsere
Kraft – selbst wenn wir über viel Weisheit verfügen – ist begrenzt. Es gibt Probleme, deren Lösung
jenseits unseres Einflussbereiches, jenseits unserer Macht, liegt. Da können wir beten.
Dieses Gebet ist Ausdruck von Bescheidenheit, Ausdruck dessen, dass wir uns bewusst sind, nicht
allmächtig zu sein. Es gibt Situationen, wo man weiß, dass die eigene Kraft nicht genügt, und dann
ist es gut zu beten.
Ich erinnere mich, von einer Untersuchung an einer medizinischen Fakultät in den USA gelesen zu
haben, in der es darum ging festzustellen, ob im Gebet eine heilende Kraft liegt. Sie haben zwei
Gruppen von tausend Leuten untersucht, die unter den gleichen Krankheiten litten. Für die eine
Gruppe hat man ein Jahr lang gebetet, während sie krank waren, ohne dass die Leute wussten, dass
man für sie betet. Für die zweite Gruppe hat man nicht gebetet. Ein Jahr lang hat man die Krankheitsverläufe
verfolgt. Am Ende des Jahres bestand eine signifikante Differenz bezüglich der
Gruppe, für die man gebetet hatte. Daraus wurde geschlossen, dass das Gebet wirklich eine heilende
Wirkung hat.
Die Kito-Zeremonien, die wir machen, haben auch oft diese Auswirkung. Selbst wenn sie die Personen
nicht völlig heilen, so geben sie ihnen doch Energie und unterstützen sie. Das funktioniert
selbst dann, wenn man einer Person nichts von der Zeremonie sagt
Also glaube ich, dass es gut ist zu beten. Und natürlich ist es besser, für die anderen zu beten als für
sich selbst. Aber man sollte es auch für sich selbst tun, warum nicht.
Du solltest also lernen, das Kannon-Gyo zu rezitieren, oder einfach das Mantra Nenpi kannon riki
rezitieren.
In der katholischen Religion spricht man vom Bösen. Es gibt auch Engel. Auch Engel des Bösen. Im
Buddhismus habe ich von Mara sprechen gehört. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet. In der
Welt gibt es negative Ereignisse. Die Buddhisten sagen: „Das liegt an den Täuschungen.“ Aber
manchmal ist das, was geschieht, derart schlecht, tut den Menschen derart weh, dass es so etwas zu
geben scheint wie einen bösen Geist, der eingreift, der sich der Leute bemächtigt. Was denkst du
diesbezüglich? Gibt es diese bösen Geister? Repräsentiert Mara das?
Ich glaube nicht so sehr an Geister. Auf der anderen Seite sage ich nicht, dass es sie nicht gibt. Das
sind Dinge, die außerhalb unserer Wissens-Möglichkeiten liegen. Wir können auch nicht sagen, ob
Gott existiert oder nicht. Das gleiche gilt für die Dämonen.
Ich ziehe vor zu denken, dass es die menschlichen Täuschungen sind. Denn wenn es sich um
menschliche Täuschungen handelt, gibt es Mittel sie zu lösen. Aber Dämonen zu bekämpfen ist
schwierig. Die Dämonen zählen zu der Welt der nicht sichtbaren Götter. Wie will man einen
unsichtbaren Dämonen bekämpfen? Aber darum, seine eigenen Täuschungen zu bekämpfen, geht es
in allen Unterweisungen Buddhas.
In der buddhistischen Kosmologie gibt es die Götterwelt. Mara ist einer dieser Götter, ein Geist, der
nicht ewig ist, der unsichtbar ist, der aber in der Welt handelt. Er ist der Prinz der Welt der
Wünsche. Seine Aufgabe besteht darin, die Menschen in der Welt der Wünsche zu halten. Er ist ein
großer Freund Buddhas. Denn wenn es Mara nicht gäbe, gäbe es auch keinen Buddha. Aufgrund
der Täuschungen der Menschen verspüren die Menschen die Notwendigkeit, den Weg zu
praktizieren. – ‚Freund’ ist vielleicht nicht der richtige Begriff. Auf jeden Fall haben sie eine
Beziehung.
Shakyamuni ist, als er das Erwachen erlangt hat, er der Kraft Maras entkommen. Mara hat Angst
gehabt und sich gesagt: „Dieser Buddha wird mir die Macht über die Welt der Täuschungen
nehmen.“ Also hat er versucht, Shakyamuni davon zu überzeugen, das Dharma nicht zu lehren. Er
sagte: „Niemand wird es verstehen oder realisieren.“ Und er hat er sein Gefolge von schönen
Frauen geschickt, um Buddha zu versuchen, in der Hoffnung, dass Buddha es vorziehen würde,
einen Harem zu haben. Aber Buddha hat alle Versuchungen und Einflüsse Maras besiegt. Es
dauerte ein paar Tage, bis er diese schlechten Einflüsse besiegte und sich entschied zu unterweisen.
Das lässt mich an Jesus in der Wüste denken. Er hat dort doch auch eine Versuchung gehabt.
Jeder hat seine eigenen Dämonen. Für manche Leute ist es vielleicht einfacher, schlechte Tendenzen
zu bekämpfen, wenn sie sich vorstellen, dass es sich um Dämonen handelt. Dann kann man zumindest
einen Gegner identifizieren. Es als außerhalb von sich selbst zu sehen, ermöglicht einen Dialog,
wie Buddha, der statt seine eigenen Zweifel zu bekämpfen, den Einfluss von Mara bekämpft
hat.
Das ist auch eine therapeutische Technik. In der Psychotherapie kann man auch den Leuten Mut
machen, sich ihre Schwierigkeit als eine Person vorzustellen, um dann in der Lage zu sein, mit
dieser Person in Dialog zu treten.
Ich glaube, dass Engel und Dämonen eine Personifizierung innerer Neigungen auf der religiösen
Ebene sind. Aber für manche Leute ist es vielleicht besser, diese Tendenzen außerhalb von sich
selbst anzusiedeln, und dann damit umzugehen. Das hängt von der Psyche des Einzelnen ab.
Der volkstümliche Buddhismus hat viel mehr Platz für Götter, Dämonen, auch für das Gebet als das
Zen. In der Tradition des Zen von Dogen gibt es kein Kito, kein Gebet, nur Shikantaza. Dogen war
sehr puristisch. Keizan hat diesen Glauben wieder eingeführt. Um der Bevölkerung helfen zu
können trennt sich das Zen nicht von diesen Glaubensvorstellungen, sondern benutzt sie.
Du hast du von der Möglichkeit gesprochen, in Zukunft einen Tempel zu errichten. Dogen sprach
davon, sich auf Shikantaza zu konzentrieren. Muss man als Mönch die gesellschaftliche Aktivität
fallenlassen?
Im Leben von Dogen gab es mindestens zwei Perioden: Vor der Gründung von Eihei-ji war Dogen
für einen Zen-Buddhismus wie den unseren. Er machte keinen großen Unterschied zwischen Mönchen
und Laien. Er sagte, dass alle Shikantaza praktizieren können, dass alle das Erwachen erlangen
können, dass selbst Könige, Minister, Herrscher den Weg realisieren können, dass sie nicht notwendigerweise
Mönche sein müssen.
1247 wurde er vom Shogun nach Kamakura eingeladen. Er hat dort ein Jahr lang gelebt und hatte
die Hoffnung, die Gesellschaft ausgehend von der Praxis des Zazen verändern zu können.
Anschließend war er entmutigt, ist nach Eihei-ji zurückgekehrt und hat sich darauf konzentriert,
einige Schüler zu unterweisen. Aber das war auch gegen Ende seines Lebens.
Für ihn war die Konzentration auf die Erziehung von etwa dreißig Schülern keine Alternative dazu,
sich auf die Welt zu konzentrieren. Er wollte Schüler formen, die Bodhisattvas waren und durch ihr
Beispiel die Welt beeinflussen konnten. Dogen hat sich nie dagegen ausgesprochen, dass das Zen
auf die Welt Einfluss nimmt. Er hat sich aber gesagt, dass dies durch seine Schüler geschehen muss
und dass es seine Aufgabe ist, seine Schüler auszubilden. Zwei Generationen später ist das dann mit
Keizan passiert. Keizan hatte großen Einfluss auf die Gesellschaft.
Meister Deshimaru war ähnlich. Meister Deshimaru wollte Schüler formen, die in der Lage sind,
einen Einfluss auf die Welt zu haben. Zen ist kein kontemplativer Weg. Es ist ein Weg der Aktion.
Alle Unterweisungen Buddhas drehen sich ums Handeln. Es gibt keine Trennung zwischen Zazen,
Shikantaza und Handeln. Das gehört zusammen.
Wenn wir die Welt aufgeben, verraten wir unsere Berufung als Bodhisattvas. Wenn man von Shukke
spricht, davon, die Welt aufzugeben, dann geht es darum, die Anhaftung an die Welt aufzugeben,
den Wunsch nach Ehren, gesellschaftlichem Erfolg, Geld und ähnlichem. Es geht nicht darum, sich
der leidenden Welt zu verweigern, sondern man muss gegen die Leiden der Welt helfen.
Aber weil das eine schwierige und ermüdende Aufgabe ist, haben diejenigen, die auf diesem Weg
sind, das Bedürfnis, regelmäßig zur Quelle zurück zu kehren. Dafür gibt es die Möglichkeit, regelmäßig
in einem Dojo zu praktizieren, es gibt die Sesshins, und es sollte auch die Möglichkeit geben,
Angos machen zu können, die Möglichkeit, sich ein, zwei, drei Monate sich oder ein Jahr zurückziehen
zu können. Aber dabei geht es nicht darum, sich der Kontemplation hinzugeben, sondern die
Energie des Mitgefühls, die Kraft, die Weisheit wiederzufinden, um wieder in die Welt eintreten und
helfen zu können.
Ich bin sehr davon überzeugt, zwischen beidem hin und her zu wechseln. Heute ist dies in der
Gendronnière aufgrund der Sesshins und der Sommerlager möglich. Die Frage ist: Bedarf es
darüber hinaus eines Tempels, der von mir gegründet wird?
Mir bereitet es immer Unbehagen, wenn man von Dogen schnell aufs Heute schließt. Zu Dogens
Zeiten hat man ganz anders mit und in der Natur gelebt. Ich glaube, das wirkte sich auf den Körper
und auf den Geist aus. Heute sind die Leute sehr gestresst. Wir haben eine ganz andere Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage ‚Tempelleben oder nicht?’ eine andere. Ich glaube,
das Tempelleben ist etwas für eine auserlesene Schar von Schülern. Deswegen möchte ich dir raten,
dir das gut zu überlegen. Du hast eine große Sangha. Am Ende bist du mit einer kleinen Gruppe in
einem Tempel, und …
Ich möchte in Kontakt mit der großen Sangha bleiben. Aber ich möchte eine Gruppe von Schülern
entwickeln, die in der Lage sind, der Welt stärker zu helfen, und die mich auch ersetzen können,
denn ich kann nicht immer Sesshins machen. In ein paar Jahren wird das nicht mehr möglich sein.
Ich denke in die weite Zukunft hinein: in zwanzig, dreißig Jahren. Ich überlege: Was ist die beste
Methode. Aber ich möchte es mit euch überlegen. Es geht nicht nur um mich. Es ist eine Frage, die
die ganze Sangha betrifft. Also sind alle Auffassungen interessant.
Denkt gut darüber nach. – Das Problem derartiger Überlegungen ist, dass jeder aufgrund seiner
persönlichen Vorlieben reagieren wird. Ich frage nicht: Was zieht ihr persönlich vor? Ich frage: Was
ist das Bessere für die Sangha und für die Welt? – Die meisten Leute wollen ihre Ruhe haben,
wollen keine Störung. Ein Tempel bedeutet Arbeit, Samu, vielleicht muss man Geld geben. Vieles
kann passieren. Wenn man nichts macht, bleibt alles ruhig.
Man sollte nicht nur von seiner eigenen Sichtweise aus überlegen, sondern überlegen: Was ist das
Interesse der Sangha? Was ist die Zukunft des Zen? Was ist für die Gesellschaft wichtig?
Also: Denkt gut nach!

Sonntag, 7.10.2012, 7 Uhr
Was machen wir, wenn wir Zazen machen? Natürlich kann man darauf antworten: Wir konzentrieren
uns auf die Haltung des Rückens, darauf, dass er gut senkrecht ist. Wir drücken mit der
Schädeldecke in den Himmel, mit den Knien in den Boden. Wir sind aufmerksam auf die Atmung,
und lassen die Gedanken vorüberziehen.
Selbst diese einfachen Erklärungen drücken nicht die Ganzheit von Zazen aus. Nichts ersetzt die
Erfahrung, Zazen zu machen. Diese Erfahrung lässt sich in keiner Definition fassen. Wenn man
wirklich Zazen macht, lässt man sich von der Konzentration auf die Haltung absorbieren. Unser
dualistischer Geist, der Geist, der Unterscheidungen trifft, ist aufgegeben. Wir werden nicht mehr
von seiner Funktionsweise dominiert. In Zazen ergreift der Geist nichts mehr. So harmonisiert man
sich unbewusst und natürlich mit dem nichtfassbaren Charakter von Allem. Man macht, ohne zu
machen. Man handelt, ohne zu handeln, d.h. ohne Gegenstand, ohne sein persönliches Bewusstsein
zu benutzen. Letztlich lässt man Zazen machen.
Was ist Leben? Man kann verschiedene Prozesse beschreiben, die charakterisieren, was Leben ist.
Aber letztlich lässt sich das Leben nicht in einer Definition fassen. In Wirklichkeit leben wir nicht
aus uns selbst heraus. Wir werden von der kosmischen Ordnung gelebt. Zazen bringt uns damit in
Einklang. Wenn das Bewusstsein im Hishiryo-Modus funktioniert, wenn man denkt, ohne zu denken,
ohne sich an Gedanken zu klammern, ohne sich mit Gedanken zu identifizieren, wird unser
Denken wird weit. Man ist sogar manchmal von Gedanken überrascht, die auftauchen, die man
nicht willentlich gedacht hat.
Auf die gleiche Weise kann man fragen: Was macht der Bodhisattva Kannon mit seinen vielen
Armen und Händen? Natürlich kann man antworten, dass er allen Wesen hilft. Aber was hilft wirklich?
Das kann man nicht erfassen. Es ist wie in der Nacht nach seinem Kopfkissen zu tasten. Es ist
handeln, ohne zu handeln, ohne sich an den Gegenstand der Handlung zu klammern, ohne bewusst
daran zu denken. Es ist wie Zazen machen. Es ist etwas, was jenseits von einem selbst geschieht. Es
ist, als würde die kosmische Ordnung durch uns hindurch handeln, durch die Arme von Kannon
hindurch.
Aber selbst diese Antwort, die die Antwort von Ungan war, drückt nicht die Ganzheit der Wahrheit
aus, nur ungefähr achtzig Prozent. Das heißt, dass etwas Nicht-Ausgedrücktes, etwas Nicht-
Erklärtes bleibt. Dann kann man natürlich sagen, dass diese Antwort ungenügend ist, dass man die
Wahrheit zu hundert Prozent ausdrücken muss. Aber in Wirklichkeit sind achtzig Prozent bereits
viel. Selbst Buddha hat nicht hundert Prozent zum Ausdruck gebracht. Am Ende nahm er einfach
eine Blume und drehte sie schweigend zwischen seinen Fingern. Das war seine tiefste Weise, das
Dharma auszudrücken.
Im Schweigen Buddhas scheint etwas Unausgedrücktes zu liegen. Aber es ist nicht so wichtig, alles
zu sagen. Denn man würde nie aufhören, alles sagen zu wollen, da das Dharma unbegrenzt ist. Die
Wirklichkeit ist letztlich nicht fassbar. Unmöglich, sie in Definitionen und Worte einzufassen. Sie
ist wie Kannon.
Man hat Kannon auf verschiedene Weise dargestellt: mal als Mann, mal als Frau. Kannon mit vier
Armen, mit sechs Armen, mit zehn Armen, tausend Armen. Man muss sich weigern, sich eine
Vorstellungen von Kannon zu machen, und selbst Kannon werden. Aus uns selbst heraus können
wir den anderen nicht so sehr helfen. Unser Ego, unser persönliches Bewusstsein ist begrenzt. Es
funktioniert immer in der Getrenntheit. Aber wenn man sich der Praxis von Zazen hingibt, wenn
man diese Praxis mit anderen teilt, dann trägt diese Praxis uns alle über uns selbst hinaus, über alle
Trennungen hinaus, und bringt uns mit der Buddha-Natur in Einklang, der Natur, der Existenz ohne
Trennungen. Diese Natur hilft, wenn sie realisiert wird, jeder Person am meisten. Letztlich wird
durch unsere eigene Buddha-Natur geholfen.
Das Dharma weiterzugeben besteht darin, das Vertrauen in die Buddha-Natur jedes einzelnen
weiterzugeben und vor allem die Weise weiterzugeben, wie man sich mit dieser Buddha-Natur
harmonisiert, wie man sie entdeckt, wie man sich von ihr im Handeln leiten lässt, wie Kannon, die
unbewusst ihr Kopfkissen in der Nacht sucht, in der Nacht des Geistes, in der Nacht des bewussten,
des willentlichen Denkens. Dann macht bricht Licht inmitten der Dunkelheit hervor. Das ist der
Sinn unserer Praxis.
Aber wir begrenzen unsere Praxis nicht auf diesen Sinn. Sie ist jenseits jeden Ausdrucks. Wenn man
praktiziert, kann man das wirklich spüren, und die Funktionsweise des Geistes aufgeben, der immer
ergreifen und begrenzen möchte. Das nennt man Hishiryo, die Essenz des Zen, das Denken jenseits
allen Denkens, das uns über das Darüberhinaus dieser begrenzten Welt hinausträgt. Es ist Kannon,
die uns diesen Weg zeigt.

Sonntag, 7.10.2012, 10.30 Uhr
Das Sesshin ist bald vorüber. Aber das Sesshin ist nicht auf die Zeit des Sesshins begrenzt. Ein
Sesshin praktizieren bedeutet, mit dem wirklichen Geist vertraut zu werden und mit dem wirklichen
Körper, die unbegrenzt sind. Sie sind weder durch unsere Hauthülle begrenzt, noch durch das
Denken unseres persönlichen Bewusstseins. Einfach weil unser Körper und unser Geist in Einheit
mit dem ganzen Universum sind. Also sind sie nicht begrenzt.
Während dieses Sesshins habe ich viel über den Dialog zwischen Ungan und Dogo bezüglich der
Manifestation der unbegrenzten Aspekte von Kannon gesprochen. Kannon ist nicht begrenzt auf die
Darstellung des Bodhisattvas Avalokiteshvara. Alle Wesen in der Buddha-Natur manifestieren die
unbegrenzten Aspekte von Kannon. In dem einen oder anderen Augenblick wird jeder Kannon.
Unsere Praxis vertiefen, auf dem Weg des Bodhisattvas gehen, erlaubt es zu lernen, sich besser
seiner Hände und Augen zu bedienen, um allen Wesen zu helfen, die leiden.
Alle Wesen bedeutet: ohne Unterscheidung. Wir neigen dazu, denen gerne helfen zu wollen, die uns
nahe stehen, den Wesen, die wir mögen. Es ist schon schwieriger, denen zu helfen, die uns
gleichgültig sind. Was die anbetrifft, die uns feindlich zu sein scheinen, neigt man dazu, ihnen eher
Unglück zu wünschen. Auf jeden Fall fällt es schwer, Mitgefühl für sie zu haben und ihnen helfen
zu wollen. Aber der wirkliche Sinn des Mitgefühls ist es, dass es auf unbegrenzte Weise wirkt,
jenseits unserer Vorlieben und Abneigungen. Dann wird es zu einer wirklichen Praxis der
Befreiung. Das vertieft sich mit der Vertiefung unserer eigenen Befreiung.
Oft fragen sich die Menschen, wie sie ihren Fortschritt auf dem Weg messen können, welches
Kriterium da gültig ist. Worte, Gedanken und Handlungen des Mitgefühls sind gute Kriterien, um
unsere Entwicklung auf dem Weg zu spüren. Aber das ist kein Grund, daraus Selbstzufriedenheit zu
oder spirituellen Hochmut ziehen.
Was auch immer unser Verständnis ist, was auch immer unsere Realisation ist, man muss verstehen,
dass sie immer begrenzt sind. Sinn unserer Praxis ist es, diese Grenzen auszudehnen. Das ist der
Sinn der vier Gelübde der Bodhisattvas:
 Die Zahl der lebenden Wesen ist unbegrenzt. Dennoch gelobe ich, ihnen allen zu helfen.
 Die Zahl der Täuschungen und Anhaftungen ist unbegrenzt. Dennoch gelobe ich, sie zu
lösen.
 Die Unterweisungen Buddhas sind unbegrenzt. Dennoch gelobe ich, sie alle zu studieren.
 Der Weg Buddhas selbst ist unbegrenzt, ist vollkommen. Dennoch gelobe ich, ihn zu
verwirklichen.
Es ist das Merkmal des spirituellen Weges, uns mit dem Unbegrenzten zu verbinden, und zu akzeptieren,
dass man die meiste Zeit über nur auf der Hälfte dieses Weges ist. Aber die Hälfte zurückgelegt
zu haben, ist schon viel. Dass immer noch etwas zu vollenden bleibt, bedeutet, dass es keinen
Grund gibt, die Praxis zu beenden. Das Gyoji ist unbegrenzt. Es hört nicht einmal mit unserem Tod
auf. Deshalb widmen wir Verstorbenen Zeremonien.
Jeder Schritt auf diesem unbegrenzten Weg realisiert sich immer hier und jetzt. Die beste Weise, auf
dem Weg voranzukommen, besteht daher darin, sich jeden Tag auf jede Praxis zu konzentrieren,
und in jeder Praxis sich auf jeden Augenblick zu konzentrieren. In dieser Konzentration auf das
Hier und Jetzt, Augenblick für Augenblick, begegnet uns die Ewigkeit, d.h. die Dimension der Zeit,
die jenseits von Zuvor und Danach ist. Wenn man lernt, völlig hier und jetzt zu leben, statt unter
Zeitmangel zu leiden und gestresst zu sein, entdeckt man plötzlich, dass man viel Zeit hat. Denn
alle gegenwärtige, vergangene und zukünftige Zeit existiert völlig hier und jetzt. Sie existiert nirgends
anders als im gegenwärtigen Augenblick.
Wenn man das vertraut versteht, ändert sich unser Leben, wird viel ruhiger. Man kann Freude empfinden,
diesem Weg begegnet zu sein, dem Buddhaweg, der uns mit uns selbst und unserer wirklichen
Natur versöhnt und erlaubt, hier und jetzt Frieden und Glück zu realisieren. Aus dieser Praxis
hier und jetzt wird der Wunsch geboren, sie mit allen Wesen zu teilen.
Mit diesem Wunsch möchte ich das Sesshin beenden – dieses Sesshin, das kein Ende hat.

