Kannon – 10.2012 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 5.-7. Oktober 2012 während
des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche übersetzt.

Freitag, 5.10.2012, 7 Uhr
Zu Beginn des Zazen atmet man zwei- oder dreimal tief ein und aus. Dann lässt man den natürlichen
Rhythmus der Atmung geschehen. Man konzentriert sich auf die wichtigen Punkte der Haltung:
Man neigt gut das Becken nach vorne und drückt mit den Knien fest in den Boden – dank der
richtigen Höhe des Zafus, ohne die Lendenmuskeln anzuspannen. Der Bauch ist entspannt, und man
fühlt sich gut in seiner Haltung verwurzelt, stabil. Ausgehend von der Taille streckt man die
Wirbelsäule und den Nacken. Man lässt gut die Verspannungen des Rückens und der Schultern los
und stößt mit der Schädeldecke in den Himmel.
All dies geschieht sanft. Der Körper ist weder zu angespannt noch zu entspannt. Er muss wie eine
Geige sein: Die Saiten sind weder zu sehr gespannt noch zu wenig gespannt. So geben sie den
richtigen Ton. Wenn der Körper im richtigen Tonus ist, beeinflusst das völlig den Geisteszustand.
Der Geist ist weder schläfrig noch aufgeregt, sondern in der richtigen Aufmerksamkeit. Völlig
gegenwärtig für all das, was hier und jetzt geschieht.
Das Gesicht ist entspannt, die Zunge am Gaumenrand. Wenn ihr dazu neigt, einen inneren Dialog
zu führen, konzentriert euch insbesondere auf die Stelle, an der die Zunge den Gaumen berührt.
Dann endet alle innere Diskussion. Körper und Geist finden ihre Einheit wieder. Der Geist flieht
nicht mehr aus der Haltung, sondern bleibt völlig gegenwärtig. Deshalb ist es nicht erforderlich, die
Augen zu schließen, um sich zu konzentrieren. Es genügt einfach, sich nicht an die Gegenstände der
Wahrnehmung zu klammern.
In Zazen geht es nicht darum oder man bemüht sich nicht darum, die Empfindungen, die Wahrnehmungen,
die Gedanken zu unterdrücken. Man wird sich ihrer in dem Augenblick bewusst, wo sie
auftauchen. Man nimmt ihre Leerheit wahr und lässt sie vorüberziehen. Man identifiziert sich mit
keinem einzigen Gedanken. So wird der Geist weit wie der Himmel, der alle Phänomene aufnehmen
kann, Sonne, Wolken, Mond, alle Galaxien. Alle Zeiten – Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft – spiegeln sich im Geist. Der Geist kann empfänglich sein, denn er verweilt auf nichts,
ergreift nichts. Er ist wie die Hände in der Haltung von Hokai Join, das Siegel des Samadhis des
Ozeans des Dharmas.
Die Daumen sind horizontal. Das beeinflusst den Geist. Wenn die Daumen einen Berg bilden, zeigt
das, dass es zu viel geistige Aufgeregtheit gibt – Sanran. Wenn die Daumen ein Tal bilden heißt das,
dass man dahindämmert – Kontin. Wenn man darauf achtet, die Daumen gut waagerecht zu halten,
hilft das, ein geistiges Gleichgewicht zu halten, weder aufgeregt noch schläfrig – klar, wach.
Dieser Geist schafft keine Gegensätze und Trennungen mehr. In der Haltung von Zazen sind oben
und unten ausgeglichen, auch Einatmung und Ausatmung. Auf harmonische Weise folgen Denken
und Nicht-Denken aufeinander. Der Geist umfasst all diese Polaritäten.
Durch die Aufmerksamkeit auf die Atmung sind Körper und Geist offen für die äußere Welt. Es gibt
keine Trennung mehr zwischen einem selbst und der Umgebung, zwischen einem selbst und den
anderen. Die Schranke des Geistes, die uns von den anderen trennt, ist aufgegeben, und wir können
unsere tiefe Einheit mit allen Wesen empfinden. So kann man sich auf natürliche Weise mit den
anderen harmonisieren. Nicht nur in Zazen, sondern während des ganzen Alltags. Während der
Mahlzeiten, während der Zeremonie, während dem Samu harmonisiert man sich in der gleichen
Konzentration.
Das ist nur möglich, weil wir die Anhaftung an unser kleines Ego aufgeben. Aber dieses Aufgeben
ist kein Opfer, sondern die Verwirklichung der wahren Natur unserer Existenz. Ein Sesshin praktizieren
ist, sich mit dieser wirklichen Natur zu harmonisieren. Ein Leben ohne Trennungen, ohne
Gegensätze. Das geschieht ganz natürlich, wenn man sich auf jede Praxis hier und jetzt konzentriert.

Freitag, 5.10.2012, 11 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Unsere Gedanken trennen uns vom
Hier und Jetzt. Wenn man seine Aufmerksamkeit zur Körperhaltung zurück bringt, kehrt man ganz
automatisch zu seinem Leben hier und jetzt zurück. Indem man sich auf die Körperhaltung und die
Atmung konzentriert, beruhigt sich der Geist. Man kann seine alltäglichen Sorgen aufgeben und den
Frieden des Geistes wiederfinden. Dann öffnet sich der Geist für die Wirklichkeit jenseits der
Grenzen unseres kleinen Egos. Das ermöglicht es dem natürlichen Mitgefühl sich zu manifestieren,
unserer Fähigkeit, sich durch Sympathie an die Stelle des anderen zu versetzen. Deshalb darf man
nicht von seinen eigenen Gedanken besessen sein. In Zazen lernt man, sie loszulassen, sie fallen zu
lassen.
Das ist eine große Befreiung. Das erlaubt es, das Nirvana inmitten des Samsara zu realisieren,
aufzuhören, ohne Ende zu transmigrieren, indem wir den Objekten unserer Wünsche hinterherlaufen
oder vor dem davonzulaufen, was wir nicht mögen. „Den Weg zu durchdringen, ist nicht
schwer,“ sagt Sosan, „man muss nur ohne Gier und Hass sein, ohne Auswahl und ohne Zurückweisung.“
Wenn man so praktiziert, wird man Kannon Bodhisattva ähnlich. Viele Buddhisten beten zu
Kannon, um von ihr Hilfe zu erlangen. Aber auf dem Zen-Weg wird man selbst zu Kannon und
entwickelt auf diese Weise die Fähigkeit, sich selbst und anderen zu helfen.
Zu Beginn des Shobogenzo Kannon zitiert Meister Dogen den Dialog zwischen Ungan und Dogo.
Beide waren Schüler von Meister Hyakusan gewesen und hatten mehrere Jahrzehnte gemeinsam
praktiziert. Sie hatten viele Koans studiert und mochten es, im Dialog zu sein. Eines Tages fragte
Ungan Dogo: „Was macht der Bodhisattva des Großen Mitgefühls mit der Vielzahl seiner Hände,
an deren jedem Fingerende sich ein Auge befindet?“ Dogo antwortete: „Das ist wie ein Mensch, der
in der Nacht tastend nach seinem Kopfkissen sucht.“ Ungan antwortete: „Ich habe verstanden! Ich
habe verstanden!“ Dogo fragte: „Was hast du verstanden?“ Ungan: „Der ganze Körper des Bodhisattvas
des Großen Mitgefühls ist nichts anderes als Hände und Augen.“ Dogo: „Das ist gut, aber du
hast nur 80% ausdrücken können.“ Ungan: „Ich kann nur das sagen, und du?“ Dogo: „Der Körper
in seiner Tiefe ist nichts anderes als Hände mit Augen.“
In der Praxis von Zazen entwickelt sich die Kraft des Mitgefühls. So sprechen wir die Gelübde der
Bodhisattvas aus. Deren erstes ist, allen Wesen zur Hilfe zu eilen, die leiden. Dabei geht es nicht
darum, Verdienste zu erlangen, und auch nicht darum, auf eine moralische Verpflichtung zu
antworten. Im Zen ist Liebe kein Gebot. Man muss nicht Mitgefühl haben, sondern das Mitgefühl
erscheint ganz natürlich, wenn man sich selbst vergisst, wenn man über die Fähigkeit verfügt, sich
an die Stelle des anderen zu versetzen, für einen Augenblick der andere zu werden, seine Sichtweise
zu wechseln. Wenn das geschieht, kann man niemanden mehr verurteilen oder verachten. Man
versteht, dass jeder aufgrund seines vergangenen Karmas und aufgrund seiner gegenwärtigen
Täuschungen handelt und dass deshalb viele Menschen leiden und Leiden um sich herum schaffen.
