Das Herz des großen Baumes – 02.2002 – Schlagstein

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 25.-27. Februar
2002 während des Sesshins in Schlagstein auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

 

25.2.2000, 7 Uhr
Nehmt zu Beginn des Zazen gut die Haltung ein. Legt die Fäuste auf die Knie, die
Handoberflächen weisen zum Boden, und pendelt energisch sieben- oder achtmal hin und
her. Dann macht Gassho. Man faltet die Hände auf Höhe des Gesichts, neigt sich tief nach
vorne, richtet sich dann von der Taille aus wieder auf und legt die linke Hand in die rechte.
Die Handkanten berühren den Unterleib, die Daumen sind waagrecht. Man atmet zweioder
dreimal tief ein und aus und entspannt gut Solarplexus und Bauch. Man lässt das
Körpergewicht gut auf das Zafu drücken, insbesondere mit dem Punkt der Dammmitte,
zwischen dem After und den Geschlechtsteilen, der ein Energiepunkt ist. Es ist wichtig,
diese Grundlage der Haltung herzustellen.
Man muss dynamisch sitzen. Ausgehend von der Taille streckt man gut die Wirbelsäule
und lässt alle Spannung im Rücken los. Man streckt den Nacken, zieht das Kinn zurück
und entspannt die Schultern. Man stößt mit der Schädeldecke in den Himmel und drückt
die Erde mit den Knien. Gesicht, Stirn und Blick sind ebenfalls entspannt. Der Blick ruht
vor einem auf dem Boden, ohne einen besonderen Punkt zu fixieren. So wird er weit. Der
Kiefer ist entspannt, die Zunge liegt am Gaumen.
Alle diese wichtigen Punkte der Haltung zu beachten, trägt dazu bei, die Einheit von
Körper und Geist zu realisieren: Der Geist verliert sich nicht in Gedanken, sondern kehrt
immer wieder zurück dazu, die Haltung zu spüren, insbesondere die der beiden Daumen,
die sich leicht berühren und weder Berg noch Tal bilden. Die Daumen und die
Handflächen formen ein weites Oval. In dieser Haltung machen die Hände nichts und
ergreifen nichts. So wie der Geist von Zazen, der nirgends verweilt.
Wenn der Geist nirgends verweilt, nichts ergreift, kann man den gierigen Geist des Egos
aufgeben. Unsere übliche mentale Funktionsweise, die uns treibt, immer etwas ertreifen zu
wollen, ist aufgegeben. Dies nennt man das Ego aufgeben. In Wirklichkeit gibt es nichts,
das aufgegeben wird. Es handelt sich lediglich um eine Funktionsweise, die sich verändert,
um einen Geist, der frei wird.
Diese Freiheit des Geistes verwirklicht sich im Augenblick, in dem Augenblick, in dem
man einen Gedanken vorüberziehen lässt, in dem man sich wieder auf die Atmung
konzentriert.
Die Praxis geschieht in der Zeit, man wiederholt die Praxis unermütlich Tag für Tag. In
jedem Zazen konzentriert man sich auf Haltung und Atmung. Das Loslassen geschieht im
Augenblick. Es ist nicht eine Frage der Dauer. Es ist jenseits unserer Bemühung und
unseres Willens. Es ist die Frucht von Zazen, die unmittelbare Auswirkung von Zazen.
Zieht das Kinn zurück!

 

25.2.2000, 11 Uhr
Ob man Zazen in einem Dojo praktiziert oder während eines Sesshins, ob man Anfänger
ist oder bereits 10, 20 oder 30 Jahre praktiziert – es ist genau die gleiche Praxis, die
unterwiesen und praktiziert wird. Man beharrt sehr auf dem Hier und Jetzt der Praxis.
Wenn die Praxis hier und jetzt richtig ist, ist die Praxis selbst Erweckung und Befreiung.
Das heißt nicht, daß es keine Entwicklung in der Praxis eines jeden gibt. Aber diese
Entwicklung geschieht immer Augenblick für Augenblick.
Eines Tages ging ein Brahmane zu Buddha und fragte ihn nach seiner Art, den Weg zu
unterweisen. Er sagte: “Ein Bogenschütze hat eine fortschreitende Art der Unterweisung.”
Meister Deshimaru erzählte uns immer wieder die Geschichte eines Samurai, der bei
einem großen Meister lernte, mit dem Säbel umzugehen. Dieser Meister hat den Schüler
ein Jahr lang gelehrt, entlang der Tatami in Kinhin zu laufen. Im zweiten Jahr brachte er
ihm bei, mit einer Axt Holz zu hacken. Er hat ihm nie beigebracht, mit dem Säbel
umzugehen. Eines Tages wurde der Samurai etwas ungeduldig und fragte: “Wann werdet
Ihr mir beibringen, mit dem Säbel umzugehen?” Da brachte der Meister ihn an den Rand
eines Abgrundes. Dort gab es einen Baumstamm, der als Brücke diente. Der Meister sagte
zu ihm: “Los, geh darüber!” Der Samurai-Lehrling traute sich nicht, über diese Leere zu
schreiten. Der Meister sagte zu ihm: “Ein ganzes Jahr lang hast du gelernt, an der Tatami
entlang zu gehen, Schritt für Schritt. Das ist genau das Gleiche”. Aber der Mann wagte es
nicht. Plötzlich kam ein Blinder mit seinem Stock. Er hat mit dem Stock den Baumstamm
wahrgenommen und dann den Abgrund überquert. Da verstand der Samurai und
überquerte auch den Abgrund. – Das ist eine fortschreitende Unterweisung.
Zurück zu Buddhas Geschichte. – Der Brahmane sagte: „Ich selbst bin Buchhalter. In der
Buchhaltung lernt man zuerst das Rechnen, danach lernt man kompliziertere Techniken,
Schritt für Schritt. Ist es auch möglich, in Ihrer Lehre eine schrittweise Unterweisung zu
bekommen?”
Da erklärte Buddha: “Ja, es gibt eine schrittweise Unterweisung. Wenn ein Novize kommt,
bringen wir ihm zuerst bei, seine Sinne zu kontrollieren und die Regeln und Gebote des
Klosters zu befolgen. Wir bringen ihm bei, sehr aufmerksam zu sein und keine Fehler zu
machen.
Wenn ihr z.B. mit euren Augen eine Form wahrgenommen habt, seid von dieser
Erscheinung nicht gestört. Sonst bedeutet das, daß euere visuelle Wahrnehmung, euer
Blick nicht beherrscht ist. Daraus können alle möglichen schlechten Konsequenzen
entstehen. Zum Beispiel kann Gier und Traurigkeit in eure Gedanken eindringen.”
Buddha unterwies nicht, die Augen zu schließen oder sich das Gesicht zu verdecken, er
unterwies nicht, die Wahrnehmungen abzuschneiden, sondern sich ihrer bewußt zu werden
und die Auswirkung zu kontrollieren. Dies gilt nicht nur für die Augen sondern für
sämtliche Sinnesorgane, für Nase, Zunge, Geschmack, den Körper und den Verstand. Er
hat unterwiesen, was passiert, wenn man in Kontakt mit den Objekten tritt: Sehe ich den
Gegenstand so, wie er ist, oder deformiere ich ihn durch meine Illusionen, indem ich meine
eigenen Gedanken, meine Begierden darauf projiziere? Welche Gefühle, Begierden und
Gedanken entstehen bei dieser Wahrnehmung? – Sich einfach auf diese Wahrnehmung zu
konzentrieren ist die Praxis des Weges. Man kann sagen, daß es eine Etappe in einem
schrittweisen Vorangehen ist, aber zugleich kann man sehen, dass sich auf jede
Wahrnehmung zu konzentrieren, eine Gelegenheit ist, hier und jetzt zu erwachen. Seine
eigenen Illusionen zu beobachten, wenn sie hochkommen, von einer Wahrnehmung nicht
automatisch in Bewegung gesetzt zu werden, sondern die Freiheit zu haben, zu reagieren
oder nicht zu reagieren.
Im Zazen lernt man sehr, vorbeiziehen zu lassen. Im täglichen Leben ist es nicht immer
gut, alles vorbeiziehen zu lassen. Wichtig ist, dass, wenn man etwas nicht vorbeiziehen
läßt, man nicht automatisch reagiert, sondern eine bewußte, freie Handlung geschieht.
Viele Praktizierende, viele Mönche erwachten bei der Wahrnehmung von Klängen. Sotoba
als er das Geräusch des Donners im Tal hörte oder Kyogen, als er hörte, wie ein
Kieselstein gegen einen Bambus stieß.
Als Buddha die Essenz seiner Unterweisung weitergeben wollte, hat er nur eine Blume in
die Hand genommen und sie zwischen den Fingern gedreht.
Die Aufmerksamkeit auf unsere Wahrnehmung kann eine schrittweise Übung sein, eine
Übung der Selbstkontrolle. Sie kann auch Gelegenheit eines plötzlichen Erwachens in der
Wirklichkeit sein, so wie sie ist, so wie sie sich in jedem Phänomen darstellt. Jenseits der
Trennung zwischen sich und dem Gegenstand, den man betrachtet. Dieselbe Praxis kann
zugleich schrittweise und plötzlich sein. Am wichtigsten ist, mit welchem Geisteszustand
man praktiziert.