Leben, Tod, Karma – 05.2004 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 15. – 23. Mai 2004
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

Samstag, 15. Mai 2004, 7.30 Uhr
Konzentriert euch von Beginn des Zazen an auf die wichtigen Punkte eurer Haltung. Bei jedem
Zazen so, als ob es das erste mal wäre, auch nach 20 Jahren Zazen, nach 30 Jahren. Die Praxis
muss immer frisch und neu sein. Zazen praktizieren heißt, ständig zum hier und jetzt unseres
Lebens zurückzukehren. Dazu ist es wesentlich, in Einheit mit seinem Körper zu sein, indem
man gut das Becken nach vorne neigt und mit den Knien fest in den Boden drückt, ohne eine
willentliche Anstrengung zu machen, nur dank der richtigen Höhe des Zafus.
Wenn ihr eine muskuläre Anstrengung in der Nierengegend machen müsst, müsst ihr das Zafu
erhöhen. Dann entspannt gut den Bauch und lasst euer Körpergewicht auf das Zafu drücken.
Setzt euch so hinsetzt, als ob ihr wolltet, dass der Anus das Zafu nicht berührt. Ausgehend von
dieser stabilen Basis des Sitzens streckt man gut die Wirbelsäule, indem man alle Spannungen
des Rückens loslässt.
Das Kinn ist zurückgezogen, und man streckt den Nacken, so als wolle man mit dem
Scheitelpunkt des Kopfes in den Himmel drücken. Die Schultern sind entspannt. Man muss den
richtigen Tonus finden, weder zuviel Anspannung noch zuviel Entspannung. Das Gesicht ist gut
entspannt, der Blick ist direkt vor einem auf den Boden gerichtet. Vermeidet es, die Augen zu
schließen, weil man dann ganz schnell einschläft. Man darf aber auch nicht durch die visuellen
Reize um einen herum gestört sein. Man sieht nur das, was vor einem ist, ohne sich daran zu
klammern. Genauso sieht man Gedanken, Empfindungen, Gefühle auftauchen, ohne sich ihnen
zu verhaften. Man wird sich ihrer für einen Augenblick bewusst und lässt sie vorbeiziehen.
Schließlich richtet man seine Aufmerksamkeit auf die Haltung der Hände. Die linke Hand liegt
in der rechten Hand, die Daumen sind waagerecht, die Handkanten in Kontakt mit dem
Unterbauch. In dieser Haltung fabrizieren die Hände nichts, ergreifen nichts. Auch wenn sie
konzentriert sind, miteinander in Kontakt, bleiben sie dennoch geöffnet. Diese Haltung heißt
Hokaijoin. Hokai bedeutet ‚Ozean des Dharma’. Das heißt, das ganze Universum, alle
Erscheinungen drücken das Dharma Buddhas aus – und umgekehrt. Join ist das Siegel.
Wenn man sich so auf die Hände konzentriert, beruhigt sich der dualistische Geist. Man folgt
nicht seinen Gedanken, man haftet nicht an ihnen. Man gibt sogar alle Absichten auf. Man ist nur
in Haltung und Atmung gegenwärtig. Letztlich denkt man nicht einmal mehr an Haltung und
Atmung. Man wird nur noch Körper-Geist, der in Zazen sitzt. Es gibt einen Körper und einen
Geist in Zazen, aber ohne Ego, ohne Absicht, ohne Anhaftung an den Gedanken „Nun mache ich
Zazen“, ohne die Absicht irgend etwas besonderes durch Zazen zu erlangen, ohne Leere in
seinem Geist herstellen oder nicht mehr denken zu wollen.
In diesem Moment gibt es keine Trennung mehr zwischen sich selbst und Zazen, zwischen sich
selbst in Zazen und dem gesamten Universum. Der Geist der Trennung ist aufgegeben. So wird
der Geist friedlich, ohne etwas zu ergreifen oder zurückzuweisen. Wenn man so praktiziert, wird
die Praxis selbst die Verwirklichung des Weges. Sie ist keine Übung.
Diese Art und Weise, in Einheit mit unserer augenblicklichen Wirklichkeit zu sein, kann
während des ganzen Sesshin andauern, während jedem Moment unseres täglichen Lebens. Das
ist der Sinn unserer Praxis. Wenn man dies durch Denken verwirklichen möchte, ist das nicht
möglich. Doch indem man einfach mit seiner Haltung und seiner Atmung vertraut wird,
verwirklicht es sich unbewusst und natürlich. Jeder Augenblick der Praxis wird zur
vollkommenen Verwirklichung, es gibt nichts darüber hinaus zu erwarten. Die Praxis wird in
sich selbst vollständig. Es gibt nichts außerhalb der Praxis, alles wird zur Praxis. So kann man
selbst die Praxis vergessen. Wenn alles zur Praxis wird, gibt es keine Praxis mehr. Nur das
Leben in Harmonie mit unserer Wirklichkeit jeden Augenblicks.

Samstag, 15. Mai 2004, 16.30 Uhr
Mondo
F: Im Atelier über das Thema ‚Leben und Tod’ haben wir über einen Text von Dogen
gesprochen. Er warnt uns davor, in die Falle von Leben und Tod zu gehen. Wir dachten, nicht
in den Dualismus zu fallen bedeutet, Leben und Tod nicht einander gegenüber zu stellen,
sondern vielmehr, Leben und Tod als etwas zu betrachten, das ein Ganzes bildet.
RR: Ja, das ist richtig. Leben impliziert Tod. Das Kanji Sho von Shoji bedeutet zugleich Leben,
aber auch Geburt. Geboren zu werden hat als automatische Konsequenz, dass man eines
Tages sterben muss. Alle Wesen, die eine Geburt haben, haben einen Tod. In diesem Sinne
ergänzen sich beide, so wie es keinen Tag ohne Nacht gibt, keine Nacht ohne Tag. Wenn
man akzeptiert, geboren zu werden – und vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen sind
wir normalerweise für unsere Geburt verantwortlich -, impliziert das, zu akzeptieren, dass
man stirbt, denn man kann nicht nur geboren werden wollen – leben und nicht sterben -,
denn beide sind völlig miteinander verbunden.
Der Weg Buddhas bestand in der Suche danach, nicht zu sterben, d.h. nicht geboren zu
werden, um das Leiden zu vermeiden. Die einzige Lösung dafür, nicht Unbeständigkeit
Alter und Tod erdulden zu müssen, ist nicht geboren zu werden. Wenn man geboren wird,
ist es sicher, dass man altern wird, krank werden und sterben wird.
In seinem Erwachen hat Buddha das verwirklicht, was man später die Nicht-Geburt genannt
hat, die Erfahrung der Nicht-Geburt. Diese Erfahrung der Nicht-Geburt ist die Erfahrung der
Tatsache, dass es in Wirklichkeit kein Ego gibt, das geboren wird, kein substantielles Ego,
auch wenn es Elemente gibt, Aggregatzustände, die sich vereinigen und ein Neugeborenes
bilden. Wenn es ein relatives Ego gibt, d.h. man sich mit der Zeit bestimmte Verhaltensweisen
aneignet, eine bestimmten Identitätsauffassung entwickelt, so liegt das bereits in der
Sprache: Man gewöhnt sich an, ‚ich’, ‚mir’ zu sagen und glaubt schließlich, dass dies einem
speziellen Wesen entspricht.
Die Praxis von Zazen bedeutet zu realisieren, dass es im Grunde, in Wirklichkeit, kein Ego
gibt, d.h. den Zustand der Nicht-Geburt, der Nicht-Getrenntheit zu realisieren. Diesen
Zustand der Nicht-Geburt, den man in Zazen erfahren kann, wenn man sich nicht mit seinen
Gedanken identifiziert, mit den Ideen, die man sich über sich selbst macht, nennt Buddha
Nirvana.
Das zentrale Thema des Kapitels Shoji des Shobogenzo ist nicht die Dualität von Leben und
Tod, es ist die Dualität zwischen Leben und Tod, d.h. dem Samsara, einerseits und dem
Nirvana andererseits, der Prozess von Samsara und von Nirvana.
Natürlich könnt ihr euch in dem Atelier Fragen über Leben und Tod stellen. Aber das
zentrale Thema ist LebenundTod bezogen auf die Befreiung, das Erwachen, das Nirvana.
Sich von beidem zu befreien, sowohl von Geburt als auch von Tod, über Geburt und Tod
hinauszugehen.
F: Wir haben uns gefragt, ob die Antwort darauf nicht wäre, dass, wenn man im Leben ist, man
ausschließlich im Leben ist, wenn man im Tod ist, man ausschließlich im Tod ist, dass man
nichts anderes tun muss, als sich dem Tod zu stellen, ihn zu nehmen, wenn er kommt, ihn
akzeptieren.
RR: Ja, das ist die Art, jenseits aller Dualität zu praktizieren, eins mit der Wirklichkeit jeden
Augenblicks zu werden. Das Leiden des Samsara liegt darin, dass man auf eine dualistische
Funktionsweise des Geistes zentriert ist: Man hat etwas und hat Angst, es zu verlieren. Man
hat etwas nicht und will es erhalten. Man lebt, aber man denkt an den Tod, hat Angst zu
sterben. Man ist immer in Sorge, etwas zu verlieren, weil man zu stark anhaftet und nicht
realisiert hat, dass es im Grunde nichts gibt, das man ergreifen kann, nichts, das man
verlieren kann.
Das ist die absolute Wirklichkeit. Man muss gut verstehen, dass es immer zwei Ebenen des
Verstehens gibt: Auf der relativen Ebene kann man natürlich etwas verlieren, jeder macht
die Erfahrung von Verlust. Aber auf einer absolute Ebene gibt es keinen wirklichen Besitz,
also ist auch kein Verlust möglich.
Die Unterweisung Dogens in Bezug auf den Verlust des Lebens, die wichtigste Sorge des
Menschen – und das war bereits die Unterweisung Buddhas -, ist, nicht so sehr an den Tod
zu denken, sondern sich vielmehr, indem man sich bewusst wird, dass man sterblich ist, auf
das Leben in jedem Augenblick zu konzentrieren, jeden Augenblick des Lebens absolut zu
machen.
Sich ab und zu daran zu erinnern, dass man sterblich ist, dass man sterben wird, ist
stimulierend. Das ist ein bisschen wie der Kyosaku im Zazen. Das bedeutet, nicht zu sehr an
das zu klammern, was unbeständig ist, sondern im Gegenteil das zu praktizieren, was
wichtig ist, d.h. ganz jeden Augenblick in einer vollkommenen Einheit zu leben, ohne an
davor, an danach, an woanders zu denken.
F: Aber ist das nicht eine Dualität?
RR: Nein. Aber wenn man es erklärt, wird alles dualistisch durch die Erklärungen,
zwangsläufig, weil man Worte benutzt. In der Praxis ist es kein Dualismus, es ist eine
Erfahrung. Alle Zen-Meister – und Dogen ganz besonders – stellen nicht so sehr Theorien
auf, sie laden dazu ein, Erfahrungen zu machen. Dogens Unterweisung ist sehr einfach:
„Wenn ihr lebt, lebt vollständig. Wenn der Moment des Sterbens kommt, sterbt.“ Punkt.
In der Erfahrung gibt es keine Dualität. Aber wenn man anfängt darüber nachzudenken, wie
du es machst, ist das Denken zwangsläufig dualistisch. Deshalb ist die Befreiung ausgehend
vom Mentalen nicht möglich. Erklärungen zeigen lediglich eine Richtung für die Praxis.

Sonntag, 16. Mai 2004, 7.30 Uhr
Statt seinen Gedanken zu folgen, folgt man während Zazen seiner Atmung. Beobachtet, wie ihr
atmet, und folgt aufmerksam dem Fluß der Luft, die durch die Nasenlöcher ein- und ausströmt.
Meister Deshimaru hat eine besondere Art unterwiesen, sich auf die Atmung zu konzentrieren,
die darin besteht, bis ans Ende jeder Ausatmung zu gehen, indem man gut auf die Eingeweide
nach unten drückt, ohne den Bauch einzuziehen. Das erlaubt es, die Energie im Hara zu
konzentrieren und schnell die geistige Aktivität zu stabilisieren, die Gefühle zu befrieden, die
Gedanken zu beruhigen.
Manchmal ist es schwierig, auf diese Weise zu atmen, wenn man Blockaden hat. In diesem Fall
ist man einfach aufmerksam auf die Wahrnehmung der Luft, die durch die Nasenlöcher strömt.
So entspannen sich Körper und Geist ganz natürlich und schließlich vertieft sich die Atmung auf
natürliche Weise. Das ist weniger schnell, als wenn man sich willentlich auf die Ausatmung
konzentriert. Aber man ist nicht gezwungen, die Kraft seines Willens zu benutzen.
In Zazen ist es wichtig, letztlich alle Absichten aufzugeben, alle Gegenstände. Wenn ihr euch für
einen kurzen Augenblick auf die Ausatmung konzentriert, indem ihr gut auf die Eingeweide
nach unten drückt, um die Empfindung der Stabilität zu finden, dann gebt anschließend selbst
diese Bemühung auf. Gebt euch einfach damit zufrieden, zu beobachten, was natürlicherweise
während der Atmung passiert, und gebt dann auch diese Beobachtung auf und seid einfach dieser
Körper und dieser Geist, der atmet, ohne Trennungen zu schaffen, indem ihr euer eigenes Ego in
der Atmung aufgebt, das heißt, den Willen aufgebt, ein bestimmtes Ergebnis erzielen zu wollen,
einfach gegenwärtig seid in dem, was jeden Augenblick passiert.
Wie dem auch sei, weder ergreift man seine Gedanken, noch widersetzt man sich ihnen. Das ist
die grundlegende Haltung von Zazen: die Befreiung von allem Ergreifen und von allem
Zurückweisen. Das ist genau das, was der Buddha als Nirvana bezeichnet hat – der Friede des
Geistes. Von Gier und Hass befreit zu sein, ermöglicht es, dieses Nirvana, diesen inneren
Frieden inmitten von Shoji, von Leben und Tod, zu realisieren, inmitten der Welt der
Phänomene, in der Geburt und Tod ohne Unterlass aufeinander folgen. Ohne sich an das
Erscheinen zu klammern, ohne das Verschwinden zu bedauern. Selbst wenn eine Anhaftung oder
ein Bedauern auftauchen, sieht man dies einfach nur und akzeptiert es als das, was es ist, ohne
sich daran zu haften, und ohne es zu bedauern. So kann sich unsere Sicht klären. Man kann
aufnahmefähig für die Wahrheit werden, die sich überall manifestiert.
Das veranlasste Meister Wanshi zu sagen, dass die vollkommene Sicht keine Trennung schafft.
Dann kann man realisieren, dass die Berge, die Prärien, die Wälder schon immer die Wahrheit
dargelegt haben. Indem man für diese Unterweisung, die sich überall manifestiert,
aufnahmebereit ist, kann man verstehen, dass sie wie die Stimme Buddhas ist, die niemals
schweigt, die sich überall ausdrückt: in der Bewegung der Bäume, die sich im Wind wiegen, in
den Blüten der Bäume des Frühlings. Alles drückt die Wirklichkeit aus, so wie sie ist.
Das ist es, womit uns die Praxis von Zazen ganz vertraut in Kontakt bringt.

Sonntag, 16. Mai 2004, 16.30 Uhr
Laßt während Zazen die Augen gut geöffnet. Der Blick einfach ruht vor einem auf dem Boden.
Man versucht nicht, die visuellen Gegenstände um sich herum zu unterdrücken. Man
konzentriert sich einfach darauf zu sehen, was ist, ohne dabei von den Objekten gestört zu
werden, aber auch ohne von ihnen angezogen zu sein. Das gleiche gilt für die Geräusche: Man
verhaftet sich nicht dem Gesang der Vögel, man läßt sich auch nicht von den Geräuschen seiner
Nachbarn stören. Man schaut natürlich auch nicht aus dem Fenster, um die Landschaft zu
bewundern.
Das bedeutet, die Funktionsweise unseres persönlichen Bewusstseins, unseres egoistischen
Bewusstseins aufzugeben. Man unterhält sie nicht. So wird keinerlei Trennung geschaffen. Der
Geist in Zazen ist ohne Dualität. Das ist wie das, was ich über die Haltung gesagt habe: Es bin
nicht ich, der sich auf die Haltung konzentriert, und die Haltung ist nicht der Gegenstand meiner
Konzentration. In Zazen wird man vollständig dieser Körper und Geist in Einheit in der Haltung.
Man atmet tief ein und aus. Man kann sagen, dass man eingeatmet und ausgeatmet wird: Es gibt
kein Ego, das einatmet und ausatmet. Das Ego ist in der Praxis aufgegeben, es ist von der Praxis
aufgesaugt, absorbiert. So kann die Welt ohne Trennung, ohne Dualität entstehen, ganz natürlich.
Das ist nichts Abstraktes, keine Idee. Es ist genau die Erfahrung der Praxis hier und jetzt.
Wanshi sagt: “Die Sinne und die Gegenstände verschmelzen. Prinzip und Weisheit sind Einheit.“
Wenn dieser Geist im täglichen Leben genauso funktioniert, wenn man etwas anschaut, zum
Beispiel eine Blume oder einen Baum, kann man diese Blume oder dieser Baum werden. Vor
allem, wenn man einer Person begegnet, kann man diese Person werden. Das geschieht, wenn
der Geist, der sich trennt, der sich entgegensetzt, aufgegeben wird.
Jeder hat bereits diese Erfahrung bei der Geburt gemacht: In den ersten Tagen, den ersten
Wochen unseres Lebens schaffen wir keine Trennung zwischen uns selbst und den anderen.
Dann hat man gelernt, man selbst zu werden, getrennt zu sein und man hat den Aspekt der Nicht-
Getrenntheit, der Einheit vergessen. Indem man Zazen praktiziert, kann man diese Dimension
der Nicht-Getrenntheit wiederfinden, ohne dabei seine eigene Identität zu verlieren. Man kann
sie einfach frei aufgeben. So sind Weisheit und Prinzip Einheit.
Das Prinzip ist das, was unser Leben begründet: In Wirklichkeit sind wir von nichts getrennt.
Wir leben in wechselseitiger Abhängigkeit mit allen Wesen. Das ist das grundlegende Prinzip
des Buddhismus und unseres Lebens. Weisheit besteht darin, sich ganz konkret, sich wirklich
damit zu harmonisieren, nicht nur ein Prinzip daraus zu machen. Dann wird es zur gelebten
Realität unserer Existenz. So wie Wanshi sagt: „Man selbst und die anderen sind ähnlich. Geist
und Dharmas werden eins.“ Das bedeutet, der grundlegenden Erfahrung unseres Lebens zu
begegnen. Das ist etwas, das wir seit langem vermieden haben, weil wir zu sehr damit
beschäftigt waren, unser kleines Ego zu stärken.
Zazen konfrontiert uns mit dem, was wir lange vermieden, was wir zurückgewiesen haben. Weil
es unsere vertraute tiefe Wirklichkeit ist, ist es, wenn wir sie akzeptieren, wirklich so, wie nach
Hause zu kommen.

Mondo
F: Man sagt dass während der Nonnen- und Mönchsordination das Karma abgeschnitten wird.
Was bedeutet das, und wie kann ich das im täglichen Leben erkennen?
RR: Das heißt, dass ausgehend von der Mönchs- oder Nonnenordination die Praxis des Weges
das Motiv unserer Handlungen, die Wurzel unseres Lebens sein wird. Das ist die Bedeutung
des Gelübdes, Nonne zu sein. Es sind nicht mehr die Wünsche unseres Egos, die das Karma
schaffen, sondern es ist Bodaishin, der Geist des Weg, der zum Steuer wird. Das ist es, was
das Karma abschneidet, dieses Gelübde, diese Entscheidung.
Unglücklicherweise funktioniert das nicht hundertprozentig: Selbst wenn man die
Ordination empfangen und dieses Gelübde abgelegt hat, behält man trotzdem einen Rest
von Anhaftungen und Konditionierungen; unser Ego erwartet, fordert weiterhin
Belohnungen und Befriedigungen. Also kann man, selbst wenn man Mönch oder Nonne ist,
neues Karma schaffen. Das stellt man jeden Tag fest. Aber das ist normalerweise nicht mehr
das, was unser Leben in erster Linie lenkt.
Darüber hinaus ist es Teil unserer Praxis, selbst wenn man weiterhin Wünsche und
Aversionen hat und dies neues Karma schafft, sich dessen bewusst zu werden und das, was
geschieht, umzuwandeln. So können sogar Illusionen und Fehler zur Gelegenheit werden zu
erwachen. Aber man muss sich natürlich daran erinnern, dass es unser Gelübde ist, unser
Leben zur Praxis des Weges zu machen. Man lebt weiterhin in dieser Welt des Egos, in
dieser Welt des Karmas, aber man erhellt sie. Es gibt immer dieses Bewusstsein, das das
erhellt, was passiert. Das verhindert normalerweise, dass man zu sehr von den Phänomenen
angetrieben wird. Normalerweise… Aber das ist nicht immer so. Das ist keine
hundertprozentige Versicherung.
Doch selbst wenn man sich täuscht, hat man trotzdem einen Orientierungspunkt, um sich
dessen bewusst zu werden, dass man sich getäuscht hat. Wohingegen es in den meisten
Fällen für gewöhnliche Leute diese Orientierung nicht gibt. Für sie ist die Täuschung die
Wahrheit. Es gibt keinen Irrtum, da ihre einzige Perspektive darin besteht, ihre egoistischen
Wünsche zu befriedigen. Das ist die Normalität der meisten Leute. Es gibt also für die
gewöhnlichen Leute keine Irrtümer. Sie sind sich dessen nicht bewusst, dass sie sich irren.
Es sind nur die Folgen des Karmas – das Leiden, das entsteht – die sie bewusst werden
lassen, dass sie vielleicht einen Fehler gemacht haben.
Aber wenn man Mönch oder Nonne ist, muss man nicht auf die Leiden warten, um sich
dessen bewusst zu werden, dass man einen falschen Weg gegangen ist. – Normalerweise.
Das ist natürlich das Ideal, in der Praxis sieht das sicherlich anders aus. Das funktioniert
nicht immer so wunderbar. Aber das ist die Richtung.
F: Das betrifft das zukünftige Karma, aber was ist mit dem alten Karma?
RR: An dem vergangenen Karma kann man nichts machen. Man kann das vergangene Karma
nicht ändern. Was man machen kann, ist, die Konsequenzen dieses Karmas zu verändern.
Das, was man die Ergebnisse oder die Früchte des Karmas nennt, kann man verändern.
Aber das alte Karma an sich, das, was passiert ist, kann man nicht mehr verändern. In der
Unterweisung Buddhas sind die Wirkungen des Karmas nichts Unausweichliches. Sie
können durch die Praxis verändert werden. Das ist kein Automatismus. Wenn man sich auf
die Praxis des Weges, die Gebote, die Paramita konzentriert, sind die schlechten Effekte
des schlechten vergangenen Karmas vermindert.
F: Es ist zwei Jahre her, dass ich das erste Sesshin gemacht habe. Neun Tage danach habe ich
bemerkt, dass sich etwas verändert hatte. Ich habe bemerkt, dass es einen Pfad zurück in
meine Vergangenheit, in meine Jugend gab. Bis zu diesem Zeitpunkt war es für mich nicht
möglich zurückzugehen. Ich habe diesen Pfad gefunden und konnte wieder erleben, wie es
war. Das war positiv für mich. Aber gestern habe ich gehört, dass du gesagt hast, dass jeder
Mensch für alles verantwortlich ist, was in seinem Leben passiert, selbst für Dinge, die in der
Jugend geschehen sind. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren, weil ich zurückschauen kann
auf das, was passiert ist. Ich kann damit etwas Positives machen, aber ich bin nicht
verantwortlich dafür. Das geht mir einfach zu weit. Meine Frage ist: Habe ich das richtig
verstanden?
RR: Die Dinge, die einem Kind passiert sind, hat das Kind häufig nicht gewollt, hat sie nicht
wirklich bewusst ausgewählt. Aber auf dem Weg Buddhas denkt man, dass es nicht nur ein
Leben gibt. Da liegt das Problem. Das heißt, dass selbst der Ort unserer Geburt, die Familie,
in die man geboren wird, mit den Vorteilen dieser Geburt, aber auch mit ihren Nachteilen,
Frucht eines vorangegangenen Karmas ist. Aber es ist nicht das Kind selbst, das für seine
Geburt verantwortlich ist, sondern das Wesen, das dieser Geburt vorangegangen ist, dessen
Fortsetzung die Geburt ist.
Es ist so, dass man erst ab dem Alter, wo man den Verstand entwickelt hat, entsprechend die
Verantwortung für seine Handlungen und ihre Wirkungen übernehmen und damit
entscheiden kann, etwas zu verändern oder sich etwas zu widersetzen. Vom Standpunkt der
Unterweisung Buddhas aus muss man sich seiner selbst und der Konsequenzen seiner
Handlungen bewusst sein, um verantwortlich zu sein.
Ein kleines Kind, ein Säugling, besitzt dieses Bewusstsein nicht. Darüber hinaus kann ein
Kind auch Handlungen von Erwachsenen erleiden, ohne etwas gegen sie machen zu können,
weil es zu schwach ist. Natürlich ist es nicht für die Handlungen der Erwachsenen ihm
gegenüber verantwortlich.
Wenn ich also von der Verantwortung für unser Leben gesprochen habe, dann wollte ich
einfach sagen, dass unser Leben nicht mit unserer Geburt beginnt und dass diese Geburt das
Resultat eines vergangenen Karmas ist. Unsere Verantwortung in diesem Leben besteht
darin, diese Situation umzuwandeln; gegebenenfalls, indem wir in eine Praxis wie die des
Zen eintreten.
F: Hat Buddha selbst schon von Karma gesprochen, oder kam das erst später dazu?
RR: Nein, er hat nicht nur davon gesprochen, sondern es ist sogar Teil seines eigenen
Erwachens. Er hat viele Male davon gesprochen, wie die Nacht verlaufen ist, in der er das
Erwachen erlebt hat.
F: Für mich ist die Idee des Karma neu und schwer zu akzeptieren und auch zu verstehen.
RR: Das stimmt, es ist schwer. Aber diese Idee nicht zu akzeptieren, macht die Dinge noch
schwieriger!
F: Danke.