Dann erscheint der Wunsch, zu helfen das aufzulösen, zu helfen, das Leid der Welt zu erleichtern.
Das war der Ausgangspunkt des Bodaishin von Shakyamuni Buddha, den Weg zu realisieren, der
alle Wesen von ihrem Leid befreit, und diesen Weg mit den anderen zu teilen. Das machen wir,
wenn wir an einem Sesshin teilnehmen. Und über das Sesshin hinausgehend tun wir es, wenn wir
unser Leben im Geist von Bodaishin leben. Das ermöglicht es, in Harmonie mit dem Dharma zu
leben. Das gibt unserem Leben einen tiefen, wirklichen Sinn.
Je mehr wir das mit anderen teilen, umso mehr haben wir daran Teil, denen, die leiden, die Hoffnung
zu geben, dass eine Befreiung möglich ist. Eine authentische Realisation kann geschehen. Das
ist kein weit entferntes Projekt, sondern eine unmittelbare Möglichkeit. Dafür genügt es, seinen
Blick nach innen zu wenden, und die Leerheit all seiner Täuschungen zu sehen. Dann ist es einfach,
sie fallen zu lassen, und dem Geist zu ermöglichen, seine normale Funktionsweise wiederzufinden.
Meister Deshimaru sprach immer wieder davon, zum Normalzustand zurückzukehren, keinen
besonderen Zustand zu suchen. Einfach nur zum Normalzustand zurückkehren. Das bedeutet, sich
mit seinem Leben in völliger Wechselbeziehung mit allen Wesen zu harmonisieren und auf
natürliche Weise einen Sinn der Solidarität mit allen Wesen zu entwickeln. Das ist kein irreales
Ideal für eine andere Welt. Es ist eine Möglichkeit, die sich uns hier und jetzt bietet. Ein Sesshin
wie dieses ist eine Gelegenheit, das zu realisieren, eine andere Funktionsweise zu erleben.

Freitag, 5.10.2012, 16.30 Uhr
In Zazen macht man nichts. Man macht nicht einmal Zazen. Man begnügt sich damit, vollständig zu
sitzen. Auf die Körperhaltung konzentriert und achtsam auf die Atmung lässt man die Gedanken
vorüberziehen. Insbesondere machen die Hände nichts. Indem man aufhört, irgendetwas zu machen,
findet der Geist zu seiner Ruhe zurück und wird aufnahmefähig für alles, was geschieht. Der Körper
wird dem Körper Buddhas ähnlich, das heißt, er wird ein Körper, der unsere Einheit mit dem
ganzen Universum aktualisiert.
Wenn das Zazen vorbei ist, benutzt man von neuem seinen Körper und seine Hände. Bereits bevor
man das Dojo verlässt, macht man Gassho. Rechte und linke Hand in Einheit. Wenn man Gassho
macht, wird man völlig eins mit dem, vor dem man sich verneigt. So drückt Gassho vollständig den
Geist von Zazen aus, den Geist, der unmittelbar unsere völlige Einheit mit allen Wesen wahrnimmt,
der keine Trennungen mehr schafft.
Im Alltag wird man seine Hände und seinen Körper benutzen, um allen Wesen zur Hilfe zu
kommen. Wie Kannon. – Kannon wird mit zahlreichen Händen dargestellt In jeder Hand befinden
sich ganz unterschiedliche Werkzeuge. Und jede Hand verfügt über ein Auge. Die Hände sind die
Verlängerung des Körpers Buddhas, um das Mitgefühl von Zazen auszudrücken, und sie werden
vom Auge der rechten Sicht geleitet. Denn Mitgefühl bedarf der Weisheit. Es ist nicht einfach nur
ein Gefühl wie Mitleid. Aber die Weisheit drückt sich unbewusst und natürlich aus. Wenn man zu
bewusst helfen will, wird die Hilfe begrenzt. Die Hilfe der Bodhisattvas ist so, wie wenn man in der
Nacht mit der Hand nach seinem Kopfkissen tastet.
Das Auge der Weisheit, das Auge der rechten Sicht, lässt uns die Leerheit aller Gegenstände unserer
Anhaftung wahrnehmen. Also hat es die Kraft, uns von unserem eigenen Ego zu befreien und uns
verfügbarer für die anderen zu machen. Und dennoch sieht man alle Wesen nicht als nicht-existent –
als Leerheit – an. Alle Wesen existieren wie wir: in der Buddha-Natur, d.h. ohne Ego, indem sie
untereinander Wechselbeziehungen aufrechterhalten. Das nennt man Buddha-Natur, die Existenz
aller Wesen in völliger Wechselbeziehung.
Wirkliche Hilfe ist diejenige, die es allen Wesen ermöglicht, sich dieser Dimension der erwachten
Existenz bewusst zu werden. Sie ermöglicht es jedem, sich letztlich selbst zu befreien und nicht von
der Hilfe von jemand anderem abhängig zu werden.
Aber selbstverständlich gibt es auf der Ebene der konkreten Phänomene des Alltags auch eine
andere Form der Hilfe. Diese Hilfe besteht darin, auf die Bedürfnisse jeder Person zu reagieren.
Dafür sie bedarf es vieler Werkzeuge und großer Weisheit. Aber all diese Mittel haben als Quelle
unsere Fähigkeit, uns an die Stelle des anderen zu versetzen, und so intuitiv zu spüren, wessen der
andere bedarf.

Mondo
Meine Frage bezieht sich auf den Zustand nach dem Tod. Was glaubst du, was passiert, wenn die
Leute gestorben sind? Was passiert mit dem Geist?
Ich werde es dir sagen, wenn ich gestorben bin. (Gelächter) Im Augenblick weiß ich darüber nichts.
Aber es gibt verschiedene Theorien…
Das sind keine Theorien. Entweder handelt es sich um eine Erfahrung oder um eine Vorstellung. Für
Buddha Shakyamuni war es eine Erfahrung. Er hat klar seine vorhergehenden Leben gesehen und
klar gesehen, dass er selbst und alle Wesen aufgrund ihres Karmas wiedergeboren werden.
Nach dem Tod setzt sich also die Existenz einer Person in Form einer Wiedergeburt in einem
anderen Körper fort. Aber es ist nicht genau die gleiche Person, denn der Geist hat die Periode des
Todes durchschritten und auch die Periode zwischen dem Tod und einer neuen Geburt. Die neue
Person, die in der Folge der vorhergehenden Person geboren wird, übernimmt das Karma der
verstorbenen Person und ist dabei nicht völlig die gleiche, aber auch nicht völlig eine andere.
Nach Wahrnehmung Buddhas setzt sich die Verkettung der Ursachen und Bedingungen, der zwölf
wechselseitig abhängigen Kettenglieder, fort. Es gibt eine Verkettung. Die neue Geburt wird durch
das Karma bedingt. Man kann z.B. als Mensch wiedergeboren werden, und das ist das Beste, denn
als Mensch kann man erwachen.
Aber selbst bei einer Wiedergeburt als Mensch kann man mit unterschiedlichen Möglichkeiten
wiedergeboren werden. Diese Möglichkeiten hängen vom vergangenen Karma ab. Man kann mit
einer guten Gesundheit geboren werden oder kann bereits Krankheiten haben. Der Körper kann
mehr oder minder schön oder hässlich sein, man kann mehr oder minder intelligent. Man kann die
Möglichkeit haben, sehr schnell die Unterweisung Buddhas kennen zu lernen oder nicht. Das hängt
zum großen Teil vom vergangenen Karma ab.
Aber das vergangene Karma bedingt nicht alle unsere Handlungen. Es schafft nur die Existenzbedingungen.
Es ist wie beim Kartenspiel: Man erhält einen bestimmten Kartensatz, und dann kann
jeder mit dem Kartensatz, den er empfangen hat, das Spiel spielen. Da gibt es eine gewisse Freiheit.
Dieses Gesetz des Karmas, der Ursächlichkeit, bedingt nicht die ganze Existenz. Unsere Gedanken
hier und jetzt sind z.B. nicht völlig durch das vergangene Karma bedingt. Es gibt auch andere
Einflüsse. Also gibt es eine bestimmte Freiheit. Und diese Freiheit ist umso größer, je klarer man
sieht und je bewusster man sich dessen ist, insbesondere dieser Kausalität. Dann kann man sie unter
Umständen nutzen, um Ursachen zu schaffen, die gute Auswirkungen erzeugen.
Je weiter man im Verständnis voranschreitet, macht man diese positiven Handlungen nicht, um ein
persönliches Verdienst zu erlangen, sondern um den andern einen Dienst zu erweisen, um mehr in
der Lage zu sein, andern zu helfen. Das ist der Sinn des Lebens des Bodhisattvas: Wie diesen
Körper benutzen, um allen Wesen zu helfen? Allen andern Gelübde, die man ablegt – unsere
Anhaftungen, unsere Leidensursachen zu heilen, alle Unterweisungen Buddhas zu studieren, den
Weg zu realisieren – liegt der tiefe Wunsch zugrunde, den anderen zu Hilfe kommen zu können.
