Das Koan unserer Praxis – 05.2014 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 24. Mai – 1. Juni 2014
während des Frühjahrs-Lagers in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

Samstag, 24.5.14, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen vollständig auf eure Körperhaltung. Neigt gut das Becken
nach vorne und drückt gut mit den Knien auf den Boden. Entspannt den Leib und lasst das
Körpergewicht gut auf das Zafu drücken. Streckt von der Taille aus gut die Wirbelsäule und lasst
dabei die Anspannung im Rücken und in den Schultern los. Zieht das Kinn zurück und entspannt
gut das Gesicht. Die Stirn ist entspannt, auch die Kiefer. Die Zunge liegt hinter den oberen
Schneidezähnen am Gaumenrand. – Wenn ihr euch auf die Empfindung der Zunge am Gaumen
konzentriert, hilft euch das, den inneren Dialog zu befrieden. Der Geist beruhigt sich schnell.
Man hört alle Diskussionen auf, indem man zum Körper zurückkehrt, d.h. zur Gegenwärtigkeit
hier und jetzt.
Die Augen sind halb geschlossen. Der Blick ruht einfach vor einem auf dem Boden. Wenn man
sich nicht an die Objekte des Blicks klammert, stören diese nicht die Konzentration. Man braucht
also nicht die Augen zu schließen, um konzentriert zu sein. – Das Gleiche gilt für alle
Sinnesorgane. Wenn man sich nicht an die Objekte des Gehörs, d.h. an die Klänge klammert,
braucht man sich nicht die Ohren zu verstopfen. Wenn man sich nicht an die Gedanken
klammert, die auftauchen, braucht man sich nicht zu bemühen, sie zu unterdrücken.
Das Gleiche gilt für alle geistigen Erzeugnisse: In Zazen unterdrückt man nichts. Man
unterdrückt z.B. auch seine Gefühle nicht. Man verjagt seine Gedanken nicht, man unterdrückt
sie nicht. Man begnügt sich damit, sie zu betrachten, wenn sie auftauchen, und kehrt sofort zur
Konzentration auf den Körper und zur Achtsamkeit auf die Atmung zurück.
So ziehen alle Wahrnehmungen und Gedanken schnell vorüber. Man ist völlig gegenwärtig für
die Welt, die uns umgibt, und für die innere Welt. Aber man klammert sich nicht daran. So kann
kein Phänomen die Praxis von Zazen stören. Daher kann man Zazen überall praktizieren. Man
braucht sich nicht von der Welt zu isolieren, um zu meditieren. Man muss einfach lernen, seine
Neigung loszulassen, die Gedanken und die Wahrnehmungen ergreifen, ihnen folgen und über
sie nachdenken zu wollen.
Schließlich legt man seine Aufmerksamkeit auf die Hände. Insbesondere auf den Kontakt der
waagrechten Daumen. Die Daumen dürfen weder Berg noch Tal bilden. Das hilft, einen ausgeglichenen
Geisteszustand zu haben, weder in Sanran, d.h. in geistiger Aufgeregtheit, noch in
Kontin, d.h. im Dahindämmern zu sein. Ruhig, wachsam. Völlig bewusst wissen, was geschieht
und was auftaucht, ohne sich an irgendetwas zu klammern.
Das Mudra, das die Hände während Zazen bilden, nennt man Hokkai join. Hokai bedeutet
‚Ozean des Dharmas’, join ‚Siegel des Samadhi’. Im Samadhi von Zazen, in der großen
Konzentration, ist man in Einheit mit dem Ozean des Dharmas, d.h. in Einheit mit allen
Existenzen. Vor allem aber in Einheit mit der kosmischen Ordnung. Dann ist die Anhaftung an
das Ego auf natürliche Weise aufgegeben, und Zazen selbst wird Erwachen und Verwirklichung.
Erwachen zur Wirklichkeit unserer Existenz, zur Tiefenexistenz, ist Verwirklichung, das heißt,
Harmonie mit dieser Wirklichkeit. Indem man einen Geist verwirklicht, der auf nichts stehen
bleibt, der sich auf natürliche Weise mit der Unbeständigkeit und der wechselseitigen Abhängigkeit
aller Phänomene harmonisiert. Das sind die zwei wesentlichen Punkte des Dharmas
Buddhas.
Wenn diese Harmonie nicht besteht, gibt es Leiden. Wenn diese Harmonie sich einstellt, handelt
es sich um den Frieden des Nirvanas, um die Rückkehr zu unserem wirklichen, normalen und
ursprünglichen Zustand. Diese Rückkehr ist der Sinn des Sesshins. – Aber dies nicht nur während
Zazen, sondern während aller Aspekte des Tages.

24.5.2014, 16.30 Uhr
Verliert nicht die kostbare Zeit von Zazen, indem ihr euren Gedanken folgt. Folgt eher eurer
Atmung. Wenn ihr einatmet, seid ein Körper und Geist, der einatmet, völlig in Einheit mit der
Einatmung. Das Gleiche für die Ausatmung.
Jedes Mal, wenn man zur Aufmerksamkeit die Atmung zurückkehrt, lässt man unbewusst und
natürlich die Gedanken los, die einen beschäftigen, insbesondere alle Gedanken, die unser
eigenes Selbst betreffen. Man lässt sie schnell vorüberziehen. Das zeigt uns, dass sie völlig
unbeständig und substanzlos sind. Wenn ich wissen möchte, wer ich bin, meinen Blick nach
innen wende und mich selbst betrachte, dann entdecke ich kein Ego, keine Substanz eines Ichs.
Nur Empfindungen, Wahrnehmungen und Gedanken, die von Augenblick zu Augenblick
auftauchen und verschwinden.
Dieses unablässige Auftauchen und Verschwinden der Phänomene nennt man Mujo,
Unbeständig- keit. Sie ist das wesentliche Charakteristikum aller Phänomene. Alles, was
erscheint, verschwindet schließlich. Deshalb sagt man, dass es Leerheit sei. Leerheit ist kein
Nichts. Es ist die Abwesenheit fester Substanz. Diese Abwesenheit bringt das sehr Positive
unserer Beziehung mit dem ganzen Universum zum Ausdruck, die Buddha-Natur.
Den Weg zu durchdringen ist nicht schwierig. Einfach DAS sehen. Das Dharma sehen, die
Wirklichkeit, so wie sie ist. Aber das ist auch nicht so einfach, denn unser Mentales ist durch all
unser vergangenes Karma, durch unsere Geschichte konditioniert: In uns gibt es alle möglichen
Erinnerungen, Emotionen, Gedanken, die unser gegenwärtiges Sein konditionieren, die
bewirken, dass man unablässig auswählt und zurückweist. Abhängigkeit von unseren
persönlichen Prä- ferenzen, die ihrerseits von unserer Konditionierung abhängt. Dann klammert
man sich an das, woran man glaubt, dass es für unser Ego günstig sei, an Dinge, die uns an
vergangene positive Erlebnisse erinnern. Und man lehnt das ab, was unser Ego stört, das, was
uns an vergangene schlechte Dinge erinnert. Oft ist man sogar von seiner ganz frühen Kindheit
konditioniert und reagiert überhaupt nicht auf die gegenwärtige Situation bezogen, ist
konditioniert durch die Vergangenheit. So sieht man die Wirklichkeit nicht in ihrem ganzen
Umfang. Man sieht nur das, was man sehen möchte, und verbringt seine Zeit damit, auszuwählen
und zurückzuweisen. Anders gesagt, man ist nie wirklich frei.
In Zazen kann man sich dessen bewusst werden und lernen, nicht mehr auszuwählen, sondern in
jedem Augenblick alles zu empfangen, was sich zeigt. Ohne Gier, ohne Hass, ohne Auswahl,
ohne Zurückweisung. Das ist zum einen eine Weise zu praktizieren, der Weg als eine Weise zu
gehen. Zugleich ist es der Weg als Verwirklichung. Denn wenn man so praktiziert, harmonisiert
man sich mit der kosmischen Ordnung, in der die Pole unserer Dualitäten gemeinsam existieren,
so wie Tag und Nacht, hoch und tief, Geburt und Tod. Nichts von dem existiert getrennt, alles
existiert gemeinsam in völliger Wechselbeziehung.
Der Geist von Zazen, Hishiryo, der sich an keinen besonderen Gedanken klammert, umfasst alle
Phänomene mit einem Blick, erwacht so zur Wirklichkeit, befreit sich von allen alten Konditionierungen
und beginnt im Einklang mit dem Dharma zu funktionieren. Während das Zurückweisen
der Wirklichkeit zum Leiden führt, ist diese Seinsweise, diese Funktionsweise, die glücklichste
Lebensweise, befreit von den Begrenzungen unseres kleinen Egos.
Wenn man Zazen praktiziert, kann man sich davon überzeugen. Nur durch die Wiederholung der
Praxis wird das wirklich unsere Sichtweise, nicht nur eine vorübergehende Intuition, sondern
eine Seinsweise, eine Lebensweise. Wenn man viel Zazen praktiziert wie während eines
Sesshins, ist dies eine Gelegenheit, auf dem Weg voranzuschreiten und sich immer mehr mit ihm
zu harmonisieren.

25.5.2014, 7 Uhr
Begnügt euch während Zazen damit, einfach zu sitzen, eins mit der Haltung des Körpers. Drückt
den Himmel mit der Schädeldecke und die Erde mit den Knien. Und lasst gut alle Spannungen in
den Rücken und in den Schultern los. Entspannt den Bauch, und atmet ruhig durch die Nase ein
und aus. Folgt eher eure Atmung als euren Gedanken.
Wenn wir hier sind, dann weil wir uns entschieden haben, dieses Sesshin zu machen. Unser Ego
hat sich entschieden, dem Weg zu folgen. Das ist der gute Aspekt des Geistes der
Unterscheidung: das auszuwählen, was richtig ist, und das aufzugeben, was zu Leid führt.
Auswählen bedeutet zugleich zurückweisen. Das, was man mag, wählt man aus, das, was man
nicht mag, weist man zurück. Wir sind so daran gewöhnt, auf diese Weise zu funktionieren, dass
es uns schwer fällt, diese Verhaltensweise in Frage zu stellen. In Zazen gibt man diese
Funktions- weise auf. Man setzt sich und begnügt sich damit, einfach zu sitzen. Man bemüht sich
nicht, irgendetwas zu ergreifen und weist nichts ab. Man hört jede Diskussion, jeden Kampf auf
und realisiert einen willkommen heißenden Geist, einen weiten Geist.
Unser Ego hat sich entwickelt, indem es alles außerhalb von sich selbst zurückgewiesen hat, was
es nicht als sich selbst ansah. So wurde unser Geist begrenzt, und man fühlt sich
notwendigerweise eingeschränkt.
Unser Ego ist wie ein Topf mit Wasser verglichen mit dem weiten Ozean. Weil es so klein ist, ist
es sehr schnell aufgewühlt. Wenn man einen Stein in einen Topf mit Wasser wirft, ist das Wasser
sofort bewegt. Wenn man den gleichen Stein ins Meer wirft, wird das Meer davon nicht aufgewühlt.
All unsere Emotionen kommen daher, dass unser Geist zu eng geworden ist, dass man
nur einen Teil der Wirklichkeit akzeptiert und alles andere zurückweist. Weil man sich begrenzt
fühlt, ist man unzufrieden und sucht unablässig nach Kompensationen für dieses Gefühl des
Mangels und der Unzufriedenheit, indem man allen möglichen Gegenstände der Wünsche
schafft, denen man dann hinterherläuft, weil man fälschlicherweise glaubt, dass irgendeines
dieser Objekte letztlich unseren Wunsch befriedigen kann. Die ganze Werbung versucht, uns das
glauben zu machen. Aber die Lebenserfahrung zeigt, dass wir mit keinem Gegenstand zufrieden
sein können. Denn uns fehlt, in Einheit mit der Wirklichkeit zu sein, mit dem ganzen Universum,
sowohl mit seinen leuchtenden Seiten, als auch mit seinen Schattenseiten. Mit der Sonne und mit
den Wolken.
In Zazen gibt man den Geist des Auswählens auf und realisiert einen geschmeidigen Geist. Man
lernt, seine egozentrischen Wünsche aufzugeben. So findet der Geist seine wirkliche Freiheit
wieder, und jeder Tag wird wieder ein guter Tag, jeder Umstand ein guter Umstand, um den Weg
zu realisieren, d.h. um sich mit der Wirklichkeit zu harmonisieren, so wie sie ist, um wieder das
zu werden, was wir wirklich sind, eins mit dem Universum. Das nennt man ‚den Weg
durchdringen’, ‚den Weg verwirklichen’, ‚sich mit dem Weg harmonisieren’, ‚in Frieden sein’,
‚glücklich und frei sein’, ‚unabhängig von den Umständen sein’.