Montag, 17. Mai 2004, 7.00 Uhr
Vergeudet während Zazen nicht eure Zeit damit, eure Gedanken wiederzukäuen. Meister
Deshimaru sagte uns immer: „Ihr müsst Zazen so praktizieren, als ob ihr euch in euren Sarg
legen würdet.“ Wenn man in diesem Bewusstsein praktiziert, wird man sicherlich keine Zeit
damit verlieren, Anhaftungen zu unterhalten, die man auf jeden Fall bald aufgeben muss. Bevor
man stirbt, konzentriert man sich darauf, das zu realisieren, was zu realisieren wichtig ist.
Einige Monate bevor er starb, sprach Meister Deshimaru sehr viel von der Nicht-Angst. Als ich
ihn 1972 das erste Mal traf, sprach er von der Angst. Er sagte: „Ihr müsst Angst vor der
kosmischen Ordnung haben, Angst davor, ihr nicht zu folgen, euch nicht mit der Realität zu
harmonisieren.“ Aber bevor er starb, sprach er vor allem von der Nicht-Angst. Da das Thema der
Workshops in diesem Frühjahrslager den Tod betrifft, möchte ich gerne über die Unterweisung
von Shakyamuni über den Tod sprechen. Die erste betrifft das Thema der Angst. Bestimmt ist
das ein Thema, das jeden betrifft.
Eines Tages suchte ein Brahmane den Buddha auf. Er sagte zu ihm: „Unter den Menschen, die
dem Tod verfallen sind, gibt es niemanden, der keine Angst hätte, wenn er an den Tod denkt.“ –
Der Buddha antwortete ihm: „Ich stimme Ihnen nicht zu. Das ist nicht wahr. Unter den
Sterblichen gibt es Wesen, die keine Angst vor dem Tod haben. – Aber lasst uns zunächst
betrachten, wer diejenigen sind, die Angst vor dem Tod haben.“
Er spricht von vier Gruppen von Menschen, die Angst vor dem Tod haben. Zunächst gibt es
diejenigen, die nicht von ihren Leidenschaften und Wünschen befreit sind. Wenn sie eine
schwere Krankheit bekommen, denken diese Personen: ‚Meine Leidenschaften, die ich so geliebt
habe, werden sich von mir trennen. Die Wünsche, die ich hatte, kann ich nicht mehr unterhalten,
nicht mehr verwirklichen.’ Indem sie so an ihre Leidenschaften und Wünsche denken, werden
sie traurig, beklagen sich und bekommen Angst.
Das Gleiche gilt für diejenigen, die nicht frei von Wünschen bezüglich ihres Körpers sind. Wenn
sie eine schwere Krankheit bekommen, beklagen sie sich und bekommen Angst. Sie denken:
‚Dieser Körper, den ich derart geliebt habe, wird sich bald von mir trennen.’ Außerdem leiden
diese Menschen bereits aufgrund ihrer Krankheit an ihrem Körper. Also trauern sie der Zeit
nach, in der ihr Körper sich guter Gesundheit erfreute. Sie können die gegenwärtige Situation
nicht akzeptieren, weil sie ihrem eigenen Körper stark verhaftet sind.
Dann gibt Menschen, die nicht die rechten Handlungen begannen haben. Sie haben z.B. nicht
den Personen geholfen, denen sie hätten helfen können. Sie haben nicht die Handlungen
begannen, die sie hätten begehen sollen. Sie haben ihre Zeit damit verloren, unnütze Handlungen
zu begehen, z.B. Reichtum, Ehre, unnützes Wissen anzuhäufen. Sie haben sogar grausame Taten
begangen, die andere Leute haben leiden lassen. Kurz, sie haben das gemacht, was sie nicht
hätten machen sollen, und nicht das gemacht, was sie hätten machen sollen. Wenn diese Leute
glauben, dass sie bald sterben werden, sind sie natürlich voller Bedauern und Ängste.
Letztlich gibt es die Menschen, die im Zweifel sind, denen es nicht gelungen ist, das Erwachen
zu realisieren, zur Wirklichkeit, so wie sie ist, zu erwachen. Wenn sie spüren, dass sie bald
sterben werden, sind auch sie voller Bedauern, dass sie nicht die Wahrheit in ihrem Leben
realisiert haben, dass sie mit all ihren Zweifeln werden sterben müssen.
Das sind die Menschen, die eine sehr große Angst vor dem Tod haben.
Das heißt aber umgekehrt, dass es andere Menschen gibt, die keine Angst vor dem Tod haben.
Das sind offensichtlich diejenigen, die die entgegengesetzte Haltung realisiert haben. Diesen
Punkt unterstreicht Buddha: Diejenigen, die sich von ihren Bonnos, von ihren Leidenschaften
und Wünschen befreit haben, beklagen sich nicht, wenn sie sehr krank werden und spüren, dass
sie sterben müssen. Sie haben keine Angst davor, den Gegenstand ihrer Leidenschaften und
Wünsche zu verlieren.
Ebenso werden die, die frei von der Anhaftung an ihren eigenen Körper sind, nicht von der Idee
geängstigt, den Körper, den sie so sehr geliebt haben, zu verlieren.
Genauso ergeht es denen, die immer die rechten Handlungen begannen haben, die den anderen
geholfen haben, die kein Leiden um sich herum geschaffen haben. Diese Personen können ohne
Bedauern und ohne Angst sterben.
Auch diejenigen, die das Erwachen realisiert haben und zur Wahrheit erwacht sind, die all ihre
Zweifel aufgegeben und ein tiefes Vertrauen realisiert haben, das auf ihren Erfahrungen beruht,
haben keine Angst vor dem Tod.
All diese Personen können dem Tod mit Vertrauen entgegentreten, mit großem Frieden des
Geistes, weil sie sich nicht sagen: ‚Es ist zu früh. Ich habe noch zu viele Wünsche zu
verwirklichen, zu viele Dinge zu verstehen, muss noch falsche Handlungen korrigieren.’ Diese
Personen sind bereit, sich sofort in ihren Sarg zu legen. Ohne Angst, ohne Bedauern.
Selbstverständlich ist es besser, nicht auf den Moment des Sterbens zu warten, um diesen
Zustand zu realisieren. Deshalb hat uns Meister Deshimaru sehr oft daran erinnert, Zazen so zu
praktizieren, als ob wir uns in unseren Sarg legen würden. Und Kodo Sawaki empfahl, so zu
leben, als wenn man sterben würde, sodass man, wenn man stirbt, nicht bedauern muss, nicht das
praktiziert zu haben, was man hätte praktizieren sollen, und nicht das vermieden zu haben, was
man hätte vermeiden sollen.
In der Unterweisung Buddhas, in der Unterweisung des Zen gründet die Nicht-Angst vor dem
Tod nicht auf einem Glauben an etwas, was nach dem Tod kommt, sondern sie basiert darauf,
jeden Tag ein rechtes Leben zu führen., So wird der Gedanke an den Tod – statt Ursache von
Angst zu sein – zur Stimulation für eine rechte Praxis, ein rechtes Leben, wird zur Quelle des
Lebens.

Montag, 17. Mai 2004, 16.30 Uhr
Während Zazen ist unser Geist häufig wie der eines Insektes, das herumfliegt und sich
schließlich auf etwas setzt, statt kehrt zu machen und direkt durch die große, offene Tür nach
draußen zu fliegen, die in die Natur führt. Für das Insekt wäre das seine Befreiung. Deshalb muß
es aufhören, sich ständig auf etwas niederlassen zu wollen.
Einige erhoffen durch Zazen einen besonderen Geisteszustand erlangen zu können, die
Erinnerungen an ihre Kindheit wieder zu finden, besser ihre Wünsche, ihre Motivation zu
erkennen, besser ihr Ego zu erkennen, das Mittel zu finden, um es im Leben besser zu
befriedigen. Andere suchen besondere spirituelle Zustände in der Hoffnung, sich auf etwas
ausruhen zu können. Demgegenüber ist der wahre Geist, der in Zazen zu verwirklichen ist, ein
Geist, der auf nichts stehen bleibt, der nichts erwartet und der nichts zurückweist. Das ist vor
allem ein Geist, der wirklich von den Sorgen unseres Ego befreit ist. Das bedeutet, Zazen nicht
für dessen Befriedigung zu benutzen, sondern den Zustand zu entdecken, der frei von diesem
Ego ist.
So hat Buddha Shakyamuni einem Laienschüler empfohlen, einen anderen Schüler zu begleiten,
der krank war und kurz vor dem Tod stand. Der Laienschüler war gekommen, um Buddha um
Rat zu fragen. Buddha sagte ihm zunächst, dass es vier Arten von Trost gibt, mit denen er helfen
kann:
 Zunächst das heitere Vertrauen in Buddha zu bewahren. – Im Zen würde man nicht nur
sagen, in Buddha Shakyamuni, sondern in unsere wahre Buddhanatur.
 Weiterhin Vertrauen in das Dharma zu bewahren. Das erlaubt es, sich augenblicklich von
allen Leiden zu befreien.
 Ebenso das Vertrauen in die Sangha zu bewahren, in die Gemeinschaft.
 Und da es sich um einen Laienschüler handelte, auch das Vertrauen in die Gebote zu
bewahren, die er bis zu diesem Augenblick beschützt hat.
Das erlaubt es, den Geist in Frieden zu halten und die rechte Konzentration zu finden.
„Wenn dieser Laienschüler sich Sorgen um seine Angehörigen, seine Frau, seine Kinder, seine
Eltern macht, müsst Ihr ihm sagen, dass seine Sorgen nichts nützen, dass sie weder seiner
Familie helfen, noch ihn daran hindern wird zu sterben. Also soll er so gut wie möglich
versuchen, alle Sorgen aufzugeben.“
All diese Empfehlungen richten sich natürlich nicht nur an Sterbende. Das bedeutet
beispielsweise, sich nicht unnötig Sorgen zu machen. Es gibt Leute die sind ständig wegen allem
möglichen beunruhigt. Richtig ist es, sich nur um das Sorgen zu machen, was zu verändern in
unserer Macht steht, und sich wahrhaft darauf zu konzentrieren, aber sich nicht unnötig
beunruhigen.
„Wenn Ihr dann bemerkt,“ fährt Buddha fort, „dass dieser Schüler immer noch an seinen
Wünschen haftet, an den Sinnesfreuden, müsst Ihr ihm sagen, dass das Glück der himmlischen
Zustände unendlich viel höher ist als all diese Sinnesfreuden. So konzentriert sich der Schüler
darauf, diese verschiedenen Zustände der Glückseligkeit, die verschiedenen himmlischen
Zustände zu realisieren. Wenn er sie schließlich erreicht, müßt Ihr ihm sagen, dass diese
Zustände selbst völlig unbeständig sind.“
Natürlich sind sie den einfachen Sinnesfreuden vorzuziehen, aber sie sind ebenfalls unbeständig.
Man kann sich nicht auf diese Zuständen stützen, nicht in ihnen verweilen. Das gleiche gilt für
alle Zustände von Glückseligkeit, die manche in der Meditation realisieren.
Buddha schließt damit zu empfehlen, den Wunsch aufzugeben, diese Zustände zu erlangen, und
sich einfach nur darauf zu konzentrieren, das Ego aufzugeben. Nur dies. Das ist letztlich die
wichtigste Empfehlung Buddhas für die Begleitung dieses Sterbenden, die Anhaftung an seine
Individualität aufzugeben.
„Wenn er das realisiert,“ sagt der Buddha „unterscheidet sich dieser Laienschüler nicht mehr von
einem Mönch, der die große Befreiung verwirklicht hat.“
Diese Unterweisung Buddhas zur Begleitung eines Sterbenden zu verstehen, ist die beste
Begleitung für alle Lebenden, um das wahre Leben zu realisieren, das Leben jenseits der
Grenzen unseres kleinen Egos. Das ist es, was uns in unserem gesamten Leben, in unserer
ganzen Praxis begleiten soll und was es uns ermöglicht, die anderen wirklich zu begleiten, ihnen
wirklich zu helfen, nicht nur bestimmte Befriedigungen zu erlangen, sondern die große
Befreiung, die selbst über Glück und Unglück hinausgeht – jenseits aller unbeständigen
Zustände.

Mondo
F: In meiner Praxis habe ich eine Zeit lang den Eindruck gehabt, auf dem Weg zu sein, ohne
wirklich darauf zu sein, weil ich auf der Suche nach Verantwortlichkeiten war, nach
Anerkennung, nach Aufwertung. Es bedurfte dem Auftreten der Krankheit in meinem Leben,
dass ich mit der Zeit und mit deiner Hilfe das Leben sowohl in der Sangha wie auch das
gesellschaftliche Leben auf eine andere Art und Weise sehen konnte. Wir haben während des
Workshops die These aufgestellt, dass vielleicht Krisen, Krankheiten, Trennungen, Trauer,
Verluste eine offene Tür zum Leben hin sein können, zum Erwachen. Heute würde ich mein
Leben nicht gegen das Leben von vor einigen Jahren eintauschen. Ich möchte einfach wissen,
was du darüber denkst.
RR: Ich denke, dass das sehr gut ist. Das kann man eine gute Verwendung von Krisen nennen.
Ich denke, dass das für alle eine gute Lektion ist. Ich hoffe aber, dass nicht alle darauf
warten, eine schwere Krankheit zu bekommen, um dahin zu gelangen. Aber das ist ein sehr
schöner Beweis.
F: Kann man Verluste in allen Bereichen wirklich mit den Toden in seinem Leben gleichsetzten?
RR: Ja natürlich, es ist der Tod von etwas. Man hat an etwas gehaftet und verliert es, also kann
der Teil des Egos, der in das investiert hat, an dem man gehaftet hat, nicht mehr
funktionieren, kann nicht mehr existieren.
F: Kann das wirklich andauernd die offene Tür zu etwas anderem hin sein?
RR: Nein, nicht zwangsläufig. Es gibt Leute, die eine schwere Depressionen durchmachen und
sich umbringen. Es ist nicht unbedingt das Tor zur Befreiung. Deshalb ist es gut, dass so
etwas von einer Praxis des Weges begleitet wird und von der Hilfe eines Meisters oder von
jemandem, der dieser Person hilft.
Die meisten Leute sind deprimiert, wenn sie etwas verlieren, ihre Gesundheit, ihre Arbeit,
ihre Ehre, jemanden, den sie lieben, durch Tod oder Trennung. Die erste Reaktion ist häufig
eine Depression. Damit diese in eine Quelle des Erwachens umgewandelt werden kann,
muss es eine Praxis der Verwandlung geben, die es erlaubt, die Dinge anders zu sehen; eine
Praxis, die uns bewusst werden lässt, dass das, was wir verloren haben, dem wir nachtrauern
und von dem wir glauben, dass es die Bedingung für unser Wohlbefinden ist, etwas
sehr Unbeständiges, etwas sehr Relatives, sehr Unzuverlässiges war und nicht die wirkliche
Lösung, um den Frieden des Geistes zu finden. Nur ein Glück, das von nichts abhängt, ein
Glück, das nicht vom Haben abhängt, kann ein wahrhaft stabiles Glück sein. Häufig wird
man sich dessen erst bewusst, wenn man es verliert. Anfangs hat man kein Gefühl dafür,
dass es sich um etwas handelt, dem man nicht anhaften kann. Oft ist es der Verlust, der es
uns bewusst macht.
Wenn man beispielsweise dem Weg Buddhas folgt, sagt man sich anlässlich eines
Verlustes: „Ach, dann ist die Unterweisung Buddhas wirklich richtig!“ Das führt dazu, dass
man die Unterweisung des Loslassens vertieft und selbst loslassen möchte. Aber wenn
jemand sich nicht auf die Unterweisung Buddhas beziehen kann, wenn sein einziger Bezug
sein kleines Ego ist, das etwas behalten will, gibt es für ihn, wenn er etwas verliert, nichts
mehr und er ist deprimiert. Damit eine Krise Nutzen bringt – und das ist etwas sehr Tiefes,
sehr Wahres – ist es daher erforderlich, dass sie von einer Unterweisung, einer Praxis und,
wenn möglich, von einem Lehrer begleitet wird.
F: Vor zwei Tagen hast du von zwei Wirklichkeiten gesprochen, der einen, die relativ ist, und
der anderen, die absolut ist. In der relativen Wirklichkeit kann man erfahren, dass man sich an
etwas klammert und dass man jemanden verlieren kann. In der absoluten Wirklichkeit gibt es
keine Trennung. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist die relative Wirklichkeit das, was wir
im Alltag erfahren. Aber ist die absolute Wirklichkeit dann eine Theorie?
RR: Nein, ganz und gar nicht. Man kann auch sie erfahren, aber von einem anderen Standpunkt,
dem Standpunkt der Leerheit aus. Das ist der Standpunkt, die Wirklichkeit so zu sehen, wie
sie im Grunde ist.
Zum Beispiel habe ich, seit ich klein bin, einen bestimmten Charakter entwickelt, bin eine
Person mit einer Geschichte. Also habe ich ein Ego. Das ist die relative Wirklichkeit und
tatsächlich hat in diesem Sinne jeder ein Ego, das er zu befriedigen, zu verteidigen, zu
bestätigen sucht. Man möchte als jemand Gutes anerkannt zu werde, zum Beispiel befördert
werden. Das ist der Narzissmus des Ego.
Aber wenn man auf den Grund schaut, sieht man, dass all das, was man “Ich“, “mein Ego“
nennt, nur geistige Konstrukte sind, Gedanken, die man unterhält, Ideen, die man sich über
sich selbst macht. Man versucht etwas zu erschaffen, das einigermaßen stabil scheint. Aber
wenn man die Wirklichkeit betrachtet, sieht man, dass es keine Substanz gibt. Das ist die
absolute Wirklichkeit, die tiefe, reale Wirklichkeit, die man intuitiv während der Praxis von
Zazen wahrnehmen kann.
Wenn ich mich in Zazen anschaue, kann ich kein Ego finden, kann ich keine Essenz meines
Egos finden. Es existiert nicht. Das ist die Unterweisung des Hannya Shingyo.
Natürlich gibt es den Körper, man hat Empfindungen, manchmal fühlt man sich wohl,
manchmal hat man Schmerzen in den Knien oder woanders, manchmal ist es still,
manchmal hört man ein Geräusch, ein Insekt, den Godo, der spricht, alle möglichen
Wahrnehmungen, Gedanken, Erinnerungen, Wünschen sind da. Alle diese Erscheinungen
tauchen auf und verschwinden ohne Unterlass. Man ist sich dessen bewusst und versucht, all
das zu vereinen, und sagt: „Das ist mein Ego. Ich bin jemand, der Empfindungen hat, der
dieses mag und jenes nicht, der so oder so denkt.“ – Relativ gesehen ist das richtig. Das ist
die Konstruktion unserer Persönlichkeit. Man konstruiert sich. Psychotherapien z.B. helfen
Menschen, sich zu konstruieren, eine möglichst genaue Vorstellung von sich zu bekommen,
in der Lage zu sein, ihre Wünsche zu erkennen und dahin zu kommen, sie mehr oder
weniger zu befriedigen.
Aber im Grunde hat all das keine Substanz. All das ist Leerheit. Und Leerheit ist keine
Theorie. Sie ist die Wirklichkeit. Wenn man ganz tief schaut, stellt man die Abwesenheit
von Substanz fest. Also sind relative und absolute Dimension der Wirklichkeit wie die
Handfläche und der Handrücken. Das gehört immer zusammen. Shiki, die Form, die
Phänomene, und Ku, die Leerheit. Ku ist die wahre Natur von Shiki. Die absolute
Dimension ist die wahre Natur der relativen Dimension. Sie sind niemals getrennt von
einander, es ist lediglich eine Frage der Sichtweise. Die Art und Weise, wie man schaut,
lässt einen die Dinge anders sehen.
Man könnte also sagen – um die westlichen Kategorien wieder aufzunehmen – dass es auf
der einen Seite die Erscheinungen gibt und auf der anderen Seite die Wirklichkeit. Das ist
recht einfach zu verstehen. Zum Beispiel sieht man Farben, einen Baum, der rot ist, einen
anderen, der grün ist, Formen. Aber in Wirklichkeit sind es nur Schwingungen, die die
Netzhaut berühren, die etwas im Gehirn bewirken. Man nimmt Formen wahr und sagt: „Ah,
dieser Baum ist rot. Er ist schön.“ Aber das ist nur eine Konstruktion unseres Geistes. In
Wirklichkeit gibt es nur Schwingungen.
Beide sind wahr: Ja, ein Baum ist schön. Man kann ihn malen. Man kann Gedichte über die
Schönheit der Bäume verfassen. Aber hinter dieser Form, dieser Erscheinung, gibt es nur
Schwingungen, nichts Substantielles. Beide sind wahr. Aber wenn man nur eine Seite sieht,
wenn man nur die Erscheinung, die Phänomene, sieht, neigt man dazu, sich daran zu
klammern, weil man glaubt, dass das, was man sieht, wirklich ist und andauern wird,
Substanz hat und man es besitzen kann. Das gleiche gilt für die eigene Persönlichkeit, das
eigene Ego.
Nur die Erscheinung zu sehen, ermutigt zur Anhaftung. Die Wirklichkeit zu sehen, so wie
sie ist, erlaubt es, von dieser Anhaftung geheilt zu werden. Das ist die Unterweisung
Buddhas, die Unterweisung des Dharmas. Buddha hat nie bestritten, dass es ein Ego gibt,
eine Persönlichkeit. – Es gibt Leute, die glauben, dass Buddha das Ego, die Persönlichkeit,
verneint hat. Das stimmt nicht. Er hat nur gesagt, dass das Ego sehr relativ ist, dass es keine
Substanz hat. Deshalb kann man sich davon lösen, selbst wenn es relativ gesehen existiert.
Aber wenn man an das Ego als etwas Absolutes, etwas Festes glaubt, das immer weiter
bestehen wird, kann man sich nicht befreien, kann man sich nicht loslösen. Es ist die
Unterweisung der absoluten Wahrheit, die Unterweisung der Leerheit, die hilft, sich zu
befreien.
Aber das ist nur eine Arznei. Letztlich darf man sich auch nicht an die Leerheit klammern.
Man darf sich auch nicht der absoluten Dimension verhaften, sonst kann man in das Extrem
des Nihilismus fallen: „Ach, nichts existiert, nur Schwingungen!“ Auch das ist falsch.
Immer beide zusammen, mit beiden Augen sehen.
F: Was ist eigentlich der Geist?
RR: Der Geist hat viele Dimensionen. Am Ende ist der Geist nicht fassbar. Man kann nicht
sagen: Das ist der Geist! Man kann den Geist nicht begrenzen.
Aber der Geist funktioniert auf verschiedene Weise. Der Geist ist zum Beispiel das
Bewusstsein. Das Bewusstsein ist eine Manifestation des Geistes, die es erlaubt, sich einer
Sache bewusst zu werden, bewusst Formen und Farben sehen, bewusst Töne hören. Das ist
eine Form des Geistes. Es gibt andere Formen des Geistes: Ein Geist, der sich nicht einfach
damit zufrieden gibt, die Gegenstände, die Gedanken, die Wahrnehmungen zu erkennen.
Das ist der Geist, der die Dinge intuitiv wahrnimmt, der Geist der Weisheit. Immer noch der
gleiche Geist, der aber auf eine andere Art und Weise funktioniert. Wie zum Beispiel ein
Klavier: Auf einem Klavier kann man einen Militärmarsch spielen, aber auch einen Walzer
von Chopin, man kann Jazz machen, man kann aber auch einfach nur Krach, indem man auf
die Tasten haut. Der Geist ist wie ein Musikinstrument, das viele Saiten hat, viele
Möglichkeiten, unterschiedlich zu funktionieren.
Es gibt beispielsweise den dualistischen Geist, der nach dem, was die Neurologen sagen,
ausgehend von der linken Gehirnhälfte funktioniert, der von der Sprache konditioniert ist.
Entsprechend hat er die Gewohnheit angenommen, zu definieren. Die Sprache funktioniert
über Worte, die die Wirklichkeit in kleine Stücke zerschneiden. Worte bauen auf
Gegensätzen auf, sind dualistisch: Man lernt, das Gute und das Böse, das, was wahr ist, und
das, was falsch ist, das Licht und die Dunkelheit, ich und du, usw. zu unterscheiden. Das ist
die Funktionsweise des Geistes, die die Unterschiede erkennt.
Der Geist gibt in Zazen diese Funktionsweise auf und schafft keine Trennungen mehr. Er
nimmt die andere Seite der Realität wahr, die Nicht-Dualität.
Das ist ein sehr weites Thema, man könnte einen Vortrag über den Geist halten. Es ist zum
Beispiel interessant, dass im Chinesischen und im Japanischen das Wort für Geist Shin ist.
Aber das Kanji Shin schließt viele Bedeutungen ein. Es begrenzt nicht. Es schließt all die
Bedeutungen ein, von denen ich schon gesprochen habe, den gewöhnlichen Geist, den
dualistischen Geist, das Bewusstsein. Man spricht auch vom Geist Buddhas, vom Geist der
Erweckung und auch von dem Geist, der dem Unbewussten entspricht, d.h. dem Geist, der
alle Erinnerung der Vergangenheit speichert. Das ist auch eine Form des Geistes, die
Erinnerung an die Vergangenheit seit unserer Geburt, und sogar davor. Dann heißt Shin
auch Energie. Nicht nur Geist, wie wir ihn begreifen, sondern auch Energie. Letztlich ist
alles Energie, alles Geist, all diese Schwingungen, von denen ich gesprochen habe, alles das
ist der Geist.
F: Aber gibt es einen universellen Geist, oder hat jeder seinen eigenen Geist?
RR: Beides. Aber im allgemeinen sieht man nur seinen eigenen Geist. Aber unser eigener Geist
ist ein bisschen wie die Spiegelung des Mondes auf einem Tautropfen. Man kann den
kleinen Tropfen mit der Widerspiegelung des Mondes betrachten, das ist der individuelle
Aspekt, aber wenn man zum Himmel aufschaut, kann man das beobachten, was sich in
jedem widerspiegelt.
Eine Praxis wie Zazen hilft uns, mit dem Universellen in uns in Kontakt zu treten, mit
unserem universellen Geist, und die Grenzen unseres kleinen Egos zu überschreiten, unserer
geistigen Kategorien, unseres engen Geistes. Das ist der universelle Geist, der sich in jedem
von uns widerspiegelt.