Das ist das Beste, was in einer neuen Wiedergeburt geschehen kann. Aber man sollte keine neue
Wiedergeburt erwarten. Im Zen beschäftigt man sich nicht so sehr mit der Existenz nach dem Tod.
Man kümmert sich um die Existenz in jedem Augenblick hier und jetzt. In dieser Existenz hier und
jetzt gibt es unablässig Geburt und Tod. Man stirbt und wird wiedergeboren – unablässig, denn
unser Körper und Geist ändern sich unablässig. Wenn man das versteht, wenn man die Unbestän-
digkeit vollständig versteht, hindert einen das daran, sich zu sehr an ein eigenes Ego zu klammern,
und man findet einen fließenderen Geist wieder, der sich damit harmonisiert.
Wie kann man sich das chemisch-physikalisch vorstellen.
Es ist schwierig, sich das vorzustellen. Ich habe darüber mit Môhan Wijayaratna gesprochen, einem
Theravada-Mönch, der den Pali-Kanon ins Französische übersetzt. Wir haben uns über die Frage
unterhalten, was der materielle Träger des Bewusstseins ist, das von einer Existenz in die nächste
Existenz geht. Er sagte: „Wir können dieses Wiedergeburtsbewusstsein, das in einen neuen Körper
eingehen wird, nicht objektiv erfassen. Aber wir sind in der Lage, Informationen von der Erde bis
zum Mars senden, einfach durch Radiowellen, die nicht sichtbar sind. Buddha hat erfahren, dass es
ein Bewusstsein gibt, das über einen selbst hinaus geht und weiter reist. Das ist eine Art von Wellen.
Auch das Gehirn kann Wellen erzeugen. Aber man kann es nicht völlig erklären.“
Es handelt sich bestimmt um etwas Derartiges. – Aus buddhistischer Sicht ist auf jeden Fall der
Geisteszustand zum Zeitpunkt des Todes sehr wichtig. Es kann natürlich passieren, dass man bei
einem Unfall stirbt oder aus dem Koma heraus stirbt. Aber soweit wie möglich sollte man bis zum
Augenblick des Todes bewusst bleiben und die Gelübde der Bodhisattvas kultivieren, seine Existenz
und seine zukünftigen Existenzen der Hilfe für alle Wesen widmen. Das erzeugt eine günstige
Wiedergeburt, in der man mehr in der Lage ist, diese Gelübde zu verwirklichen.
Buddha hat Tausende oder Millionen von Leben in der Vergangenheit verbracht und war immer von
demselben Gelübde beseelt. Jemand, der den Buddhaweg durch die Praxis von Zazen versteht, wird
sich letztlich bewusst, dass das der tiefste Sinn ist, den man seiner Existenz geben kann. Denn er
steht im Einklang mit der Wirklichkeit. Man wird also auf eine Weise praktizieren, dass es einem
gelingt, dieses Gelübde zu erfüllen.
Was ist für dich der Unterschied in der Beziehung zu einem normalen Praktizierenden und einem
Praktizierenden, der als Bodhisattva, Mönch oder Nonne ordiniert ist? Was ist da die unterschiedliche
Energie?
Mit jemandem, der als Bodhisattva, Mönch oder Nonne ordiniert ist, kann man in der Dimension
der Gelübde der Bodhisattvas in Verbindung sein. Normalerweise teilt man in der Tiefe das gleiche
Bodaishin. Bodaishin ist der tiefste Geist, der Geist Buddhas, der Geist des universellen Mitgefühls.
Aufgrund dessen ist es viel einfacher, einem andern Bodhisattva zu helfen. Denn die grundlegende
Hilfe besteht dann darin, ihn an seine Gelübde zu erinnern, und ihm zu helfen, Bodaishin zum
Ausdruck zu bringen.
Im Januar werden wir hier einen Ausbildungstag zur Sterbebegleitung machen. Als ich darüber
nachgedacht habe, habe ich gedacht: Es gibt alle möglichen Arten und Weisen, den Leuten zu
helfen, abhängig von ihren Bedürfnissen. Aber für uns als Praktizierende oder für mich als Dharma-
Lehrer besteht die beste Hilfe, die ich geben kann, darin, diesen Geist des Erwachens zu erwecken
oder wieder zu beleben, wenn er eingeschlafen ist.
Ich wurde vor vielen Jahren gebeten, M. zu besuchen, der in Düsseldorf in der Uniklinik war und
im Sterben lag. Er hatte Leukämie. Man hatte das Knochenmark ausgetauscht, aber diese Knochenmarkstransplantation
wurde zurück gewiesen. Die Ärzte konnten nichts mehr für ihn machen. Als
wir nachts ankamen, sagte der diensthabende Arzt: „Wenn Sie M. sehen wollen, gehen Sie hinein
und machen Sie, was Sie machen wollen. Wir können nichts mehr tun.“ M. war völlig zusammengefallen.
Er lag wirklich im Sterben. Ihm lief Speichel aus dem Mund, und er konnte kaum mehr
sprechen. Er hat seine völlige Hoffnungslosigkeit und seinen Hass auf die Ärzte zum Ausdruck
gebracht und gesagt, dass er nicht mehr leben will. Er war wirklich in einem höllischen Zustand.
Er lag in einem isolierten Bereich. Durch einen Plastikhandschuh habe ich seine Hand gegriffen. Ich
habe zu ihm gesagt: „Ich habe Dich vor drei Monaten zum Bodhisattva ordiniert. Selbst wenn du
nicht mehr leben willst, musst du weiterleben, um deine Bodhisattva-Gelübde zu erfüllen. Nicht für
dich leben, sondern für die anderen leben. Wenn es Dir gelingt, deine Krankheit zu überwinden, ist
das eine große Hilfe für alle Kranken, eine Hoffnung, für all diejenigen, die sich in den gleichen
Umständen befinden.“
Dann haben wir das Hannya Shingyo als Kito gesungen. Als er das Hannya Shingyo hörte, hat er
sich aufgerichtet und die Hände in Gassho zusammengeführt. Er konnte das kaum machen, aber er
hat das Hannya Shingyo mit den Lippen geformt. Das war für ihn ein Schock. In dem Augenblick,
in dem er das Hannya Shingyo rezitierte, hat sich sein Geist völlig verändert.
Am nächsten Tag bin ich nach Paris zurück gefahren. Man hat mich angerufen und mir gesagt:
„Außergewöhnlich! All seine Lebensfunktionen haben wieder angefangen zu funktionieren.“ –
Einen Monat später war er zuhause und ist Fahrrad gefahren. Und ein paar Monate später war er
hier auf der Grube Tenzo. Und ein Jahr später (weint) – entschuldigt, ich bin immer sehr bewegt,
wenn ich die Geschichte erzähle – haben wir hier einen Film gedreht. M. studierte an der Filmhochschule.
Für sein Abschlussexamen musste er einen Film machen. Als Thema hat er seine Krankheit
und seine Heilung genommen. Da haben wir hier wieder ein Kito gemacht. Der Film hat dann einen
ersten Preis gemacht und wurde im Fernsehen gezeigt.
Ich habe in dem Augenblick gespürt, dass es für mich leicht war, diesem jungen Mann zu helfen,
der im Sterben lag. Denn zwischen uns gab es etwas, das uns sehr verbunden hat: Wir hatten das
gleiche Ideal des Bodhisattvas. Selbst wenn er sich in völlig entgegengesetzten Gefühlen befand,
gab es diesen Samen in ihm. Zu helfen war ganz einfach: Ich musste nur diesen Samen nähren. Mit,
wie du sagst, ‚gewöhnlichen’ Leuten ist das viel schwieriger.
Ich glaube, dass alle Wesen die Buddha-Natur haben, und Bodaishin realisieren können. Aber es
bedarf einer Praxis. Ich glaube, dass es sehr viel schwieriger ist, diesen Geist bei einem Sterbenden
zu wecken, der nie auf einem spirituellen Weg war und das Dharma nicht kennt.
Wenn man einem Praktizierenden des Weges begegnet, der sich umbringen will, kann man ihm die
Unterweisung Buddhas und die Praxis ins Gedächtnis rufen. Das wird ihn stimulieren, über diese
Schwierigkeiten hinwegzugehen. Für Menschen, die nie Kontakt mit der Praxis des Weges hatten,
ist es schwieriger.