26.5.2014, 7 Uhr
Während Zazen sitzen wir einfach nur. Wir atmen ruhig durch die Nase ein und aus, sehen
Gedan- ken und Wünsche auftauchen und verschwinden. Wir lassen sie vorüberziehen, indem
wir zur Konzentration auf die Atmung zurückkehren. Verliert nicht eure Zeit damit, euren
Gedanken zu folgen. Vergeudet eure Energie nicht damit, sie zu unterdrücken.
Immer etwas ergreifen oder zurückweisen zu wollen, ist die Krankheit des Geistes, die Ursache
aller Bonnos, aller Anhaftungen, der Ursachen des Leidens. Sich dessen bewusst zu werden, ist
der Ursprung des Weges des Erwachens, des Buddhaweges.
Wie sich von der Gier auf all das, was wir mögen, und dem Hass auf alles, was uns stört und uns
leiden lässt, befreien? Gier und Hass sind Grundlage aller Bonnos, all dessen, was Karma produziert.
Die Welt von Zazen ist eine Welt ohne Karma – unter der Voraussetzung, dass man während
Zazen aufhört, irgendetwas ergreifen oder zurückweisen zu wollen. Unser Geist ist derart daran
gewöhnt, in der Dualität zu funktionieren, dass es sehr schwierig ist, sich zu ändern. Aber wenn
einem das schon nicht in Zazen gelingt, ist es im Alltag noch viel schwieriger. Denn in Zazen
kann man weder seine Wunschobjekte verfolgen, noch vor ihnen davonlaufen. Im Alltag hat man
eine gewisse Bewegungsfreiheit, also können sich die Bonnos des Geistes im Verhalten zeigen.
Wenn man während Zazen den Wunsch nach Nahrung hat, kann man nicht essen. Wenn man in
Zazen sexuelle Wünsche hat, kann man sie nicht verwirklichen. Wenn man in Zazen Wünsche
nach Macht oder Geld hat, kann man sie nicht verwirklichen. Aber im Alltag ist all das möglich.
Das ist der Grund, warum man in Klöstern Regeln aufstellt: um zu helfen, seine Bonnos zu
kontrollieren. Die Nahrung in den Klöstern ist einfach. Man isst nicht außerhalb der Mahlzeiten.
Der Alkoholkonsum ist untersagt, auch sexuelle Beziehungen. Das ist für das Ego sehr
frustrierend. Zugleich ist es auch eine Gelegenheit zu erfahren, was geschieht, wenn man nicht
mehr seine Wunschobjekte verfolgt. Es ist die Gelegenheit, eine große Freiheit des Geistes zu
entdecken, des Geistes, der all diese Kompensationen nicht mehr braucht, und so seine natürliche
Harmonie mit dem Weg wiederfinden kann, die letztlich viel befriedigender ist, als das Verfolgen
aller Wunschobjekte.
Aber wenn dieses Resultat nur durch Regeln und Verbote erreicht wird, kommen die Bonnos,
wenn diese Regeln und Verbote nicht mehr da sind, d.h. in der Welt außerhalb des Klosters oder
des Sesshins, oft noch viel stärker zurück. Wie Unkraut, das man abgeschnitten hat, ohne seine
Wurzeln zu entfernen, noch viel stärker wächst. Deshalb unterweist man im Zen, dass es nicht
reicht, nur die Äste und die Blätter abzuschneiden, sondern dass man die Wurzel ausreißen muss.
Das impliziert eine völlige Revolution des Geistes: Man muss die Wirklichkeit tief akzeptieren,
die Leerheit aller Gegenstände, ihren täuschenden Charakter. Dann ist nicht mehr sehr viel
Anstrengung erforderlich, um ihnen nicht mehr hinterherzulaufen. Sie verlieren ihre Attraktivität.
Das kann man in Zazen selbst erfahren. Dafür darf man nicht nur Konzentration praktizieren,
sondern muss auch die tiefe Betrachtung praktizieren. Durch die Konzentration auf den Körper
und die Atmung kann man die Gedanken vorüberziehen lassen. Aber sie kommen schnell zurück.
Die Wurzel ist nicht abgeschnitten. Aber wenn man ihre Leerheit wahrnimmt, ist der Wunsch,
ihnen zu folgen, nicht mehr so stark. Und selbst wenn Wünsche wiederkommen, hat man nicht
mehr so viel Energie nötig, um sie vorüberziehen zu lassen. Man kann sie sich auf natürliche
Weise auflösen lassen. Denn es ist ihre natürliche Weise, sich aufzulösen. Letztlich ist alles
unbeständig, ohne Substanz. Leerheit. Das anzuerkennen und zu akzeptieren, ist das wirkliche
Satori, das tiefe Verstehen. Das tiefe Verstehen ist etwas, was unsere Seinsweise verändert. Ein
Verstehen aus der Tiefe der Einheit von Körper und Geist. Aber diese Wirklichkeit darf nicht nur
gedacht, sondern muss gelebt, muss erfahren werden.
Im Zen bedeutet ‚verstehen’ verwirklichen. Wenn es keine Verwirklichung gibt, gibt es kein
wirk- liches Erwachen. Alle, die eine gewisse Zeit lang praktizieren, kennen die großen
Prinzipien des Zen und des Buddhismus. Die Unterweisung wiederholt sie unablässig. Aber sie
tatsächlich zu verwirklichen bedeutet, wirklich eins mit dem Dharma zu werden. Das Dharma
ganz konkret in seinem Leben zu verkörpern, indem man das Loslassen lernt und sein Ego
wirklich aufgibt.
Mit unserem eigenen Willen allein ist das schwierig. Indem man sich der Praxis von Zazen und
dem Gyoji hingibt, dem wirklichen Zazen von Shikantaza, nur sitzen, harmonisiert uns dieses
Zazen mit dem Geist Buddhas. In dem Augenblick bin ich nicht mehr ich selbst, der praktiziert.
Es ist der Geist Buddhas, der in mir praktiziert. – Für Christen ist es der Geist Gottes, der heilige
Geist, der in einem praktiziert. – In dem Augenblick kann man sich diesem Geist mit Vertrauen
hingeben und von ihm leiten lassen. Dann wird die Praxis wirklich einfach.
Diese Erfahrung zu machen, ist der Sinn der Praxis eines Sesshins.

26.5.2014, 16.30 Uhr
Während Zazen ist die Haltung unbeweglich wie ein hoher Berg. Der Geist ist wie der weite
Himmel. In Zazen umfasst der Geist alle Phänomene, die auftauchen, wie der weite Himmel die
Wolken umfasst und auch die Sonne, den Mond und die Sterne. Wolken, Sonne, Mond und
Sterne erscheinen am weiten Himmel aufgrund aller möglichen Ursachen und Bedingungen, aber
der weite Himmel ist nicht bedingt, so wird er durch nichts gestört. Er ist immer viel weiter als
die Phänomene, die ihn durchqueren. Dem weiten Himmel fehlt nichts und es ist nichts zu viel,
er hält nichts zurück und weist nichts zurück.
Das ist das vollkommene Bild des Zazen-Weges. Aus dem gleichen Grund wird der Bereich
Gottes das Himmelreich genannt. Aber so weit er auch ist, er existiert doch auch in unserem
tiefsten Inneren. Der Raum existiert überall seit immer. Er existiert im Herzen eines Atoms und
umfasst die Milliarden Galaxien. Zazen zu praktizieren bedeutet, einen diesem weiten Himmel,
diesem Raum ähnlichen weiten, geräumigen Geist wieder zu finden.
Der Geist verwirklicht das, weil er aufhört, sich an irgendetwas zu klammern. Die Methode dafür
ist es, unmittelbar und intuitiv die Leerheit all dessen zu realisieren, was unseren Geist
durchquert. Der Geist verweilt auf nichts, denn in Wirklichkeit gibt es nichts, auf dem man
verweilen könnte. Das Ego mag diese Situation bedauern, aber wenn man in Zazen damit
wirklich vertraut wird, ist dies die große Befreiung. Wird der begrenzte Geist aufgegeben, findet
unser Geist zum wirklichen Normalzustand zurück, zu der Fähigkeit, alles zu spiegeln und alles
zu umfassen, ohne auf irgendetwas zu verweilen.
Das bedeutet auch, dass wir Zazen praktizieren und dabei alle Phänomene unseres Lebens
umfassen. Sie spiegeln sich alle im Spiegel von Zazen. Zazen besteht nicht darin, die Phänomene
unseres Lebens zurückzuweisen und sich an die Leerheit zu klammern oder an das Nichtdenken.
Es geht darum, die wirkliche Natur der Phänomene unseres Lebens zu sehen, die nur aufgrund
von allen möglichen Wechselbeziehungen bestehen. Sie haben keine feste Substanz, so können
sie sich unablässig verändern, und man kann sie unablässig aufgeben. Alles ist vollkommenes
Fließen, selbst die schlimmsten Bonnos können sich transformieren in Satori, wenn man sie als
das erkennt, was sie sind, und sie loslässt. Dass man sie aufgeben kann, zeigt, dass sie in
Wirklichkeit keine Substanz haben. Deshalb bleiben die Wolken nicht unablässig am Himmel.
Dies vertraut zu realisieren, bedeutet ein tiefes Vertrauen in unsere Entwicklung zu finden. Es
gibt in uns nichts Festes, nichts Festgeklemmtes, unser ganzes Leben ist unablässige
Transformation, innerhalb des unbegrenzten Raums des Geistes, weit wie der Himmel.