Dienstag, 18. Mai 2004, 7 Uhr
Zur Zeit Buddhas war eines Tages Ananda, sein Sekretär, weg gegangen, um Nahrung zu
erbetteln, und an das Haus einer Frau gekommen, die ihm folgende Frage stellte: „Wie kommt
es, dass der Buddha sagte, dass jemand, der ein reines Leben geführt hat, nach seinem Tod die
gleiche Bestimmung haben kann, wie ein jemand, der kein reines Leben geführt hat? Mein Vater
beispielsweise,“ sagte sie „ist einer reinen Lebensführung gefolgt. Er hat darauf verzichtet,
Schlechtes zu tun, er hat sogar auf sexuelle Beziehungen verzichtet. Nach seinem Tod hat
Buddha gesagt, dass er den Zustand eines Sakadâgâmin erreichet hat,“ was im Theravada die
zweite Stufe auf dem Weg der Befreiung ist. „Demgegenüber hat der Bruder meines Vaters
überhaupt kein reines Leben geführt. Nach seinem Tod hat der Buddha gesagt, dass er die
gleiche Stufe erreicht hat, den gleichen Zustand der Befreiung. Sie sind also beide in den
gleichen Himmeln wiedergeboren worden.“ Ananda antwortete ihr: „Ihr müsst genau verstehen,
was der Buddha sagen wollte.“
Anschließend befragte Ananda selbst den Buddha. Buddha sagt zu ihm: „Diese Frau hat
überhaupt nichts verstanden. Was die Wiedergeburt nach dem Tod betrifft, so gibt es zehn Arten
von Menschen. Zum Beispiel gibt es einen Menschen, der unmoralisch ist, der nicht die
Befreiung von den Gedanken durch Weisheit versteht, so dass seine Unmoral nicht gelöst
werden kann. Selbst wenn dieser Mensch die Unterweisung Buddhas gehört hat, hat er den
rechten Standpunkt nicht verstanden. Dieser Mensch kann nach seinem Tod nur in einen
niederen Zustand zurückfallen. Ein anderer Mensch, der ebenfalls unmoralisch ist, der ebenfalls
nicht die Befreiung durch Weisheit erlangt hat, der aber die Unterweisung Buddhas gehört und
den rechten Standpunkt verstanden hat, hat, selbst wenn er das gleiche Leben wie der andere
geführt hat, durch sein Verständnis der Unterweisung eine provisorische Befreiung erlangt. Nach
seinem Tod erreicht er einen höheren Zustand. Selbst wenn beide vergleichbare Eigenschaften
hatten, das gleiche Verhalten während ihres Lebens, gibt es letztlich einen, der vorangekommen
ist, und einen anderen, der zurückgefallen ist, weil einer von ihnen letztlich die Unterweisung
verstanden hat. Dank dieses Verständnisses hat er eine gewisse Befreiung erlangt.“
Buddha sagt auch, dass die Schüler andere weder beurteilen noch vergleichen dürfen. Er sagt zu
Ananda: „Ihr sollt Menschen nicht einschätzen.“ Das ist ein sehr wichtiger Punkt für die Sangha.
Buddha sagt: „Diejenigen, die andere einschätzen, verlieren sich. Denn nur ein Buddha ist in der
Lage, die anderen zu bemessen.“
Das ist der Punkt, den ich heute morgen unterstreichen möchte. In der Sangha gibt es viele
Urteile, viele Vergleiche, viel Kritik. Sehr häufig beurteilt man andere nach sehr begrenzten
Kriterien, z.B. nur nach der Moral oder nur nach der Konzentration. Jedoch gibt es Menschen,
die sehr moralisch sind, aber überhaupt keine Weisheit und kein Mitgefühl haben. Es gibt auch
Menschen, die sehr konzentriert sind, die sich aber in eine falsche Richtung konzentrieren. Dann
gibt es Menschen, die eine große Weisheit haben, aber mangels Konzentration nicht in der Lage
sind, sie in die Praxis umzusetzen. Es ist sehr heikel, die spirituelle Entwicklung von jemandem
einschätzen zu wollen. Nur Buddha kann das tun.
In der Sangha ist es das Beste, wenn sich jeder vollkommen darauf konzentriert, selbst so gut
wie möglich zu praktizieren, ohne spirituellen Hochmut zu entwickeln, Überlegenheit anderen
gegenüber und ohne andere zu beurteilen. Selbst jemand, der sich offensichtlich sein ganzes
Leben lang getäuscht hat, kann, wenn er im letzten Moment seines Lebens die Wahrheit der
Unterweisung Buddhas versteht, in einem einzigen Augenblick befreit werden. – Aber wer kann
das beurteilen?

Dienstag, 18.5.2004, 16.30 Uhr
Teisho
Das Thema dieses Vortrages ist das Karma. Dieses Thema interessiert viele Leute, aber weil es
etwas kompliziert ist, ist es schwierig, während des Kusen darüber zu sprechen. Ich glaube, dass
es gut ist, besser zu verstehen, was Karma ist. Einfach schon deshalb, weil wir hier und jetzt
aufgrund eines vergangenen Karmas existieren. Wir sind Frucht des Karma, also ist es gut zu
wissen, durch welchen Prozess wir die Frucht eines vergangenen Karmas werden. Darüber
hinaus hat Dogen die Überlegung angestellt, dass man nicht wirklich bereit ist, in die Praxis des
Weges einzutreten, wenn man die karmische Kausalität nicht versteht. Wenn man glaubt, dass
die Dinge zufällig geschehen, ist es schwierig, die Motivation zu finden, in eine Praxis der
Veränderung, der Umwandlung einzutreten. Aber wenn man glaubt, dass unser gegenwärtiges
Leben die Wirkung eines vergangenen Karmas ist, kann man darauf vertrauen, dass unsere
gegenwärtige Handlung, unsere gegenwärtige Praxis ein anderes, besseres Leben für die Zukunft
bewirken kann. Aber es kann auch das Phänomen der Wiedergeburten beseitigen, denn dies ist
an das Karma gebunden.
Ich werde das etwas präzisieren: Jede willentliche Handlung, die einen moralischen Wert hat,
trägt einen karmischen Effekt. Aber nicht alles ist Karma. Es gibt Leute, die glauben, dass alles
eine Wirkung des Karmas sei. Das stimmt nicht. Buddha war nicht mit dieser Vorstellung
einverstanden. Karma ist eine bestimmte Art von Ursache, die eine bestimmte Art von Wirkung
hervorruft. Aber es gibt auch andere Kausalitäten im Leben. Buddha zählte vier Arten von
Kausalität auf, die unseren aktuellen Zustand bedingen und vom Karma zu unterscheiden sind.
Aus der Sicht Buddhas betrachtet gibt es zum Beispiel die atmosphärischen Ursachen. Man kann
sich schlecht fühlen, weil es ein Gewitter geben wird. Das ist nicht die Wirkung unseres Karmas.
Darüber hinaus gibt es auch biologische und physiologische Ursachen. Die vierte Art nichtkarmischer
Kausalität sind die psychologische Ursachen.
Das ist interessant, denn man hat die Tendenz, alles zu vermischen. Wenn man z.B. während
seiner Kindheit psychische Verletzungen erlitten hat, hat das wahrscheinlich das Leben lang
Konsequenzen, tiefe Wirkungen. Aber diese psychologische Kausalität ist keine karmische
Kausalität. Nehmen wir z.B. an, dass ein Kind Opfer sexueller Gewalt wurde. Das Kind trägt
nicht die Verantwortung dafür. Es handelt sich nicht um eine Handlung des Kindes. Also sind
die daraus entstehenden Konsequenzen für das Kind keine karmischen Konsequenzen. Es sind
psychologische Konsequenzen. Das Kind kann nichts für den sexuellen Missbrauch. Das ist
nicht sein Karma. – Man kann sich natürlich sagen, dass diese schlechte Kindheit, vielleicht von
einem vergangenen Karma bedingt ist. – Aber es bedeutet auf jeden Fall, dass nicht alles
karmisch ist. Es ist wichtig, die Dinge gut zu unterscheiden, insbesondere auf der
psychologischen Ebene.
Was ist nun, im Gegensatz dazu, karmisch? Das sind die Handlungen, die in vollem Bewusstsein
begangen werden, willentlich, und die von Absichten gefärbt sind, von Absichten motiviert sind.
Absichten, die gut sein können, beispielsweise die Absicht, ein Fuse zu machen, jemandem zu
helfen. Das ist ein Karma. Es erzeugt günstige Effekte für denjenigen, der diese Handlungen
begeht.
Aber Karma ist nicht erst die Handlung, bereits der Gedanke ist Karma. Gedanke, Rede und
physische Handlung können Karma sein.
Zum Beispiel ein Blick: Wenn ich jetzt meine Armbanduhr betrachte, – es ist 5 Uhr 20 -, ist das
eine willentliche, aber keine karmische Handlung. Die Handlung erzeugt kein Karma. Oder
wenn man sich eine Tasse Tee zubereitet, ist das eine ganz und gar willentliche Handlung, aber
sie erzeugt keinerlei karmischen Effekt, weil sie nicht mit einer moralischen Motivation
begangen wurde. Wenn ich aber die Uhr der Person neben mir anschaue und mir dabei sage:
„Das ist wirklich eine schöne Uhr. Ich würde sie gerne stehlen. Wie kann ich das am besten
anstellen?“, wenn ich diese Uhr voller Begehren betrachte und Pläne schmiede, sie zu stehlen, ist
dies selbst dann Karma, wenn es mir nicht gelingt. Der gierige Blick und der Gedanke, die Uhr
zu stehlen, bewirkt, dass das Hinsehen Karma wird.
Karma ist etwas Komplexes. Z.B. denkt man, dass Menschen, die eine negative Handlung
begehen, automatisch eine schlechte Wiedergeburt haben werden. Aber es ist nicht so, dass eine
schlechte Handlung zwangsläufig eine Wirkung hat. Töten, Stehlen, Lügen sind Handlungen, die
ein sehr schlechtes Karma erzeugen, die anderen leiden lassen. Aber es gibt Menschen, die ihr
Leben lang getötet, gestohlen oder gelogen haben, die damit fortfahren, kriminelle Handlungen
zu begehen und dennoch augenscheinlich ein vollkommen glückliches Leben führen. – Auf jeden
Fall passiert ihnen kein Unglück, sie entkommen der Polizei und leben bequem. – Aber das heißt
nicht, dass ihre schlechten Handlungen keine Auswirkungen haben werden. Diese Wirkungen
können sich in einem kommenden Leben zeigen, in der nächsten Wiedergeburt. Bestimmtes
Karma erzeugt keine sofortigen Wirkungen, hat verspätete Wirkungen. Aber auch das ist nicht
automatisch, weil es alle möglich Arten anderer Ursachen gibt, die eine Rolle spielen. Z.B.
verringert Reue den karmischen Effekt, selbst wenn man erst einen Moment vor oder im
Augenblick des Sterbens bereut.
Das ist auch der Grund, warum Karma nichts Schicksalhaftes ist. Das Gesetz des Karma ist nicht
fatalistisch. Es ist eine bestimmte Art von Kausalität, die durch andere Ursachen verändert
werden kann. Beispielsweise verringert es die Wirkungen eines vergangenen schlechten Karmas,
sich seinen Fehler einzugestehen. Man kann auch das schlechte Karma wieder gut machen,
indem man z.B. die sechs Paramita praktiziert. Sie sind wie ein Heilmittel, ein Gegengift gegen
das schlechte Karma.
Ich möchte an ein Sutra Buddhas erinnern, in dem er auf die Frage antwortete, warum die
Menschen nicht alle gleich, sondern unterschiedlich sind. – Heute würde man natürlich sagen,
dass wir nicht alle die gleichen Gene haben. Die genetische Lotterie ist natürlich eine biologische
Kausalität. Darüber hinaus gibt es auch den Einfluss der Erziehung, des Milieus. Das ist eine
andere Kausalität. Noch einmal: Buddha sagte nicht, dass alles karmisch ist. Nicht alles lässt sich
durch das Karma erklären. – Buddha sagte, dass die Lebewesen ihr Karma aufgrund von
Erbschaft haben. Er sagte, ihr Karma sei wie Eltern. Wir sind die Erben unseres Karmas, wir
sind die Kinder unseres Karmas. D.h., die Eltern sind nicht eine Erklärung für alles im Leben.
Das Karma ebenso wenig, aber es hat einen Einfluss.
Ein Beispiel: Warum gibt es Lebewesen mit einem kurzen Leben, und andere, die lange leben? –
Für Buddha war das zu einem großen Teil mit bestimmten Handlungen verbunden, wie töten,
grausam sein, die Absicht haben, Schlechtes zu tun, dem Mangel an Mitgefühl für die
Lebewesen. Diese Art von negativen Handlungen führt entweder zu einer Wiedergeburt in einer
Welt großen Leidens, einer Art Höllenwelt, oder, wenn man in menschlicher Gestalt
wiedergeboren wird, hat es mit Sicherheit ein kurzes Leben zur Konsequenz. Umgekehrt bewirkt
es ein langes Leben, mit dem Töten aufzuhören, mitfühlend und wohlwollend gegenüber allen
Wesen zu sein.
Krankheiten sind nicht die Auswirkungen davon, dass man getötet hat, sondern die Wirkung
davon, dass man grausam zu Lebewesen gewesen ist. – Das soll nicht heißen, dass man jedes
mal, wenn man krank ist, grausam zu einem Lebewesen war. Es gibt viele Gründe dafür, krank
zu sein. Aber bei jemandem, der grundsätzlich grausam ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, oft
in seinem Leben krank zu sein. Umgekehrt bewirkt die Praxis des Wohlwollens für alle
Lebewesen karmisch eine gute Gesundheit.
Die karmische Ursächlichkeit zu sehen, weist bereits auf das Heilmittel hin. Für jede Art
unglücklichen Schicksals gibt es ein Heilmittel. Es gibt eine Haltung, eine Praxis im Leben, die
die negativen Ursachen, deren Erbe man ist, ausgleichen kann. Zum Beispiel gibt es Menschen,
die ein angenehmes Aussehen haben, die schön sind, und andere, die nicht sehr schön sind, die
sogar hässlich sind. Buddha sagte, dass auch das Ergebnis eines vergangenen Karma ist und
schrieb die Ursache der Wut zu.
Das ist interessant. Denn jemandem, der sein ganzes Leben über vom Gefühl der Wut bestimmt
ist, der sich über Nichtigkeiten aufregt, der ständig wegen irgendetwas beleidigt ist, der ständig
Unzufriedenheit, Hass oder Feindseligkeit ausstrahlt, prägt sich all dies in sein Gesicht ein, so
dass man das am Ende seines Lebens gut von seinem Gesicht ablesen kann. Entsprechend
begünstigt die Praxis des Gegenteils, d.h. niemals wütend zu werden, sich nicht unnötig
aufzuregen etc., ein angenehmen Aussehen.
Es gibt noch zwei oder drei weitere Aspekte karmischer Wirkungen. Beispielsweise gibt es
Menschen, die mit ganz wenigen Mitteln geboren werden. Das ist Buddha gemäß damit
verbunden, eifersüchtig und neidisch gewesen zu sein, z.B. traurig gewesen zu sein, wenn
jemand anderem etwas Gutes widerfahren ist. In Armut geboren zu werden, hängt mit einem
Mangel an Großzügigkeit gegenüber den Menschen zusammen, die ein religiöses Leben führen.
– Ich denke, das war als Ermutigung gedacht, den Mönchen und Nonnen gegenüber großzügiger
zu sein.
Im selben Sutra sagt Buddha auch, dass, wenn man in eine Familie mit niedrigem sozialen Stand
geboren wird, dies die Wirkung von Hochmut ist, von der Verachtung anderer. Nicht sehr
intelligent geboren zu werden, ist das Ergebnis davon, den Mönchen nicht die richtigen Fragen
gestellt zu haben. – Das erscheint kurios, ist aber sehr interessant: Was ist wahre Intelligenz? –
Den richtigen Leuten die richtigen Fragen zu stellen. Die Fragen, die wichtig für unser Leben
sind, den Personen zu stellen, die fähig sind, darauf zu antworten. Wenn man also wiederholt
vernachlässigt, sich und den Vertretern der Religionen, die darauf antworten können, die
richtigen Fragen zu stellen, läuft man große Gefahr, eine Wiedergeburt zu haben, die von
Dummheit verdunkelt wird.
Das ist also das Sutra, mit dem der Buddha die Frage eines jungen Brahmanen beantwortet hat,
warum es unterschiedliche Menschen gibt. – Man sollte nicht glauben, dass das Karma etwas
Automatisches ist, aber hat es einen gewissen Einfluss, es spielt eine bestimmte Rolle.
Jetzt möchte ich von Dingen sprechen, über die viel Verwirrung besteht. Zum Beispiel spricht
man im Buddhismus nicht von Reinkarnation, weil es keinen Glauben an eine Seele oder einen
beständigen Atman gibt, die sich reinkarnieren. Man spricht von Wiedergeburt. Das ist ein
besseres Wort, aber es gibt nicht wirklich jemanden, kein Ego, das wiedergeboren wird. Die viel
tiefere Sicht besteht darin, die Wiedergeburt als Fortbestehen eines Karmas anzusehen, noch
genauer als die Fortführung der Kette der zwölf wechselseitig abhängigen Ursachen, die durch
das erste Kettenglied in Gang gesetzt wird, durch die Unwissenheit.
Was ist die größte Unwissenheit? – Die wichtigste Unwissenheit, auf die Buddha in seiner
Unterweisung abzielt, ist die Täuschung, die dazu führt, dass man sich etwas aneignet. Dabei
handelt es sich um die Aneignung der fünf Aggregatzustände durch die Täuschung, die uns
glauben macht, dass diese fünf Zustände ein Ego sind, um die Vorstellung, dass dieser Körper
mein Körper ist, mein Ego, dass seine Empfindungen meine Empfindungen, mein Ego sind, dass
seine Wahrnehmungen meine Wahrnehmungen, mein Ego sind. Das Gleiche gilt für die
Wünsche, den Willen und alle geistigen Erzeugnisse und das Bewusstsein. Wenn man denkt,
dass das Bewusstsein, das man von den Dingen hat, unser Bewusstsein ist, dass es Ausdruck,
Manifestation unseres Egos ist, heißt das, dass es diese Aneignung gibt. D.h. man sieht nicht,
dass diese fünf Zustände Leerheit sind, Früchte der wechselseitigen Abhängigkeit. – Das
bedeutet nicht, dass sie nicht existieren, sondern einfach, dass sie Frucht der wechselseitigen
Abhängigkeit und nicht Frucht meines Egos sind.
Solange es diese Aneignung durch die Täuschung eines Egos gibt, bleibt die Serie der
wechselseitig abhängigen Ursachen bestehen: Ausgehend von der Unwissenheit werden
Handlungen begangen, die das Bewusstsein beeinflussen, die das Erschaffen dessen
beeinflussen, was man Nama-Rupa nennt – Körper und Geist –, die den Sinnesorganen ihren
Platz geben, die ihrerseits den Kontakt mit den Gegenständen der Sinneswahrnehmung fördern,
und auch Wünsche und Abneigungen, was Anhaftung schafft, was wiederum den Willen zu
leben verstärkt, den Willen in der Existenz eines Seins fortzufahren und das führt nach Verfall
und Tod zu einer erneute Geburt. Das ist ein Prozess, der sich selbst verkettet.
Man muss gut aufpassen, dass man sich nicht sagt: „Das ist mein Karma“, so als ob man der
Urheber dieses Karmas sei. Nicht wir sind die Urheber unseres Karmas, sondern die Ich-Illusion.
Es gibt kein Selbst, keine Seele, kein Atman, das das Karma erzeugt. Noch weniger transmigriert
es. Der einzige Urheber all dessen ist das Gesetz der Kausalität. Wenn man das versteht, ist man
erwacht und von der Verkettung von Ursache und Wirkung befreit.
Ein anderer Fehler, der häufig begangen wird, besteht darin, sehr viele Schuldgefühle um das
Karma herum zu schaffen und die Früchte des Karmas, die Ergebnisse des Karmas, entweder als
Belohnung oder als Bestrafung zu betrachten. Das würde ein höheres Wesen voraussetzen, das
urteilt – wie das Jüngste Gericht in der Bibel -, um die Schlechten zu bestrafen und die Guten zu
belohnen. Das ist ganz und gar nicht die Unterweisung Buddhas. Im Buddhismus gibt es
niemanden, der jemanden bestraft, und niemanden, der jemanden belohnt. Aber es gibt die
natürlichen Wirkungen, das Gesetz der Kausalität, das dazu führt, dass gute Taten gute
Wirkungen nach sich ziehen und schlechte Taten schlechte Wirkungen. Es gibt also keinen
Grund, sich schuldig zu fühlen. Manchmal sagen Leute: „Ihr habt euer Leiden selbst zu
verantworten.“ Es gibt Menschen, die meinen: „Es ist es notwendig zu verstehen, warum ich
jetzt wegen meines vergangenen Karmas leide,“ und sie versuchen, ihre vorangegangenen Leben
zu erforschen. Dies entspricht überhaupt nicht der Unterweisung Buddhas. Denn das Leiden
entsteht durch die Täuschung, durch Irrtümer, durch das Nicht-Erwachen. Das bedeutet, dass,
wenn diese Illusion zerstört ist, die Wurzel des Leidens durchtrennt ist.
Nicht nur das Zen lehrt, man solle sich hier und jetzt konzentrieren. Auch Buddha und der
ursprüngliche Buddhismus betrachteten es als vollkommen unnütz und verlorene Zeit, sich
seinem vergangenen Karma zu verhaften, zu versuchen, es zu entdecken, sich daran zu erinnern,
Das kann sogar eine Bremse sein: Es ist so, als ob man sein Auto steuern wollte, indem man
immer in den Rückspiegel guckt. Das ist gefährlich. Also haben Buddha und ebenso alle Zen-
Meister empfohlen, sich hier und jetzt zu konzentrieren. Hier und jetzt kann man durch rechtes
Handeln alle vergangenen Fehler korrigieren und die Voraussetzung für eine bessere Zukunft
schaffen.
Ein anderer, oft begangener Fehler besteht darin, sich zu sagen, das Karma sei im Grunde ein
indischer Glaube und Buddha habe vielleicht an das Karma geglaubt, weil er Inder war und zu
seiner Zeit alle an Karma glaubten. Aber tatsächlich war es Bestandteil seines eigenen
Erwachens, und er hatte eine klare Sicht davon. – Es ist kein Glaube. Es ist eine Erfahrung. – Die
Mönche, die mit Buddha praktizierten, machten sehr oft diese Erfahrung, entweder als intuitive,
ausreichend klare Sicht ihres vorherigen Lebens oder durch Wahrnehmung des Schicksals
anderer, das heißt, sie hatten, wenn jemand starb, die Vision, wie diese Person wiedergeboren
wird. – Das ist Teil der übernatürlichen Kräfte, die durch die Praxis der Konzentration entwickelt
werden. Das ist etwas Natürliches. Das Prinzip der Praxis intensiver Konzentration kann zu
dieser Art Vision führen. Aber in der Unterweisung Buddhas darf man daran nicht haften, nicht
einmal danach streben, diese Art von Vision zu erlangen. Wenn es aber geschieht, besteht der
Vorteil darin, dass es die Unterweisung Buddhas bestätigt. Das gibt ein größeres Vertrauen. Es
bestätigt die großen Wahrheiten der Unterweisungen Buddhas, nämlich der Unbeständigkeit, des
Leidens und des Nicht-Ichs, des Nicht-Selbst.
Auch wenn zu Buddhas Zeit viele Mönche darauf konzentriert waren, Wiedergeburten zu
vermeiden und so die Wirkungen des Karmas zu beenden, hat es immer Bodhisattvas gegeben.
Sie sind keine Erfindung des Mahayana. Zum Beispiel war Shakyamuni selbst ein Bodhisattva.
Die Jataka, eine Sammlung von Geschichten über die früheren Leben Buddha Shakyamunis,
erzählen, wie er all diese Leben als Bodhisattva geführt hat. Für einen Bodhisattva ist es kein
vordringliches Ziel, die Wiedergeburten zu beenden. Er fährt fort zu handeln, aber nicht
getrieben von den Illusionen seines Egos. Er handelt ausgehend von seinem Erwachen, und das
Ziel seines Handelns ist es nicht, seine egoistischen Wünsche zu befriedigen, sondern allen
leidenden Wesen zu helfen.
Durch diese Art der Handlungen, besonders durch die Praxis der sechs Paramita, erzeugt der
Bodhisattva viel Karma. Aber es ist gutes Karma, es sind Verdienste, die gute Wirkungen haben.
Aber er benötigt sie nicht für sich selbst. Er widmet die Verdienste seiner Taten, die guten
Wirkungen des Karmas, der Hilfe für andere.
Habt ihr Fragen? Gewöhnlich ist das ein Thema, was viele Fragen aufwirft!