 

25. 2.2000, 16.30 Uhr
Während des Sesshins nimmt man auch die Mahlzeiten im Dojo ein. Vor dem Essen singt
man das Bussho-Kapila. Im Bussho-Kapila heißt es, dass man die Nahrung einnimmt, um
den Weg zu praktizieren, um diesen Körper zu erhalten, sodaß man weiterhin unter guten
Bedingungen Zazen machen kann.
Das ist ein Teil der Unterweisung Buddhas. Als er seine schrittweise Art zu unterweisen
erklärte, sagte er: „Wenn ein Schüler seine Sinnesorange beherrscht und kontrolliert, dann
bringt man ihm bei, wenn er ißt, bescheiden zu sein.” Nicht aus Lust zu essen oder um
stark zu sein, sondern einfach, um diesen Körper zu erhalten, damit er den Weg
praktizieren kann, den Weg, der alle neuen Leiden beenden kann.
Dann unterwies er die Wachsamkeit. Das ist genau das, was man während des Sesshins
praktiziert. “Wenn ihr geht oder wenn ihr unbeweglich seid, wenn ihr eure Gedanken
reinigt, selbst wenn ihr nachts aufwacht, praktiziert weiterhin die Konzentration.”
Desweiteren brachte Buddha seinen Schülern bei, aufmerksam und achtsam auf alle
Handlungen des täglichen Lebens zu bleiben: “Wenn man sich bewegt, wenn man seine
Schale trägt, wenn man das Kesa anzieht, wenn man ißt, wenn man trinkt, wenn man auf
die Toilette geht, bleibt man immer aufmerksam und bewusst, auch wenn man einschläft,
wenn man spricht, wenn man schweigt.”
Das heißt, dass alle Augenblicke Gelegenheit sind, den Weg zu praktizieren. Es gibt keine
Handlungen, die Praxis des Weges sind, und andere, die es nicht sind. Nicht das, was wir
tun, ist wichtig, sondern wie wir es tun. Oft denken die Leute, nur Zazen sei die Praxis des
Weges, Arbeit und Familienleben seien verlorene Zeit oder Hindernisse. Wenn man diese
Achtsamkeit, diese Aufmerksamkeit auf jeden Augenblick praktiziert, die Aufmerksamkeit
auf sich selbst und auf die anderen, ist jeder Tag und jeder Ort, der Tag und der Ort, um
den Weg zu praktizieren.
Dann unterwies Buddha direkt die Zazenpraxis. Er schlug vor, einen ruhigen Ort zu finden,
möglichst in der Einsamkeit, weit weg von der Aufregung. Die Beschreibung von Zazen ist
sehr einfach: Der Mönch setzt sich hin, kreuzt die Beine, den Körper richtet er auf und er
fixiert seine Aufmerksamkeit. Wichtig ist, dass er die Gier aufgibt, nicht nur die weltlichen
Gegenstände und den weltlichen Nutzen, sondern jede Art von Nutzen. Buddha rät auch,
alle Handlungen des Hasses, des Zurückweisens aufzugeben, d.h. selbstverständlich den
Haß auf die anderen, aber auch den Haß, den man manchmal sich selbst gegenüber
empfindet. Wenn man mit sich selber nicht zufrieden ist, sich schuldig fühlt. Alle Formen
des Hasses und der Ablehnung sind Hindernisse auf dem Weg.
Man sieht, daß Buddha das gleiche sagte wie Meister Sosan zu Beginn des Shinjinmei. Der
sagt in seinem ersten Gedicht: “Den Weg zu durchdringen ist nicht schwierig. Man muss
nur frei sein von Liebe und Haß, ( – Liebe im Sinn von Gier, Anhaftung – ), frei von
Zuneigung und Ablehnung.”
Buddha riet auch alle Faulheit aufzugeben, das Dahindämmern, Kontin, und alle
Aufgeregtheit, Sanran, und auch das Bedauern. Bedauern ist ein großes Hindernis für die
Praxis, ständig etwas zu bedauern, ständig an die Vergangenheit zu denken, sich zu sagen:
„Ich hätte das nicht sagen sollen und das nicht machen sollen“. Das schafft nur Aufregung.
Buddha rät des weiteren, den Zweifel aufzugeben. Es gibt den Zweifel, der den Weg, die
Praxis betrifft. Wenn man zweifelt, kann man nicht seine ganze Kraft in die Praxis legen.
Wenn man seine ganze Energie nicht voller Vertrauen in die Praxis legt, kann die Praxis
nicht stark werden. Dies nährt wiederum den Zweifel. So entsteht ein Teufelskreis.
All diese Hindernisse sollen vom Schüler aufgegeben werden, weil sie der Intuition
schaden. Wenn man Zazen praktiziert, ist es wichtig wahrzunehmen, wenn man von diesen
Zuständen eingenommen ist, von der Gier, dem Haß, der Aufregung, der Müdigkeit, von
Zweifeln oder von Bedauern, und diese Zustände rasch fallenzulassen, nicht in ihnen zu
stagnieren, sondern sie zu durchqueren, indem man auf die Haltung, auf die Atmung
konzentriert bleibt.
So zu praktizieren bedeutet, sich vollständig in der Zazenpraxis aufzugeben. Wenn man
seine ganze Aufmerksamkeit dem Zazen gibt, gibt man seinem kleinen Ego wenig
Wichtigkeit. Das nannte Dogen “Shin shin datsu raku“ praktizieren, Körper und Geist in
die Zazenpraxis aufgeben. Dieses Aufgeben ist kein Fortschreiten in Richtung des Weges,
sondern man wird augenblicklich Buddha ähnlich, d.h. von seinen Fesseln befreit.