26.5.2014, 7 Uhr
Drückt während Zazen mit der Schädeldecke in den Himmel und mit den Kien in den Boden.
Der Himmel ist die Welt der Leerheit, der alles umfasst. Die Erde ist die Welt der Phänomene.
Die Leerheit und Shiki, die Phänomene, sind in Wirklichkeit eine einzige Realität, die Leerheit
ist die wirkliche Natur der Phänomene. Unsere Praxis besteht darin, beide Aspekte dieser
Existenz zu harmonisieren, die unterscheiden, aber nicht getrennt sind. Stellt sie also nicht
einander gegenüber, trennt sie nicht.
Die Praxis von Zazen hat den Sinn, uns mit der tiefen Wirklichkeit zu harmonisieren. Das
bedeutet den Weg, das Tao, praktizieren. Die Taoisten bemühen sich, Yin und Yang zu
harmonisieren. Für sie sind dies die beiden Pole der Existenz. Für die, die dem Buddhaweg
folgen, sind es die Phäno- mene, die von der Kausalität bedingt sind, und die Leerheit.
Leerheit bedeutet einfach, dass die Phänomene, denen wir begegnen, die unsere Existenz,
unseren Körper und unseren Geist ausmachen, das Ergebnis von Ursachen und Wirkungen sind,
also keine feste Substanz haben. Sie existieren nicht aus sich selbst heraus, sondern aufgrund von
Wechsel- beziehungen. Was man Leerheit nennt, bedeutet also Wechselbeziehung und nicht
nichts. Das ist die wirkliche Natur der Phänomene.
In Zazen kann man das klar betrachten: Unsere körperlichen Empfindungen, unsere Sinneswahrnehmung,
unsere Gedanken, unsere Wünsche existieren wirklich, manifestieren sich von Augenblick
zu Augenblick, aber von Augenblick zu Augenblick verändern sie sich, erscheinen und verschwinden,
denn sie existieren nicht aus sich selbst heraus. Unsere Empfindungen sind von allen
möglichen Ursachen im Körper und Geist bedingt. Unsere Gedanken sind von unserer
Geschichte bedingt, von unserem Karma, von unseren gegenwärtigen Beziehungen, auch durch
unsere spirituelle Suche. Aber es gibt keinen einzigartigen, absoluten Gedanken. Man denkt
immer in Abhängigkeit von einer Situation. In Zazen kann man sich dessen bewusst werden und
dann weniger an seinen Gedanken haften. Man kann sie relativieren. Selbst das, was man
Wahrheit nennt, ist bedingt und relativ bezogen auf das, was man Irrtum oder Täuschung nennt.
Wenn man den Weg sucht, bemüht man sich, aus seinen Illusionen zu erwachen und neigt dazu,
sie zurückweisen und unterdrücken zu wollen. Man klammert sich an die Wahrheit. Und wenn
man versteht, dass die Wahrheit Leerheit bedeutet, hat man die Neigung sich auch an diese
Leerheit zu klammern. Aber weil die Leerheit nicht allein existiert, ist es ein Irrtum, sich an sie
zu klammern. Dieser Irrtum führt zu allen möglichen Formen von Leid: Man beginnt, alle
Phänomene zu verachten, möchte ständig in der Stille bleiben, sich von den Phänomenen des
Alltags entfernen. So wird das ganze Leben, wird der Geist begrenzt. Aufgrund dieser Anhaftung
kann man nicht mehr inmitten der Phänomene leben, kann also auch nicht mehr den anderen
helfen.
Man möchte sich auf den Berggipfel zurückziehen. Der Rückzug in die Berge – wie dieses Frühjahrslager
– ist eine Periode, um inmitten der Phänomene klarer zu sehen. Aber selbst während
eines Sesshins, selbst während Zazen sind die Phänomene immer gegenwärtig. Man kann die
Phänomene und die Leerheit nicht trennen. Einfach weil die Leerheit nichts anderes als die
wirkliche Natur der Phänomene ist. Beide sind so untrennbar wie hoch und tief, wie Himmel und
Erde, wie man selbst und die anderen, wie man selbst und das ganze Universum. Unterschieden,
aber nie getrennt. Und selbst die Unterschiede sind nur an der Oberfläche. In der Tiefe ist das,
was uns was unsere Funktionsweise ausmacht, nichts anderes als die Funktionsweise des ganzen
Universums.
Man selbst und die Welt folgt Regeln, Gesetzen der Wechselbeziehung. Die tiefste Weisheit besteht
darin, das zu sehen. Die relative Weisheit besteht darin, inmitten der Phänomene zu funktionieren.
Wenn man das gut versteht, wird unsere Praxis unablässig Verwirklichung.
Verwirklichung eines Lebens in Einklang mit dem Dharma, d.h. mit der Wirklichkeit. Das Ideal
liegt in der Wirklichkeit, die in ihrer Tiefe verstanden wird.
In der Bibel ist vom verborgenen Gott die Rede. Wo ist er verborgen? – In der Tiefe des Flusses,
in der Tiefe unseres Herzens. Das Himmelreich, das Nirvana, der Frieden des Satori existiert hier
und jetzt in unserem Körper und Geist, wenn wir unsere Tendenz loslassen, uns an die Pole der
Dualitäten zu klammern. Die Haltung von Zazen ist in sich selbst die Rückkehr zur Nicht-
Dualität, zur Harmonie von oben und unten, von Spannung und Entspannung, von Einatmen und
Ausatmen, von denken und nicht denken, von einem selbst und den anderen.
Wenn diese Harmonie gefunden wird, verschwinden die Gifte des Geistes. Gier und Hass sind
mit der Wurzel ausgerissen. Man kann in Frieden mit sich selbst und den anderen leben. Jeder
kann diese Erfahrung während des Sesshins machen und sich bemühen, diese Erfahrungen im
Alltag fortzusetzen.

27.5.2014, 16.30
Begnügt euch während Zazen damit, einfach zu sitzen. Das bedeutet aufzuhören, irgendetwas zu
machen. Selbstverständlich tauchen Gedanken auf, aber man denkt nicht über seine Gedanken
nach. Man lässt sie auftauchen und verschwinden. Natürlich atmen wir. Wir können uns sogar
unserer Atmung bewusst sein. Aber wir atmen nicht willentlich. Man lässt die Atmung
geschehen, wie man die Gedanken auftauchen und verschwinden lässt.
Man macht nicht einmal Zazen. Wirkliches Zazen besteht darin aufzuhören, irgendetwas zu
machen. Es ist das Loslassen jeder Absicht, jedes persönlichen Willens. Selbstverständlich bleibt
man unbeweglich, einfach weil man aufhört sich zu bewegen. Aber man klammert sich nicht an
die Unbeweglichkeit. Wenn man sich an die Unbeweglichkeit klammert, wird die Haltung starr.
Man begnügt sich einfach damit, jede Absicht sich zu bewegen, fallen zu lassen. – Außer wenn
die Haltung zu schmerzhaft wird. Dann ist es möglich, Gassho zu machen und sich zu bewegen.
– Man denkt nicht bewusst, willentlich, aber man bemüht sich auch nicht, die Gedanken zu
unterdrücken. Anders gesagt, in Zazen handelt man nicht mit seinem persönlichem Bewusstsein.
Man lässt das Ego fallen, das immer etwas ergreifen oder zurückweisen möchte. In diesem
Loslassen verwirk- licht sich das wahre Zazen, das Zazen, das uns wirklich von den Wurzeln
unserer Anhaftung befreit und auf natürliche Weise mit dem Dharma, der kosmischen Ordnung,
harmonisiert. Man bemüht sich nicht, irgendetwas zu erfassen. Man realisiert einfach, dass nichts
fassbar ist. So harmonisieren wir uns auf natürliche Weise mit der Wirklichkeit.
Diese Harmonie ist weder Aktivität, noch Passivität, ist jenseits von Handeln und Nichthandeln.
Sie ist das sein lassen, was ist, so wie es ist. Das ist dem Dharma folgen, ohne sich an das
Dharma zu klammern, ihm auf natürliche Weise folgen, da es die wahre Natur unserer
menschlichen Existenz ist.
Anders gesagt bedeutet es, sich mit sich selbst auszusöhnen. In der Wirklichkeit existieren alle
Pole, alle Dualitäten. Man hört auf, sie einander gegenüberzustellen, man umfasst sie mit einem
einzigen Blick. So finden wir unsere wirkliche Einheit wieder.
Im Alltag ist man oft geteilt, der Geist ist zerstreut, wir stehen zwischen verschiedenen
Meinungen. Aber in Zazen werden die Gegensätze versöhnt, wenn man gewahr ist, dass sie
niemals getrennt sein können. Anders gesagt: Die Einheit, die in der Praxis von Zazen wieder
gefunden wird, um- fasst die Unterschiedlichkeit, schließt sie nicht aus. Das ermöglicht es uns,
in den Alltag zurück- zukehren und inmitten der Phänomene des Alltags zu leben, ohne von
ihnen gestört zu werden, denn man behält den weiten Geist von Zazen bei, den Geist, der in der
Lage ist die Pole aller Dualitäten zu umfassen.
Anders gesagt: Man muss vermeiden Dinge nur von einer Seite aus zu sehen. Wenn eine Seite
existiert, existiert auch die andere Seite. Man muss alle Aspekte der Wirklichkeit mit beiden
Augen sehen. Das ist die richte Sicht, die sich in Zazen verwirklicht. Dafür müssen wir in der
Lage sein, unsere Abneigungen und Vorlieben aufzugeben, d.h. unsere durch das Karma bedingte
Sichtweisen.

28.5.2014, 7 Uhr
Fahrt während Zazen damit fort, euch gut auf eure Körperhaltung zu konzentrieren. Legt alle
eure Energie und Aufmerksamkeit in diese Haltung, die weder zu angespannt noch zu entspannt
sein darf. Seid aufmerksam auf eure Atmung, statt euren Gedanken zu folgen.
Wenn man auf diese Weise praktiziert, befreit man sich von der Anhaftung an seine Gedanken
seine Gefühle. Es gelingt einem, sie vorüberziehen zu lassen. Man sieht sie auftauchen und
verschwinden, ohne auf einem Gedanken oder Gefühl zu verweilen
Wenn es einem nicht gelingt, Gedanken und Gefühle vorüberziehen zu lassen, wenn man sich
weiterhin an sie klammert, muss man sich auf die Frage konzentrieren, was die wirkliche Natur
dieser Gedanken und Gefühle ist. Dann werden sie wie eine Koan: „Was ist dieser Gedanke?
Was ist dieses Gefühl? Was ist dieses Ego, das von ihm gestört wird?“
Das grundlegende Koan ist: „Was ist es?“ Es bedeutet sich Fragen über die Natur der Phänomene
zu stellen. Es ist nicht nötig, in alten Koan-Büchern nachzuschlagen Das Leben in jedem
Augenblick bietet uns Koans an. Jedes Phänomen ist ein Koan, d.h. Manifestation der tiefen
Wirklichkeit. Aber um sie wahrzunehmen, muss man sich Fragen über ihre wirkliche Natur
stellen, indem man sich fragt: „Was ist das?“
Je tiefer ihr euch befragt, um so klarer wird, dass es nicht möglich ist, den Ursprung dieser
Phäno- mene zu erfassen. Alle Phänomene sind ohne Substanz, d.h. sie sind in Wirklichkeit nicht
fassbar. Selbst wenn man glaubt, den Ursprung eines Gedanken oder Gefühls entdeckt zu haben,
gibt es wieder einen Ursprung des Ursprungs.
Was ist der Ursprung dieses Universums, dieser Phänomene? – Manche antworten: „Es ist die
Energie der Leerheit.“ Das ist die gegenwärtige wissenschaftliche Antwort. Aber was ist der
Ursprung dieser Energie dieser Leere? – Es ist unmöglich eine Antwort zu finden. Eine andere
Antwort ist „Gott, der Schöpfer.“ Aber was ist der Ursprung Gottes? Was hat Gott geschaffen?
Auch das ist nicht fassbar.
Die Wechselbeziehung hat keine Grenzen. Das nennt man Leerheit. Das zu realisieren, schneidet
den Geist der Anhaftung ab, befreit den Geist.
Ich bin nichts Fassbares, ihr auch nicht. Wir existieren jenseits aller Grenzen. Unsere Existenz
besteht aus Beziehungen. Es gibt keine Substanz, aber Beziehung. Das zu realisieren regt den
Geist des Mitgefühls an und löst das Hindernis auf, das wirklicher Liebe entgegensteht, unseren
Egoismus. Dann öffnet sich unser Herz für die Realisation unsere gemeinsamen Existenz.
Der Sinn unseres Lebens besteht darin, uns um diese gemeinsame Existenz zu kümmern, indem
wir harmonische Beziehungen herstellen zwischen den Menschen, zwischen den Menschen und
der Natur, Tieren und Pflanzen. Daraus entsteht tiefer Respekt vor allem, das an der gleichen
Wirklichkeit teilhat, an dieser gemeinsamen Existenz in Wechselbeziehung.
Um das zu verwirklichen muss man den Geist fallen lassen, der unablässig Trennungen schafft,
d.h. den gewöhnlichen Geist. Das verwirklicht die Praxis von Zazen.