Mondo:
F: Ist Buddha dem Gesetz von Ursache und Wirkung entkommen?
RR: Ja, bei seiner letzten Geburt. – Vielleicht werde ich für diese Antwort als Fuchs
wiedergeboren! – Die Frage wurde einmal einem Meister gestellt, der darauf antwortete,
dass ein erwachtes Wesen tatsächlich dem Gesetz der Kausalität entkommt. Es heißt, dass er
wegen dieser Antwort während fünfhundert Leben als Fuchs wiedergeboren wurde. Eines
Tages nahm der Geist dieses alten Mönches, der in einen Fuchs verwandelt war, an einem
Vortrag von Meister Hyakujo teil und erzählte diesem seine Geschichte. Er fragte Hyakujo:
„Könnte Ihr mir helfen, mich aus diesem Zyklus der Wiedergeburten als Fuchs zu erlösen?“.
Hyakujo antwortete: „Ja. Du musst mir nur erneut die Frage stellen, die Dir gestellt wurde.“
Da stellte der alte Mönch die Frage erneut: „Entkommt ein erwachtes Wesen dem Gesetz
der Kausalität?“ Und Hyakujo antwortete ihm: „Es ignoriert es nicht.“ Der alte Mönch
erwachte augenblicklich und verließ seine Transmigration als Fuchs.
Man kann denken, Hyakujos Antwort bedeute, dass selbst ein erwachtes Wesen dem Karma
unterworfen ist. So wird Hyakujos Antwort im allgemeinen interpretiert, als Bestätigung,
dass die karmische Kausalität universell ist. Aber seine Antwort ist viel subtiler, weder ja
noch nein: „Es ignoriert es nicht.“ Das heißt, das erwachte Wesen ist vollständig zur
Erscheinung der karmischen Kausalität erwacht. So kann er sie frei gebrauchen, um die
anderen zu erwecken.
Man kann also sagen, dass er nicht der karmischen Kausalität unterworfen ist. Er ist aber
auch nicht außerhalb von ihr.
F: Ich frage mich, warum ich mich mit dem Karma beschäftigen soll. Die Motivation zum
Handeln besteht nicht zwangsläufig darin, gutes oder schlechtes Karma zu erzeugen. Wenn
ich eine Handlung mushotoku begehe, ist sie dann außerhalb von Karma?
RR: Man kann karmische Handlungen begehen, auch wenn man nicht an Karma glaubt oder
daran denkt. Es reicht aus, dass die Handlung bewusst und willentlich ist und einen
positiven oder negativen Wert hat. Das ist alles. Ob du daran glaubst oder nicht, ob du daran
denkst oder nicht, ändert überhaupt nichts. Das Gesetz funktioniert. Aber wenn du dieses
Gesetz nicht ignorierst – was die Erwachten charakterisiert -, kannst du damit spielen, kannst
du es nutzen, um die Befreiung aller Wesen zu unterstützen.
Das Schlimmste ist, es zu ignorieren. Dann sieht man die Wirklichkeit nicht und befindet
sich in der Täuschung, was der Hauptgrund für das Fortbestehen dieses Zyklus’ ist.
Du hast jedoch ein sehr wichtiges Wort gebraucht: Mushotoku. In unserer Praxis des Weges
konzentriert man sich nicht darauf, das Richtige zu praktizieren, weil man darauf hofft, gute
karmische Wirkungen zu erhalten. Das ist nicht das Ziel. Normalerweise macht man einfach
das, was richtig ist, weil man ausreichend erwacht ist, um in Kontakt mit seiner wahren
Natur zu sein. Das bewirkt, dass man nichts Unrechtes tun kann. So kann man auf rechte Art
handeln ohne zu denken: „Ich werde das und das tun, um ein schlechtes Karma zu
vermeiden oder um ein gutes Karma zu erzeugen. Man kann sagen, dass Mushotoku, d.h.
die Handlung ohne persönliches Ziel, das Heilmittel für die drei Gifte ist, für Gier, Hass und
Verblendung, die die Ursache aller Leiden sind. So ist die Mushotoku-Handlung die
wahrhaft erwachte Handlung.
F: Kann man etwas für das Karma bereits Verstorbener tun?
RR: Ja. Das ist die Bedeutung aller Zeremonien, die für die Toten gemacht werden. Man kann
sagen, das auf dem Glauben an die Übertragung der Verdienste beruhen. Den gibt es schon
seit sehr langer Zeit, nicht nur im Mahayana. Seit dem Beginn der Unterweisung Buddhas
gibt es die Vorstellung, dass die Verdienste anderen übertragen werden können. Wenn man
z.B. ein Sesshin macht, ist das ein gutes Karma, eine gute Praxis, und man kann es als
Gelegenheit nehmen, eine Zeremonie zu machen und sie den Toten widmen, als eine Art
Gebet, dass die positiven Wirkungen dieser Praxis zu denen gelangen, die Hilfe benötigen,
um ihr Karma umzuwandeln. Das ist auch ein wesentlicher Aspekt des Bodhisattvas.
Letztlich kann die Übertragung der Verdienste andere aber nicht erwecken: Man kann nicht
jemand anderen erwecken. Man kann nur selbst erwachen. Man kann das Erwachen nicht
weitergeben. Jedoch kann die Übertragung der Verdienste Menschen die besten
Bedingungen ermöglichen, um selbst zu erwachen.

Mittwoch, 19. Mai 2004, 7 Uhr
Kehrt immer wieder zur Konzentration auf eure Haltung zurück. Streckt gut die Wirbelsäule und
den Nacken, indem ihr das Becken gut nach vorne neigt, und drückt gut mit dem Scheitelpunkt
des Kopfes in den Himmel. Entspannt Schultern und Bauch. Atmet tief ein und aus.
Weil es schwierig ist, sich gleichzeitig auf verschiedene Dinge zu konzentrieren, ist es das Beste,
sich einfach auf den Kontakt der Daumen zu konzentrieren. Wenn man sich auf den Kontakt der
Daumen konzentriert, liegt all unsere Aufmerksamkeit nur auf diesem Kontakt, d.h., dass man an
nichts anderes denkt und Gedanken, selbst wenn sie auftauchen, schnell vorbei ziehen – wie
Wolken am Himmel.
Man kann sich auch auf die Atmung konzentrieren, zum Beispiel auf die Empfindung, wie die
Luft durch die Nasenlöcher ein- und ausströmt. In diesem Moment konzentriert man sich nur auf
diese Atmung. Wenn man sitzt, ist man nur ein sitzender Körper und Geist, völlig in Einheit mit
der sitzenden Haltung. In diesem Moment beruhigen sich alle Kompliziertheiten des Geistes, alle
Gefühle. Alle Schwierigkeiten kommen aus der Geteiltheit des Geistes. Wenn man zu einem
Geisteszustand zurückfinden kann, der in Einheit mit der Wirklichkeit des Augenblicks steht,
kann man frei von all seinem vergangenen Karma sein. Auch wenn sich hier und jetzt karmische
Wirkungen zeigen, kann man sie empfangen, ohne erschüttert zu sein, ohne kompliziert zu
werden, denn wir sind in der Wirklichkeit dieses Augenblicks verwurzelt. Das ist die essentielle
Unterweisung dessen, was man Shikantaza nennt. Manchmal denkt man, dass diese
Unterweisung eine Spezialität des Zen ist, insbesondere des Soto-Zen. Aber in Wirklichkeit ist es
das ursprüngliche Dharma Buddhas.
Zur Zeit Buddhas gab es einen Hindu, der Askese praktizierte. Er hieß Bahya. Er war ein Mann,
der sich der Dringlichkeit der spirituellen Verwirklichung bewusst war. Eines Tages wurde er
gewahr, dass seine Praxis nicht stimmte. Man empfahl ihm, den Buddha aufzusuchen. Er brach
auf und nach einigen Tagen kam er in den Ort, in dem Buddha sich befand. Buddha war jedoch
auf dem Bettelgang. Da Bahya es sehr eilig hatte, suchte er ihn in den Straßen der Stadt
Schließlich traf er ihn beim Betteln. Buddha sagte zu ihm: Es ist jetzt nicht der richtige Moment,
um Fragen zu stellen. Wir sind dabei, unseren Bettelgang zu machen. Komm später wieder.“
Aber Bahya gab nicht nach. Er sagte: „Man weiß nie, was uns im Leben passieren kann. Also
unterweist mich bitte schnell in eurer Lehre.“ Nachdem er dreimal darum gebeten hatte,
akzeptierte Buddha schließlich. Er gab ihm eine sehr einfache Unterweisung. Er sagte: „Ihr
müsst auf diese Weise praktizieren: Die Handlung des Sehens soll nur die Handlung des Sehens
sein, die Handlung des Hörens soll nur die Handlung des Hörens sein, die Handlung des
Empfindens soll nur die Handlung des Empfindens seins, die Handlung des Erkennens nur die
Handlung des Erkennens. Wenn ihr auf diese Weise praktiziert, seid ihr nicht mehr von all den
Erscheinungen konditioniert. Das ist das Ende von Dukkha, des Leidens.“ Da Bahya ein Mensch
mit einem sehr schnellen Geist war, verstand er schnell und praktiziert es. Kurz darauf starb er
durch einen Unfall. – Er hatte also gute Gründe, es eilig zu haben. – Als Buddha seinen Leichnam
sah, den man verbrennen wollte, bat er seine Schüler, eine Zeremonie für ihn zu machen, und
sagte zu ihnen: „Bahya war einer eurer Brüder, der die Realisation vollständig erlangt hat.“
Diese Geschichte ist sehr interessant, denn sie zeigt, dass Buddha genauso die Laien oder die
Gläubigen anderer Schulen unterwies und dass, egal wer, auch Nicht-Mönche, auch diejenigen,
die nicht von Buddha ordiniert waren, mit Hilfe seiner Unterweisung vollständig erwachen
konnten. Für Buddha war natürlich die beste Voraussetzung, um den Weg zu praktizieren,
Mönch oder Nonne zu werden. Aber alle Wesen konnten, auch ohne Mönch oder Nonne zu sein,
durch seine Unterweisung erwachen; und nicht immer nur in der Folge einer sehr langen Praxis.
Bestimmte Leute, so wie Bahya, der einen schnellen Geist hatte, konnten in einem einzigen
Augenblick verstehen und erwachen. In seinem Fall war es einige Minuten, bevor er starb.
Auch wenn Buddha vieles unterwiesen hat, war die Essenz seiner Unterweisung sehr einfach,
das, was er Bahya unterwiesen hat. Es unterscheidet sich nicht sehr von der Unterweisung von
Shikantaza:
Wenn ihr sitzt, dann sitzt nur.
Wenn ihr esst, dann begnügt euch damit, nur zu essen.
Wenn ihr geht, dann begnügt euch damit, nur zu gehen.
Wenn ihr zuhört, dann konzentriert euch einfach auf das Zuhören.
Wenn ihr etwas betrachtet, seid vollständig in der Handlung, etwas zu betrachten.
Wenn ihr an etwas denkt, konzentriert euch einfach auf die Handlung des Denkens.
Was auch immer, seid ständig eins mit dem, was ihr gerade tut.
Das ist die Praxis des Sesshins, die Essenz der Praxis während eines Sesshins: den Geist von
Nicht-Zwei, den ungeteilten Geist zu verwirklichen. In dieser Praxis ist das Ego vollständig
aufgegeben, durch die Praxis selbst aufgesogen. Das ist das Ende von Dukkha, der
Unzufriedenheit und des Leidens, die Verwirklichung der Essenz unseres Leben, eines Lebens
ohne Trennungen, ein Leben in Einheit mit dem gesamten Universum, ausgehend von der
Einheit mit der einfachen Handlung dieses Augenblicks.