Mondo
F: Ich habe eine Frage über die Furcht. Bei Meister Deshimaru habe ich etwas über die 5
Elemente gelesen und die Gefühle dazu, die Wut, die Freude, die Nachdenklichkeit, die
Angst und Furcht. Ich habe festgestellt, daß ich heute nicht mehr weiß was Furcht ist.
Als Kind habe ich mich gefürchtet. Das war nicht negativ, es hatte mit meinem
christlichen Glauben zu tun. Ich habe Gott gefürchtet. In der Bibel steht angeblich: “Die
Furcht des Herrn ist der Anfang der Weisheit.” Gibt es im Buddhismus eine ähnliche
Furcht. Was ist diese Furcht?“
RR: Als ich Meister Deshimaru das erste Mal gesehen habe, 1972 in Sinal, war das erste,
was ich von ihm gehört habe: “Ihr müßt Furcht haben. Ihr müßt die kosmische
Ordnung fürchten.” Das ist genau das, was du sagst, d.h. zu fürchten, der kosmischen
Ordnung nicht zu folgen. Gottesfurcht ist das gleiche.
Es gibt einen Unterschied zwischen Angst und Furcht. Angst ist ein Hindernis auf
dem Weg. Furcht bringt einen dazu, vorsichtig zu sein, z.B. keinen Autounfall zu
verursachen. Oder ihr fürchtet, andere Leiden zu lassen und ihr paßt auf eure
Handlungen auf. Furcht zwingt zur Achtsamkeit, zur Aufmerksamkeit. Diese Art von
Furcht ermöglicht es, Gefahren zu vermeiden. Furcht ist nicht immer negativ.
Heutzutage ist es sehr wichtig, sich davor zu fürchten, den Planeten zu vergiften. Nur
wenn man sich wirklich einer Gefahr bewusst ist, wenn man sich von dieser Gefahr
betroffen fühlt, kann man sein Bewußtsein und sein Handeln ändern.
Aber wenn diese Furcht zu stark und zur Angst wird, wirkt sie wie ein Gift. Das
stimuliert nicht mehr, regt nicht mehr zum rechten Handeln an, man ist gelähmt. Man
hat dann nur noch das Angstgefühl im Kopf. Dieses Angstgefühl nimmt alle Energie.
Das ist schlecht. Ein bißchen Furcht ist gut.
Während des Krieges nahm die amerikanische Luftwaffe die Piloten, die sich
fürchteten, für schwierige Einsätze. Diejenigen, die zu mutig waren, waren gefährlich:
Sie haben sich abschießen lassen und kamen nicht von ihrer Mission zurück, weil
ihnen die Furcht fehlte. Diejenigen, die zu ängstlich waren, gingen erst gar nicht zur
Luftwaffe. Diejenigen, die ein angemessenes Maß an Furcht hatten, hatten am meisten
Erfolg. Die Furcht, die man braucht, um vorsichtig zu sein, ohne aber gelähmt zu
werden.
Gefühle haben eine Funktion. Manche Leute sagen, daß man auf dem Weg keine
Gefühle mehr hat. Damit bin ich nicht einverstanden. Man muß seine Gefühle
kontrollieren können, darf sich aber nicht von ihnen einengen lassen. Angst ist Furcht,
die eine so große Dimension einnimmt, daß man gar nicht mehr handeln kann.
F: Man spricht im Zen oft vom Aufgeben des Egos. Ich habe bei Meister Sosan gelesen,
im Kosmos herrsche vollkommene Egolosigkeit. Ich frage mich, wo die Grenze
zwischen dem ist, was uns einzigartig macht, und zwischen dem Ego. Wo fängt das Ego
an? Ist nicht das Bestreben nach Erleuchtung und Erweckung, nach Weisheit eine
egoistische Form der Verwirklichung?
RR: Das ist eine sehr interessante Frage, eine sehr weite Frage. Im Grunde gibt es kein
aufzugebendes Ego. Eigentlich ist es lächerlich zu sagen “Das Ego aufgeben”, weil es
in Wirklichkeit kein Ego gibt. Wenn du das verstehst, kannst du das Ego auf
natürliche Weise aufgeben.
Jeder von uns hat seine Persönlichkeit, seine Vorlieben, seine Charakteristika. Man
muss nicht seine Persönlichkeit aufgeben. – Jeder hat seine Eigenschaften. Meister
Deshimaru hatte auch sehr starke Eigenschaften. Was man aufgeben sollte, ist die
Täuschung, das, was in Wirklichkeit nur karmisch bedingte geistige Erzeugnisse sind,
würde ein Ego bilden.
Natürlich hat man einen Körper und Wahrnehmungen, Gefühle, Gedächtnis, seine
Geschichte, Wünsche, Willen, Bewußtsein. Das existiert und bildet das, was man die
Persönlichkeit nennt. Von da aus gesehen ist jeder wegen seines vergangenen Karmas
verschieden. Aber all das bildet kein Ego, ist unbeständig, hängt völlig von der
Geschichte und der Umgebung ab. Man kann nicht isoliert sein: “Das bin ich.” Es ist
nur ein Netzwerk von wechselseitiger Abhängigkeit. Wenn man das versteht, kann
man weniger egoistisch sein. Man kann die Illusion aufgeben, ein Ego zu haben. Das
bedeutet es, zu erwachen, d.h. die Realität, die wahre Natur unseres Lebens zu sehen
und auf natürliche Weise weniger gierig, weniger besitzergreifend zu werden.
Du fragst jetzt, ob es egoistisch ist, erwachen zu wollen. Vielleicht. Das Satori
erlangen zu wollen, kann egoistisch sein: wenn man sich das Satori als große
Glückseligkeit vorstellt und man diese Glückseligkeit für sich haben will. Es gibt viele
Leute, die diese Illusion haben. Sie haben jede Menge Freude in ihrem Leben und
glauben, daß immer noch etwas fehlt. Für sie ist das Satori die Kirsche auf dem
Sahnehäubchen. Das hat nichts mit wahrem Erwachen zu tun. Wahres Erwachen ist,
sich selbst zu verstehen, nichts Außergewöhnliches, nichts Glückseliges. Es ist seine
Illusionen fallen lassen, um auf eine richtige Weise zu leben. Mehr in der Harmonie
mit der Wirklichkeit, mit unserer wahren Natur.
Das kann nicht egoistisch sein. Wenn eine Person auf diese Art und Weise erwacht,
werden sich auch die Leute wohlfühlen, die mit dieser Person Kontakt haben.
Erwachen kann man nicht nur für sich selbst. Spezifisch am Erwachen ist, dass man
sich mit den anderen solidarisch fühlt. Es bringt uns auf natürliche Weise zum
Mitgefühl, dazu, den anderen helfen zu wollen, sich von ihren eigenen Leiden zu
befreien.
Erwachen nur für einen selbst existiert nicht. Wenn es nur für einen selbst ist, ist es
nicht das wahre Erwachen, denn dann versteht man sich nicht selbst, versteht nicht,
daß das Selbst nur in Wechselbeziehungen mit den anderen besteht. Derjenige, der
glaubt, das Erwachen für sich verwirklicht zu haben, hat überhaupt nichts
verwirklicht. Das ist nur eine Illusion. Es kann kein egoistisches Erwachen geben.
F: Ich habe eine Frage zur Praxis von Zen. Wieviel Aktivität und wieviel Passivität
brauchen wir?
RR: Fifty-fifty
F: Einerseits heißt es, man solle die Gedanken kommen und gehen lassen, andererseits
verlangt man Konzentration und Aufmerksamkeit.
RR: Wenn man nicht aufmerksam ist, läßt man sich von den Gedanken einnehmen.
Aufmerksam sein bedeutet nicht, seine Gedanken zu ergreifen, sondern einfach sie zu
sehen.
F: Aufmerksamkeit bedeutet also nicht, die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt
zu fokusieren, sondern nur allgemein wahrnehmen.
RR: Es kann helfen, wenn man seine Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Punkt richtet.
Aber es ist dann kein Gedanke, den man empfängt, sondern ein Empfinden, z. B. das
Spüren des Kontakts der Daumen oder das Empfinden der Luft, wenn man atmet.
Nyojo sprach von der Wölbung der linken Hand. Meister Deshimaru sprach vor allem
von der Berührung der Daumen. Seine Aufmerksamkeit auf diesen Punkt zu richten,
hilft, völlig gegenwärtig zu sein. Es vermeidet, daß sich der Geist zerstreut und allen
möglichen Gedanken folgt. Es ist eine Unterstützung, aufmerksam zu bleiben auf all
das, was passiert, ohne sich einfangen zu lassen.
Dies ist die hauptsächliche Funktion der Konzentration auf Körper und Atmung. Es ist
kein Anhaften an den Körper oder die Atmung, sondern es geht nur darum, auf den
Körper, auf die Haltung aufmerksam zu sein. Das ermöglicht, den Geist zu befreien,
einen Geist zu haben, der wie ein Spiegel funktioniert.
Der Spiegel gibt genau das wieeder, was ist, aber er hält nichts fest. Wenn der Spiegel
die Bilder festhalten würde, würde er nicht mehr wie ein Spiegel funktionieren. Ein
Spiegel ist zugleich sehr aufmerksam, weil er alles widerspiegelt, was da ist, ohne zu
wählen “Der da ist häßlich, den werde ich nicht widerspiegeln. Die da hat ein
hübsches Gesicht, die will ich festhalten”. Ein Spiegel spiegelt alles wider und läßt es
vorbeiziehen. Das Bewußtsein in Zazen funktioniert, wenn man wirklich aufmerksam
ist, wie ein Spiegel. Die Konzentration auf einen bestimmten Punkt hilft dabei. Das
kannst du erfahren, das ist nichts, was man intellektuell verstehen kann . Aber wenn
du es ausprobierst, wirst du sehen, dass es funktioniert.
F: Ich habe eine weitere Frage. Sie sprachen gerade über das Satori, im Rinzai-Zen ist das
eine Sache, über die viel gesprochen wird, im Soto-Zen nicht.
RR: Doch darüber spricht man auch im Soto. Aber im Rinzai ist das der Gegenstand der
Praxis und wird schnell zur Illusion. Z.B. gibt es in den „3 Pfeilern des Zen“ einen
Wettlauf zum Satori. In Frankreich gibt es ein Kinderspiel, bei dem man eine Jagd
organisiert, um ein Tier zu fangen, das nicht existiert. Im Rinzai-Zen sagt man oft, um
die Schüler zu stimulieren, z.B. nachmittags, wenn sie müde sind: “Wir haben nur
noch zwei Tage Sesshin und ihr habt immer noch nicht das Satori erlangt! Jetzt
konzentriert euch!” Man benutzt die Gier des Geistes, der etwas erreichen möchte, um
zu stimulieren.
Das wahre Satori kann aber nur verwirklicht werden, wenn man diesen Geist aufgibt.
Satori bedeutet “verstehen”, tief zu verstehen, daß es nicht zu ergreifen gibt. In diesem
Moment kann man frei praktizieren. Es ist der wahre Sinn der Praxis, die Wesen von
ihrer Gier zu befreien, die sie zum Leiden bringt.