Aber ich glaube nicht, dass es hoffnungslos ist. Ich glaube, dass man sich die Geschichte Kannons
ins Gedächtnis rufen sollte, die allen Wesen hilft, wie jemand, der nachts nach seinem Kopfkissen
tastet. Wirklich auf eine natürliche, intuitive und unbewusste Weise den Kontakt finden. Denn selbst
wenn der andere keine spirituelle Praxis hat, so existiert doch in seinem Grunde dieser Buddha-
Geist.

Samstag, 6.10.2012, 7 Uhr
Kehrt während Zazen immer wieder zur Konzentration auf die Haltung des Körpers zurück. Streckt
gut die Wirbelsäule und den Nacken, lasst die Spannungen im Rücken und in der Schulter los,
drückt mit der Schädeldecke gegen den Himmel und mit den Knien in den Boden.
Während Kinhin konzentriert man sich auf den Körper, der geht, während der Zeremonie auf den
Körper, der singt und sich niederwirft, während des Essens auf den Körper, der isst, während Samu
auf den Körper der arbeitet.
Immer wieder zum Körper zurückzukehren ist die beste Methode, um vollständig im Hier und Jetzt
zu sein, d.h. um ein Leben im Einklang mit der Wirklichkeit zu führen, kein abstraktes Leben in
einer virtuellen Wirklichkeit. Dies bedeutet die Wirklichkeit eines jeden Augenblicks mit der Ganzheit
von Körpers und Geist zu durchdringen. Denn Körper und Geist sind nie getrennt, der Körper
wird vom Geist belebt. – Von welchem Geist? – Von dem Geist, der die Wirklichkeit durchdringt, so
wie sie ist.
Wenn man sich in Zazen auf den Körper konzentriert, realisiert man, dass dieser Körper, obwohl er
mit all seinen Empfindungen und Wahrnehmungen hier und jetzt existiert, zugleich ohne feste
Substanz ist, dass er uns in Wirklichkeit nicht gehört. Er besteht aus den Elementen, die dem ganzen
Universum gehören. Er ist aus Sternenstaub gemacht. Die Wirklichkeit seines Körpers zu durchdringen,
bedeutet also, die Wirklichkeit des ganzen Universums zu durchdringen.
Wenn man sich auf die Form des Körpers konzentriert, auf Shiki, begegnet man der Leerheit, Ku,
der Abwesenheit von fester Substanz. Wenn der Geist diese Wirklichkeit anerkennt, kann er all
seine Anhaftungen loslassen. Der Körper in seiner Tiefe wird eine Quelle von Weisheit. Sich auf
den Körper zu konzentrieren ermöglicht es uns, die rechte Sicht, Shoken, zu realisieren, nicht
mittels abstrakter, konzeptioneller Gedanken, sondern durch eine direkte Erfahrung. Dieser Körper
ist zugleich Wirklichkeit und andererseits ohne etwas Festes. Er ist aus Staub geworden und wird
wieder zu Staub.
Die meisten Menschen vermeiden es, sich mit dieser Wirklichkeit zu konfrontieren, und ziehen es
vor, in Illusionen zu verweilen. Zazen zu praktizieren, ein Sesshin zu praktizieren, bedeutet im
Gegensatz dazu, den Wunsch zu haben, sich mit dieser Wirklichkeit zu konfrontieren. Es ist eine
Wirklichkeit, die uns befreit.
Das hat Meister Dogo bezüglich Kannons realisiert: Der Körper in seiner Tiefe ist nichts anderes als
die mit Augen versehenen Hände, d.h. die Sicht.
Der Bodhisattva des Mitgefühls ist nicht nur Kannon, sondern vor allem Kanjizai, der
Avalokiteshvara des Hannya shingyo, der Shariputra (Sharishi) die tiefe Weisheit, Prajna paramita,
lehrt.
Der Bodhisattva des Mitgefühls ist niemand, der sein Erwachen opfert, bis alle Wesen vor ihm
erwacht sind. Der Bodhisattva des Mitgefühls ist schon immer ein wirklicher Buddha, ein Wesen
des Erwachens. Aber sein Erwachen hat seinen Ursprung im großen Mitgefühl. Denn er ist auch
Kannon, derjenige der die Schreie der Wesen hört, die leiden, und für sie großes Mitgefühl empfindet.
Er hat das Mittel gesucht, um ihnen zu helfen, sich aus ihrem Leid zu befreien, und hat sich
deshalb auf dem Weg engagiert, Zazen praktiziert und ist erwacht. Ausgehend von diesem Erwachen
hat er alle möglichen geeigneten Mittel entwickelt, die durch die vielen Arme und Hände
symbolisiert werden. Sie sind alle Upaya, geeignete Mittel, um anderen Wesen zu helfen.
Wenn ich auf diese Weise von Kannon und Kanjizai spreche, möchte ich in Wirklichkeit über jeden
von uns sprechen. Denn es ist die Praxis dieses Bodhisattvas des großen Mitgefühls, die unsere
eigene Praxis inspirieren sollte, denn er harmonisiert in sich Weisheit und Mitgefühl, ein aktives
Mitgefühl, das allen Handlungen unseren Lebens einen Sinn gibt, wenn wir dem gleichen Weg
folgen wie Kannon. – In Wirklichkeit haben wir diesen Weg bereits gewählt, indem wir Zazen praktizieren
und nach jedem Zazen das Shiguseiganmon rezitieren. Auf diesem Weg der Bodhisattvas
gibt es keine Trennung zwischen der Praxis von Zazen und dem Geist des Mitgefühls. Zazen
ermöglicht es uns, die Weisheit zu realisieren, die den anderen Wesen hilft, sich zu befreien. Zazen
befreit uns von den Hindernissen, die dem Mitgefühl im Weg stehen.

Samstag, 6.10.2012, 11 Uhr
Nachdem er aus China zurückgekehrt war, wo er bei seinem Meister Nyojo das Erwachen realisiert
hatte, sagte Meister Dogen: „Ich habe einfach nur realisiert, dass die Augen horizontal sind und die
Nase vertikal ist.“
Das ist die Rückkehr zum wirklichen Normalzustand des Menschen. Wir existieren an der Kreuzung
dieser beiden Dimensionen, der Senkrechten und der Waagerechten. In Zazen ist der Rücken
gut senkrecht, und man konzentriert sich auf diese Senkrechte, zugleich sind die Daumen horizontal,
und man konzentriert sich völlig auf diese Waagerechte der Daumen.
Die Senkrechte ist das Prinzip der Tiefe. Je mehr man sein Verständnis vertieft hat, um so mehr
realisiert man, dass Shiki, alle Phänomene, alle Formen, der eigene Körper, Ku, Leerheit, sind. Aber
Ku bezeichnet auch den weiten Himmel. Wenn wir die Leerheit unserer Täuschung realisieren, wird
unser Geist weit wie der Himmel.
Wenn die Tiefe darin besteht, die Leerheit zu realisieren, so öffnet uns diese Realisationen zur
waagerechten Dimension hin, für den weiten Geist, der alle Wesen umfasst, der die Existenz ohne
Trennungen realisiert.
Es gibt zwei Weisen, Bodaishin, den Geist des Erwachens, zu entwickeln. Im allgemeinen sagt man,
dass man damit beginnen muss, das relative Bodhicitta zu entwickeln, d.h. das Erwachen zu unserer
Wechselbeziehung mit allen Wesen, und auf diese Weise unseren Sinn der Solidarität und des
Mitgefühls zu entwickeln.
Die Wechselbeziehung unserer eigenen Existenz mit der Existenz aller Wesen, bedeutet, dass unsere
Existenz keine eigene Substanz hat, dass man nicht und niemals aus sich selbst heraus existiert.
Unsere Existenz ist Ku, leer von Eigensubstanz.
Wenn diese Leerheit realisiert wird, kann man beide Dimensionen umfassen, die senkrechte
Dimension, die Himmel und Erde verbindet, die Phänomene und die Leerheit, und die waagerechte
Dimension, die einen selbst und die anderen verbindet. Die senkrechte Dimension ist mehr auf der
Seite der Weisheit, des Erwachens zur wirklichen Natur der Existenz. Die waagerechte Dimension
ist mehr die Dimension des Mitgefühls, der Ausdruck des Erwachens in den Handlungen des
Alltags, indem wir unseren eigenen Körper und all unsere Hände wie Avalokiteshvara benutzen, wie
Kannon.