28.5.2014, 16.30 Uhr
Mondo
Welche Bedeutung hat der Ahornring beim Rakusu? Warum haben unsere Rakusus keinen Ring?
Ich kenne den Grund nicht, warum unsere Rakusus ohne Ring sind. Der Ring stammt aus einer
chinesischen Tradition, und die japanischen Mönche der Soto-Schule haben diese Tradition übernommen.
Meister Deshimaru trug manchmal ein Rakusu mit Ring, hat uns aber geraten, keinen
Ring zu tragen. Ich habe mich selber nie mit dieser Frage befasst, einfach weil Meister
Deshimaru es uns nie gelehrt hat.
Es gibt viele verschiedene Stile und Formen. Zum Beispiel gibt es auch unterschiedliche Zagus,
die einen haben ein dunkles Quadrat in der Mitte, andere sind völlig weiß oder ganz und gar
gefärbt. Einige Mönche sagen, ihr Zagu entspräche dem Stile Kodo Sawakis und die anderen,
wie meines mit dem Quadrat in der Mitte, wären falsch. Derartige Betrachtungen finde ich
albern. Ich konzentriere mich darauf, der Form zu folgen, die mich mein Meister gelehrt hat.
Dabei kritisiere ich die anderen nicht, es kann ja andere Rakusu- oder Zagu-Stile geben.
Schlimm finde ich aber, wenn man einer Form anhaftet und behauptet, dies sei die wahre Form.
Ich denke, gerade bei Zen- Schülern ist dies ein schlimmer geistiger Irrtum. Es ist einfach
arrogant zu behaupten: „Ich habe die wahre Form, das wahre Rakusu.“ Am einfachsten ist, man
folgt der Weise, die einem gelehrt wurde.
Das Gleich gibt es bei der Haltung der Hände. Im Rinzai hält man die Hände anders, bei vielen
Buddhastatuen liegt die rechte Hand oben. Dann gibt es eine Vielzahl von komplizierten Erklärungen,
um den Unterschied zu rechtfertigen. Ich lege die linke Hand auf die rechte Hand, weil
ich es so von meinem Meister gelernt habe. Es ist gut, einfach dem zu folgen, was einem gelehrt
wurde. Letztlich sind Formen relativ. Eine Form ist möglich, eine andere ebenso. Daher ist es
unnötig, beweisen zu wollen, dass eine Form die beste oder wahre Form ist.
Machen die Mönche der Soto-Schule Bettelgänge?
In Japan sind Bettelgänge eine Tradition, die von der Bevölkerung verstanden und akzeptiert
wird. Der Staat gibt den Mönchen sogar die Erlaubnis zu betteln. Auch hier könnte man
Bettelgänge unternehmen, was vielleicht interessant wäre, aber man müsste der Bevölkerung die
Tradition erklären. Es ist nicht das gleiche Betteln wie das der Obdachlosen. Für den bettelnden
Mönch ist es ein Akt der Demut zu akzeptieren, von den Almosen der anderen abhängig zu sein.
Gleichzeitig macht er den anderen ein Fuse, indem er ihnen die Gelegenheit gibt, den Drei
Kostbarkeiten eine Spende zu machen. Wenn man einem Mönchen Almosen gibt, erhält man
große Verdienste, weil man den Drei Kostbarkeiten geholfen hat.
Der Mönch bedankt sich auch nicht dafür, Almosen erhalten zu haben. Er bleibt einfach gerade
stehen und hält seine Schale. Der Spender macht danach Gassho und dankt dem Mönch, dass
dieser das Fuse akzeptiert hat. Es ist eine lange Tradition, deren Bedeutung die Japaner kennen.
Wenn wir in den Kölner Straßen betteln würden, würde es die Kölner Bevölkerung sicherlich
nicht verstehen. Aber ich halte es für eine gute Idee, zu versuchen diese Praxis einzuführen. Man
müsste sich jedoch darauf vorbereiten, vorab die Stadt um Erlaubnis bitten und erklären, warum
man es tut. So könnte es funktionieren.
Warum wird Kannon in einer weiblichen Form dargestellt? Wird dadurch der Aspekt des Mitgefühls
unterstrichen?
Wahrscheinlich ja. Aber Kannon wird nicht immer in einer weiblichen Form dargestellt. Dies
begann erst in China. In Indien wird Avalokiteshvara nicht als Frau dargestellt. Im Allgemeinen
sieht man Mitgefühl, Liebe und Wohlwollen als eher weibliche Eigenschaften an, vermutlich
weil diese Eigenschaften von den Müttern stark entwickelt wurden. Kraft und Weisheit werden
eher als männliche Eigenschaften angesehen.
Eigentlich sollte Kannon keine besondere Form haben. In Wirklichkeit sind wir alle Kannon,
wenn wir unser Mitgefühl ausdrücken. Kannon nimmt alle möglichen Formen an. In der
asiatischen Literatur gibt es viele Geschichten über Kannon, in denen Kannon sich als
Verkörperung des Mitgefühls in unterschiedlichen Rollen manifestiert, in männlichen und
weiblichen. Wichtig ist, dass jeder unter uns den Geist Kannons in sich verwirklicht.
Ich habe von den Buddhas der zehn Richtungen gelesen. Welche sind diese zehn Richtungen?
Es sind Norden, Süden, Osten, Westen, Nordosten, Nordwesten, Südosten, Südwesten und oben
und unten. Die zehn Richtungen bedeuten das ganze Universum, alle Universen. Wenn man von
den Buddhas der zehn Richtungen spricht, meint man alle Buddhas in allen Universen.
Es mag seltsam klingen, wenn man von Universen spricht, weil das Universum im Allgemeinen
alles beinhaltet. Aber im Buddhismus und vor allem im Mahayana hat man eine äußerst weite
Sicht auf den Kosmos. Zum Beispiel geht es an einer Stelle im Brahma-Netz-Sutra um
Milliarden Buddhas, die die Unterweisungen des Haupt-Buddhas Vairocana studierten.
Ich mag diesen weiten, unbegrenzten Geist. Der Mahayana-Buddhismus ist völlig in Kontakt mit
der Unbegrenztheit, wodurch der Geist geöffnet wird. Er verhindert, dass man fanatisch oder
einseitig wird und von „meinem Buddha“ spricht. Zu allen Zeiten gab es Buddhas in allen
Universen. Auch hier und jetzt gibt es viele Buddhas. Jeder ist Buddha, wenn auch noch nicht
ganz verwirklicht.
Welches Vertrauen kann man in seine Gedanken haben? Du hast gesagt, dass sie ohne Substanz
sind und sich verändern. Aber das bedeutet doch nicht, dass sie bedeutungslos sind. Wie kann
ich unterscheiden, ob meine Gedanken aus dem Zen-Geist hervorgehen oder egozentrischen Ursprungs
sind?
Es gibt zwei Kriterien. Das eine stammt von Buddha. Es ist das rechte Denken, der erste Aspekt
des Achtfachen Pfades. Hier handelt es sich um das Denken, das das Dharma ausdrückt und mit
der tiefen Wirklichkeit übereinstimmt. Insbesondere erkennt dieses Denken deutlich die Unbeständigkeit
und die Abwesenheit von fester Substanz in allem, was existiert. Beides sind Siegel
des Dharma. Das ist wichtig. Es ist auch das Denken, das alle Konsequenzen zieht und keine
Anhaf- tungen schafft. Weil alles unbeständig und ohne Substanz ist, können wir nichts
festhalten, nicht einmal das rechte Denken, weil wir sonst dogmatisch werden. Wer dem rechten
Denken anhaftet, verfälscht es.
Aus diesem Grund spricht man immer von der Leerheit der Leerheit. Aus der Leerheit heraus
denken ist aus buddhistischer Sichtweise das rechte Denken. Wenn man diesem Denken aus der
Leerheit heraus anhaftet, wird dieses Denken etwas, ein Objekt der Anhaftung, und folglich ist es
nicht mehr Leerheit. Das ist das Kriterium der Unterweisung Buddhas.
Darüber hinaus gibt es eine Menge wissenschaftlicher Gedanken, die in einem gegebenen
Moment richtig sind, z.B. ‚Die Erde dreht sich um die Sonne.’ Dieser Gedanke ist wahr, aber er
entspricht nicht dem rechten Denken der buddhistischen Sichtweise. Vom buddhistischen
Standpunkt aus ist das rechte Denken ein Denken, das aufweckt und befreit. Es befreit ganz
konkret von den Leidens- ursachen, also den Illusionen. Im täglichen Leben ermöglicht das
rechte Denken die Befreiung von einer Anhaftung. Falsches Denken verursacht oder verstärkt
Anhaftungen und schafft dadurch Leiden.

30.5.2014, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Konzentriert euch ganz auf die
Haltung eures Körpers und seid völlig achtsam auf eure Atmung. Lasst alle Gedanken vorbeiziehen,
indem ihr zur Konzentration auf den Körper zurückkehrt. Jedes Mal, wenn man zum
Kör- per zurückkehrt, lässt man ganz natürlich seine Gedanken los, ohne dass man sie verwerfen
oder unterdrücken muss. So wie sie erschienen sind, verschwinden sie wieder, wenn man sie
nicht in Gang hält, wenn man ihnen nicht anhaftet. Am Ende verschwinden die Gedanken auch
wieder, wenn man ihnen anhaftet, aber es dauert und ist verlorene Zeit, verlorene Zeit für den
Weg, der uns zur Wirklichkeit unseres Lebens zurückbringt, zur Wirklichkeit eines Lebens ohne
Trennungen, in Einheit mit allen Existenzen.
Der direkteste Weg, um sie zu verwirklichen, ist die Konzentration auf den Körper. Legt all eure
Energie in die Haltung. Die Knie liegen fest auf dem Boden, das Körpergewicht drückt gut auf
das Zafu. Entspannt den Bauch, neigt das Becken nach vorne und streckt die Wirbelsäule. Drückt
den Kopf in den Himmel und die Knie auf den Boden. Lasst auch alle Spannungen im Rücken
und in den Schultern los. Das Kinn ist zurückgezogen, das Gesicht entspannt und die Zunge liegt
am Gaumen. Der Blick ruht einfach auf dem Boden, ohne dass man den visuellen Objekten um
einen herum anhaftet.
Wer den Sinnesobjekten nicht anhängt, braucht sie auch nicht zu verwerfen. Dann ist es zum
Beispiel nicht nötig, die Augen zu schließen, die Ohren zu verstopfen oder sich auf den Gipfel
eines hohen Berges zurückziehen, um die wahre Stille wiederzufinden. Die wahre Stille ist die
Stille im Geist. Beendet jede Diskussion, ob innerhalb oder außerhalb.
Die linke Hand liegt in der rechten Hand. Die Daumen sind waagerecht und die Handkanten in
Berührung mit dem Unterbauch. Sie bilden das Mudra Hokkai join, das Siegel des Samadhi des
Dharma-Ozeans. Das Samadhi ist die große Konzentration von Zazen. Wenn man aufhört, seine
Gedanken zu verfolgen oder zu verjagen, wenn man ganz klar ihre Leerheit sieht, bleibt man
nicht mehr an ihnen haften. Dann braucht man sie nicht mehr vertreiben, sondern lässt sie
einfach vorbeiziehen. Die Hände machen nichts, und der Geist hört auf, geistige Konstrukte zu
erschaffen. Die Hände ergreifen nichts, und der Geist ergreift auch nichts mehr. Selbst wenn man
etwas ergreifen möchte, realisiert man, dass letztlich alles unfassbar ist.
Die Ablehnung dieser Tatsache führt zu Leiden. Wer sie aber tief annimmt, erfährt eine große
Befreiung und braucht sich nicht mehr so sehr anstrengen, um zu praktizieren. Körper und Geist
sind ganz natürlich in Einheit und in Harmonie mit dem Weg. Wenn wir nicht mehr die wahre
Natur unserer Existenz verraten, kehren wir zu unserem normalen, ursprünglichen Zustand
zurück. Das ist der Sinn des Sesshins.
Wir harmonisieren uns unbewusst und natürlich mit Hokai, dem Dharma-Ozean, mit allen
Existenzen, mit der Buddha-Natur. Es ist nicht nötig, daran zu denken. Wir wenden uns ganz
einfach wieder der Zazen-Praxis zu und vergessen jede Absicht. Wir sitzen einfach, indem wir
alles andere fallenlassen. So ist die Praxis eines jeden Augenblicks Verwirklichung. Es ist nicht
nötig, auf eine zukünftige Verwirklichung zu warten. Hier und jetzt ist alles da. Alles ist gegenwärtig,
und wir harmonisieren uns damit.