 

25.2.2000, 20.30 Uhr
Von Anfang des Sesshins an habe ich von der Unterweisung Buddhas bezüglich der
schrittweisen Praxis gesprochen, in der er einem Brahmanen, der ihn darüber befragt hatte,
seine Pädagogik erklärte.
In der Regel unterweist man seit der Geschichte mit der Nachfolge von Konin im Zen das
augenblickliche Erwachen. Damals wurde die Trennung geschaffen zwischen der Schule
des Südens von Meister Eno, der die augenblickliche Praxis unterwies, die plötzliche
Praxis, und der Schule des Nordens von Jinshu, der die schrittweise Praxis unterwies.
Ich glaube, dieser Gegensatz ist ein Irrtum. Er ist die Auswirkung der Ambitionen der
Schüler von Eno, der die Unterweisung von Jinshu kritisiert hatte. Buddhas Unterweisung
ist jenseits des Gegensatzes zwischen schrittweise und plötzlich. Denn beide sind
kontemplär. Es ist nicht nötig, sie einander gegenüber zu stellen.
Meister Dogen z.B. kritisierte oft das Plattform-Sutra und betrachtete es als falsch, als von
Schülern geschaffen und nicht die wahre Unterweisung von Eno darstellend. Über das
berühmte Gedicht über den Spiegel sagte Dogen: „Putzt den Spiegel, säubert ihn.” Das ist
die grundlegende Praxis. Den Spiegel zu säubern ist in sich selbst Praxis des Erwachens.
In einem Sutra erklärt Buddha, daß er zuerst die Regeln und die Gebote unterweist, dann
die Kontrolle der Sinnesorgane, danach die Achtsamkeit und die Aufmerksamkeit im
täglichen Leben und schließlich die Zazenpraxis.
Was die Zazenpraxis angeht, so teilt er sie in vier Etappen, die die vier Dhyana genannt
werden. Bei der 1. Etappe gibt es noch eine Art von bewußtem Nachdenken, aber man hat
bereits Gier und Haß aufgegeben, das Auswählen, das Ablehnen, die Zweifel, die geistige
Aufregung, die Schläfrigkeit. In diesem Zustand der Konzentration empfinden die Schüler
große Freude und großes Glück.
Dann geben die Schüler auch alles bewußte Denken auf. So wird der Geist geeint, das
dualistische Denken aufgegeben, das Trennungen schafftt. Man hört auf, ständig pro und
contra einander entgegenzusetzen, das Wahre und das Falsche. So kann man einen großen,
inneren Frieden verwirklichen. Die Schüler, die auf diese Weise praktizieren, empfinden
ein großes Glück.
Aber dann wird sogar dieses große Glück aufgegeben. Der Schüler verweilt in völliger
Gleichmut. Er klammert sich weder an Glück noch an Unglück. Manche empfinden z.B.
beim Zazen eine große Freude und haften daran. Sie denken, es wäre Satori. Dies wird zu
einem Hindernis in ihrer Praxis. Denn der Geist verhaftet sich und verweilt in dieser
Anhaftung.
Schließlich gibt der Schüler jegliche Traurigkeit und jegliches Anhaften an Freude auf. Er
macht weiter Zazen, indem er einfach nur aufmerksam bleibt, völlig aufmerksam auf das,
was ist, in einem völlig ausgeglichenen Geisteszustand.
Diese Pädagogik Buddhas, um Zazen zu unterweisen, war der indischen Mentalität
angepaßt, die gerne alle Zustände analysiert. In der Zen-Schule spricht man nicht so sehr
von diesen verschiedenen Stufen, denn diese verschiedenen Stufen werden in der
Zazenpraxis ständig durchquert, in einer Praxis in der wir auf keinem Zustand verweilen,
in der wir weder am Nachdenken haften noch an Gedanken, weder am Glück, noch an
Freude und an keinen anderen Gefühlen, aber auch ohne vor ihnen zu fliehen. Sie einfach
durchqueren, über sie hinausgehen, ohne auf etwas zu verweilen. Dieser Geist, der auf
nichts verweilt, ist der wahre, erweckte Geist, der Geist, der frei von allen geistigen
Fixierungen ist.
Das nannte Hyakujo das augenblickliche Erwachen.
Als Shakyamuni Buddha sagte, daß er auf diese Weise seine Schüler unterweise, bezog er
sich auf die, die noch nicht das Erwachen erreicht hatten, die noch nicht von ihren
Bindungen befreit waren. Die, die bereits befreit waren, lehrte er genau dasselbe. Denn für
sie wird es zur Praxis des Erwachens. Es ist kein Mittel, um das Erwachen zu erreichen, es
ist die Verwirklichung selbst.
Laßt euren Kopf nicht nach vorne fallen, zieht gut das Kinn zurück.

 