Wenn wir die Leerheit unserer Anhaftungen realisieren, sind wir von den Ursachen unseres Leidens
befreit. Vor allen Dingen werden wir aufnahmefähig und verfügbar für die anderen. Wenn der Geist
auf nichts verweilt, weil er auf nichts stehen bleibt, kann man viel leichter Empathie entwickeln,
d.h. sich an die Stelle des anderen versetzen, z.B. sich selbst, der man lebt, in die andere Person
versetzen, die sich im Sterbeprozess befindet, und so das angemessenste Mittel finden, um dieser
Person zu helfen. Sich aus empfundener Empathie an die Stelle des anderen versetzen, ermöglicht
es, Kontakt herzustellen.
Der Kontakt, der entsteht, wenn man den Unterschied zwischen sich selbst und den anderen aufgibt,
ist bereits eine große Hilfe. Denn die Menschen fühlen sich sehr allein, insbesondere die, die leiden.
Wenn ihnen jemand nahe sein kann, absichtslos, einfach nur aufnahmefähig für ihr Leiden, ist dies
bereits eine große Hilfe.
Sich an die Stelle eines anderen zu versetzen, bedeutet auch, der Person die Gelegenheit zu geben,
ihren richtigen Platz zu finden. den Ort, wo sie selbst loslassen kann und zur wahren Natur ihrer
Existenz finden kann. Die geeigneten Mittel der Bodhisattvas, die Upaya, bestehen nicht nur darin
Leidende zu trösten, sondern auch darin, sich zu bemühen, sie von ihrem Leiden bis zum Erwachen
zu begleiten.
Das hat Buddha Shakyamuni während der 45 Jahre seines Lehrens getan. Seine Art, Sterbende zu
begleiten, war es, die drei Siegel des Dharmas ins Gedächtnis zu rufen und die letzen Augenblicke
des Lebens zu nutzen, um sie noch realisieren zu können und so das Nirvana inmitten des Samsara
kennen zu lernen. Das ist der tiefe Sinn unserer Praxis an dem Punkt, wo sich die senkrechte und
waagerechte Dimension unserer Existenz begegnen, wo Leerheiten und Phänomene nicht mehr als
zwei getrennte Aspekte gesehen, sondern gleichzeitig vollständig gelebt werden. Dann funktionieren
Weisheit und Mitgefühl gemeinsam, als die zwei Aspekte erwachten Lebens, die in Wirklichkeit
nicht trennbar sind.

Samstag, 6.10.2012, 16.30
Mondo
Als ich 2001 zum ersten Mal auf der Gendronnière war, war ich geschockt, weil sehr viele Leute
tranken, rauchten, in der Bar feierten. Dann habe ich verstanden – oder es für mich so interpretiert
–, dass Zazen das Wichtigste ist, dass es da sehr diszipliniert zugeht und ich meine ganze Energie
dahinein lege, dass die Feier aber gut ist, um den Kopf frei zu bekommen und nicht sehr eng zu
werden. Nun haben mir gestern Leute erzählt, dass es inzwischen die Tendenz gibt, keine Feier
mehr zu machen. Ich würde gerne wissen, wie du dazu stehst.
Ich war immer dafür, eine Fete zu machen. Wir haben die Sketche weggelassen, aber die Fete gibt’s
nach wie vor. Wir bemühen uns jedoch, sie viel stärker zu kontrollieren. Das heißt, wir achten
darauf, dass die Fete sich nicht so lange ausdehnt, dass sie viele Leute stört und dass die Leute am
Tag nach der Fete und sogar am ersten Sesshin-Tag noch müde sind. Das habe ich in meinen
Sesshins eigentlich immer schon so gemacht.. Ich glaube, alle Godos stimmen mit mir überein, dass
wir die Musik morgens um 2 Uhr abschalten, und dass wir die Bar um 2:30 Uhr zumachen. Aber es
gibt immer noch Musik, und man kann immer noch tanzen. Man kann etwas trinken, mit Freunden
zusammen sein. Die Fete gibt’s nach wie vor.
Wenn jemand nach ein paar Jahren der Praxis ein gewisses Verständnis des Dharma erlangt hat,
das es ihm ermöglicht hat, sich mit dem Dasein besser zu harmonisieren, und er dadurch ein
glücklicheres Leben führt, freue ich mich für ihn. Aber wenn er vor lauter Zufriedenheit in seiner
Praxis stagniert und sie vernachlässigt, frage ich mich, wie ich sie stimulieren kann.
Das hängt davon ab, ob die Person als Bodhisattva, Mönch oder Nonne ordiniert wurde. Wenn das
der Fall ist, dann muss man ihr die Bodhisattva-Gelübde in Erinnerung bringen. Man praktiziert
Zazen nicht, um in einen persönlich zufrieden stellenden Zustand zu kommen. Wenn man wirklich
tief Zazen praktiziert, kann man sich nicht damit zufrieden geben, ein Leben zu führen, das keine
Probleme hat. Denn wie ich schon seit Beginn des Sesshins sage, fühlt man sich viel solidarischer
mit den anderen und hat mehr Mitgefühl mit ihrem Leiden. Also möchte man natürlich dazu
beitragen, dieses Leiden zu erleichtern. Dafür muss man mit den anderen zusammen weiter
praktizieren und seine Praxis vertiefen, so wie es den vier Gelübden der Bodhisattvas entspricht. In
der Vertiefung der Praxis geht es nicht darum, sich selbst zu perfektionieren oder selbst ein
angenehmeres Leben zu führen, sondern in die Richtung zu gehen, ein vollkommener Buddha zu
werden, d.h. ein Buddha, der in der Lage ist, allen Wesen zu helfen.
Das ist keine moralische Verpflichtung. Man macht das nicht, weil man dem Willen Gottes oder
Buddhas gehorcht, sondern es ist die natürliche Entwicklung der Praxis. Das Gelübde des Mit-
gefühls ist nicht so wie im Christentum, wo Jesus gesagt hat: „Liebe deinen Nächsten wie dich
selbst.“ Buddha hat nie gesagt: „Ihr müsst lieben.“, „Ihr müsst Mitgefühl haben.“. Er hat einen Weg
unterwiesen, der auf natürliche Weise Mitgefühl und Wohlwollen erzeugt. Er hat die Praxis des Mitgefühls
und die Gebote unterwiesen. Aber die Menschen, die dem Buddhaweg folgen, praktizieren
sie nicht, um dem Gesetz Buddhas zu gehorchen. Denn das, was man im Buddhismus ‚das Gesetz‘
nennt, das Dharma, ist die Grundlage unserer eigenen Existenz, die Grundlage jeder Existenz.
Es ist also eine ganz natürliche Entwicklung, wenn man damit fortfährt, die Praxis zu vertiefen, zu
wünschen ein Bodhisattva zu werden, der über mehr Fähigkeiten verfügt, den anderen zu helfen.
Man kann nicht nur nicht mehr mit der Praxis aufhören, sondern man wünscht auch, sie mit den
anderen und für die anderen zu vertiefen. Nicht als Verpflichtung aus religiösen oder moralischen
Gründen, sondern einfach als eine natürliche Entwicklung des eigenen spirituellen Lebens.
Wenn die Leute in ihrer Praxis stehen bleiben, und sich mit einem gewissen Wohlbefinden zufrieden
geben, das die Praxis ihnen gegeben hat – sie haben weniger Stress, sie haben mehr Weisheit,
also geht es ihnen in ihrem Leben besser – bedeutet das, dass da etwas ist, das nicht realisiert
worden ist. Sie machen Zazen mit noch zuviel persönlichem Bewusstsein, mit zuviel Ego.
Aber sie werden früher oder später ein Problem haben. Denn alles ist unbeständig. Selbst das Wohlbefinden,
das man erlangt hat, dauert nicht ewig. Eines Tages wird etwas passieren – und sei es auch
nur aufgrund dieses Rests von schlechtem, egoistischem Karma. Wenn diese Menschen eines Tages
eine schwere Krise haben, Arbeitslosigkeit, Trennung, eine schwere Krankheit, schwindet ihr Wohlbefinden.
Dann gibt es nichts mehr, das ihnen wirklich helfen kann, denn sie haben sich ja nur an
das Wohlbefinden geklammert. Sie denken: ‚Das Leben ist uninteressant. Es ist nicht mehr lebenswert.’
Sie verlieren die Hoffnung und wollen sich umbringen. Es ist also besser, nicht in diese
Situation zu kommen.
Also muss man Bodaishin stimulieren. Bodaishin zu erwecken ist eine der wichtigen Aufgaben der
Unterweisenden des Zen.
In der Rezitation tauchen, bevor wir den Namen Buddha Shakyamunis erwähnen, sechs andere
Buddhas auf. Ich gehe davon aus, dass das Buddhas der Vergangenheit sind, also Buddhas vor
Shakyamuni. Ihre Bedeutung würde mich interessieren.