30.5.2014, 11 Uhr
Wir sitzen vor einer Wand, um Zen zu praktizieren. Wer in der Natur praktizieren möchte, setzt
sich vor einen Baum oder einen Felsen, denn es ist der Sinn unserer Praxis, den Blick nach innen
zu wenden und unsere wahre Natur zu erhellen. Wenn wir unseren Blick nach innen richten,
entdecken wir anfangs alle möglichen Gedanken, Gefühle, Wünsche, Erinnerungen, Bilder, alle
Arten von Phänomenen. Hängen wir diesen Phänomenen nach, können wir nicht den tiefen Sinn
der Praxis entdecken.
Ein Gedanke taucht auf. Woher kommt dieser Gedanke? Ich praktiziere Zazen. Was ist dieses
Ich, das Zazen praktiziert? Dies ist das wahre Koan unserer Praxis. Anstatt sich von den
Phänomenen mitreißen zu lassen, richten wir unseren Blick auf ihre Quelle, auf ihren Ursprung,
indem wir von Augenblick zu Augenblick äußerst aufmerksam auf das Erscheinen dieser
Phänomene sind.
Wenn man gut auf die Körperhaltung konzentriert ist, wirkt diese Konzentration wie ein weiter
Spiegel. Der kleinste Gedanke, die kleinste Wahrnehmung oder Empfindung wird sich in diesem
Spiegel reflektieren. Aber wo waren sie, bevor sie erschienen? Wer die Quelle, den Ursprung
sucht, entdeckt letztlich, dass sie nicht fassbar ist. Das ist das Ende jeder Suche. Das ist kein
Aufgeben, sondern die Verwirklichung, dass die Essenz, der Ursprung unseres Lebens unfassbar
ist. Damit harmonisieren wir uns ohne Bedauern, indem wir einen Geist verwirklichen, der auf
nichts stag- niert und sich so mit der völligen Unbeständigkeit aller Existenzen in Einklang
bringt.
Es könnte sein, dass unser Ego wehmütig nach etwas Substanz sucht, auf die es sich berufen
oder stützen kann. Der Geist hat allerhand Konzepte und Begriffe erfunden, um zu versuchen,
diese Substanz zu bilden: Sein mit großem ‚S’, Gott mit großem ‚G’, Buddha mit großem ‚B’.
Wenn wir uns aber fragen, was es wirklich in der Tiefe ist, ist es nicht fassbar, weil es
unbegrenzt, unendlich und unmöglich vom Ganzen zu trennen ist. Wir selbst können uns nicht
vom Ganzen trennen. Wir existieren nur durch eine Vielzahl von Ursachen und wechselseitigen
Abhängigkeiten, so wie die Welle und der Ozean. Diese wechselseitige Abhängigkeit ist die tiefe
Wirklichkeit unseres Lebens. Das ist es, was man Buddha-Natur nennt: wechselseitig abhängige
Beziehungen. Aber um sie wirklich zu erfahren, ist es nötig aufzuhören, den unterschiedlichen
Formen der verschiedenen Phänomene anzuhängen und Augenblick für Augenblick seinen Blick
auf die Quelle zu richten. Sich nicht damit zufrieden geben, Blätter und Zweige zu sammeln,
sondern zur Wurzel gehen und vielleicht auch erkennen, dass die Wurzel selbst unfassbar ist, so
wie die Quelle nicht vom Himmel getrennt ist und auch nicht vom Regen, von den Wolken, vom
Ozean, von der Sonne, vom ganzen Universum.

Freitag, 3. Zazen, 16.30 Uhr
Während Zazen ist es besser, seiner Atmung zu folgen, statt seinen Gedanken nachzugehen. In
dem Moment, in dem wir einatmen, sind wir völlig ein Körper und Geist, der einatmet. Und im
Moment der Ausatmung sind wir ein Körper und Geist, der ausatmet. Die Konzentration auf die
Atmung bringt uns zurück zum Hier und Jetzt unseres reellen Lebens. Dann können wir leicht
alle geistigen Konstrukte aufgeben. Der Geist findet zurück zu seinem natürlichen Fluss.
Aber wenn ich meiner Atmung folge, gibt es noch ein Ego, das etwas tut. Besser ist es, die
Atmung machen zu lassen, sich der Atmung hinzugeben. Auf diese Weise verbindet die Atmung
uns mit unserem Leben jenseits des Egos, mit unserem wirklichen Leben.
Was macht ihr, wenn ihr Zazen macht? Yakusan beantwortete diese Frage so: „Ich mache nichts.“
Sein Meister, Sekito, fragte ihn daraufhin: „Was heißt, etwas zu tun, und was heißt, nichts zu
tun?“
Yakusan antwortete ihm: „Selbst zehntausend Gelehrte können es nicht erklären und auch nicht
Buddha.“ Sekito war sehr glücklich über diese Antwort.
Am Anfang strengt man sich an, um Zazen zu machen. Man fährt auf ein Sesshin, um Zazen zu
praktizieren. Aber Zazen machen ist noch zu viel, zu viel machen. Vor allem, wenn man es
bewusst macht. Hört auf, irgendetwas zu machen und begnügt euch damit, einfach zu sitzen.
Wer versucht, zu viel zu machen, vergisst, einfach zu sein. Dieses Vergessen ist bedauerlich. Es
ist die große Krise des Menschen. Es hindert uns daran, in Harmonie mit der kosmischen
Ordnung, mit dem Dharma zu sein. Und diese Trennung ist Ursache von vielen Leiden, von
Frustrationen und Unzufriedenheit. Dadurch multiplizieren sich die Wünsche.
Ein Sesshin machen heißt, sich selbst die Gelegenheit geben, dies zu verstehen, und zu lernen
sich damit zu begnügen, nur zu sitzen und einfach ein Sitzender zu sein. Einfach zu gehen,
einfach zu essen, einfach zu schlafen. Es bedeutet, in jedem Augenblick mit unserem Leben in
Einheit zu sein und zu realisieren, dass dieses Leben nicht uns gehört, sondern das Leben des
ganzen Universums ist.
Jeder hat ein anderes Leben, das von seinem Karma und von seiner Geschichte konditioniert ist.
Dies erzeugt viel Unverständnis. Aber in der Tiefe leben wir alle das gleiche Leben, ein Leben
ohne Trennungen. Mit jemand i shin den shin sein heißt, dieses Leben ohne Trennungen zu
teilen. Es verwirklicht sich, wenn man den gewöhnlichen Geist aufgibt und ohne zu denken
denkt. Hishiryo.
Mondo
Seit gut zehn Jahren hat man in Europa und in den USA die Begriffe ‚tiefe Meditation’ oder
‚Achtsamkeit’ auftauchen sehen, auf Betreiben von Jon Kabat-Zinn in den Staaten und Christoph
André in Frankreich. Was hältst du von der achtsamkeitsbasierten Stressreduktion, MBSR?
Der entscheidende Punkt ist, dass es sich um eine nicht-spirituelle Meditationspraxis handelt.
Jetzt müsste man erläutern, was ‚spirituell’ bedeutet. Aber eins ist klar: Wer Meditation benutzt,
um etwas zu bekommen, ob als Mittel gegen Stress oder Depressionen, oder um mit ihrer Hilfe
seine Leistung zu steigern, stellt die Meditation in den Dienst des menschlichen Egos. Der tiefe
Sinn der Meditation aber ist, die Anhaftung an das menschliche Ego aufzugeben. Man nennt es
die spiri- tuelle Dimension der Meditation. Die wahre Meditation beginnt genau jenseits dieser
Achtsam- keitsübungen. Sie beginnt in dem Moment, in dem wir ohne Absichten meditieren, in
dem wir mushotoku sind, ohne irgendetwas zu erwarten, ohne Hintergedanken. Die Benutzung
der Medi- tation mit unterschiedlichen Zielen, aber immer, um ein Resultat für sein kleines Ego
zu erlangen, verrät den tiefen Sinn der Meditation in dem Sinn, wie Buddha es gelehrt hatte.
Dennoch missbillige ich es nicht, weil ich glaube, dass die Mushotoku-Praxis sehr schwierig ist.
Menschen mit starken psychischen Leiden, die sehr gestresst oder tief deprimiert sind, deren Ego
völlig erschüttert ist und nicht mehr zufrieden gestellt werden kann, können nicht die
Anstrengung aufbringen, über ihr Ego, das wieder aufgebaut werden muss, hinauszugehen. Und
ich denke, die Unterweisung der Achtsamkeit in einem therapeutischen Rahmen und mit dem
Ziel, das Ego zu reparieren, ist in gewisser Hinsicht gut. Es ist die erste Ebene für einige
Menschen, die keine spirituelle Motivation haben und die sich überhaupt nicht vorstellen
können, etwas aufzugeben. Für sie es ist die erste Annäherung, um Zugang zu einer
Meditationspraxis zu finden.
Allerdings ist es wichtig, dass die Menschen, die solche Praktiken unterweisen, die Ehrlichkeit
haben, auch deren Grenzen zu benennen. Dies habe ich zum Beispiel Christoph André sagen
hören, als wir für eine Fernsehsendung zusammengearbeitet haben. Er war auch in der
Gendronnière, um Lehrgänge zu geben. Ich habe den Eindruck, dass er diese Ehrlichkeit hat. Am
Ende eines Kurses sagte er zu seinen Schülern: „Wenn ihr in diese Richtung weitergehen wollt,
dann macht ein Sesshin in der Gendronnière.“ Daher denke ich, dass diese große Bewegung die
Meditation begünstigt.
Wenn man vor zwanzig Jahren von Meditation sprach, dachten die Menschen sofort an Sekten.
Meditation hatte einen ganz schlechten Ruf. Heute möchten alle meditieren. Das ist großartig! Es
ist also jetzt an den Dojo-Leitern, den buddhistischen Unterweisenden und den Meistern, die
Unterschiede herauszustellen, dass diese Annäherung, diese erste Grundstufe eine Art
Einführung ist. Wenn man möchte, kann man auf diesem Weg weitergehen.
Menschen wie Jon Kabat-Zinn und Christoph André, die auch den Buddhismus praktizieren, sind
in der Lage, diese Grenzen aufzuzeigen. Das Problem ist, dass sie auch andere Therapeuten ausbilden,
die einfach versuchen, ein zusätzliches Mittel zu haben, um Geld zu verdienen und ihrer
Vielfalt von Therapieangeboten etwas hinzuzufügen. Ich fürchte, dass nicht alle dieser Leute in
der Lage sind, diese Unterschiede zu erkennen und ihren Patienten zu erklären.
Darüber hinaus kann es Menschen blockieren. Sie könnten sich sagen: „Das reicht mir aus.
Warum sollte ich weitergehen?“ Es gibt Menschen, die kommen ins Dojo und sagen: „Ich mache
lieber Achtsamkeitsübungen, die sind einfacher.“ Es gibt immer zwei Seiten. Aber alles in Allem
halte ich die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre für günstig unter der Voraussetzung, dass all
die, die darüber reden oder die Meditation unterweisen, in der Lage sind, die Unterschiede zu
zeigen.
Wenn die Godos der AZI von Wellness reden hören, werden sie misstrauisch. Sie missbilligen
diesen Begriff sogar und halten Wellness für materialistisch. Ich finde das nicht richtig. Es ist
legitim, eine Art Wohlergehen für sich zu suchen. Aber wir sollten mehr und mehr vertiefen, was
Wellness für uns wirklich bedeutet. In der ersten Zeit geht es vielleicht darum, besser schlafen zu
können, weniger gestresst zu sein oder aus einer Depression herauszukommen, was durchaus
sehr wichtig ist. Aber wirkliches Wohlergehen bedeutet, in Harmonie mit dem Wesentlichen
seines Lebens zu sein. Wellness oder Wohlergehen heißt, erwacht zu sein. Aber ich denke, dass
diese Dimension des Erwachens, in Harmonie mit dem Dharma oder der Buddha-Natur zu sein,
für manche Menschen viel zu weit geht, wo sie doch erst dabei sind, ihr Wohlergehen in ihren
jetzigen Bedürfnissen suchen. Meister Deshimaru missbilligte genauso wenig wie Buddha diese
mensch- lichen Bedürfnisse. Aber er zeigte immer, dass es darüber hinaus noch eine Dimension
gibt. Genau dies sollten wir auch tun.
Wie sollen wir mit Leidenschaften umgehen? Gibt es Menschen, die keine Leidenschaften
haben?
Vielleicht. Ich weiß es nicht. Das hängt davon ab, was man mit Leidenschaften meint. Es gibt
Menschen, die sagen, ohne Leidenschaften hätte das Leben keinen Wert, was bedeuten würde,
dass ihr Leben ohne Leidenschaften, die sie motivieren, deprimierend wäre. Für mich zum Beispiel
ist Zen absolut eine Leidenschaft. Seit vierzig Jahren widme ich mein Leben dem Zen. Da
kann ich sagen, es ist meine Leidenschaft, aber es ist keine schmerzhafte Leidenschaft.
Wenn man im Buddhismus von Leidenschaften spricht, spricht man von Bonno oder Klesa,
Beschmutzungen, anders gesagt, von Anhaftungen, und die sind extrem schmerzhaft. Der
Buddha versuchte, die Menschen zu lehren, wie sie sich von ihren Anhaftungen befreien können,
um ihre Leiden zu lindern. Die ganze Weisheit Buddhas konzentrierte sich auf diesen Punkt.
Dennoch war es seine Leidenschaft, die Menschen zu befreien. Es war sein tiefstes Gelübde,
dem er seine ganze Energie widmete.
Aber dies ist eine Leidenschaft, die kein Leiden schafft und dem Leben einen tiefen Sinn gibt.
Sie mobilisiert unsere Energie und regt uns an. Meister Deshimaru sagte, dass der gewöhnliche
Mensch eine Menge kleiner Wünsche und Leidenschaften hat. Der Bodhisattva hingegen hat
einen einzigen großen Wunsch: allen Menschen zu helfen, sich zu befreien, indem er die Praxis
des Weges mit ihnen teilt. Ich glaube, solange wir diesen Wunsch, Bodaishin, den Wunsch, allen
Wesen zu helfen, nicht haben, bleibt unser Leben begrenzt. Wir sind im Schneckenhaus unseres
kleinen Egos eingeschlossen und daher nicht in Harmonie mit der Buddha-Natur. Aus diesem
Grund leiden wir.
Wer leidet, wer sich nicht gut fühlt, sucht Abhilfe und denkt, er benötige neue Leidenschaften,
neue Wünsche, denen er nachgehen kann. „Ich reise leidenschaftlich gerne, aber am Ende sind
Reisen doch nicht so interessant. Ich muss wieder etwas anderes suchen. Dann interessiere ich
mich eben leidenschaftlich für Kunst oder für die Liebe, usw.“ Es hört nicht auf. Dies ist die Verkettung
der Bonnos. Folglich ist es das Wichtigste, seinen wahren Wunsch, seine tiefe Leidenschaft
zu finden.
Als praktizierender Zen-Buddhist denke ich, dass diese grundlegende Leidenschaft der Geist des
Erwachens ist. Für Christen kann es auch heißen, den Glauben an Christus zu vertiefen. Ich
denke, der Mensch ist in der Tiefe ein spirituelles Wesen. Erst in dem Moment, in dem er diese
Dimension in sich selbst gefunden hat, kann er wirklich befriedigt sein. Dann werden auch die
andern Leidenschaften, die Anhaftungen, die Bonnos und die kleinen Wünsche weniger wichtig.