26.2.2000, 7 Uhr
Konzentriert euch zu Beginn des Zazen gut auf die Haltung und haltet eure Energie nicht
zurück. Nehmt in jedem Augenblick die bestmögliche Haltung ein. Streckt gut die
Nierengegend, streckt gut die Wirbelsäule, macht keinen Buckel, streckt den Nacken und
zieht das Kinn zurück. Drückt den Kopf gegen den Himmel, laßt die Schultern locker,
entspannt gut den Bauch. Konzentriert euch auf jede Ausatmung.
Verliert nicht eure Zeit, indem ihr euren Gedanken folgt. Betrachtet sie einen Augenblick,
laßt sie dann vorüberziehen und kehrt zur Konzentration auf die Haltung und die
Ausatmung zurück. Laßt euren Geist nicht in irgendeinem Zustand verweilen.
Nachdem er dem Brahmanen Ganaka erklärt hatte, wie er seine Schüler unterweist, fragte
dieser Buddha: „Verwirklichen alle eure Schüler die letztendliche Befreiung oder gibt es
einige, die sie nicht erreichen.“ Buddha antwortete: „Einige der Schüler, die meine
Unterweisung erhalten haben, verwirklichen diese Befreiung, und andere, die meine
Unterweisung erhalten haben, verwirkliche sie nicht“. Der Brahmane fragte: „Wieso ist das
so?” Buddha antwortete ihm: „Ist es ihnen möglich den Weg zu zeigen, der nach Ragdir,
der nach Aachen führt?“ „Ja, ja.” „Was meinen Sie: Wenn Sie jemand nach dem Weg nach
Ragdir fragt und Sie erklären ihm den Weg – geradeaus, im nächsten Dorf gehen Sie nach
links, dann nehmen Sie die Autobahn nach links und geradeaus kommen Sie direkt nach
Aachen – und diese Person, der sie den Weg erklärt haben, Ihren Erklärungen nicht folgt
und nach rechts geht statt nach links, glauben Sie dann, daß sie zum Ziel, nach Aachen
kommt?” “Natürlich nicht.” “Ist das dann Ihr Fehler?“ Der Brahmane antwortete:
“Sicherlich nicht. – Ich bin nur jemand, der den Weg zeigt.” Buddha sagte: „Ich auch.”
In der Unterweisung des Weges sieht man die Rolle des Meisters als sehr wichtig an. Aber
diese Rolle hat Grenzen. Sie beschränkt sich darauf, den Weg zu zeigen, zu zeigen, wie
man praktiziert, die Sackgassen zu zeigen, die man vermeiden sollte. Dann ist es an jedem
einzelnen, den Weg zu gehen. Niemand kann jemand anderem das Erwachen geben.
Niemand kann es an Stelle von jemand anderem realisieren.

 

26.2.2000, 11 Uhr
In der Zen-Unterweisung spricht man oft vom Aufgeben des Ego. Gestern nachmittag gab
es zu diesem Thema auch eine Frage. Das war ebenfalls Thema einer weiteren Predigt, die
Buddha vor seinen Schülern hielt.
Er sagte ihnen: “Der Körper, die Form – Shiki im Hannya Shingyo – ist nicht das Ich, das
Selbst.” Wäre der Körper das Selbst, wäre er nicht Krankheiten unterworfen und man
könnte seinen Körper vollständig kontrollieren. Man könnte willentlich erreichen, daß er
so oder so wäre. Aber weil der Körper nicht das Selbst ist und Krankheiten unterworfen ist,
haben wir keine Möglichkeit zu wollen, daß er so oder so wird. Selbst wenn man sich um
seinen Körper kümmern kann, ihn pflegen kann, ist der Körper jenseits unserer Kontrolle.
Selbst der beste Arzt kann Krankheit und Tod nicht vermeiden. Das ist völlig jenseits
unserer Kontrolle.
Im Zazen konzentriert man sich auf seinen Körper. So kann man realisieren, daß dieser
Körper uns nicht gehört. Man kann ihn nicht völlig kontrollieren. So kann man das
Anhaften an seinen eigenen Körper aufgeben. Das bedeutet nicht, ihn zu verachten. Man
kümmert sich um ihn als das Mittel zur Praxis des Weges, akzeptiert aber, daß er jenseits
unserer Kontrolle ist. Dieses Loslassen ist sehr wichtig: Dieser Körper gehört mir letztlich
nicht. Dieser Körper ist nicht mein Ego. Er hat keine Substanz, ist kein Selbst, ist nicht
beständig.
Das Gleiche gilt für die Empfindungen. Buddha sagte: “Wenn die Empfindungen das
Selbst wären, wären sie nicht den Krankheiten unterworfen.” Man hätte die Möglichkeit,
seine Empfindungen zu kontrollieren.
Wenn man z.B. im Zazen Knieschmerzen oder Rückenschmerzen hat, wenn man müde ist,
sind diese Empfindungen jenseits unserer Kontrolle. Man kann nicht entscheiden, einen
Schmerz verschwinden zu lassen. Selbst wenn man keine Schmerzen haben möchte, sind
sie da. Wir können nur unsere Haltung dem Schmerz gegenüber ändern, indem wir
dedramatisieren und die Schmerzen nicht verstärken, indem wir uns im Geist an sie
klammern. Empfindungen bilden also kein Ego, kein Selbst.
Auch die Wahrnehmungen sind nicht das Selbst. Buddha benutzte die gleiche
Argumentation: “Wenn die Wahrnehmungen das Selbst wären, wären sie nicht der
Krankheit unterworfen.”
Mit dem Alter wird der Blick schwächer, manche Menschen werden taub. Unsere
Wahrnehmungen sind nicht sehr verläßlich. Manchmal sieht man eine Fata Morgana und
hält sie für die Wirklichkeit. Wenn man verliebt ist, hält man den Partner für den schönsten
Menschen der Welt. Aber wenn die Empfindungen sich ändern, ändert sich auch die
Wahrnehmung. Deshalb konstituiert auch die Wahrnehmung kein Ego.
Dann gibt es noch die Gewohnheiten, das 4. Skandha, die Motivationen, das Wollen, das
Begehren. Oft hält man sie für ein Ego. Man verwechselt das Ego mit dem Willen: Ich bin
jemand, der dies oder jenes möchte.
Wenn wir unser Leben betrachten, sehen wir, daß auch unsere Motivationen sich
entwickeln: Manchmal ist unsere Arbeit das wichtigste in unserem Leben, manchmal der
Partner, manchmal das Zen. Auch unsere Motivation können wir nicht immer
kontrollierten. Darum bilden diese Motivationen ebenfalls kein Ego.
Schließlich.gibt es das Bewußtsein. Das Bewußtsein von all dem, das Bewusstsein unseres
Körpers, unserer Empfindungen, unserer Wahrnehmungen, unserer Wünsche. Während
Zazen kann man sich all dessen bewußt werden, was in uns passiert.
Auch dieses Bewußtsein ändert sich fortwährend. Bewußtsein existiert nur in Bezug auf
irgend etwas. Sich selbst kennenzulernen, ist dies tiefgehend beobachten. So kann man
bemerken, daß das, was man als sein Ego betrachtet, in Wirklichkeit unfaßbar ist. Dann
gibt es kein Ego, das man aufgeben müsste, sondern nur eine Täuschung, die man
vorbeiziehen lassen kann. Daher ist es nicht nötig, mit sich selbst zu kämpfen. Nur tief
unsere Existenz betrachten und realisieren, daß sie nicht nur die unsrige ist.
Laßt euren Kopf nicht nach vorne fallen. Wenn ihr am Ende von Zazen etwas
Schwierigkeiten habt, werdet ihr diese Schwierigkeiten nicht überwinden, wenn ihr den
Kopf hängen laßt und schlaff werdet. Legt im Gegenteil alle eure Energie in eure Haltung,
nehmt eine starke Haltung ein. Die Energie, die ihr in eure Haltung gebt, kommt zu euch
zurück. Im Zazen ist geben gleich erhalten. Das ist ein Gesetz der kosmischen Ordnung.

 