Mittwoch, 19. Mai 2004, 16.30 Uhr
Von dem Moment an, in dem man ins Dojo eintritt, konzentriert man sich völlig auf die Praxis
mit dem Körper. Man tritt mit dem linken Fuß ein, man macht Gassho, man geht zu seinem Platz
und nimmt die Zazen-Haltung ein. In Zazen wird man völlig Einheit mit der Haltung und mit der
Atmung. Während der Zeremonie ist man völlig in Einheit mit Sampai, Gassho, dem Gesang der
Sutras und mit seiner eigenen Funktion während der Zeremonie, wenn man eine bestimmte
Funktion hat.
Diese Weise völlig eins zu sein mit dem, was man tut, völlig darauf konzentriert zu sein, d.h. im
Zentrum unseres Lebens hier und jetzt zu sein, ist die Praxis, die es ermöglicht, die
Transmigration anzuhalten. Wie ich heute morgen gesagt habe, glaubt man häufig, dass dies eine
Besonderheit des Zen ist, doch wie ihr selbst aus dem Mund Buddhas gehört habt, ist es die
Essenz seiner Unterweisung.
Eins zu sein, ist eine praktische Erfahrung und kein philosophisches Konzept. Es ist die beste Art
das Leiden zu heilen, das, was man Dukkha nennt, d.h. die Unzufriedenheit, den Teufelskreis, in
den man eintritt, wenn man immer etwas anderes wünscht als das, was gegenwärtig ist, weil man
seine gegenwärtige Situation, seine gegenwärtige Handlung nicht akzeptieren kann.
Es ist nicht so, dass das ein Fehler oder dass es schlecht wäre, etwas, das man kritisieren müsste.
Aber es ist das, was unser Leiden und das Leiden der Welt verursacht. Immer etwas anderes zu
wollen und so niemals in Frieden, niemals in Kontakt mit dem wahren Leben des Augenblicks
zu sein, unterhält die Unzufriedenheit. Wenn man nicht gegenwärtig ist in dem, was man tut, lebt
man wie ein Gespenst und wird vom Wind seiner Gefühle, seiner Wünsche, seiner Abneigungen
vorwärts getrieben.
Ich habe gestern während des Vortrages lange über das Karma gesprochen. Karma ist das, was
unsere Transmigration verursacht, d.h. der Sachverhalt, immer etwas anderes zu wollen. Das
bedeutet, dass die Energie immer in die Zukunft gerichtet ist: ‚Später wird es besser sein.’ ‚Wenn
ich nur dies oder das erhalten könnte, wäre ich schließlich glücklich.’ Manchmal beeinflusst das
sogar die spirituelle Praxis: ‚Ach, wenn ich nur das Satori erhalten könnte, dann ginge es besser.’
‚Wenn ich unter günstigeren Bedingungen wiedergeboren werden könnte, wäre es besser.’ Man
praktiziert mit diesem Ziel. Das scheint logisch, aber es ist eine Sackgasse in der Praxis.
Natürlich schafft man, wenn man die Gebote respektiert, wenn man gut handelt, Verdienste und
erlaubt eine bessere Transmigration. Aber die meisten Buddhisten wünschen nicht wirklich die
Befreiung. Sie hoffen einfach nur auf eine gute Wiedergeburt und legen mit diesem Ziel einen
Vorrat an Verdiensten an. Natürlich ist das möglich. Es ist ein Aspekt in der Unterweisung
Shakyamunis. Aber der tiefste Aspekte seiner Unterweisung ist natürlich, die Transmigration
anzuhalten und Dukkha, dem Leiden, hier und jetzt ein Ende zu setzen. Wenn man mit einem
Ziel praktiziert, indem man darauf hofft das Nirvana zu erlangen, die Befreiung in der Zukunft,
fährt man in Wirklichkeit damit fort, das Rad der Wünsche und der Transmigration
weiterzudrehen. Auch die Anhaftung an das Nirvana ist eine Anhaftung. Der Wunsch nach dem
Satori ist ebenfalls eine Anhaftung. Aber es ist möglich. Viele Schüler praktizieren auf diese
Weise.
Natürlich gibt es die Bodhisattvas, die von Mitgefühl motiviert und ohne Angst vor dem
Samsara, vor den Wiedergeburten, mit dem Gelübde praktizieren, allen Wesen zu helfen. Wenn
wir wirklich den Wesen helfen wollen, sich zu befreien, können wir es nicht nur mit der Kraft
unserer Gelübde tun, sondern nur mit der Kraft der Realisation selbst, das heißt, indem wir
sofort, augenblicklich von allen Absichten, von allen Hintergedanken befreit sind, auch davon,
die anderen zu retten. Letztlich kann jeder nur durch seine eigene Realisation gerettet werden,
dadurch dass er realisiert, dass es nichts zu realisieren gibt. Erst in diesem Moment können wir
frei praktizieren und das sein, was wir schon immer waren, nicht verschieden von Buddha. Nur
so kann man wirklich in Frieden mit sich selbst und den anderen sein. Es gibt nichts zu erlangen.
Alles ist da, hier und jetzt, bereits gegenwärtig und seit jeher.
Mondo
F: Ich habe eine Frage zum Gassho, wenn man das Dojo betritt. Das wird nach meiner
Wahrnehmung unterschiedlich gemacht: mit gesenktem Blick oder mit ganz klarem Blick zum
Buddha. Wenn man den Kopf oben lässt und den Buddha anguckt, was ist es eigentlich, was
man da beim Gassho anguckt?
RR: Normalerweise ist man das selbst. Wenn man beim Betreten des Dojos die Buddhastatue
grüßt, respektiert man die Buddha-Natur, die in jedem, die in uns selbst ist. Die Geste von
Gassho bedeutet, Einheit mit Buddha zu werden, mehr noch: Buddha zu werden, Zazen
selbst. Wirklich eins mit Zazen zu sein heißt, Buddha zu sein. Wirklich eins mit Gassho zu
sein, heißt Buddha sein. Unsere innere Einheit wieder finden und auch unsere Einheit mit
den anderen, dem Dojo, der Umgebung. Das enthält die Geste, ihre Ausführung.
Sie bedeutet nicht, sich zu sagen: ‚Ich grüße den Buddha auf dem Altar’, oder die anderen,
die Buddha sind, oder ‚Ich respektiere meinen inneren Buddha’. Natürlich stimmt das. Aber
das ist nicht der wichtigste Punkt. Der wichtigste Punkt ist, einfach in Gassho zu sein, ohne
an Buddha zu denken. Es ist nicht nötig, Buddha anzuschauen. Konzentriert in Gassho zu
sein, ist Buddha sein.
Natürlich muß man den Blick irgendwo hin wenden, also macht es, wie ihr wollt: Ihr könnt
die Buddhastatue anschauen. Das ist nicht schlecht. Ihr könnt auch einfach vor euch hin
schauen. Für mich ist es das Gleiche. Wichtig ist, vollkommen eins mit der Geste sein, ohne
an Buddha zu denken. Denn sobald man denkt, schafft man eine Trennung: Buddha, der
dort ist, und ich, der ich hier bin. Oder man denkt an die Tatsache, dass jeder von uns die
Buddha-Natur in sich hat und man die Buddhanatur in sich selbst grüßt. Das ist alles richtig,
aber es ist nicht die Weise, es zu realisieren. Realisieren heißt, wirklich Eins zu werden,
konkret Körper und Geist.
F: Hat Gassho für dich auch etwas mit Demut zu tun?
RR: Ja, natürlich. Aber Demut ist eher Sampai. Das Wort humilité (dt. Demut) stammt
etymologisch vom lateinischen „Humus“, Erde. Sampai bedeutet, das zu erniedrigen, was
unser Ego symbolisiert; das Vorderhirn, das etwas ergreifen will, bis zur Erde neigen. Also
ist Sampai wirklich Demut, zurückweisen, Körper und Geist aufgeben.
Gassho ist eher ‚eins werden mit’. Es geht sogar über Demut hinaus, denn Demut impliziert
verschiedene Ebenen: Es gibt unten und oben. Man will sich niederwerfen. Das ist gut. Es
ist eine gute Praxis, demütig zu werden. Aber Zen geht über Demut hinaus. Zen bedeutet zu
realisieren, dass es im Grunde nichts zu erniedrigen gibt, dass es kein darüber, kein darunter
gibt.
Sampai zu praktizieren hilft, unsere schlechten geistigen Gewohnheiten umzuwandeln.
Deshalb machen die Tibeter diese Praxis von Sampai zu einer Vorbereitung, sie müssen
10.000 Niederwerfungen praktizieren. Das ist wirklich eine gute Praxis, um die schlechten
Gewohnheiten der Konditionierungen unseres Ego umzuwandeln.
Wir haben in den letzten Tagen vom relativen und vom absoluten Verständnis gesprochen.
Aus dem Blickwinkel des relativen Verständnisses muss man so üben, denn vom relativen
Standpunkt aus beeinflusst unser Ego unser Verhalten und man muss es umwandeln. Aber
die höchste Unterweisung Buddhas ist zu erwachen. Das ist die Wurzel. Das bedeutet zu
verstehen, dass es kein Ego gibt, also auch kein Ego, das man erniedrigen kann. Es gibt kein
oben und unten, nicht all diese Unterscheidungen der Dualität, es gibt nicht Buddha
einerseits und ich andererseits. Ich glaube, die beste Art, das zu realisieren besteht darin,
nicht auf eine philosophische Art zu meditieren, sondern richtig zu praktizieren.
F: Du hast gerade von Realisation gesprochen. Kannst du mir sagen, ob die Erfahrung, die man
in anderen Religionen macht, auch so ist. Wie war es mit deiner Erfahrung? Kannst du auch
etwas dazu erzählen, da bin ich ein bisschen neugierig.
RR: Je länger ich Zazen praktiziere und je länger ich die Unterweisung Buddhas studiere, um so
mehr bemerke ich, dass sie einer anderen Religion nahe ist, die ich ein wenig kenne, dem
Christentum, der Unterweisung Christi. Ich spreche nicht von der Kirche und ihrem System,
sondern von der Essenz der Unterweisung Christi, nicht von dem, was man daraus gemacht
hat. Die anderen Religionen kenne ich weniger gut. Aber wenn ich in Kontakten mit
religiösen Moslems oder Juden meine Erfahrung des Zen zum Ausdruck brachte, haben
diese häufig gesagt, dass meine Erfahrung gut etwas Grundlegendem in ihrer eigenen
Religion entspricht. Das hat mir den Eindruck vermittelt, dass es im Grunde eine spirituelle
Gemeinschaft all der Menschen gibt, die ihre Religion praktizieren. Kompliziert wird es,
wenn man versucht, die Dinge mit Konzepten zu erklären, Kategorien schafft und jeder sich
an seine Kategorien klammert. Theologische Diskussionen werden bezogen auf bestimmte
Kategorien geführt. Aber für Menschen, die wirklich in einer tiefen Praxis ihrer Religion
engagiert sind, zählen nicht die Kategorien, sondern nur die Quelle selbst, und ich glaube,
dass sie für alle die gleiche ist.
Was meine eigene Erfahrung angeht: Für mich ist die Erfahrung meiner Anfänge in Zazen
wesentlich, das erste Zazen, in dem ich diese Wahrnehmung hatte. All das, was ich jetzt
unterweise, 32 Jahre später, ist die Entfaltung dessen, was ich während des ersten Zazen
empfunden habe. Alles, was ich eben im Kusen gesagt habe, ist selbstverständlich die
Unterweisung Buddhas. Aber das war wirklich auch mein Schock, meine starke Erfahrung
in meinem ersten Zazen. Ich fühle keinen Unterschied zwischen beiden. Je mehr ich die
Unterweisung Shakyamunis, die Unterweisung Dogens studiere und das sehe, was ich gelebt
habe, desto stärker habe ich den Eindruck, dass es genau das Gleiche ist. Es ist die
Erfahrung, völligen Einsseins. Aber ich kann nicht einmal “Einssein“ sagen, denn ich habe
nicht “Einssein“ gedacht. Das heißt, man braucht wirklich nichts anderes, nur sitzen. Alles
ist da.
Ich war jemand, der verzweifelt auf der Suche war, immer wieder andere Erfahrungen
suchte, andere Dinge, den Sinn des Lebens. Es war fast wie eine Karikatur: Mein Leben war
jeden Tag angespannt, immer wieder woanders hin. Über ein Jahr lang nahm ich jeden
Morgen meinen Rucksack und ging los, um etwas anderes zu sehen. Es ist ein bisschen so,
als ob ich die Illusion, dass es woanders als hier und jetzt etwas gibt, das besser ist, und das
dem Leben einen Sinn geben kann, bis zum Extrem getrieben hätte. Ich habe das während
vierzehn Monaten intensiv gelebt. Es hat mich zum Schluss in einen Zustand der totalen
Hoffnungslosigkeit geführt, beinahe zu einem Verrücktwerden aufgrund dieses Leidens.
Die Erfahrung, mich in Zazen zu setzen, war eine völlige Umwälzung, eine Revolution. Ich
glaube, dass ich seit dieser Zeit ein großes Vertrauen in die Praxis habe. Meine
anschließende Begegnung mit Meister Deshimaru, mein Studium von Dogen, der Sutren
und all das ist ein bisschen wie ein Kommentar zu meiner eigenen Erfahrungen, Kommentar
und Entfaltung selbstverständlich. Denn in dem Moment, in dem ich das erlebt habe, habe
ich nicht an all die Konsequenzen gedacht, die eine solche Erfahrungen für das Leben haben
kann. Die Unterweisungen der Meister helfen mir, die Reichweite dieser spirituellen
Revolution – der Praxis von Shikantaza – besser zu verstehen. Das konnte ich mir damals
nicht vorstellen.
Was ich gesagt habe, scheint ein wenig idealistisch. Ich möchte also eine Korrektur
anbringen: Ich denke nicht, dass alle die gleichen Erfahrungen machen müssen wie ich. Es
war mein Karma, wenn man das sagen kann, meine Bedingtheit in jenem Augenblick. Nicht
jeder erreicht dieses Stadium der Hoffnungslosigkeit. In der Geschichte des Zen sind
Schüler von ihrem eigenen Meister in diese Hoffnungslosigkeit getrieben worden.
Besonders im Rinzai-Zen hat man sie unter Druck gesetzt, den Kopf unter Wasser gedrückt,
um an diesen Punkt zu gelangen, um plötzlich diese Revolution zu durchleben. Das ist vor
allem die Praxis der Koans. Sie bedeutet wirklich auf den Grund des Grundes zu gehen,
dorthin, wo man nichts erfassen, nichts verstehen kann. Der Meister schafft eine künstliche
Hoffnungslosigkeit, er provoziert diese Situation. In meinem Fall war es das Leben selbst,
das sie provoziert hat, das Genjo Koan, das Koan des Lebens selbst. Das war keine
Erziehung.
Ich spreche nicht gerne darüber, außer, wenn man mich direkt dazu befragt, weil die Gefahr
besteht, dass es anschließend ein Modell für die Schüler wird: ‚Ich habe nie das gleiche
erlebt. Vielleicht ist meine Praxis nicht richtig, weil sie nicht dem ähnelt, was Roland von
seiner Erfahrung erzählt hat.’ Die Wege sind sehr unterschiedlich. Die psychologischen
Bedingungen, das Karma eines jeden, ist unterschiedlich, also werden nicht alle die gleichen
Erfahrungen durchlaufen. Man darf das nicht als ein Modell ansehen. Man darf nicht betrübt
sein, wenn man nicht die gleichen Erfahrungen macht. Die Form, der emotionale Charakter,
die Umstände, die Kraft der Erfahrung kann für jeden unterschiedlich sein. Aber der Grund,
der Kern, ist wirklich gleich, nicht nur im Zen, sondern für alle Religionen.

Freitag, 21. Mai 2004, 7 Uhr
Um Zazen zu praktizieren, beginnt man damit, sich auf Haltung und Atmung zu konzentrieren.
Man achtet darauf, das Becken gut nach vorne zu neigen und die Knie fest auf den Boden zu
drücken. Von der Taille aus streckt man die Wirbelsäule. Man lässt die Spannungen des Rückens
los und streckt den Nacken. Das Kinn ist zurückgezogen, die Schultern sind völlig entspannt. Die
Augen sind halb geöffnet, und der Blick ist auf den Boden gerichtet. Die linke Hand ruht in der
rechten, die Handkanten berühren den Unterbauch, die Daumen sind waagerecht. Man atmet tief
ein und aus und bemüht sich, dabei bis zum Ende jeder Ausatmung zu gehen.
Man muss sich auf viele Dinge konzentrieren. So hat man keine Zeit mehr, sich um seine
Gedanken zu kümmern. Unsere ganze Aufmerksamkeit ruht auf unserer Wirklichkeit hier und
jetzt, darauf, hier in diesem Dojo in Zazen zu sitzen. Der Rest ist unwichtig. So kann man sich
von seinen geistigen Machenschaften lösen. Die Gedanken werden leicht. Man gibt ihnen keine
Energie, keine Bedeutung. Dennoch ist man weiterhin mit der Konzentration auf Haltung und
Atmung beschäftigt. Aber auch dies muss letztlich aufgegeben werden.
Wenn man in diese Konzentration eingetreten ist, gibt es kein Ego mehr, das sich konzentriert,
und keine Gegenstände mehr, auf die man sich konzentriert. Es gibt nicht mehr „Ich und meine
Haltung“, „Ich und meine Atmung“. Das Ich ist von der Haltung und von der Atmung
aufgesogen. Es bleibt nur noch ein KörperGeist ohne Trennung, ohne das Bewusstsein, etwas
Besonderes zu praktizieren. Am Ende macht man gar nichts mehr. Jede Absicht, jede Erwartung,
jeder Zweck wird aufgegeben. So kann die geistige Aktivität, die unseren Geist verdunkelt, sich
wieder beruhigen. Wir machen nichts, wir erwarten nichts und nichts stört uns. Daher ist es auch
nicht nötig, während Zazen die Augen zu schließen, denn man trennt sich nicht von den
Gegenständen des Blicks und widersetzt sich ihnen nicht. Es gibt kein Ich mehr, das irgendetwas
sieht. Das gleiche gilt für Geräusche und für Gedanken. Man haftet nicht an dem, was auftaucht,
an den Erscheinungen. Deshalb braucht man sie auch nicht zurückweisen. So kann man die
wahre Leerheit verwirklichen.
Das hat nichts damit zu tun, über Leerheit nachzudenken. Es geht nicht darum, sich zu sagen:
„Alle Dinge sind ohne Substanz“ oder „Mein Ego wird nur durch die fünf Skandha gebildet“.
Diese Gedanken sind unnötig. Die wahre Leerheit zu verwirklichen bedeutet, selbst leer und frei
zu werden, ohne Absicht, ohne am Denken oder Nicht-Denken zu haften. Selbst wenn
Gedanken, Wünsche, Erinnerungen auftauchen, lässt man sich von diesem Gedankenwirbel nicht
mitreißen. Der Geist findet seine Reinheit wieder, seine Existenz ohne Trennung, ohne
Gegensätze. Nichts fehlt oder ist zu viel. Genau jetzt vollkommen in Frieden mit unserer
Seinsweise. Dieser Friede kann im Alltag, im täglichen Leben weiter bestehen und unser ganzes
Leben inspirieren. Das ist die Erfahrung des Sesshins.

Freitag, 21. Mai 2004, 11 Uhr
Wenn man während Zazen auf die Ausatmung, vor allem auf das Ende der Ausatmung
konzentriert ist, verschwindet jeder Gedanke und sehr schnell taucht ein neuer Gedanke, ein Bild
oder eine Wahrnehmung auf. – Woher kommen sie?
Man kann den Ort nicht erfassen, von dem die Erscheinungen kommen, die unseren Geist
beschäftigen. Genau auf diesen Ort, den man nicht erfassen kann, auf diese Quelle, aus der alles
auftaucht, konzentrieren wir uns, auf diesen Moment ohne Dimension, vor dem Erscheinen des
Gedankens. Während Zazen halten wir uns ganz nah an diesem Punkt ohne Dimension auf, von
dem aus alles erscheint und zu dem alles wieder zurückkehrt. Er ist gleichzeitig die Quelle und
die Mündung des Flusses. Zugleich erscheinen und verschwinden Phänomene unaufhörlich von
Augenblick zu Augenblick. Ohne Unterlass geschieht Shoji, Geburt und Tod, Erscheinen und
Verschwinden.
Oft klammert man sich an das, was erscheint, und trauert dem nach, was verschwindet. Aber in
Zazen lernt man, sich mit dieser Bewegung von Erscheinen und Verschwinden zu
harmonisieren. Man interessiert sich nicht so sehr für den Inhalt der Gedanken, sondern für die
Bewegung des Denkens aus der Tiefe des Nicht-Denkens heraus, das dann wieder zum Nicht-
Denken zurückkehrt. Das nannte Dogen Hishiryo. Wenn man so praktiziert, kann man eine
große Freiheit des Geistes realisieren. Das bedeutet, sich mit unserem Geist, so wie er ist, zu
harmonisieren. Meister Isan nannte es „den wahren Geisteszustand vor der Geburt unserer
Eltern“ oder auch „unser wahres Gesicht“.
Meister Wanshi riet uns, bei der Quelle des Erschaffens zu bleiben, ohne Trennungen zwischen
sich selbst und dem Erscheinen der Phänomene zu erzeugen, indem man völlig eins wird mit
dem, was erscheint, wenn es erscheint. Eins werden bedeutet nicht, daran zu haften, sondern
einfach in dem Moment in Kontakt zu bleiben. Genauso wie wenn man das Dojo betritt und die
Hände zum Gassho zusammenlegt. Man verbeugt sich, aber die Hände bleiben nicht in Gassho
stecken. Sie nehmen danach andere Haltungen ein, Shashu, Zazen oder Kaijoin. Wenn man
Gassho macht, macht man völlig Gassho, die Hände sind vollständig vereint. Wenn sie
beieinander bleiben würden, könnten sie nicht mehr als Hände funktionieren. Das Gleiche gilt
für den Geist: Wenn er an einem Gedanken festhält, erstarrt er. Dann verliert er den Kontakt mit
der Quelle des Erschaffens.
Zazen ist die Praxis, ständig zu diesem Zustand der Verfügbarkeit zurückzukehren, indem man
in jedem Augenblick loslässt. Im täglichen Leben kann man so in angemessener Weise den
Umständen mit einem stets gegenwärtigen Geist gegenübertreten. In jedem Augenblick mit dem,
was neu erscheint, in Berührung sein und nicht irgendetwas hinterher laufen, nicht zu spät sein.
Kodo Sawaki sagte: „Schaut euch nicht immer wieder den Kalender des letzten Jahres an.“ Wenn
der Geist sich bei den Kampfkünsten an einen vergangenen Augenblick klammert, ist man tot;
natürlich nicht wirklich tot, aber so gut wie tot. Ein Sesshin praktizieren heißt, ständig von
diesem Geist aus zu leben, der immer neu und in Berührung mit dem gegenwärtigen Augenblick
ist. Dieser Geist wird wie ein Edelstein mit Millionen kleiner Facetten, die ständig das, was
erscheint, widerspiegeln, unabhängig von der Richtung, aus der die Erscheinungen kommen. So
erhellt und erleuchtet er alle Dinge.

Freitag, 21. Mai 2004, 16.30 Uhr
Während Zazen sitzen fast alle der Wand gegenüber. Diejenigen, die nicht zur Wand hin sitzen,
schauen nach unten auf den Boden. Aber in Wirklichkeit ist der Blick nach innen gerichtet. Das
ist der wesentliche Punkt von Zazen: Umkehren, den Blick nach innen richten und von diesem
inneren Blick erhellt werden. Dieser Blick nimmt die Form von dem an, was betrachtet wird.
Deshalb ändert sich der Geist unaufhörlich. Geist und Blick sind dasselbe. Es handelt sich um
den Blick des Geistes, das Bewusstsein, das nach innen gerichtet wird. Manchmal taucht ein
Gedanke auf, und man wird sich dieses Gedankens bewusst. Manchmal ist es eine Erinnerung,
und man wird sich dieser Erinnerung bewusst; manchmal ein Wunsch, und man wird sich dieses
Wunsches bewusst.
Es gibt so viele Bewusstseinsformen wie Gegenstände. So wie es auch ebenso viele Arten von
Feuer gibt wie Brennstoffe: Holzfeuer, Kohlefeuer, Strohfeuer. Es gibt kein Feuer an sich,
sondern nur in Verbindung mit dem, was brennt. Das Gleiche gilt für den Geist und seine
Objekte. Der Geist ist ohne feste Form. Es ist wichtig, dies zu erkennen und sich dessen bewusst
zu werden, es völlig zu akzeptieren und sich damit in Einklang zu bringen. Nicht versuchen,
seinen Geist in eine feste Form, in Definitionen oder Unterteilungen zu pressen. Daher benutzt
man oft das Bild des Spiegels, der ebenfalls alles widerspiegelt, weil er keinen festen Inhalt hat.
Er zeigt genau die Dinge, die sich vor ihm befinden.
Meister Wanshi vergleicht dies mit einem Echo im Tal. Das Tal ist leer, und es schickt die Töne
zurück, wie der Spiegel die Formen zurückschickt. Wenn wir Zazen praktizieren, finden wir
diesen Geist wieder, der nicht an Töne oder Formen gebunden ist. So ähneln wir einem Spiegel
oder einem Tal und können daher die wahre Freiheit wieder finden. Wanshi nennt das „im
Samadhi spielen“, ohne Hindernisse in völliger Freiheit. Selbst wenn es eine Form in unserer
Praxis gibt, eine Form der Haltung, eine Art und Weise sich zu konzentrieren, so gibt es im
Grunde keine feste Form, und wir müssen darauf achten, dass unser Geist nicht einer bestimmten
Form ähneln soll. Das heißt, ohne eine vorgefertigte Idee der Realisation zu praktizieren. Ohne
feste Form zu werden, ist genau diese Realisation. Deshalb kann man nicht von den anderen und
auch nicht von sich selbst ausgenutzt werden.