31.5.2014, 7 Uhr
Richtet während Zazen eure ganze Energie auf die Haltung. Lenkt eure Aufmerksamkeit auf die
Atmung. Folgt nicht euren Gedanken und messt ihnen keine Bedeutung bei. Wenn wir unseren
Gedanken folgen, wenn wir ihnen nachhängen, leben wir in der begrenzten Welt unserer
geistigen Erzeugnisse. Wir machen uns ein Bild von uns selbst: ‚Ich bin jemand, der so oder so
ist.’ Damit schließen wir uns in eine Identität ein und trennen uns vom ganzen Universum, von
der Wirklich- keit. Dabei vergessen wir unseren wahren Ursprung, unsere wahre Buddha-Natur.
Diese Unwissenheit, die durch unsere Illusionen erzeugt wurde, verursacht alle Arten von
Leiden- schaften, hauptsächlich Gier nach allem, von dem wir glauben, dass es die fehlende
Einheit in unserem Leben kompensieren kann, und Hass gegen alles, was die Wünsche unseres
kleinen Egos stört. Wenn wir uns in Zazen setzen und uns völlig von der Praxis aufsaugen lassen,
wenn Körper und Geist in Einheit mit der Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks sind,
entsteht eine Öff- nung. Dann sind es nicht mehr unsere gewöhnlichen Auffassungen, die uns
leiten. Unser Bewusst- sein fängt an, im Hishiryo-Modus zu funktionieren, das heißt, es hört auf,
irgendeinem Begriff anzuhängen und Gefangener der Sprache zu sein, denn gewöhnlich bemüht
sich alles in uns, etwas zu ergreifen. Durch Zazen können wir unseren alten Geist loslassen und
einen neuen Geist wiederfinden, der offen für die Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks ist,
für die Wirklichkeit, die sich in keine Sprache einschließen lässt und die sich in der Stille des
Geistes zeigt. Es ist so, als würden wir in das Reich Buddhas eintreten, uns Buddha anvertrauen,
uns von ihm leiten lassen und über uns selbst hinausgehen. Es sind nicht mehr wir, die
praktizieren, sondern es ist Buddha, der in uns praktiziert und das Hishiryo-Bewusstsein, das uns
leitet. Wir brauchen ihm nur zu folgen und uns ganz natürlich mit dem Dharma harmonisieren.
Dann wird die Praxis einfach, weil alle Hindernisse, die wir auf dem Weg aufgebaut haben,
verschwinden.
Aber wir sollten aufpassen, dass wir nicht neue Hindernisse aufbauen, indem wir neuen
Begriffen anhaften oder versuchen, diese Erfahrung der Buddha-Natur in unseren geistigen
Kategorien einzuschließen.
Auch wenn er sich fünfundvierzig Jahre lang mit Worten und Sätzen ausgedrückt hatte, gab
Buddha Shakyamuni letztlich die Essenz seiner Erfahrung jenseits der Worte weiter. Er drehte
einfach eine Blume zwischen seinen Fingern und war völlig aufmerksam auf die Blume, so wie
sie war.
Das Halten und Drehen der Blume bedeutet, die Zazen-Haltung einzunehmen und in der
Aufmerksamkeit auf Haltung und Atmung, so wie sie sind, aufzugehen. Wenn das jeder
praktiziert, entwickelt sich zwischen uns eine wahre i shin den shin-Verbindung. Wir teilen den
gleichen Geist und die gleiche Erfahrung genauso wie Buddha und Mahakashyapa. Dies ist die
Quelle der Weitergabe des Zen: immer frisch, immer neu.

31.5.2014, 11 Uhr
‚Sesshin’ bedeutet, mit dem wahren Geist vertraut werden, dem Geist, der auf nichts stagniert,
dem Geist, der alles umfasst und der nicht von unseren Gedanken begrenzt wird, dem wendigen
Geist, der durch die Praxis des Loslassens beweglich wird, dem Geist, der ganz deutlich die
Leerheit all unserer Anhaftungen erkennt, und auch unsere völlige Einheit mit allen Wesen
wahrnimmt, wenn alle Hindernisse verschwinden. Dann fühlen wir uns ganz natürlich
solidarisch mit allen Daseinsformen und der Geist des Mitgefühls entwickelt sich. Es ist dieser
Geist, der uns dazu bringt, die vier Bodhisattva-Gelübde abzulegen. Es ist der Geist des
Erwachens in uns, der diese Gelübde ausspricht. Wir sprechen die Bodhisattva-Gelübde aus, weil
wir die Verwirklichung des Weges mit allen Wesen teilen möchten. Ebenso ist es der Geist der
Wohlwollens und des Mit- gefühls, der uns das Gelübde ablegen lässt, die Wesen von ihren
Illusionen zu befreien und die Verwirklichung des Erwachens zu teilen.
Den Weg allein zu realisieren ist nicht die wahre Verwirklichung, denn die wahre Verwirklichung
ist die des Lebens ohne Trennungen. Wir können nicht anders, als dieses Leben mit den anderen
teilen zu wollen. Aus diesem Grund praktizieren wir gerne gemeinsam mit der Sangha. Auch
wenn wir das Gelübde ablegen, alle Bonnos, alle Leidensursachen, zu beseitigen, heißt dies
nicht, dass wir uns bereits von allen befreit haben. Wir müssen nicht vollkommene Buddhas sein,
voll- kommen erwacht, um den Wesen zu helfen, sich selbst zu befreien. Es reicht aus, den Weg
zu kennen und jedem zu helfen, ihn zu entdecken und ihn zu gehen. Dieser Weg ist unendlich,
und wir können nicht anders, als ewig auf dem Weg zu sein. In diesem Weitergehen mit den
anderen, mit dem Wunsch, diese Praxis mit anderen zu teilen, gibt es letztlich bereits Erwachen
und Verwirk- lichung. Das Ablegen der Bodhisattva-Gelübde ist bereits die Verwirklichung des
Erwachens, denn es bedeutet, jede Form von Ichbezogenheit aufzugeben und von einem
universellen Geist der Liebe erfüllt zu sein.