26.2.2000, 16.30 Uhr
Heute morgen habe ich von der Unterweisung Buddhas an seine fünf ersten Schüler
gesprochen. Das war Nähe von Benares. Kurz nachdem er die 4 edlen Wahrheiten gelehrt
hatte. Es war der Beginn der Sangha und der Beginn der Unterweisung.
Für uns ist es sehr interessant, zu diesem Ursprung zurückzukehren, zu diesem
Ausgangspunkt der Weitergabe des Dharma. Man spricht oft darüber, das Ego aufzugeben,
das Erwachen, die Befreiung zu verwirklichen. Das sind immer etwas vage Ausdrücke,
man versteht nicht so richtig, was sie bedeuten.
Wenn man die ursprüngliche Unterweisung Buddhas studiert, wird es sehr klar. Zur
damaligen Zeit erwachten die Leute sehr schnell. Z.B. erwachten seine ersten fünf Schüler
augenblicklich, als sie die Predigt über das Nicht-Selbst hörten.
Ich werde euch jetzt weiter diese Unterweisung vorstellen, und wir werden sehen, was
dann passieren wird.
Heute morgen sagte H-J, man würde zuviel unterweisen und stelle zu wenig Fragen.
Buddha stellte seinen Schülern gerne Fragen. Er fragte sie: „Was denkt ihr, Mönche, ist der
Körper und alles was eine Form hat beständig oder unbeständig?“ “Sie sind unbeständig”,
antwortete ein Schüler. “Wenn etwas unbeständig ist, zählt es dann zum Glück oder zum
Unglück?” fragte Buddha. “Zum Unglück”, antwortete ein Schüler. “Das was unbeständig,
was Unglück, was Veränderung unterworfen ist, kann man das als sein Selbst, sein Ego
betrachten und sagen: ‘Das bin ich?'” “Natürlich nicht”, antwortete ein Schüler.
Buddha stellte Fragen und seine Schüler antworten. Wenn die Frage gut gestellt ist, ist die
Antwort offensichtlich. Buddha fragte weiter: “Ist die Empfindung beständig?” – “Nein.”
Und er stellte die gleichen Fragen, zur Wahrnehmung, zu den Neigungen, zum
Bewußtsein.
So konnte jeder realisieren, daß man von allem, was in den Bereich des Körpers gehört,
und von allem, was die Empfindungen betrifft, die Wahrnehmungen, die Neigungen, das
Bewußtsein, sei es in der Vergangenheit, der Zukunft oder der Gegenwart, wenn man es
mit Weisheit betrachtet, nur sagen kann: “Das ist nicht ich, ich bin nicht das.”
Wenn man die Dinge so sieht, kann man nicht am Körper, an Empfindungen, an
Wahrnehmungen haften und auch nicht an Neigungen und am Bewußtsein. Weil man
daran nicht haftet, ist man ohne Gier. Ohne Gier wird man völlig frei. Das realisierten
diese fünf Mönche. Es war nicht mehr notwendig, in den sechs Welten des Leidens zu
transmigrieren. Die reine Praxis wird realisiert. Was vollendet werden soll, ist vollendet.
Es gibt nichts mehr zu tun. Es gibt nichts mehr zu realisieren.
Aufgrund des Mondos mit Buddha waren die Mönche sehr glücklich, denn ihre Gedanken
waren vollständig von Bonnos und Verschmutzungen gereinigt. Das Sutra endet, daß es ab
diesem Zeitpunkt sechs Arhats in der Welt gab.
Man kann sagen, daß dieses Mondo der Prototyp der Zen-Unterweisung ist. Alle großen
Mondos der Patriarchen hatten kein anderes Ziel, als dies zu realisieren:
Bodhidharma fragte Eka: “Zeig mir deinen Geist!” Eka antwortete. “Mein Geist ist
unfaßbar.” “Wenn du das bereits realisiert hast, bist du von deinen Leiden befreit,”
antwortete Bodhidharma.
“Was kommt so?” fragte Eno Nangaku. Viele Jahre später antwortete Nangaku: “Das ist
nicht etwas.”
Buddha und die Patriarchen, die Weitergabe des Zen wollen uns nur das realisieren, das
erfahren lassen und so wirklich frei von seinen Täuschungen zu werden. Die Möglichkeit
erscheint, mit der Wirklichkeit in Harmonie zu leben. Manchmal nennt man das ‘die
Buddha-Natur verwirklichen’, Buddha ähnlich werden, die gleiche Erfahrung realisieren
wie seine ersten fünf Schüler.