Buddha selbst hat gesagt, dass er einer unter unzähligen Buddhas ist. Er hat nie gesagt: „Ich bin der
einzige Buddha.“ Er hat gesagt, dass er selbst unter dem Buddha Dipankara den Weg praktiziert.
Im Buddhismus gibt es die Vorstellung, dass es keinen Ursprung der Welt gibt, dass es immer
Zyklen gegeben hat, dass die Welt eine Entwicklung durchläuft: Sie wird geboren, stirbt und eine
neue Welt entsteht. In jede Welt kommt eines Tages ein Buddha. Das ist eine sehr weite Sicht des
Kosmos. In diesen unzähligen Systemen – heute spricht man von Galaxien und planetaren Systemen
– gibt es mit Sicherheit Buddhas. Denn Buddha zu werden ist eine natürliche Entwicklung des
Lebens. Es ist der Höhepunkt einer Entwicklung. Also gibt es notwendigerweise auch jetzt Buddhas
in anderen planetaren Systemen. – Es ist wichtig, diese weite Vision eines kosmischen Systems zu
haben, die unbegrenzt ist.
Ich möchte um eine Präzisierung bitten, weil ich wirklich Angst davor habe, einen Irrtum zu
begehen. Als ich jung war, haben wir in meiner Familie sehr zu Gott gebetet. Es war eine
christliche Familie, und das war eine Unterstützung in schwierigen Situationen. Es waren
Bittgebete, Dankgebete, Gebete für andere. Da ich nicht mehr so sicher bin, dass ein Gott existiert,
und die Sicherheit auch nie haben werde, habe ich diese Art von Gebet beendet. Auf der
Gendronnière habe ich gehört, dass du gesagt hast: Man betet zu Buddha. Was hast du damit sagen
wollen?
Man kann z.B. zu Buddha in der Form von Kannon beten. Kannon ist eine Emanation Buddhas, ein
Aspekt von Buddha, der Buddha des Mitgefühls. Man kann zu Kannon beten oder sie um etwas
bitten, für einen selbst und für andere. Wenn man Kito macht, geht es eigentlich darum. Die Kraft
von Prajna Paramita und von Kannon werden angerufen, um zu helfen. Kitos sind Gebete.
Ist es nicht vielleicht ein Fehler, eine Hilfe von außen zu suchen, wo es doch eigentlich darum
gehen könnte, selbst in dem Leiden klarer zu sehen?
Ja, das stimmt. Im Zen neigt man dazu, mehr nach der Kraft der eigenen Praxis zu suchen. Die
Unterweisung des Zen soll unabhängig von der Kraft von jemand anderem machen. Aber unsere
Kraft – selbst wenn wir über viel Weisheit verfügen – ist begrenzt. Es gibt Probleme, deren Lösung
jenseits unseres Einflussbereiches, jenseits unserer Macht, liegt. Da können wir beten.
Dieses Gebet ist Ausdruck von Bescheidenheit, Ausdruck dessen, dass wir uns bewusst sind, nicht
allmächtig zu sein. Es gibt Situationen, wo man weiß, dass die eigene Kraft nicht genügt, und dann
ist es gut zu beten.
Ich erinnere mich, von einer Untersuchung an einer medizinischen Fakultät in den USA gelesen zu
haben, in der es darum ging festzustellen, ob im Gebet eine heilende Kraft liegt. Sie haben zwei
Gruppen von tausend Leuten untersucht, die unter den gleichen Krankheiten litten. Für die eine
Gruppe hat man ein Jahr lang gebetet, während sie krank waren, ohne dass die Leute wussten, dass
man für sie betet. Für die zweite Gruppe hat man nicht gebetet. Ein Jahr lang hat man die Krankheitsverläufe
verfolgt. Am Ende des Jahres bestand eine signifikante Differenz bezüglich der
Gruppe, für die man gebetet hatte. Daraus wurde geschlossen, dass das Gebet wirklich eine heilende
Wirkung hat.
Die Kito-Zeremonien, die wir machen, haben auch oft diese Auswirkung. Selbst wenn sie die Personen
nicht völlig heilen, so geben sie ihnen doch Energie und unterstützen sie. Das funktioniert
selbst dann, wenn man einer Person nichts von der Zeremonie sagt
Also glaube ich, dass es gut ist zu beten. Und natürlich ist es besser, für die anderen zu beten als für
sich selbst. Aber man sollte es auch für sich selbst tun, warum nicht.
Du solltest also lernen, das Kannon-Gyo zu rezitieren, oder einfach das Mantra Nenpi kannon riki
rezitieren.
In der katholischen Religion spricht man vom Bösen. Es gibt auch Engel. Auch Engel des Bösen. Im
Buddhismus habe ich von Mara sprechen gehört. Ich weiß nicht genau, was das bedeutet. In der
Welt gibt es negative Ereignisse. Die Buddhisten sagen: „Das liegt an den Täuschungen.“ Aber
manchmal ist das, was geschieht, derart schlecht, tut den Menschen derart weh, dass es so etwas zu
geben scheint wie einen bösen Geist, der eingreift, der sich der Leute bemächtigt. Was denkst du
diesbezüglich? Gibt es diese bösen Geister? Repräsentiert Mara das?
Ich glaube nicht so sehr an Geister. Auf der anderen Seite sage ich nicht, dass es sie nicht gibt. Das
sind Dinge, die außerhalb unserer Wissens-Möglichkeiten liegen. Wir können auch nicht sagen, ob
Gott existiert oder nicht. Das gleiche gilt für die Dämonen.
Ich ziehe vor zu denken, dass es die menschlichen Täuschungen sind. Denn wenn es sich um
menschliche Täuschungen handelt, gibt es Mittel sie zu lösen. Aber Dämonen zu bekämpfen ist
schwierig. Die Dämonen zählen zu der Welt der nicht sichtbaren Götter. Wie will man einen
unsichtbaren Dämonen bekämpfen? Aber darum, seine eigenen Täuschungen zu bekämpfen, geht es
in allen Unterweisungen Buddhas.
In der buddhistischen Kosmologie gibt es die Götterwelt. Mara ist einer dieser Götter, ein Geist, der
nicht ewig ist, der unsichtbar ist, der aber in der Welt handelt. Er ist der Prinz der Welt der
Wünsche. Seine Aufgabe besteht darin, die Menschen in der Welt der Wünsche zu halten. Er ist ein
großer Freund Buddhas. Denn wenn es Mara nicht gäbe, gäbe es auch keinen Buddha. Aufgrund
der Täuschungen der Menschen verspüren die Menschen die Notwendigkeit, den Weg zu
praktizieren. – ‚Freund’ ist vielleicht nicht der richtige Begriff. Auf jeden Fall haben sie eine
Beziehung.
Shakyamuni ist, als er das Erwachen erlangt hat, er der Kraft Maras entkommen. Mara hat Angst
gehabt und sich gesagt: „Dieser Buddha wird mir die Macht über die Welt der Täuschungen
nehmen.“ Also hat er versucht, Shakyamuni davon zu überzeugen, das Dharma nicht zu lehren. Er
sagte: „Niemand wird es verstehen oder realisieren.“ Und er hat er sein Gefolge von schönen
Frauen geschickt, um Buddha zu versuchen, in der Hoffnung, dass Buddha es vorziehen würde,
einen Harem zu haben. Aber Buddha hat alle Versuchungen und Einflüsse Maras besiegt. Es
dauerte ein paar Tage, bis er diese schlechten Einflüsse besiegte und sich entschied zu unterweisen.
Das lässt mich an Jesus in der Wüste denken. Er hat dort doch auch eine Versuchung gehabt.
Jeder hat seine eigenen Dämonen. Für manche Leute ist es vielleicht einfacher, schlechte Tendenzen
zu bekämpfen, wenn sie sich vorstellen, dass es sich um Dämonen handelt. Dann kann man zumindest
einen Gegner identifizieren. Es als außerhalb von sich selbst zu sehen, ermöglicht einen Dialog,
wie Buddha, der statt seine eigenen Zweifel zu bekämpfen, den Einfluss von Mara bekämpft
hat.
Das ist auch eine therapeutische Technik. In der Psychotherapie kann man auch den Leuten Mut
machen, sich ihre Schwierigkeit als eine Person vorzustellen, um dann in der Lage zu sein, mit
dieser Person in Dialog zu treten.
Ich glaube, dass Engel und Dämonen eine Personifizierung innerer Neigungen auf der religiösen
Ebene sind. Aber für manche Leute ist es vielleicht besser, diese Tendenzen außerhalb von sich
selbst anzusiedeln, und dann damit umzugehen. Das hängt von der Psyche des Einzelnen ab.