31.5.2014, 16.30 Uhr
Mondo
Wenn man Sex als eine Form von Meditation betrachtet, inwieweit kann man den Zen-Geist
verwirklichen?
Indem man auf seinen Partner, seine Partnerin, achtet und nicht egozentrisch ist. Die meisten
Leute sind beim Sex sehr erregt und denken nur an das eigene Vergnügen. Wichtig ist, dass die
sexuelle Beziehung ein wahrer Liebesakt wird, den beide Partner teilen. Bei diesem Teilen kann
man nicht egozentrisch sein, weil man sich in den anderen hineinfühlt. Auch ist es wichtig, treu
zu sein und den anderen nicht als Wegwerfobjekt zu betrachten.
Wenn ich die Übersetzung der Bodhisattva-Gelübde lese, halte ich sie nicht für realistisch.
Das stimmt. Die Gelübde repräsentieren ein Ideal, das nicht umsetzbar ist. Es ist ein Ideal, das
eine Richtung angibt. Wenn man tief über das erste Gelübde nachdenkt, alle fühlenden Wesen zu
retten, ist es offensichtlich, dass die Umsetzung für eine Einzelperson unmöglich ist.
Was heißt das, dieses Gelübde abzulegen, obwohl es einem nicht möglich ist, es umzusetzen?
Zuerst bedeutet es, dass ich nicht von mir glaube, selber in der Lage zu sein, alle Wesen zu
retten, sondern dass ich ihnen helfen kann, sich von ihren Leiden zu befreien. Ich kann ihnen
dabei helfen, den Weg zur Praxis zu finden, die es ihnen wirklich ermöglicht, sich selber von
ihren Leiden zu befreien.
Wenn wir von allen Wesen sprechen, dürfen wir nicht unterscheiden zwischen den Wesen, die
wir mögen, die uns nahe sind, und den anderen. Oft neigen wir dazu, mit den Menschen, die wir
gerne haben, mitfühlend und wohlwollend zu sein. Der Bodhisattva hat eine universelle Liebe,
das heißt eine Liebe, die keine Unterscheidung zwischen den Wesen macht. Hier können wir
unsere Gren- zen bei der Verwirklichung beobachten. Das ist sehr interessant. Meiner Meinung
nach ist dies eins der besten Kriterien des Erwachens. Bis zu welchem Punkt bin ich fähig,
mitfühlend und wohl- wollend den Wesen gegenüber zu sein, die ich nicht kenne oder die mir gar
feindlich gesinnt sind? Kann ich wirklich das Gelübde ablegen, allen Wesen zu helfen ohne
auszuwählen? Dies wird zu einer guten Praxis und zu einer interessanten Beobachtung, um zu
sehen, wo man selber in seiner eigenen Verwirklichung steht. In diesem Moment wird man
natürlich seine Grenzen finden, man sollte dabei aber keine Schuldgefühle entwickeln.
Das Gleiche gilt für die anderen Gelübde. Sie sind so groß, so enorm, dass uns unsere eigene
Verwirklichung, unsere Praxis im Vergleich zu den Gelübden immer ungenügend erscheint. Das
darf aber nicht zu Schuldgefühlen führen. Wir dürfen uns nicht sagen: „Was bin ich für ein
schlechter Bodhisattva, unfähig wie ich bin.“ Schuldgefühle sind eine Art Selbsthass, die gegen
das buddhistische Gebot ‚nicht hassen’ gehen. Wir sollten auch uns selbst gegenüber
wohlwollend sein. Daher ermuntert uns das Gelübde, jeden Tag unser Bestes zu geben und jeden
Tag im Rahmen unserer Möglichkeiten einen weiteren Schritt in die richtige Richtung zu
machen.
Wenn wir davon sprechen, alle Wesen zu retten, was bedeutet dabei ‚retten’? Im Buddhismus
bedeutet es, zu erwachen. Aber niemand kann jemanden retten. Selbst der Buddha kann das Erwachen
nicht jemand anderem geben. Aber wir können den Wesen helfen zu erwachen.
Wenn mir diese Art Fragen gestellt werden, zitiere ich immer Meister Eno, den sechsten Patriarchen.
Seine Worte haben mich sehr beeindruckt. Er sagte: „Ich, Eno, bin unfähig,
irgendjemanden zu retten.“ Meister Eno war ein großer Meister. „Ich, Eno, kann niemanden
retten. Aber die Wesen können durch die eigene Buddha-Natur gerettet werden.“ Es bedeutet,
dass die Macht dieses großen Meisters darauf beschränkt war, diese Buddha-Natur zu erwecken
und jeden anzuregen, in Kontakt mit der eigenen Buddha-Natur zu kommen. Wodurch wird dies
am ehesten realisiert? Durch Zazen. Letztlich ist die Rolle eines Bodhisattvas, die Zazen-Praxis
mit den anderen zu teilen, und die anderen anzuregen, Bodaishin zu entwickeln, das heißt das
Streben nach dem Erwachen, das einen ermuntert, Zazen zu praktizieren.
Die drei anderen Gelübde sind mit dem ersten verbunden. Sie sind die natürliche Konsequenz
des ersten Gelübdes. Um das erste, grundlegende Gelübde zu realisieren, müssen wir die Wurzel
aller Bonnos, aller Leidensursachen finden, indem wir uns selbst kennenlernen. Wir sind für uns
selber das beste Spielfeld von Erfahrungen. Wir haben alle unsere Illusionen, unsere
Anhaftungen, die mehr oder weniger entwickelt sind. Wenn wir uns darauf konzentrieren, unsere
eigenen Bonnos zu beseitigen, geben wir den anderen ein gutes Beispiel und ermutigen sie, es
uns gleichzutun. Außer- dem erlangen wir dadurch eine relative Weisheit, das heißt geeignete
Mittel, um den anderen den Weg zu zeigen, wie sie ihre eigenen Anhaftungen aufgeben können.
Dann spricht man davon, alle Dharmas, alle Unterweisungen Buddhas, zu studieren. Es geht
natürlich nicht darum, ein Experte für Buddhismus zu werden, sondern darum, aus der enormen
Weisheit Buddhas zu schöpfen, die er in seinen verschiedenen, vielfältigen Lehren ausdrückte.
Dabei findet man Mittel und Wege, zur Entwicklung der eigenen Weisheit, um den anderen zu
helfen.
Zuletzt heißt es: „So vollkommen der Weg Buddhas ist, ich gelobe, ihn zu verwirklichen.“ Der
Weg ist hier nicht nur der Weg, auf dem man vorangeht. Er ist auch der Weg im Sinne von
Bodhi, die Verwirklichung des Erwachens. Auch hier geht es nicht nur um einen selbst. Wer das
Erwachen verwirklicht, ist am besten in der Lage, die andern anzuleiten.
Beim Erwachen gibt es unterschiedliche Grade. Jedes Mal, wenn wir eine Illusion aufdecken und
sie aufgeben, gibt es ein kleines Erwachen. Sich selbst tiefgehend verstehen bedeutet, zu
erwachen. Das Erwachen eines vollkommenen Buddhas ist aber ein Erwachen, das die
Allwissenheit be- inhaltet. Weil Buddha allwissend ist, versteht er alles, die ganze Wirklichkeit,
und es fällt ihm leicht, allen Wesen zu helfen.
Dabei muss ich an Meister Deshimaru denken, der als Geschenk die Encyclopedia Britannica in
zwanzig Bänden erhielt. Er sagte immer, man müsse über alles auf dem Laufenden sein. Es wäre
nicht nötig, von allem und in jedem Bereich ein Spezialist zu sein, aber man müsse sich über
alles informieren. Ein Bodhisattva, ein Zen-Meister muss über viele Dinge Bescheid wissen, um
mit dem anderen Gespräche führen zu können. Ein Bodhisattva sollte die Probleme der
Menschen aus den verschiedenen sozialen Schichten, den verschiedenen Berufen verstehen
können. Umso mehr Kenntnisse man hat, desto besser kann man die Welt und die Wesen
verstehen.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt: Ein vollkommener Buddha ist in Einheit mit dem ganzen
Universum, folglich ist er buchstäblich das ganze Universum. Seine Allwissenheit bedeutet, dass
er alles ist. Das soll euch jedoch nicht entmutigen, die Bodhisattva-Gelübde abzulegen. Macht
jeden Tag, was ihr könnt.
Entsteht Angst aus Hass und Gier heraus? Oder kann Gier und Hass auch aus Angst entstehen?
Im Buddhismus sind Gier und Hass die beiden grundlegenden Bonnos. Sie werden nicht von der
Angst, sondern von der Unwissenheit erzeugt, das heißt von Illusionen, von Verkennung. Es geht
nicht um eine zufällige Unwissenheit, weil man etwas nicht weiß, sondern weil man nicht wissen
will. Man will die Wirklichkeit nicht sehen, wie sie ist. Nicht nur ist man nicht erwacht, man will
nicht erwachen, weil es das Ego stört. Das Erwachen stört das Ego, was vielleicht mit Angst zu
tun hat, Angst vor der Gefahr, dass man dieses Ego aufgibt, wenn man Gier und Hass abhelfen
will. Diesen Zusammenhang gibt es durchaus zwischen Angst und Gier und Hass.
Ein anderer Zusammenhang besteht, wenn man gierig ist und Angst hat, nicht zu bekommen,
was man begehrt. Vor allem hat man Angst zu verlieren, was man bereits erlangt hat. Besonders
wenn man sich mit Gewalt etwas angeeignet hat und dabei von Hassgefühlen geleitet wurde,
bekommt man automatisch Angst vor Vergeltung. Es ist eine sehr archaische Angst. Ein Säugling
pendelt ständig zwischen Gier und Hass hin und her. Alle Menschen sind durch diese Phase
gegangen, was als Ergebnis zur Folge hat, vor allem wenn die aggressiven Triebe sehr stark
waren, dass wir Vergeltung fürchten. Wir fürchten, von dem Objekt, das wir verabscheuen,
zerstört zu werden. Dies ist eine psychologische Betrachtung, die durchweg in die Richtung des
Buddhismus geht, weil im Buddhismus Gier und Hass als hauptsächliche Leidensursachen
betrachtet werden. Die Abhilfe für Gier ist letztlich das Erwachen zur Wirklichkeit, zur Tatsache,
dass es uns in Wirklichkeit an nichts mangelt. Nur weil wir uns mit einem kleinen, begrenzten
Ego identifizieren, das vom Rest getrennt ist, haben wir dieses Mangelgefühl. Wer diese Barriere
des Egos aufgibt, wer sich in Einheit mit allen Wesen fühlt, ist ganz natürlich jenseits von
Mangel und Überfluss.
Die Angst betrifft auch das Verhältnis, das ich zu Meister Deshimaru hatte. Ich hörte ihn zum
ersten Mal bei einem Vortrag. Sein erster Satz war: „Sie müssen Angst haben!“ Er fügte hinzu:
„Sie müssen Angst vor der kosmischen Ordnung haben.“ Danach referierte er über das Thema,
dass sich der Mensch völlig verrannt hatte, weil er nicht der kosmischen Ordnung folgte, was
sehr gefährlich für die Zukunft der Menschheit und des Planeten ist. Es war die erste ökologische
Rede, die ich gehört hatte, lange bevor man von Umweltschutz sprach.
Am Ende seines Lebens, während seiner letzten Monate, predigte er die Nicht-Angst. Mit Nicht-
Angst meinte er natürlich nicht, keine Angst zu haben vor den schlechten Folgen unserer Fehler
oder unseres schlechten Verhaltens. Dies ist eine heilsame Angst. Die Angst andere, die Natur
oder den Planeten zu schädigen ist eine Quelle der Weisheit, wir dürfen sie nicht verlieren.
Angst ist auf jeden Fall ein Alarmsignal bezogen auf Gefahren und daher sehr wertvoll. Während
des Krieges schickte man Kampfpiloten, die keine Angst hatten, nicht auf gefährliche Missionen,
weil sie übermäßige Risiken eingingen und von ihren Missionen nicht zurückkehrten. Angst hat
durchaus einen positiven Aspekt. Wir müssen jedoch die Ursache der Angst erkennen. Handelt es
sich um eine reale Gefahr oder ist die Angst mit Egoismus verbunden? Auch diese Angst ist
interessant, weil sie ein Signal des Egoismus ist: die Angst zu verlieren, die Angst nicht
genügend zu bekommen. Aber in dem Fall ist es gut, diese Angst loszulassen.
Kann es sein, dass man nicht selbst schuld ist an Geistesgiften? Aus Angst können andere Übel
entstehen, aber traumatisierte Menschen sind nicht schuld an ihrer Angst.
Natürlich. Wir leben in einem Netz von Ursachen und Bedingungen, die uns zu dem gemacht
haben, was wir sind. Ich kann sagen: „Es ist mein Karma.“ und mich daher verantwortlich sehen
für das, was ich geworden bin. Daraus könnten Schuldgefühle entstehen. Aber eigentlich machen
die karmischen Ursachen, die bestimmen, was wir geworden sind, nur einen kleinen Teil der
Ursachen und Bedingungen aus, die uns beeinflusst haben. Es gibt noch vieles andere, zum
Beispiel Traumata, für die wir nicht verantwortlich sind.
In der Sangha gibt es viele verschiedene Vorstellungen. Manche möchten nur Zazen praktizieren,
andere suchen Freunde oder eine Karriere, oder man erwartet psychologische Hilfe. Wie geht
man im Dojo mit diesen verschiedenen Vorstellungen um?
Das hängt davon ab, welche Position man im Dojo hat. Wenn man eine unterweisende Funktion
hat, muss man alle Vorstellungen empfangen und versuchen, sie umzuwandeln. Ich betrachte
viele Illusionen, unter anderem auch die Illusionen über Zen, als Gelegenheiten für die
Menschen, um mit der Praxis in Kontakt zu kommen. Wenn die Leute mit vielen Illusionen
kommen, dürfen wir sie nicht missbilligen. Aber wir sollten in der Lage sein, die Illusionen
schnell umzuwandeln, oder besser gesagt, wir sollten sie nicht selber umzuwandeln, sondern
dem anderen helfen, seine Vor- stellungen zu ändern, indem wir Boda shin lehren, die einzige
Motivation, mit der man Zazen praktiziert. Zazen praktizieren mit den anderen und das
Erwachen erlangen zum Wohle aller Wesen. Das ist der einzige Grund.
Aber für einen Anfänger ist dieser Gedanke nicht offensichtlich. Meister Deshimaru hatte aus
den unendlichen Verdiensten von Zazen zehn ausgewählt, die er gerne aufzählte. Er betonte die
guten, positiven Auswirkungen von Zazen: „Wenn ihr Zazen praktiziert, werdet ihr dieses oder
jenes erlangen und so oder so werden. Aber am Ende“ – Am Ende gab es immer ein ‚aber’. –
„müsst ihr immer mushotoku praktizieren, ohne zu versuchen, Verdienste zu erlangen. Diese
Verdienste sind Auswirkungen einer Praxis, die wahrhaft mushotoku ist. Anders gesagt, wenn ihr
ernsthaft prak- tiziert, indem ihr euch nur auf die Praxis selbst konzentriert, ohne etwas anderes
zu suchen, ohne eine Vorstellung zu haben, ist es die Praxis selbst, die euch befreit und gute
Auswirkungen zeigt.“
Ich meine, wir sollten wie Meister Deshimaru unterweisen. Wenn jemand ins Dojo kommt, weil
er sehr gestresst ist, können wie ihm sagen: „Gut, dass Sie gekommen sind. Zazen wird Ihnen
helfen, Ihren Stress zu verringern. Aber wenn Sie wirklich etwas gegen den Stress tun wollen,
sollten sie Ihre Gier aufgeben und mushotoku praktizieren.“ Manchmal muss man mit dieser
Unterweisung schrittweise vorgehen. Wer noch keine tiefe Praxiserfahrung hat, kann dies nicht
verstehen. Es könnte schockieren. Wir sollten den Leuten helfen, sich nach und nach dieser
Mushotoku- Dimension anzunähern, ohne sie ihnen aufzuzwingen, indem wir die Richtung
zeigen. Letztlich ist diese Dimension gar nicht so paradox, sondern ganz normal.