Mondo
F: Ich bin sehr froh über das Kusen, weil es mir erlaubt, dem Punkt näher zu kommen, an
dem ich nicht mit Buddha übereinstimme, wo ich mich frage, ob er nicht ein bißchen
sehr indisch ist.
RR: Oh ja, er ist sehr indisch.
F: Es ist völlig klar, daß Veränderungen Schmerzen mit sich bringen können. Ich empfinde
das nicht als Unglück. Es ist der Preis des Lebens, Leben ist Veränderung. Ich frage
mich, ob die Unterweisung, wie du sie jetzt dargelegt hast, deiner Auffassung entspricht.
RR: Ich stelle mir diese Frage auch. Ich denke, im Grunde hat Buddha recht. Aber es ist
schwer, es völlig zu akzeptieren. Deswegen erwachen die Leute heutzutage nicht
mehr. Alle denken ein bisschen wie Du, ich auch. Wir sagen uns: ‘Im Grunde hat er
recht,’ aber wir können uns trotzdem mit der Unbeständigkeit arrangieren. Man kann
sich mit dem Leiden, mit dem Tod arrangieren. Wir haben einen Modus, Freude und
Gefallen zu finden, selbst wenn sie unbeständig sind. Wir versuchen alle, uns zu
arrangieren und Kompromisse zu finden. Wir versuchen schlau zu sein, um uns mit
den Gründen des Leidens zu arrangieren: Man bemüht sich, seine Gesundheit zu
schützen, man versucht zu lieben, ohne zu sehr zu leiden, obwohl dies sehr schwierig
ist. Das ist genau die Haltung des Ego. Man meint, es wird schlau genug sein, da raus
zu kommen.
F: Ich zweifle, ob das die Haltung des Ego ist. Ist es nicht die kosmische Ordnung, die
genau Veränderung ist? Ist nicht genau das nicht die Auffassung des Ego, sondern das
Akzeptieren der kosmischen Ordnung ?
RR: Natürlich. Der Sinn der Unterweisung Buddhas ist, genau diese Unbeständigkeit zu
akzeptieren. Wenn man die Unbeständigkeit wirklich akzeptiert, kann man nicht mehr
an einem Begriff des Egos haften.
F: Damit bin ich vollkommen einverstanden. Die Frage ist für mich diese negative
Sichtweise des Lebens: Veränderung ist Unglück …
RR: Ich glaube nicht, daß das negativ ist. Man neigt dazu, es negativ zu sehen und zu
sagen: ‘Buddha ist ein Pessimist’. Er ist nur Realist.
F: Aber das war doch die Unterweisung, die er den Mönchen gegeben hat.
RR: Ja. Aber als die Mönche diese Unterweisung verstanden, wurden sie sehr glücklich.
Die Leute, die seine Schüler sahen, waren sehr erstaunt darüber zu sehen, wie
glücklich diese waren. Es macht glücklich, loszulassen. Aber wenn wir weiter unsere
Anhaftungen unterhalten, macht dies das Leben kompliziert.
F: Es bleiben Zweifel.
RR: Alle hier werden weiterhin Zweifel haben. Ich auch ein bisschen. Es ist eine
Unterweisung, die schwierig zu schlucken ist. Das finde ich auch. Das ist einer der
Gründe, weshalb ich von diesen eigentlich bekannten Sutren selten gesprochen habe.
Denn ich weiß genau, daß ihr so reagieren werdet, weil ich auch dazu neige, so zu
reagieren. Dennoch denke ich, daß man diese Unterweisung nicht vermeiden sollte.
Ich glaube, es ist die tiefste Wahrheit. An dem Tag, an dem wir das wirklich
akzeptieren können, werden wir Buddha ähnlich werden. Im Moment versuchen wir,
darum herumzukommen.
Ich glaube zu Zeiten Buddhas verstanden die Leute sehr schnell, deshalb erwachten
sie sehr rasch.
F: Ich habe noch eine Frage zu dem spontanen Erwachen der alten Inder: Kann es
vielleicht sein, daß in den Sutren unterschieden wird zwischen dem Verstehen mit dem
Kopf und dem anschließenden Praktizieren des Verstandenen. Ich denke, da wird es erst
interessant.
Die Sutren hören nach einer Unterweisung auf: Fünf Leute sind erwacht. Danach könnte
es weitergehen und vier Wochen später ist alles beim alten.
RR: Was meinst du damit, dass vier Wochen später alles beim alten ist?
F: Die fünf haben etwas verstanden, sind glücklich, verlassen den Ort, treffen ihre alten
Freunde wieder, schauen, ob sie was zu essen finden und plötzlich vergessen sie es
wieder.
RR: Nicht Buddhas Schüler. Nach dem, was man in der Sangha-Geschichte lesen kann,
nicht. Es gab keinen Rückfall in den alten Zustand. Die Schüler, die wirklich
verstanden hatten, hatten verstanden. Es war nicht einfach eine kleine Intuition. Es
änderte ihr Leben vollständig.
Aber im Unterschied zu uns waren das Leute, die im Grunde sehr unter ihrer Existenz
gelitten haben. Sie waren bereit, für den Weg alles aufzugeben. Schon der Geist, mit
dem sie praktizierten, war anders. Sie waren von Anfang an überzeugt, daß es keinen
Kompromiß gab. Aus diesem Grund haben sie ihr Haus, ihre Familie, ihre Arbeit usw.
verlassen. Nur der Weg der Befreiung zählte. Sie brauchten nur ein kleines Etwas, um
über ihre Zweifel hinauszugehen. Es waren Leute, die bereits überzeugt waren, daß es
kein Heil gab in den Kompromissen dieser Welt.
Ich glaube, wir müssen uns wirklich die Frage stellen, mit welchem Geist wir
praktizieren. Bis zu welchem Punkt sind wir entschieden, den Weg zu verwirklichen?
Bis zu welchem Punkt ist der Weg eine Art Luxus, der zu anderen Befriedigungen des
Alltags hinzugefügt wird? Für diese Mönche war es wirklich eine Frage von Leben
und Tod, sie waren in dieser Praxis vollkommen engagiert.
Wenn man Dogen und seine Schülern betrachtet, so hatte er das gleiche Problem. Zur
Zeit Dogens sagte man: “Früher, zu Zeiten Buddhas, haben die Schüler das Erwachen
schnell realisiert. Heute ist das nicht mehr möglich.” Zur Zeit Dogens glaubte man,
besonders in Japan, man sei in der Mappo-Epoche, einer dunklen Zeit, in der es zwar
noch die Unterweisung gebe, jedoch keine Realisation mehr. Dogen war damit nicht
einverstanden. Er sagte: “Das hängt nur von eurem Engagement auf dem Weg ab.”
Deswegen wurde er auch nach und nach in seiner Unterweisung strenger und
rigoroser, in der Erziehung des Shukke. Shuke war für ihn sehr wichtig, für ihn hieß
das, alles für den Weg aufgeben. Das war der Geist. den die Schüler Buddha
Shakyamunis hatten.
F:Wenn ich die Unterweisung Buddhas richtig verstehe, die du uns gerade gegeben hast,
dann müßte ich die kleine Stimme völlig aufgeben, die zu mir spricht und die ich Hubert
nenne.
RR: Das hängt davon ab, was die kleine Stimme dir sagt. Buddha spricht in den Sutren
nicht davon, ein Ego aufzugeben. Für ihn ist das Ego eine Illusion, also kann man es
auch nicht aufgeben.
Das heißt aber nicht, daß es keinen Hubert gibt. Natürlich gibt es Hubert. Buddha
verneint nicht, daß jeder seine Eigenschaften, seinen Körper, Vergangenheit,
Erinnerungen, einen Namen usw hat. Es geht nicht darum zu sagen: “Ich existiere
nicht.” Man existiert. Aber wie existiert man? Welche Natur hat diese Existenz? Das
ist der wichtige Punkt.
Buddha zeigt, daß unsere Existenz ohne Substanz ist, die man als Selbst, als Atman
bezeichnen könnte. Damals glaubten die Leute an ein Atman, ein Selbst, wie im
Christentum der Glaube an eine unsterbliche Seele. Buddha sagte: “Wenn ihr an
dieses Selbst glaubt, so ist das die Wurzel all eurer Anhaftungen, dann werdet ihr euch
nicht befreien können.” Und er versuchte, das Illusionäre dieses Selbst zu zeigen. Er
forderte seine Schüler auf, diese Illusionen aufzugeben. Für Buddha gab es nichts zum
Abschneiden, sondern es galt nur, eine Illusion zu sehen.
F: Bodhidharma antwortete auf die Frage „Wer bist du?” „Ich weiß es nicht“.
RR: Aber er sagte nicht: “Ich heiße nicht Bodhidharma.” Das mußt du verstehen. Er
antwortete auf der Ebene der absoluten Realität. Das ist ein sehr wichtiger Punkt.
Nagarjuna hat das sehr hervorgehoben. Wenn man das nicht versteht, dann versteht
man diese Mondos und diese Unterweisung nicht.
Als Bodhidharma, nachdem ihn der Kaiser gefragt hatte “Wer bist du?”, “Ich weiß es
nicht”, geantwortet hat, dann nicht, weil er verrückt geworden war. Er weiß sehr gut,
daß er Bodhidharma heißt, daß er Inder ist, daß er nach China gekommen ist, um
Buddhismus zu lehren. Er weiß das sehr gut. Er sagt: “Ich weiß es nicht”, weil im
Grunde die Essenz seines Egos nicht erfaßbar ist. “Ich kann es nicht ergreifen, nicht
definieren. Ich kann nicht sagen: “Das bin ich. Ich bin das.” Das lehrte Buddha seine
Schüler: “Ihr könnt nicht sagen: ‘Ich bin das.'”
F: Ich habe aber den Eindruck, in meinem Kopf ist Hubert, der spricht und ich sage: “Das
bin ich.”
RR: Vielleicht. Aber glaubst du, daß du seit immer existierst? Wenn du das glaubst, dann
irrst du dich. Du kannst sagen, seit deiner Geburt.
F: Genau. Ich möchte wissen, ob ich das aufgeben soll oder nicht.
RR: Was Du aufgeben mußt, sind die ganzen geistigen Konstruktionen um diesen Hubert
herum. Das heiß nicht, daß Hubert nicht existiert.
F: Es geht um das Kusen von heute morgen über den Meister, der den Weg zeigt. Der
Meister erklärt, wie man nach Aachen kommt. Der Schüler macht sich seine eigenen
Gedanken und hat sich in den Wäldern der Eifel verlaufen. Ist es für ihn möglich,
Aachen zu finden?
RR: Selbstverständlich. Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung. Manchmal macht man
riesige Umwege, aber das heißt nicht, daß man sich endgütig verlaufen hat.
Der Brahmane war sehr neugierig auf Buddhas Unterweisung. Er stand in der
Tradtion einer spirituellen Lehre. Buddha war ein neuer spiritueller Meister. Viele
Brahmanen waren nicht eifersüchtig, sahen in ihm keine Konkurrenz. Sie wollten
sehen, was er unterwies, denn er hatte großen Erfolg. Sie fragten: “Was lehrt Ihr eure
Schüler?” Und Buddha erklärte seine Methode, so wie ich es gestern erklärt habe, die
schrittweise Methode. Der Brahmane fragte: “Die Leute, die eurer Unterweisung
folgen, müssen doch alle das Erwachen realisieren?” Wahrscheinlich hatte er die
gleichen Probleme, er hatte auch Schüler und wusste, dass einige Probleme hatten. Er
wollte wissen, ob alle Schüler Buddhas das Erwachen realisierten. Buddha sagte:
“Nein, manche realisieren es nicht.”
Das heißt nicht, daß die Unterweisung schlecht ist. Man kann unterweisen, wie man
will, es gibt immer Leute, die der Unterweisung nicht folgen. Solange sie nicht folgen,
können sie nicht erwachen. Das heißt nicht, daß sie nie erwachen. In irgendeinem
Moment erwachen einige, andere erwachen nicht. Manche gehen weg und verlassen
die Sangha, manche oder stellen sich gegen die Lehre.
F: Man kann Fehler machen und dann verstehen, dass man Fehler gemacht hat.
RR: Im allgemeinen entwickelt man sich auf dem Weg aus Fehlern heraus. Wenn man sich
ihrer bewusst wird.
F: Aber der Weg der Schüler ist doch voll von Fehlern.
RR: Man darf sich auch nicht in die Fehler hineinsteigern. Du mußt die Unterweisung des
Meisters verstehen. Die Leute fragen sich: “Was heißt es, Schüler zu sein?” Eigentlich
ist das sehr einfach: Ein wirklicher Schüler ist jemand, der versucht, die Unterweisung
seines Meisters in die Praxis umzusetzen. Das ist keine Frage von Liebe, kein i shin
den shin, nichts Mysteriöses. Jemand unterweist etwas, und wenn man diese
Unterweisung als richtig empfindet, versucht man ihr zu folgen. Man bittet ihn um
Hilfe, um Anleitung, damit man ihm folgen kann. Das ist alles. Wenn man eine
Unterweisung hört, der man nicht folgt, verliert man seine Zeit.
Der Meister selbst bemüht sich auch, seiner Unterweisung zu folgen. Die
Unterweisung, die ich gebe, ist auch eine Unterweisung, die ich mit selber gebe. Ich
bin auch Schüler dieses Dharmas, dieser Unterweisung. Ich gebe nicht vor, dass ich
die Unterweisung zu 100 Prozent realisiert habe. Aber ich spüre ganz tief, daß es der
richtige Weg ist.
F: Die zweite Frage ist eine physiologische Frage. Ich habe auf der Gendro eines Tages ein
Gespräch zwischen zwei Godos mitbekommen. Der eine sagte zu dem anderen. „In
Zazen schlafe ich völlig ein.” Der andere meinte: „Wenn du richtig einschläfst, fällst du
um.” – Als ich schwanger war, war ich während Zazen sehr müde. Vielleicht war es eine
Illusion, aber ich schlief, ich träumte. Die Kyosaku-Leute gingen an mir vorbei, aber sie
sahen nichts. Ich hatte zwar die Augen geschlossen, aber ich behielt die Haltung bei. Ist
das möglich?
RR: Selbstverständlich. Ich habe diese Erfahrung auch gemacht. Wenn man eine stabile
Haltung hat, kann man in Zazen einschlafen. Das ist gefährlich, denn es ist verlorene
Zeit.
F: Ich mußte an die Geschichte des Meisters denken, der in Zazen gestorben ist.
RR: Sekito ist in Zazen gestorben. Weil er schon alt und krank war, wußten die Leute
nicht, ob er schlief oder gestorben war. Sie haben lange gebraucht, bis sie entdeckten,
daß er wirklich gestorben war. Ihnen kamen Zweifel, aber niemand wagte es, ihn zu
berühren. Dann merkten sie, daß er wirklich tot war. Er macht weiterhin Zazen. Man
hat ihn in dieser Haltung mumifiziert. Man kann ihn in Soji-ji sehen. Er ist nur ein
wenig geschrumpft.
Das ist also möglich und es zeigt, daß du eine stabile und ausgeglichene Haltung hast.
Aber es ist auch eine Falle: Wenn du in Zazen schlafen kannst und die Kyosaku-Leute
merken es nicht, dann hilft dir keiner, dann verlierst du deine Zeit.
Wenn man manchmal sehr müde ist, ist es besser, eine Minute zu schlafen und
wirklich loszulassen. Das erfrischt manchmal ganz plötzlich den Geist. Dann verliert
man ein wenig das Gleichgewicht, wacht auf und ist dann wieder richtig wach.
Aber die Kyosaku-Leute müssen dich gut im Auge behalten.
F: Ich habe zwei Fragen, aber ich mache es kurz.
Besitzen wir die Buddha-Natur? Ja oder nein?
RR: Nein.
F: Wie kann man unter diesen Bedingungen sagen, daß Buddhas Schüler und Buddha
selbst das definitive Erwachen erlangt haben? Wenn alles unbeständig ist, dann doch
auch ihr Erwachen.
RR: Soweit ich weiß, hat man nicht von Schülern Buddhas gehört, die das Erwachen
realisiert haben und danach wieder völlig in die Täuschungen zurückgefallen sind.
Vielleicht gab es welche, bei denen dies passiert ist, die Legende hat sie vergessen,
um nur die guten Beispiele beizubehalten.
Devadata war, glaube ich, kein Arhat. Das müßte man nachschlagen.
Was die Buddha-Natur angeht: Man besitzt nicht die Buddha-Natur, sie ist nicht
etwas, das man besitzen kann. Wir sind Buddha-Natur; unser ganzes Sein ist Buddha-
Natur. Denn unser ganzes Sein ist Unbeständigkeit. Realisieren heißt, dies zu
integrieren. Die Unbeständigkeit völlig zu akzeptieren ist, die Buddha-Natur zu
realisieren, und schließlich auch, das Erwachen zu realisieren. Sie in all ihren
Aspekten und mit allen Folgen akzeptieren. Die Buddha-Natur ist die
Unbeständigkeit. Wir sind die Unbeständigkeit. Alle Wesen sind Unbeständigkeit.
Alle Wesen sind Buddha-Natur. Wenn wir versuchen dagegen zu leben, so zu tun als
wäre es nicht so, dann leben wir in den Illusionen und wir werden alle möglichen
Leiden erleiden, weil wir nicht in Harmonie sind.