Mondo
F: Warum ist die Kiefernadel, die wir auf unserem Rakusu tragen, ein Symbol für das Soto-Zen?
RR: Weil die Kiefer gerade und senkrecht wächst, wie die Haltung in Zazen. Sie ist ein Baum,
der in den Bergen wächst. Zazen praktizieren wird häufig damit verglichen, sich in den
Bergwald zurückzuziehen. Den Bergwald zu betreten bedeutet, die Welt des Egos zu
verlassen, die Welt der menschlichen Machenschaften, der menschlichen Sorgen, der
Anhaftungen.
Vielleicht auch, weil die Kiefer immer grün ist. Das erinnert an ständige Frische, so wie der
Geist in Zazen. – Man kann sicherlich allerlei Bedeutungen finden, aber das ist nicht so
wichtig. Im Zen sind Symbole nicht sehr wichtig. Wichtig ist die Praxis selbst und nicht das
Grübeln darüber, was die Symbole wohl bedeuten. Aber wenn man selbst im Zazen wie ein
Baum wird, wenn man Zazen so praktiziert, als würde man einen Bergwald betreten, dann
ändert man seinen Geist. Es ist etwas anderes als zum Beispiel in ein Café zu gehen mit
Menschen und Lärm. Das Betreten eines Bergwaldes ist ganz anders. Das gilt auch, wenn
man das Dojo betritt. Man betritt wirklich eine andere Welt, nicht nur symbolisch. D.h.
seine gewöhnlichen Sorgen wirklich aufgeben, um sich nur auf die Haltung zu
konzentrieren und wie eine Kiefer zu werden.
F: Der Buddhismus lehrt uns, dass das Ego ohne Substanz und unbeständig ist, dass wir keine
Seele haben, jedenfalls nichts Individuelles, das andauert. Meine Frage hat zwei Teile. Wenn
man das betrachtet, was ich eingehend sagte, wer verwirklicht dann die Realisierung?
RR: Niemand. Wenn es niemanden mehr gibt, dann ist die Realisation da.
F: Ich hatte diese Antwort ein bisschen erwartet. Deshalb hat meine Frage einen zweiten Teil.
Wenn die Verwirklichung einmal realisiert wurde, wer macht dann die Erfahrung?
RR: Es gibt kein Ego, das eine Erfahrung macht. Es gibt nur das Erfahren selbst. Wahre
Realisation ist eine Erfahrung ohne ein Ego, das sich ihrer bemächtigt. Wenn man sich sagt:
„Ah, ich habe Satori realisiert!“ – es gibt Leute die so denken -, dann ist es ein Beweis dafür,
dass man es nicht realisiert hat. Dann ist da noch jemand. Unsere Praxis geht über die
Realisation hinaus. Nicht bei den Illusionen, bei den Anhaftungen stehen bleiben, aber auch
nicht bei der Realisation. Es geht darum, über diese geistige Haltung, die etwas erhalten
möchte, hinaus zu gehen.
Du musst das selbst erfahren. Du bist hier mit deinen Fragen, deinen Schubladen, und willst
unbedingt etwas in diese Schubladen stecken.
F: Was bringt uns dazu, etwas zu verwirklichen, das niemand verwirklicht oder erfährt?
RR: Die Unzufriedenheit, in diesem Ego eingesperrt zu sein, das immer etwas erfassen möchte.
Es fühlt sich eingeengt, in Dualität mit allem und ist unzufrieden. Diese Unzufriedenheit
kann man durch Aufgeben lösen. Das ist aber nicht möglich, wenn man mit der gleichen
Mentalität, mit der Mentalität des Egos, das etwas ergreifen will, weiter praktiziert. Das ist
so, als würde man versuchen, Feuer mit Feuer zu löschen. Das ist nicht möglich.
Deine Fragen sehr tief und eindringlich, aber du kannst sie mit dem Geist, den du jetzt hast,
nicht lösen. Denn der Geist, der diese Fragen stellt, und der Geist, der diese Antworten
realisieren kann, sind ganz unterschiedlich. Du hast zwar einen Geist, der dich zu diesen
Fragen geführt hat. – Das ist ein wirklicher Geist, es sind keine schlechten Fragen. – Aber
die Antwort kann nur von einer Realisation her kommen, die jenseits des Geistes ist, der
diese Fragen stellt. Es muss eine Umkehr stattfinden. Manche Menschen beharren fest auf
solche Fragen. Ein fester Stockschlag ist die einzige Lösung, um ihnen zu helfen.
F: Vor einigen Tagen haben wir etwas über Karma gehört, dass schlechte Taten schlechte
Wirkungen nach sich ziehen. Ich habe an viele Menschen gedacht, die ihr Leben lang
schlechte Taten vollbracht haben und dann sehr schnell und schmerzlos gestorben sind. Am
Ende des Lebens stirbt der Körper und es gibt auch keine ewige Seele. Ich habe mich gefragt:
Wer erfährt die schlechten Wirkungen?
Nach deiner Antwort eben hab ich jetzt eine neue Frage: Es scheint mir so, dass es zwecklos
ist, gute Dinge zu tun, wenn man nicht gleichzeitig auf der Suche ist.
RR: Selbstverständlich. Das Karma ist die Welt des Egos. Es hat eine relative Existenz. Unsere
Taten haben gute oder schlechte Auswirkungen. Das hängt von ihrer Natur ab. Aber diese
Auswirkungen sind nur die Fortsetzung der Taten. So wie die Wiedergeburt die Fortsetzung
eines vorherigen Lebens ist, aber es ist nicht an eine Person gebunden. Es ist kein Ego, das
wiedergeboren wird.
Jedes Mal, wenn ihr solche Fragen stellt, denke ich immer, dass das die schlimmsten Fragen
sind, die ihr stellen könnt. Fragen über das Karma sind sehr schwierig. Was am Ende
transmigriert, was sich fortsetzt, ist das Karma selbst. Es ist der Prozess des Karmas. Aber
es gibt keine substanzielle Seele, die dieses Karma erschafft und die Auswirkungen
empfängt.
Es gibt viele Vergleiche mit der Landwirtschaft. Sie beginnen immer mit der Saat: Eine
ausgewachsene Eichel trägt Früchte, die Eicheln fallen auf den Boden, und ein neuer Baum
wird sich daraus entwickeln. Diese neue Eiche ist die Fortsetzung der Eiche, von der die
Eichel stammt. Sie ist nicht dieselbe Eiche, aber sie ist auch nicht ganz anders. Es ist wie die
Fortsetzung eines Prozesses. So ist das Karma. Wenn man die Schriften des Buddhismus zu
diesem Thema gut studiert, findet man interessante Erklärungen, aber keine kann wirklich
den Geist zufrieden stellen. Man kann sich nicht vorstellen, wie das konkret funktionieren
soll.
Man kann es auch als Mythos betrachten. Manchmal sage ich mir, Karma und Wiedergeburt
sind Mythen. Wenn man sie als Mythen betrachtet, das heißt, wenn man sie nicht
wissenschaftlich beweisen kann, sind die Auswirkungen, die durch den Mythos erzeugt
werden, das eigentlich Wichtige.
Ich finde, dass dieser Mythos sehr positive Auswirkungen hat, denn er hilft, einen tiefen
Sinn für die Verantwortlichkeit unserer Handlungen zu bekommen und zu akzeptieren, dass
das Leben kein Chaos ist, sondern dass es eine gewisse Ordnung gibt und damit eine
Möglichkeit der Änderung, der Verbesserung. Gerade weil es keine wirklich befriedigende
Erklärung und keinen substanziellen Geist gibt, wird es uns möglich, uns zu befreien und zu
erwachen. Wenn es einen substanziellen Geist gäbe, wäre keine Befreiung möglich. Dann
gäbe es etwas Festes, Starres, das die Umwandlung, die Befreiung verhindern würde. Die
Schwierigkeit ist genau das, was die Realisation ermöglicht. Die Tatsache, dass es kein Ego
gibt und dass man die Kontinuität nicht erklären kann, ist die Wirklichkeit selbst, die
wesentliche Wirklichkeit. Wenn man dies tief versteht, dann hält die Transmigration an. –
Was transmigriert am Ende? – Nur eine Illusion.

Samstag, 22. Mai 2004, 7 Uhr
(Die Erde bebt kurz.)
Nach dem Erdbeben ist die ganze Natur völlig ruhig geworden. Selbst die Hähne vergessen zu
krähen. Shiki, die Phänomene sind völlig Ku, Leerheit geworden. Genauso erscheint aus Ku
wieder erneut Shiki. Unsere Praxis ist genauso, Rückkehr zur Stille, zum Nichtdenken. Aus der
Stille heraus erscheinen neue Töne. Genauso tauchen aus dem Nicht-Denken neue Gedanken
auf. Dies geschieht während Zazen unzählige Male. Es ist nicht notwendig, viele Dinge zu
studieren. Man beobachtet ganz vertraut, wie Phänomene auftauchen und verschwinden, auch
ganz kleine Phänomene. So kann man verstehen, wie die ganze Welt funktioniert.
Dazu sagt Meister Wanshi: „Wenn ihr einen einzigen Faden vollständig würdigen könnt, könnt
ihr der ganzen Welt und all ihrer Veränderungen auf angemessener Weise begegnen.“
Unser Körper und die ganze Erde sind nicht getrennt, im Grunde sind sie nicht verschieden. Sie
bestehen aus den gleichen Elementen und sind der gleichen Unbeständigkeit unterworfen. In
jedem Augenblick existieren sie genau so, wie sie sind, absolut.
So konzentriert man sich im Zazen auf seinen eigenen Körper. Der eigene Körper in Zazen ist
der Mikrokosmos, der ganz genau den Makrokosmos widerspiegelt. In der Praxis während eines
Sesshin lernen wir uns selbst kennen und uns mit dem zu harmonisieren, was wir in Wirklichkeit
sind. Wenn wir so praktizieren, lernen wir das ganze Universum kennen und auch, wie wir uns
mit der kosmischen Ordnung harmonisieren. Das nennt man Weisheit. Die gleiche Weisheit, die
vom Orakel von Delphi und von Buddha unterwiesen wurde und die jeden Morgen durch den
Hahnenschrei bestätigt wird.
Wanshi fügt hinzu: „Wenn ihr klar seht, dann werdet ihr nicht getäuscht oder ausgenutzt
werden, nicht einmal von den 10.000 Situationen. Der Schein des Mondes ruht auf dem Wasser,
der Wind weht in den Kiefern, Schatten und Licht verwirren uns nicht, Stimmen und Töne
behindern uns nicht. Der Wind kann überall wehen ohne irgendetwas zu stören.“
Es handelt sich hier nicht nur um poetische Bilder, die die Natur beschreiben. Schatten und Licht
sind auch unsere Gedanken, die erscheinen und verschwinden. Der Windhauch in den Kiefern ist
wie unsere Gefühle, die erscheinen und verschwinden ohne irgendetwas zu stören, ohne uns in
Bewegung zu versetzen. Und selbst wenn wir uns kurz bewegen, ist dies nicht schlimm. Alles
kehrt rasch zur Stille zurück wie nach dem Erdbeben.

Samstag, 22. Mai 2004, 11 Uhr
Während Zazen lässt man seinen Geist auf nichts verweilen. Der Geist fließt unabhängig von den
Gedanken oder den geistigen Fabrikationen, die auftauchen. Man ergreift sie nicht, man verwirft
sie nicht. Man macht nichts Besonderes, man will nichts Bestimmtes. Nichts stört uns. Wir
können im Gleichklang mit den Erscheinungen leben, die von Augenblick zu Augenblick
auftreten. Selbst wenn wir stets die geistigen Beschmutzungen, die erscheinen, aufgeben, sind
wir, wie Meister Wanshi sagt, noch nicht in unserem Zuhause, in unserer ursprünglichen Bleibe
angelangt. Denn wir müssen noch die Reste unserer alten Konditionierungen beruhigen. Dazu
müssen wir aufmerksam und sehr schnell sein. Unsere geistigen Gewohnheiten zeigen sich
rasch. In unserer Zazen-Praxis ist es wichtig, sich über das, was geschieht, schnell bewusst zu
werden, und ebenso das, was erscheint, schnell fallen zu lassen. Sonst wird man wieder von
seinen alten Konditionierungen mitgerissen.
So kann man sitzen, ohne von den Ängsten des täglichen Lebens gestört zu werden. Unsere
Sorgen beruhigen sich. Nichts ist wirklich wichtig. Einfach gegenwärtig und in jedem
Augenblick in Berührung mit unserem Leben sein. Mit einem klaren und leuchtenden Geist.
Still. Selbst wenn unser Geist sich aus Gewohnheit während Zazen schon mal davon macht und
auf der Suche nach etwas anderem ist, bringt man ihn schnell zurück zum Kontakt mit der
Haltung und der Atmung. Man lernt das Einfach-Sitzen-Können schätzen und sieht es als das
Wichtigste an. Dies geschieht natürlich in dem Moment, in dem wir in Zazen sitzen. Das
bedeutet, sich augenblicklich mit seinem Leben zu versöhnen. Nichts ist wichtiger als völlig hier
und jetzt zu sitzen. So kann man alle Leiden aufgeben und wahrhaft zufrieden sein. In Frieden.
Diese Zufriedenheit, dieser Frieden, setzt sich in allen Handlungen des täglichen Lebens fort,
indem man in jedem Moment jede Handlung so lebt, als wenn sie am wichtigsten wäre. Dann ist
es wahrhaftig so, als wäre man nach Hause zurückgekehrt. Nicht nur mit uns selbst vertraut
werden, sondern auch mit all unseren Vorgängern, unseren Vorfahren auf dem Weg, deren
Namen wir heute Morgen gesungen haben. In diesem Moment, in dem man am vertrautesten mit
sich selbst wird, kann man die universelle Wahrheit verwirklichen, in der es nicht mehr ich und
die anderen, in der es keine Trennungen mehr gibt. Eine große Vertrautheit, eine große
Vereinigung aller Wesen, mit denen wir die Bedingungen teilen.
Meister Wanshi sagt: „Wenn wir unser wahres Gesicht, unsere wahre Form kontemplieren,
kontemplieren wir Buddha.“