Der volkstümliche Buddhismus hat viel mehr Platz für Götter, Dämonen, auch für das Gebet als das
Zen. In der Tradition des Zen von Dogen gibt es kein Kito, kein Gebet, nur Shikantaza. Dogen war
sehr puristisch. Keizan hat diesen Glauben wieder eingeführt. Um der Bevölkerung helfen zu
können trennt sich das Zen nicht von diesen Glaubensvorstellungen, sondern benutzt sie.
Du hast du von der Möglichkeit gesprochen, in Zukunft einen Tempel zu errichten. Dogen sprach
davon, sich auf Shikantaza zu konzentrieren. Muss man als Mönch die gesellschaftliche Aktivität
fallenlassen?
Im Leben von Dogen gab es mindestens zwei Perioden: Vor der Gründung von Eihei-ji war Dogen
für einen Zen-Buddhismus wie den unseren. Er machte keinen großen Unterschied zwischen Mönchen
und Laien. Er sagte, dass alle Shikantaza praktizieren können, dass alle das Erwachen erlangen
können, dass selbst Könige, Minister, Herrscher den Weg realisieren können, dass sie nicht notwendigerweise
Mönche sein müssen.
1247 wurde er vom Shogun nach Kamakura eingeladen. Er hat dort ein Jahr lang gelebt und hatte
die Hoffnung, die Gesellschaft ausgehend von der Praxis des Zazen verändern zu können.
Anschließend war er entmutigt, ist nach Eihei-ji zurückgekehrt und hat sich darauf konzentriert,
einige Schüler zu unterweisen. Aber das war auch gegen Ende seines Lebens.
Für ihn war die Konzentration auf die Erziehung von etwa dreißig Schülern keine Alternative dazu,
sich auf die Welt zu konzentrieren. Er wollte Schüler formen, die Bodhisattvas waren und durch ihr
Beispiel die Welt beeinflussen konnten. Dogen hat sich nie dagegen ausgesprochen, dass das Zen
auf die Welt Einfluss nimmt. Er hat sich aber gesagt, dass dies durch seine Schüler geschehen muss
und dass es seine Aufgabe ist, seine Schüler auszubilden. Zwei Generationen später ist das dann mit
Keizan passiert. Keizan hatte großen Einfluss auf die Gesellschaft.
Meister Deshimaru war ähnlich. Meister Deshimaru wollte Schüler formen, die in der Lage sind,
einen Einfluss auf die Welt zu haben. Zen ist kein kontemplativer Weg. Es ist ein Weg der Aktion.
Alle Unterweisungen Buddhas drehen sich ums Handeln. Es gibt keine Trennung zwischen Zazen,
Shikantaza und Handeln. Das gehört zusammen.
Wenn wir die Welt aufgeben, verraten wir unsere Berufung als Bodhisattvas. Wenn man von Shukke
spricht, davon, die Welt aufzugeben, dann geht es darum, die Anhaftung an die Welt aufzugeben,
den Wunsch nach Ehren, gesellschaftlichem Erfolg, Geld und ähnlichem. Es geht nicht darum, sich
der leidenden Welt zu verweigern, sondern man muss gegen die Leiden der Welt helfen.
Aber weil das eine schwierige und ermüdende Aufgabe ist, haben diejenigen, die auf diesem Weg
sind, das Bedürfnis, regelmäßig zur Quelle zurück zu kehren. Dafür gibt es die Möglichkeit, regelmäßig
in einem Dojo zu praktizieren, es gibt die Sesshins, und es sollte auch die Möglichkeit geben,
Angos machen zu können, die Möglichkeit, sich ein, zwei, drei Monate sich oder ein Jahr zurückziehen
zu können. Aber dabei geht es nicht darum, sich der Kontemplation hinzugeben, sondern die
Energie des Mitgefühls, die Kraft, die Weisheit wiederzufinden, um wieder in die Welt eintreten und
helfen zu können.
Ich bin sehr davon überzeugt, zwischen beidem hin und her zu wechseln. Heute ist dies in der
Gendronnière aufgrund der Sesshins und der Sommerlager möglich. Die Frage ist: Bedarf es
darüber hinaus eines Tempels, der von mir gegründet wird?
Mir bereitet es immer Unbehagen, wenn man von Dogen schnell aufs Heute schließt. Zu Dogens
Zeiten hat man ganz anders mit und in der Natur gelebt. Ich glaube, das wirkte sich auf den Körper
und auf den Geist aus. Heute sind die Leute sehr gestresst. Wir haben eine ganz andere Gesellschaft.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage ‚Tempelleben oder nicht?’ eine andere. Ich glaube,
das Tempelleben ist etwas für eine auserlesene Schar von Schülern. Deswegen möchte ich dir raten,
dir das gut zu überlegen. Du hast eine große Sangha. Am Ende bist du mit einer kleinen Gruppe in
einem Tempel, und …
Ich möchte in Kontakt mit der großen Sangha bleiben. Aber ich möchte eine Gruppe von Schülern
entwickeln, die in der Lage sind, der Welt stärker zu helfen, und die mich auch ersetzen können,
denn ich kann nicht immer Sesshins machen. In ein paar Jahren wird das nicht mehr möglich sein.
Ich denke in die weite Zukunft hinein: in zwanzig, dreißig Jahren. Ich überlege: Was ist die beste
Methode. Aber ich möchte es mit euch überlegen. Es geht nicht nur um mich. Es ist eine Frage, die
die ganze Sangha betrifft. Also sind alle Auffassungen interessant.
Denkt gut darüber nach. – Das Problem derartiger Überlegungen ist, dass jeder aufgrund seiner
persönlichen Vorlieben reagieren wird. Ich frage nicht: Was zieht ihr persönlich vor? Ich frage: Was
ist das Bessere für die Sangha und für die Welt? – Die meisten Leute wollen ihre Ruhe haben,
wollen keine Störung. Ein Tempel bedeutet Arbeit, Samu, vielleicht muss man Geld geben. Vieles
kann passieren. Wenn man nichts macht, bleibt alles ruhig.
Man sollte nicht nur von seiner eigenen Sichtweise aus überlegen, sondern überlegen: Was ist das
Interesse der Sangha? Was ist die Zukunft des Zen? Was ist für die Gesellschaft wichtig?
Also: Denkt gut nach!

Sonntag, 7.10.2012, 7 Uhr
Was machen wir, wenn wir Zazen machen? Natürlich kann man darauf antworten: Wir konzentrieren
uns auf die Haltung des Rückens, darauf, dass er gut senkrecht ist. Wir drücken mit der
Schädeldecke in den Himmel, mit den Knien in den Boden. Wir sind aufmerksam auf die Atmung,
und lassen die Gedanken vorüberziehen.
Selbst diese einfachen Erklärungen drücken nicht die Ganzheit von Zazen aus. Nichts ersetzt die
Erfahrung, Zazen zu machen. Diese Erfahrung lässt sich in keiner Definition fassen. Wenn man
wirklich Zazen macht, lässt man sich von der Konzentration auf die Haltung absorbieren. Unser
dualistischer Geist, der Geist, der Unterscheidungen trifft, ist aufgegeben. Wir werden nicht mehr
von seiner Funktionsweise dominiert. In Zazen ergreift der Geist nichts mehr. So harmonisiert man
sich unbewusst und natürlich mit dem nichtfassbaren Charakter von Allem. Man macht, ohne zu
machen. Man handelt, ohne zu handeln, d.h. ohne Gegenstand, ohne sein persönliches Bewusstsein
zu benutzen. Letztlich lässt man Zazen machen.
Was ist Leben? Man kann verschiedene Prozesse beschreiben, die charakterisieren, was Leben ist.
Aber letztlich lässt sich das Leben nicht in einer Definition fassen. In Wirklichkeit leben wir nicht
aus uns selbst heraus. Wir werden von der kosmischen Ordnung gelebt. Zazen bringt uns damit in
Einklang. Wenn das Bewusstsein im Hishiryo-Modus funktioniert, wenn man denkt, ohne zu denken,
ohne sich an Gedanken zu klammern, ohne sich mit Gedanken zu identifizieren, wird unser
Denken wird weit. Man ist sogar manchmal von Gedanken überrascht, die auftauchen, die man
nicht willentlich gedacht hat.
Auf die gleiche Weise kann man fragen: Was macht der Bodhisattva Kannon mit seinen vielen
Armen und Händen? Natürlich kann man antworten, dass er allen Wesen hilft. Aber was hilft wirklich?
Das kann man nicht erfassen. Es ist wie in der Nacht nach seinem Kopfkissen zu tasten. Es ist
handeln, ohne zu handeln, ohne sich an den Gegenstand der Handlung zu klammern, ohne bewusst
daran zu denken. Es ist wie Zazen machen. Es ist etwas, was jenseits von einem selbst geschieht. Es
ist, als würde die kosmische Ordnung durch uns hindurch handeln, durch die Arme von Kannon
hindurch.