1.6.2014, 7 Uhr
Dieser Morgen ist ein glücklicher Morgen, weil zwei Schüler bei ihrer Ordination Zuflucht zu
den Drei Kostbarkeiten nehmen und die Bodhisattva-Gelübde ablegen werden. Die
Zufluchtnahme zu den Drei Kostbarkeiten ist der Ausdruck unseres Vertrauens in Buddha,
Dharma und der Sangha. Diese sind Kostbarkeiten, weil sie die Kraft haben, alle Wesen von
ihren Leiden zu befreien und denen, die ihnen folgen, Frieden und Glück zu bringen.
In den Versen des Sanki raimon, mit denen wir Zuflucht zu den Drei Kostbarkeiten nehmen,
sagen wir: „Wir nehmen Zuflucht zu Buddha mit allen Wesen. Mögen wir mit unserem Körper
verstehen und den großen Weg, dai do, und den höchsten Geist, hotsu mujoi, verwirklichen, den
Geist des Erwachens, den Geist des großen Mitgefühls.“
Zuflucht zu Buddha nehmen bedeutet, Vertrauen in Buddha Shakyamuni zu haben, Vertrauen in
sein Erwachen und in seine Unterweisung, sein Dharma. Diejenigen, die dieses Vertrauen haben
und gemeinsam das Dharma praktizieren, sind die Sangha.
Die Quelle der Drei Kostbarkeiten ist die Zazen-Praxis, die Meditation Buddhas, das wahre
Zazen, das in sich Erwachen und Verwirklichung ist. Es ist das Zazen, bei dem wir alle
Anhaftungen an Körper und Geist aufgeben, bei dem das Ego völlig aufgegeben wird. Auf diese
Weise können wir den großen Weg verwirklichen, tai ge dai do, mit unserem ganzen Körper.
Den Weg mit unserem ganzen Körper verwirklichen bedeutet, nicht nur mit unserem Kopf, mit
dem Intellekt, sondern die Unterweisung und die Praxis mit unserem ganzen Wesen verkörpern,
Körper und Geist in Einheit. Verstehen bedeutet praktizieren, es nicht nur im Dojo während
Zazen umsetzen, sondern im gan- zen Alltag.
Was praktizieren wir im Alltag? Wir praktizieren den Geist des großen Mitgefühls, hotsu mujoi,
denn im Zazen das Ego aufgeben heißt, eins zu werden mit allen fühlenden Wesen, sie zu
verstehen und zu lieben und das Gelübde abzulegen, ihnen zu helfen, sich selbst von ihren
Leiden zu befreien. Aus diesem Grund studieren wir das Dharma, insbesondere die Gebote, die
auch während der Ordination weitergegeben werden. Sie lehren uns, wie ein Buddha zu leben.
Die Gebote sind keine Verbote, sondern Empfehlungen, um mit der Buddha-Natur in Harmonie
zu leben und auch mit allen Wesen, indem wir ihnen Vertrauen in das Dharma geben, indem wir
in ihnen den Wunsch wecken, dem Dharma zu folgen und es zu praktizieren, und ihnen helfen,
sich selbst und die anderen zu befreien und damit der Welt Frieden zu bringen. Das ist der Sinn
des Wirkens eines Bodhisattvas. Daher ist es ein glücklicher Tag, wenn Personen für dieses
Engage- ment bereit sind, für sie selbst und für die ganze Menschheit.

1.6.2014, 11 Uhr
Konzentriert euch während des Zazen weiter auf die Haltung eures Körpers. Atmet langsam
durch die Nase ein und aus und lasst all eure Gedanken vorbeiziehen. Dies ist das Wesentliche
unserer Praxis. Es reicht aus, um Menschen die Zazen-Praxis nahezubringen. Dies bedeutet, das
Zazen Buddhas, das erwachte Zazen zu praktizieren, kein persönliches Zazen, bei dem man
unablässig seine Gedanken und Gefühle wiederkäut. Konzentriert euch auf Körper und Atmung
und lasst alle Anhaftungen fallen, indem ihr die Leerheit verwirklicht.
Diese Praxis ist die wahre Zufluchtnahme zum Dharma, das heißt, mit der mitfühlenden
Weisheit, die genauso weit ist wie der Ozean. Solange wir unseren Gedanken folgen, ist unser
Blick begrenzt, dann sind wir wie ein Frosch am Grund eines Brunnens. Sobald wir unsere
persönlichen Gedanken aufgeben, werden der Geist und der Blick weit und wir erkennen ganz
deutlich unsere Einheit mit allen Wesen. Der Geist des Mitgefühls und des Wohlwollens
entwickelt sich, und wir möchten ihn mit allen Wesen teilen. Aus diesem Grund heißt es im
dritten Vers des Sanki raimon: „Wir nehmen Zuflucht zu der Sangha mit allen Wesen. Mögen wir
mit der Sangha ein harmonisches Leben ohne Anhaftung leben.“
Solange wir an unserer persönlichen Sichtweise, an unserem Ego festhalten, kann es keine tiefe
Harmonie mit den anderen geben. In der Sangha teilen wir dieselben Werte, die gleiche Praxis,
die darin besteht, unser kleines Ego aufzugeben und völlig solidarisch mit allen Wesen zu
werden. Dies macht die Harmonie in der Sangha möglich. Wir können hier ein Leben in
Harmonie führen, das ohne Anhaftungen ist. Aus diesem Grund ist die Sangha eine Kostbarkeit,
die beschützt werden muss. Dazu müssen wir alle den gleichen Regeln und den gleichen
Geboten folgen. Wenn wir sie befolgen, geben wir ganz natürlich unser Ego auf, und die
Harmonie kann wieder in uns selbst und in die Gemeinschaft mit anderen einkehren.
Aber dies darf nicht auf einen kleinen Kreis wie das Dojo oder einen Verein begrenzt bleiben. Im
Sanki raimon singen wir jedes Mal ‚mit allen Wesen’: „Mögen wir mit allen Wesen mit unserem
Körper den großen Weg verstehen, den großen Weg, der zum höchsten Erwachen führt. Mögen
wir Zuflucht zum Dharma mit allen Wesen nehmen.“ Und wir geloben, die mitfühlende Weisheit
zu verkörpern, die so weit ist wie der Ozean. Zum Schluss nehmen wir Zuflucht zur Sangha,
wieder mit allen Wesen: „Mögen wir mit der Sangha ein harmonisches Leben führen, das ohne
Anhaftun- gen ist. Und möge diese Sangha alle Wesen empfangen und ihnen allen helfen, sich
von ihren Leiden zu befreien und das wahre Leben zu verwirklichen, das ohne Anhaftungen ist,
die wahre Freiheit und das wahre Glück.“
Ich wünsche euch allen, dies zu verwirklichen.

Veröffentlicht in Roland.