Samstag, 22. Mai 2004, 16.30 Uhr
Mondo
F: Wie funktioniert die Beziehung von Meister zu Schüler und warum funktioniert sie manchmal
nicht?
RR: Auch wenn sie nicht funktioniert, funktioniert sie. Die Meister-Schüler-Beziehung ist keine
Beziehung, die immer ohne Hindernisse und ohne Schwierigkeiten ablaufen muss. Wenn es
eine Schwierigkeit, ein Hindernis oder eine Konfrontation, z.B. eine Uneinigkeit gibt, ist es
Teil der Meister-Schüler-Beziehung, diese zu lösen. Es ist wichtig, in dem Moment darüber
zu reden und sich zu öffnen. Zweifel, Unverständnis, Missverständnisse oder gar Konflikte
kommen vor. Meister Dogen nannte dies Katto, Verwicklungen des Lebens, ähnlich wie
Bonno. Aber dadurch festigt sich auch eine Beziehung. Meister Dogen verglich es mit
Glyzinien, Schlingpflanzen. Durch Schwierigkeiten in einer Beziehung, durch Konflikte,
Zweifel oder Missverständnisse festigt sich die Verbindung. Es ist jedes Mal eine
Gelegenheit, seinen Geist zu klären.
Wenn man das nicht versteht und glaubt, die Meister-Schüler-Beziehung bedeute nur blauer
Himmel ohne Probleme, ohne Schwierigkeiten, hat man, sobald eine Schwierigkeit
auftaucht, den Eindruck, dass nichts mehr funktioniert. So wie wenn man verliebt ist und bei
dem ersten Problem denkt, dass die Beziehung doch nicht so perfekt ist. Aber gerade in
schwierigen Situationen kann man eine Beziehung vertiefen. Wenn du ein Problem mit mir
hast, musst du es sagen. Worüber sprichst du? Über uns, über dich, über mich oder
allgemein?
F: Es gibt manchmal Leute, die sich nicht gut verstehen, wie im Leben.
RR: In Zen-Beziehungen gibt es natürlich auch Affinitäten und andererseits Personen, die nicht
übereinstimmen. Aber gerade in Zen-Beziehungen sollte man über persönliche Eigenschaften
hinausgehen. Doch im Allgemeinen richtet man sich nach Affinitäten wie im
normalen Leben. Die Menschen wählen z.B. einen Godo danach aus, ob sie ihn sympathisch
finden. Selten wählt jemand einen Godo gerade deswegen, weil er ihn stört. Das ist
eigentlich schade. Derjenige, der den Geist des Weges, Doshin, hat, sollte eher den Godo
wählen, mit dem er die meisten Probleme hat. Man wählt keinen Meister, damit er das, was
man sagt oder tut, immer bestätigt. Wenn man sich einer Beziehung mit Gegensätzen und
Streitigkeiten aussetzt, hat man Gelegenheiten, sich in Frage zu stellen.
Ich bin in der Regel recht freundlich und gehe mit Menschen freundlich um – nicht immer,
aber meistens. Aber wenn ich damit aufhöre, wenn ich mich aus gutem Grund und im
Interesse des anderen aufrege, fällt mir auf, dass die Leute mit Verständnislosigkeit
reagieren und denken: „Er versteht mich nicht mehr. Es ist nicht mehr so wie vorher. Etwas
hat sich geändert.“ In diesem Moment wird eine Beziehung jedoch wahrer und müsste sich
vertiefen.
Ich hoffe, du kannst damit etwas anfangen.
F: Für wie wichtig hält du es, dass man während eines Sesshin die Kusen in der jeweiligen
Sprache versteht?
RR: So weit möglich schon, weil Kusen dazu da sind, um kommuniziert und empfangen zu
werden. Aber manchmal versteht man sie nicht sofort. Das ist nicht so schlimm. Man kann
sie einfach vergessen. Später denkt man wieder daran und versteht plötzlich Dinge, die man
beim ersten Mal nicht verstanden hat. Kusen wiederholen sich oft. Das erste Mal hat man
sie vielleicht nicht verstanden, aber irgendwann hört man etwas Ähnliches. Wenn man einen
Nagel einschlagen will, ist man beim ersten Schlag erschrocken, beim zweiten Schlag geht
es etwas besser und beim dritten Schlag ist der Nagel drin.
Was hast du nicht verstanden?
F: Ich verstehe sehr gut, was du sagst, weil es übersetzt wird. Aber in Zukunft möchte ich mehr
Sesshins von dir besuchen, und da ich zurzeit nur sehr wenig französisch spreche, könnte es
vielleicht zu einem Hindernis für mich werden.
RR: Dann kannst du dich mit den Leuten, die die Notizen aufnehmen, in Verbindung setzen und
jemanden bitten, die Texte zu übersetzen. Aber es ist schon nicht schlecht, wenn du alle
Sesshins besuchst, die auf Deutsch übersetzt werden. Wenn ihr mehrere Deutsche seid, z. B.
in Belgien, wo die Kusen ins Flämische übersetzt werden, kann jemand nachmittags die
Kusen noch einmal zusammenfassen. Aber auf einem Sesshin gibt es nicht nur Kusen,
sondern die Zazen-Praxis, Mondo, Dokusan. Man kann auch bei einem Dokusan um eine
Übersetzung bitten. Ich kann auch ein bisschen Deutsch sprechen.
F: Wir haben in den Workshops über Leben und Tod gesprochen. Das Leben ist das ganze
Leben, der Tod ist der ganze Tod. Du hast im Kusen einmal von den sechs Welten gesprochen,
von unterschiedlichen Ebenen, die auch vergänglich sind. Was ist mit den Devas, Geistern.
Wozu gehören sie?
RR: Im Zen-Weg sind dies vor allem Geisteszustände. Aber in der buddhistischen Tradition sind
es auch Orte der Wiedergeburt, Bedingungen für die Wiedergeburt. Es ist zum Beispiel sehr
konkret, wenn man als Tier wiedergeboren wird. Man wird ein Tier wie derjenige, der als
Fuchs wiedergeboren wurde. Ein Fuchs ist ein Fuchs.
Aber im Zen sieht man die Wiedergeburt eher so: Was wird den Geisteszustand in einem
Leben dominieren? Manche Leute werden in ihrem Leben von Aggressivität, Hass und
Konflikten dominiert. Das gibt ihrem Leben eine bestimmte Färbung, eine bestimmte
Prägung. Diese Leute haben eine Art Wiedergeburt als aggressive Geister. Andere Leute
werden in ihrem Leben eher von Tierinstinkten beherrscht. Andere werden eher von Sorgen
um die Arbeit, um die Familie beherrscht.
Aber jeder durchläuft all diese Zustände nicht nur in seinem Leben, sondern an einem Tag
oder sogar bei einem einzigen Zazen. Das entspricht eher der Sichtweise der Zen-
Unterweisung. Man kümmert sich nicht so um die Wiedergeburt, man kümmert sich um das
Hier und Jetzt. Wie wird man von einem Augenblick zum anderen wiedergeboren, abhängig
von seinem Geisteszustand? Dies ist sehr wichtig. Dies ist Shoji, die Unbeständigkeit,
Geburt und Tod, nicht nur nach dem Tod, sondern im Leben selbst, jeden Tag, in jedem
Augenblick. Es wird Nirvana, dem Erlöschen, entgegen gesetzt.
Der wichtige Punkt von Shoji im Shobogenzo ist es, dieses Gegenüberstellen zu beenden.
Sehen, dass es selbst in der Mitte der Erscheinungen und der Transmigration in den sechs
Welten die Möglichkeit gibt, das Erwachen zu erlangen und sofort die Welt des Shoji, das
Samsara, in Nirvana umzuwandeln. Einfach indem wir unser Bewusstsein ändern.
Ich möchte noch etwas hinzufügen, um es für diejenigen etwas klarer zu machen, die nicht
bei den Workshops dabei waren und das Shobogenzo Shoji nicht kennen. Es handelt sich um
einen Teil von Meister Dogens Unterweisung. Der Schlüssel, mit dem Samsara, diese Welt
der Transmigration, sofort zum Nirvana werden kann, ist, einfach aufzuhören, etwas
anderes zu wünschen, aufzuhören das Samsara zu hassen und das Nirvana zu begehren.
Genau diese Haltung von Liebe und Hass, der Gier etwas haben zu wollen oder im
Gegenteil etwas abzulehnen, provoziert das Samsara, die ständige Wiedergeburt von
Augenblick zu Augenblick, von einem Leben zum anderen. Das kann sofort ein Ende
haben. Der wahre Zen-Geist akzeptiert, was von Augenblick zu Augenblick auftaucht, ohne
Anhaftung und ohne Ablehnung. Das ist die Essenz selbst der Zazen-Praxis. Meister Sosan
lehrt es im Shinjinmei vom ersten Satz an: „Es ist nicht schwierig, den Weg zu
durchdringen, indem man einfach ohne Liebe, ohne Hass, ohne Auswahl und ohne
Ablehnung ist.“
Man kann sagen, dies ist die Grundlage unserer Praxis. Es ist genau die Antwort auf die
Frage von Shoji. Gerade jetzt, im Dojo, in der Praxis, nicht für irgendwann nach dem Tod
oder jenseits von irgendetwas.
F: Der vierjährige Sohn eines befreundeten Paares erzählte, dass er während seiner Geburt den
Kreißsaal von oben herab sehen konnte, die Ärzte, seinen Vater. Seine größte Angst war, nicht
zu wissen, wie man atmet, wenn man auf die Welt kommt. Ab welchem Moment hat man eine
Seele? Schon im Bauch der Mutter oder im Moment der Geburt?
RR: Es handelt sich da nicht um Seele. Seele ist ein metaphysischer Begriff. Man kann an eine
ewige Seele glauben oder nicht, das hat aber nichts mit dem Thema zu tun, von dem du
sprichst. Es hat etwas damit zu tun, dass ein Kind nach ungefähr dem 6. Monat bereits ein
ausreichend entwickeltes Gehirn und Nervensystem hat, um Empfindungen wahrzunehmen
und Erfahrungen zu machen. Es betrachtet natürlich nicht den Tag wie wir, aber es sieht
schon Dinge. Im Moment der Geburt sind Nervensystem und Gehirn gründlich ausgebildet.
Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen dem Moment vor der Geburt und nach der
Geburt. Kurz nach der Geburt sind die Augen geöffnet und die Nabelschnur ist durchtrennt,
aber der Geist entsteht nicht plötzlich. Die Fähigkeit zu fühlen und wahrzunehmen ist nach
und nach entstanden und funktioniert schon Monate vor der Geburt.
Es ist heutzutage bekannt, dass der Geisteszustand der Eltern, die Beziehung zwischen den
Eltern und der Kontakt mit dem Kind im Bauch sehr wichtig sind. Es handelt sich nicht um
einen unempfindlichen Gegenstand. Diese Geschichte ist außergewöhnlich, aber nicht
unverständlich.
F: Heute ist das Kind 10 Jahre alt, und es erinnert sich nicht mehr daran, was es seinen Eltern
erzählt hat.
RR: Es gibt einen amerikanischen Psychiater, der Tausende von Menschen, darunter auch
Kinder, zehn Jahre lang befragt hat. Nur sehr junge Kinder erinnerten sich oft nicht nur an
ihre Geburt, sondern auch an vorherige Leben. Diese Erinnerungen verschwinden sehr
schnell. Normalerweise befragt man Kinder nicht dazu. Nicht alle erinnern sich daran, aber
es ist nichts Außergewöhnliches. Es kommt öfter vor.
F: Die kürzeste Antwort wäre sicherlich ein Schlag mit dem Stock. Aber ich stelle die Frage
trotzdem: Was ist der Körper?
RR: Weißt du nicht was dein Körper ist, fühlst du ihn nicht?
F: Schon, aber ich möchte wissen, wie man die Sachen interpretiert, die er uns sagt, zum Beispiel
Schmerzen.
RR: Welche Frage hast du? Welche Frage stellst du dir wirklich? Was ist der Körper? Ich glaube
nicht, dass das deine Frage ist.
F: Wie soll ich mit Schmerzen umgehen?
RR: In der Zazen-Praxis verspüren alle Leute Schmerzen, vor allem während eines Sesshins. Das
scheint ein Widerspruch zu sein, weil man sagt, dass der Buddhaweg der Weg zur Lösung
des Leidens ist. Dann sagt man sich: „Vielleicht muss man leiden, um nicht mehr zu
leiden.“ Das scheint paradox.
Eigentlich ist es nicht so paradox. Denn wir suchen nicht das Leiden und unterwerfen uns
nicht einer schmerzhaften Praxis als einer Art Reinigung. Wir praktizieren Zazen, weil es
die beste und stabilste Haltung ist. Für die Menschen aus der westlichen Welt, die nicht
daran gewöhnt sind, auf dem Boden zu sitzen, ist die Haltung manchmal schmerzhaft, vor
allem, wenn man länger sitzt. Auch wenn wir diesen Schmerz nicht suchen und er nicht Ziel
unserer Praxis ist, kann man in gewisser Weise sagen, dass er sich während Zazen als
Chance bietet.
Sinn unserer Praxis ist es, das Leid zu lösen, wenn es da ist. Wie verhält sich unser Geist
dem Schmerz gegenüber? Wie gehen wir damit um? Wenn wir zum Beispiel im Alltag jede
Menge moralische und körperliche Leiden erleben, uns dann in Zazen setzen würden und
alles liefe prima, wenn wir in Zazen sitzend nichts mehr spüren würden und in einem
Zustand ohne Schmerzen, ohne Empfindung, ohne Wahrnehmung wären, dann würde uns
Zazen überhaupt nichts lehren. Es wäre nur eine bequeme, angenehme Angelegenheit; man
würde regelmäßig zur Zazen-Praxis zurückkehren, weil wenigstens in diesem Moment kein
Leiden mehr da wäre. Es wäre sicherlich so ähnlich, als würde man eine Droge wie
Morphium einnehmen. Man hätte etwas gefunden, das ganz plötzlich Leiden und
Schmerzen auslöscht. Aber es löscht nicht den Grund des Leidens. In unserer Praxis geht es
nicht nur darum, das Leiden zu lösen, sondern den Grund des Leidens.
Man kann natürlich den Schmerz an sich nicht abschaffen, aber das Leiden. Das ist ein
Unterschied. Schmerz ist unausweichlich, sobald man einen Körper hat. Der Körper hat
Nerven und manchmal verspürt man Schmerzen. Das gehört dazu, nicht nur in Zazen,
sondern auch, wenn man müde oder krank ist, wenn man sich zu sehr anstrengt. Einfach
durch die Tatsache, dass man einen Körper und Empfindungen hat, ist man Schmerzen
ausgesetzt.
Der Zweck des Buddha-Wegs ist nicht, Schmerzen abzuschaffen, sondern das Leiden in
Bezug auf Schmerzen zu lösen. Leiden ist unsere Reaktion auf Schmerz. Genau diese
Reaktion der Ablehnung, der Feindseligkeit, der Verspannung, diese ablehnende, feindliche
Haltung dem Schmerz gegenüber, dieser Hass auf den Schmerz führt dazu, dass ein
einfacher Schmerz im Knie oder im Rücken sich zu etwas Dramatischem entwickelt, zum
Leiden. Es kann auch dazu kommen, dass man Zazen ablehnt oder den Godo der einen dazu
bringt, sitzen zu bleiben. Es gibt alle möglichen Reaktionen. Aber gerade diese Momente
können dazu führen, dass man sein eigenes Ego besser versteht, besser versteht, wie es
funktioniert, wie es etwas Angenehmes möchte oder etwas ablehnt, was nicht angenehm ist.
Deswegen transmigriert das Karma. Dem hinterherzulaufen, was man liebt, und vor dem zu
fliehen, was man nicht liebt, nimmt kein Ende. Die Praxis von Zazen heißt zu lernen,
zentriert und heiter zu sein, ob man sich nun gut und glücklich fühlt oder aber Schmerzen,
Verspannungen oder Müdigkeit empfindet. All diese Zustände einfach durchqueren, indem
man am besten auf die Atmung konzentriert bleibt, mit dem atmet, was geschieht, und die
Funktionsweise des Geistes beobacht. Sehen wie mentale Spannungen auftauchen und
Aggressivität, Depressionen und Entmutigung entstehen. Es einfach betrachten und vorbei
ziehen lassen. Sich mit diesen negativen Emotionen nicht identifizieren, sie aber auch nicht
ablehnen, sonst wird alles noch komplizierter. Wenn man bereits einen körperlichen
Schmerz hat, revoltiert man dagegen und fühlt sich anschließend schuldig, weil man
revoltiert. Dann gibt es keine Ende mehr, das häuft sich an.
Zazen dagegen baut diese Spirale von Prozessen ab. Nicht etwas hinzufügen, sondern etwas
davon wegnehmen. Und plötzlich wird es eine große Unterweisung für das Leben. Meister
Deshimaru nannte es „das Entdramatisieren des Schmerzes“. Das ist die grundlegende
Unterweisung Buddhas: entdramatisieren. Unser Ego dramatisiert gern und fügt etwas
hinzu. Im Zazen lernt man, dass an einer kleinen Sache überhaupt nichts ist. Man geht einen
Schritt zurück.
F: Gibt es im Leben einen Unterschied zwischen einem Bodhisattva und einem Mönch?
RR: Im Grunde nicht. In der Tatsache, dass man Zazen praktiziert, gibt es keinen Unterschied.
Mönche, Bodhisattvas, Nicht-Ordinierte praktizieren normalerweise auf die gleiche Weise.
Aber der Platz, den Zazen im Leben einnimmt, ist anders. Der Bodhisattva legt das Gelübde
ab, seine Zeit, sein Leben zu widmen, um den anderen zu helfen. Von diesem Gelübde aus
ist ein Mönch noch mehr verfügbar, um die Praxis zu fördern und mit anderen zu teilen. Er
gibt seine egoistischen Anhaftungen auf, um verfügbar zu sein und seine Bodhisattva-
Gelübde wirklich erfüllen zu können. Es ist eine Wahl der Lebensweise. Was die meisten
Menschen beschäftigt, wird aufgegeben oder zumindest reduziert, um der Sangha, der
Gemeinschaft der Praktizierenden, und allen Wesen zu helfen, die Hilfe brauchen.
Heutzutage sind die Dinge komplizierter, weil die Mönche sich weder von der Familie noch
von der Arbeit trennen. Sie befinden sich im Großen und Ganzen in der gleichen Situation
wie die Bodhisattvas. Morgen werden zwei Bodhisattvas zu Mönchen ordiniert. Sie werden
nach Hause zurückkehren, ohne dass sich ihre Lage geändert hat. – Es sei denn, dass ihre
Frauen ihnen eine kleine Mitteilung unter die Tür schieben, auf der steht, dass sie nicht mit
einem Mönch zusammen leben möchten. Aber ich denke, dass das nicht der Fall sein wird. –
Nach außen hin wird es nicht so aussehen, als hätte eine Änderung stattgefunden. Eine
Änderung kann sich aber im Geisteszustand vollziehen.
Während der Ordination macht man Sampai in Richtung seiner Familie. Früher bedeutete
das einen wirklichen Abschied, eine wirkliche Trennung. So wie es auch bei anderen
Mönchen, z.B. den Benediktinern, geschieht, wenn sie in ein Kloster eintreten: Sie verlassen
ihre Familie. Seit einem Jahrhundert ist das für die Zen-Mönche nicht mehr notwendig.
Aber es ist wichtig, in diesem Moment die Beziehung zu seiner Familie noch einmal zu
betrachten und zu ändern und die Familie als Teil von Shujo, von allen fühlenden Wesen zu
sehen, denen man helfen möchte. Dann wird die Familie zu einem Ort der Praxis, des
Weges und des Mitgefühls und kein Knoten der Anhaftung. Vor allem im Geisteszustand
muss eine Änderung stattfinden.
Es ist nicht notwendig sich von etwas zu trennen. Das gilt auch für die Arbeit. Der
Arbeitsplatz kann durchaus ein Ort der Praxis des Weges sein. Manchmal ist das nicht
einfach, aber es gibt immer Mittel. Wenn man Mönch wird, sucht man keine berufliche
Karriere mehr. Man hat keine Ambition mehr, Chef oder Direktor der Firma zu werden.
Wenn dies zufällig geschieht, dann nicht als Ergebnis einer persönlichen Ambition, sondern
weil man den anderen Dienste erwiesen hat.
Im Bereich der Wirtschaft befinden wir uns in einem Netzwerk wechselseitiger
Abhängigkeit. Es gibt Kollegen, Chefs, Kunden, Lieferanten, jede Menge Beziehungen
werden in einem Berufsleben geknüpft. Diese Beziehungen können Gelegenheit werden, die
Paramita, die Praktiken des Bodhisattvas, zu praktizieren. – Das ist nicht unbedingt
idealistisch oder unrealistisch. Es kann die Möglichkeit bieten, seinen Beruf besser
auszuüben.
Das sind die hauptsächlichen Änderungen.
Welches Problem stellt sich für dich? Überlegst du, eines Tages Mönch zu werden? – Wenn
man sich als Bodhisattva diese Frage stellt, muss man überlegen, zu welchem zusätzlichen
Engagement man auf dem Weg bereit ist. Ist man bereit, persönliche Anhaftungen
aufzugeben, um den Mönchsweg zu beschreiten, um innerlich verfügbarer zu sein, für die
Praxis mit den anderen? Wenn man wirklich fühlt, dass dies die einzig wichtige Sache in
seinem Leben ist und dass der Rest nicht so wichtig ist, hat man bereits den Geist des
Mönches. In diesem Fall ist die Ordination nur eine Bestätigung, dass man bereits diesen
Geisteszustand hat. Dazu kommt, dass man durch die Ordination Schüler des Godos wird,
der einem die Ordination gibt. In der Vergangenheit hat man dies zu wenig erwähnt. Noch
heute vergesse ich manchmal darüber zu sprechen. Man muss darüber sprechen, man muss
es wissen. Das gibt der Praxis eine andere Dimension.
F: Eben wurde die Frage nach dem Körper gestellt. Was ist mit dem Geist?
RR: Der Geist ist unfassbar. – Während der Vorbereitung gab es bereits eine derartige Frage. Ich
habe schon über die zahlreichen Aspekte des Geistes gesprochen. Der Geist funktioniert
nicht immer gleich. Was man am Ende wahrnehmen kann, sind Funktionsweisen des
Geistes. Den Geist selbst kann man niemals fassen. Manchmal hat man Gedanken. Man
denkt nach, der Geist manifestiert sich. In anderen Momenten empfindet man Gefühle, eine
andere Funktionsweise des Geistes. In diesem Fall ist der Geist eher das Herz. In wieder
anderen Momenten praktiziert man Zazen und realisiert einen Geist, der sich mit nichts
identifiziert.
Man kann immer das Wirken des Geistes spüren, aber nicht die Quelle. Den Geist selber
kann man nicht erfassen. Aber man kann sehen, wie er funktioniert. Die Quelle ist nicht
fassbar. Daher sagt man, dass die Quelle rein ist. Zur reinen Quelle zurückkehren heißt, zu
diesem Geist zurückzukehren, den man nicht greifen und nicht definieren kann. In der
Zazen-Praxis ist dies sehr wichtig. Aus diesem Grund kann deine Frage nicht beantwortet
werden. Würde man sagen, der Geist ist dies oder das, wäre es eine sehr schlechte Antwort.
Ich hoffe, du erwartest nicht eine derartige Antwort.
F: Ich glaube zu verstehen, dass eine Antwort mit Worten nicht gegeben werden kann.
Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass trotzdem aufgrund der Praxis eine Ahnung besteht, dass
es etwas gibt, was man so nicht beschreiben kann und was man den Geist nennt. Aber dennoch
besteht die Sehnsucht zu beschreiben, um zu dem Zustand der reinen Quelle zurückzukehren.
RR: Meister Wanshi und Meister Dogen haben viele Jahre damit verbracht, über diesen reinen
und unfassbaren Geist zu sprechen. Sie haben ihn aber nie beschreiben können. Es gibt
Bilder, die eine Vorstellung davon geben, worum es sich handelt. Aber vor allem haben sie
die Weise gelehrt, wie man praktiziert, die Möglichkeit, selbst einen Geist zu erfahren, der
von allen Identifikationen befreit ist, einen offenen, freien, nicht starrem Geist.
F: Ist Zen nicht eher eine Praxis als eine Beschreibung eines kosmischen Systems?
RR: Ja, Zen ist sicherlich eher eine Praxis. Aber das heißt nicht, dass es in dieser Praxis keine
Realisierung eines kosmischen Prinzips gibt. Aber es ist sehr schwierig, dieses kosmische
Prinzip mit Worten zu beschreiben, weil es zu umfassend ist. Man kann es daher besser
durch die Praxis mit dem Körper und mit der Atmung erfahren, indem man die mentale
Funktionsweise aufgibt, die immer etwas beschreiben und in Kategorien fassen will. Dann
funktioniert der Geist auf eine andere Art, ein intuitiver Geist, der direkt die Wirklichkeit so
empfindet, wie sie ist, und der nicht mehr die Notwendigkeit spürt, alles mit Wörtern zu
beschreiben oder Etiketten aufzukleben.
Das Wichtigste ist doch: Wie funktioniert man eigentlich? – Im Zen geht es nicht darum,
sich eine Idee von der Wirklichkeit zu machen, so wie sie ist, keine Art Philosophie oder
Konzeption, sondern um die Frage: „Wie lebt man wirklich in jedem Augenblick?“, „Wie
funktioniert man?“, „Wie benutzen wir unseren Geist?“, „Wie funktionieren wir mit
unserem Körper und unserem Geist in jedem Augenblick?“ – Das ist am Wichtigsten.

Sonntag, 23. Mai 2004, 7 Uhr
Während Zazen konzentriert man sich fortwährend auf die Haltung. Das Becken ist nach vorne
geneigt, Wirbelsäule und Nacken sind gestreckt. Man drückt mit dem höchsten Punkt des Kopfes
in den Himmel. Immer wieder kehrt man zu dieser Haltung zurück, denn wenn der menschliche
Körper die Form der Zazen-Haltung einnimmt, findet er seine wahre Form wieder.
Wanshi sagt: „Wenn wir unsere wahre Form kontemplieren, kontemplieren wir Buddha.“
Obwohl die Form der Zazen-Haltung präzise beschrieben wird, verwirklichen wir, wenn wir
unsere ganze Aufmerksamkeit auf diese Form, diese Haltung richten, letztlich die Nicht-Form.
Das heißt, wir verwirklichen einen Geist, der nicht mehr an Formen haftet, der keine
Trennungen, keine Gegensätze zwischen einer Form und einer anderen Form schafft.
Oft haben die Leute Probleme damit, einer bestimmten Form zu folgen, besonders in Europa. Als
z.B. das Oryoki-Ritual beim Essen eingeführt wurde, haben sich einige widersetzt und es
Formalismus genannt. Egal was man tut, welche Handlung man ausübt, welche Haltung man
einnimmt – wir existieren in einer Welt der Formen. Wir können uns nicht von den Formen
lossagen. Wenn wir uns vollständig auf die Form konzentrieren, die unterwiesen wurde, handelt
es sich nicht um eine Form, die von unserem Ego erschaffen wurde, sondern um eine
empfangene und anerkannte Form. Man kann sich selbst in dieser Form vergessen und sein
eigenes Ego aufgeben. Dieses Aufgeben ist die wahre Befreiung, die es uns ermöglicht wirklich
jenseits aller Formen zu sein, jenseits von Anhaftung an Formen, die wir erschaffen. Es ist das
Gleiche, wenn man ein Kesa näht und sich darauf konzentriert. Würden wir unseren Ideen
folgend eine Art Patchwork erzeugen, wäre dies nur Ausdruck unseres eigenen Egos. Aber wenn
man der wahren übermittelten Form folgt, gibt man seine persönlichen Besonderheiten auf und
verwirklicht einen Geist ohne Form, Muso, der die Pforte zum wahren Glück ist, das nicht von
unseren egoistischen Kategorien eingeschränkt wird.
Gestern hat jemand beim Mondo eine Frage nach der wahren Natur des Körpers gestellt. Genau
sie kann man intuitiv in der Zazen-Haltung verwirklichen. Durch die Konzentration auf die Form
der Haltung realisiert man die Nicht-Form. Durch die Konzentration auf den Körper realisiert
man die wahre Natur des Körpers, die eine Nicht-Natur ist. Sie ist nicht etwas, das man
definieren oder begrenzen kann. Der Körper wird in Zazen der Körper Buddhas, der Körper des
Dharma, ein Körper in Einheit mit dem ganzen Universum. Das kann nicht definiert oder erklärt
werden, aber man kann es vertraut erfahren, jenseits des Denkens.
Wanshi bringt dies zum Ausdruck, indem er sagt: „Wenn ihr selber diese Erfahrung ohne
Zerstreutheit machen könnt, das heißt voller Konzentration, seid ihr jenseits von
Voreingenommenheit, von Auswahl, von Bevorzugung und geht über jede Begriffsbildung
hinaus. So wird man allen Erwachten, allen Buddhas ähnlich, die das Wesentliche ohne
Dualismus verwirklichten.“
Auf diese Weise können wir einen vollständig ruhigen Geist wiederfinden und in die
Wirklichkeit unseres Lebens vertraut eindringen, jenseits von all unseren Gedanken, ohne von
unseren Gedanken eingeschränkt zu werden. Dann haben wir es nicht mehr nötig, von anderen
abhängig zu sein. Wir können unsere eigenen Erfahrungen machen und völliges Vertrauen in
unsere Praxis haben. Das ermöglicht uns, unsere Energien zu befreien und alle Hindernisse zu
überwinden. Von dieser Erfahrung aus werden wir in die Welt des Alltags zurückkehren und
Situationen, die auftreten werden, ganz natürlich und ohne Anstrengung begegnen.
Wanshi sagt: „Genauso wie Wolken, die ruhig vorbeiziehen und ihren Regen fallenlassen. Sie
ziehen über alle Hindernisse hinweg“. So wie Zen-Nonnen und -Mönche, Unsui, die diese
Freiheit der Wolken haben und dieses Wassers, das überall frei entlang fließt.

Sonntag, 23. Mai 2004, 11 Uhr
Während dieses Frühlingslagers haben wir uns auf die Praxis von Zazen und Gyoji konzentriert,
ohne uns an irgendeinen Gegenstand zu haften, indem wir uns einfach auf die Haltung selbst
konzentriert haben, vollständig frei von jedem Hintergedanken und jeder Absicht. So haben wir
die Praxis erfahren können, die selber Befreiung ist, die Rückkehr zu einem einfachen freien
Geist, entblößt von unseren geistigen Erzeugnissen. Wir haben in unserem Geist Raum finden
können.
Jetzt werden wir in unser gewohntes Leben zurückkehren. In diesem Leben kann man natürlich
nicht ständig ohne Zielsetzung sein. Man hat Verantwortlichkeiten, man muss Aufgaben
erfüllen. Aber ausgehend von der Erfahrung des Sesshins kann man sich so gut wie möglich auf
das konzentrieren, was man zu tun hat, ohne egoistisches Ziel, indem man seine Zeit und seine
Energie in den Dienst für andere stellt. Auf diese Art und Weise aktualisiert man die Praxis des
Weges im Alltag, indem man auch darauf achtet, nicht zu viele Gegensätze und Unterschiede
zwischen der Praxis im Dojo und dem Rest unseres Lebens zu schaffen. Das heißt, aus unserem
Leben eine Gesamtheit schaffen, ohne Trennungen, zurückkehren zum religiösen Geist selbst,
mit seinem wahren Geist verbunden sein, so dass er sich in allen Aspekten unseres Lebens
ausdrücken kann.