Aber selbst diese Antwort, die die Antwort von Ungan war, drückt nicht die Ganzheit der Wahrheit
aus, nur ungefähr achtzig Prozent. Das heißt, dass etwas Nicht-Ausgedrücktes, etwas Nicht-
Erklärtes bleibt. Dann kann man natürlich sagen, dass diese Antwort ungenügend ist, dass man die
Wahrheit zu hundert Prozent ausdrücken muss. Aber in Wirklichkeit sind achtzig Prozent bereits
viel. Selbst Buddha hat nicht hundert Prozent zum Ausdruck gebracht. Am Ende nahm er einfach
eine Blume und drehte sie schweigend zwischen seinen Fingern. Das war seine tiefste Weise, das
Dharma auszudrücken.
Im Schweigen Buddhas scheint etwas Unausgedrücktes zu liegen. Aber es ist nicht so wichtig, alles
zu sagen. Denn man würde nie aufhören, alles sagen zu wollen, da das Dharma unbegrenzt ist. Die
Wirklichkeit ist letztlich nicht fassbar. Unmöglich, sie in Definitionen und Worte einzufassen. Sie
ist wie Kannon.
Man hat Kannon auf verschiedene Weise dargestellt: mal als Mann, mal als Frau. Kannon mit vier
Armen, mit sechs Armen, mit zehn Armen, tausend Armen. Man muss sich weigern, sich eine
Vorstellungen von Kannon zu machen, und selbst Kannon werden. Aus uns selbst heraus können
wir den anderen nicht so sehr helfen. Unser Ego, unser persönliches Bewusstsein ist begrenzt. Es
funktioniert immer in der Getrenntheit. Aber wenn man sich der Praxis von Zazen hingibt, wenn
man diese Praxis mit anderen teilt, dann trägt diese Praxis uns alle über uns selbst hinaus, über alle
Trennungen hinaus, und bringt uns mit der Buddha-Natur in Einklang, der Natur, der Existenz ohne
Trennungen. Diese Natur hilft, wenn sie realisiert wird, jeder Person am meisten. Letztlich wird
durch unsere eigene Buddha-Natur geholfen.
Das Dharma weiterzugeben besteht darin, das Vertrauen in die Buddha-Natur jedes einzelnen
weiterzugeben und vor allem die Weise weiterzugeben, wie man sich mit dieser Buddha-Natur
harmonisiert, wie man sie entdeckt, wie man sich von ihr im Handeln leiten lässt, wie Kannon, die
unbewusst ihr Kopfkissen in der Nacht sucht, in der Nacht des Geistes, in der Nacht des bewussten,
des willentlichen Denkens. Dann macht bricht Licht inmitten der Dunkelheit hervor. Das ist der
Sinn unserer Praxis.
Aber wir begrenzen unsere Praxis nicht auf diesen Sinn. Sie ist jenseits jeden Ausdrucks. Wenn man
praktiziert, kann man das wirklich spüren, und die Funktionsweise des Geistes aufgeben, der immer
ergreifen und begrenzen möchte. Das nennt man Hishiryo, die Essenz des Zen, das Denken jenseits
allen Denkens, das uns über das Darüberhinaus dieser begrenzten Welt hinausträgt. Es ist Kannon,
die uns diesen Weg zeigt.

Sonntag, 7.10.2012, 10.30 Uhr
Das Sesshin ist bald vorüber. Aber das Sesshin ist nicht auf die Zeit des Sesshins begrenzt. Ein
Sesshin praktizieren bedeutet, mit dem wirklichen Geist vertraut zu werden und mit dem wirklichen
Körper, die unbegrenzt sind. Sie sind weder durch unsere Hauthülle begrenzt, noch durch das
Denken unseres persönlichen Bewusstseins. Einfach weil unser Körper und unser Geist in Einheit
mit dem ganzen Universum sind. Also sind sie nicht begrenzt.
Während dieses Sesshins habe ich viel über den Dialog zwischen Ungan und Dogo bezüglich der
Manifestation der unbegrenzten Aspekte von Kannon gesprochen. Kannon ist nicht begrenzt auf die
Darstellung des Bodhisattvas Avalokiteshvara. Alle Wesen in der Buddha-Natur manifestieren die
unbegrenzten Aspekte von Kannon. In dem einen oder anderen Augenblick wird jeder Kannon.
Unsere Praxis vertiefen, auf dem Weg des Bodhisattvas gehen, erlaubt es zu lernen, sich besser
seiner Hände und Augen zu bedienen, um allen Wesen zu helfen, die leiden.
Alle Wesen bedeutet: ohne Unterscheidung. Wir neigen dazu, denen gerne helfen zu wollen, die uns
nahe stehen, den Wesen, die wir mögen. Es ist schon schwieriger, denen zu helfen, die uns
gleichgültig sind. Was die anbetrifft, die uns feindlich zu sein scheinen, neigt man dazu, ihnen eher
Unglück zu wünschen. Auf jeden Fall fällt es schwer, Mitgefühl für sie zu haben und ihnen helfen
zu wollen. Aber der wirkliche Sinn des Mitgefühls ist es, dass es auf unbegrenzte Weise wirkt,
jenseits unserer Vorlieben und Abneigungen. Dann wird es zu einer wirklichen Praxis der
Befreiung. Das vertieft sich mit der Vertiefung unserer eigenen Befreiung.
Oft fragen sich die Menschen, wie sie ihren Fortschritt auf dem Weg messen können, welches
Kriterium da gültig ist. Worte, Gedanken und Handlungen des Mitgefühls sind gute Kriterien, um
unsere Entwicklung auf dem Weg zu spüren. Aber das ist kein Grund, daraus Selbstzufriedenheit zu
oder spirituellen Hochmut ziehen.
Was auch immer unser Verständnis ist, was auch immer unsere Realisation ist, man muss verstehen,
dass sie immer begrenzt sind. Sinn unserer Praxis ist es, diese Grenzen auszudehnen. Das ist der
Sinn der vier Gelübde der Bodhisattvas:
 Die Zahl der lebenden Wesen ist unbegrenzt. Dennoch gelobe ich, ihnen allen zu helfen.
 Die Zahl der Täuschungen und Anhaftungen ist unbegrenzt. Dennoch gelobe ich, sie zu
lösen.
 Die Unterweisungen Buddhas sind unbegrenzt. Dennoch gelobe ich, sie alle zu studieren.
 Der Weg Buddhas selbst ist unbegrenzt, ist vollkommen. Dennoch gelobe ich, ihn zu
verwirklichen.
Es ist das Merkmal des spirituellen Weges, uns mit dem Unbegrenzten zu verbinden, und zu akzeptieren,
dass man die meiste Zeit über nur auf der Hälfte dieses Weges ist. Aber die Hälfte zurückgelegt
zu haben, ist schon viel. Dass immer noch etwas zu vollenden bleibt, bedeutet, dass es keinen
Grund gibt, die Praxis zu beenden. Das Gyoji ist unbegrenzt. Es hört nicht einmal mit unserem Tod
auf. Deshalb widmen wir Verstorbenen Zeremonien.
Jeder Schritt auf diesem unbegrenzten Weg realisiert sich immer hier und jetzt. Die beste Weise, auf
dem Weg voranzukommen, besteht daher darin, sich jeden Tag auf jede Praxis zu konzentrieren,
und in jeder Praxis sich auf jeden Augenblick zu konzentrieren. In dieser Konzentration auf das
Hier und Jetzt, Augenblick für Augenblick, begegnet uns die Ewigkeit, d.h. die Dimension der Zeit,
die jenseits von Zuvor und Danach ist. Wenn man lernt, völlig hier und jetzt zu leben, statt unter
Zeitmangel zu leiden und gestresst zu sein, entdeckt man plötzlich, dass man viel Zeit hat. Denn
alle gegenwärtige, vergangene und zukünftige Zeit existiert völlig hier und jetzt. Sie existiert nirgends
anders als im gegenwärtigen Augenblick.
Wenn man das vertraut versteht, ändert sich unser Leben, wird viel ruhiger. Man kann Freude empfinden,
diesem Weg begegnet zu sein, dem Buddhaweg, der uns mit uns selbst und unserer wirklichen
Natur versöhnt und erlaubt, hier und jetzt Frieden und Glück zu realisieren. Aus dieser Praxis
hier und jetzt wird der Wunsch geboren, sie mit allen Wesen zu teilen.
Mit diesem Wunsch möchte ich das Sesshin beenden – dieses Sesshin, das kein Ende hat.

Veröffentlicht in Roland.