 

27.2.2000, 7 Uhr
In ein Dojo können alle die gehen, die praktizieren möchten und die Dojo-Regeln
respektieren. Aber was praktiziert jeder wirklich im Dojo? Was kann man tun, damit die
Praktizierenden nicht in ihrer Praxis stagnieren? Dafür gibt es keine Regel. Dieses Problem
gab es schon zu Buddhas Zeiten. Einige wurden Mönche, um nicht zum Militärdienst
gehen zu müssen. Einige wurden Mönche, weil sie einfach an Nahrung kamen. Nach
einiger Zeit war diese Gemeinschaft voller Leute, die kein Bodaishin hatten. Die
Gemeinschaft hatte kein Recht und keine Macht, sie auszuschließen. Das einzige, was
Buddha tun konnte, war, sie zu ermutigen, weiterzumachen und sich in ihrer Praxis zu
entwickeln.
Am Tag nach der Abreise von Devadata, der in der Gemeinschaft ein Schisma geschaffen
und sie mit einigen Schülern verlassen hatte, hielt Buddha eine Predigt, die den Titel “das
Herz eines großen, starken Baumes” hat. Sie ist sehr wichtig für den Sinn unserer eigenen
Praxis. Es ist ein recht langes Sutra, ich werde es zusammenfassen.
Buddha sagt: “Ein Sohn einer Familie hat das Familienleben verlassen, um den Weg zu
praktizieren, weil er dachte: ‘Ich bin vielen Arten von Leid ausgesetzt. Wenn ich den Weg
praktiziere, kann ich das Leiden vielleicht beenden.’ In dieser Hoffnung wurde er Mönch.
Als er Mönch geworden war, respektieren ihn die weltlichen Leute deshalb und er bekam
Gaben. Deswegen war er zufrieden und wurde faul, nachlässig. Er ist zu vergleichen mit
jemandem, der das Herz eines großen, starken Baumes sucht, und, wenn er einen großen
Baum sieht, das Herz vernachlässigt und sich damit zufrieden gibt, Blätter und kleine
Zweige zu sammeln.”
Danach spricht Buddha von einem anderen Mönch, der auch Respekt und Gaben von
anderen erhalten hat, damit nicht zufrieden war und weiter praktizierte. Er hat seinen Geist
diszipliniert, indem er den Geboten und den Regeln folgte. Dann war er zufrieden und
hörte mit seiner Praxis auf, weil er dachte, das Ziel erreicht zu haben. Er wurde stolz und
hielt sich für den anderen Mönchen überlegen, weil er die Disziplin verwirklicht hatte. Er
kritisierte die anderen und vernachlässigte seine eigene Praxis. Er ist wie jemand, der das
Herz eines großen Baumes sucht und sich damit zufrieden gibt, junge Triebe zu sammeln.
Danach spricht Buddha vom Fall eines anderen Mönchs, der sich nicht damit zufrieden
gibt, Gaben und Respekt der anderen zu erhalten und die Disziplin verwirklicht zu haben.
Er macht in seiner Praxis weiter und verwirklicht eine große geistige Konzentration. Damit
ist er zufrieden, und er glaubt, daß sein Ziel erreicht ist. Er schmeichelt sich selbst und
sagt: ‘Mir ist es möglich, mich gut zu konzentrieren. Die anderen können sich nicht so
konzentrieren wie ich.’ So hört er auf, in seiner Praxis voranzukommen. Er wird auch
jemand, der auf der Suche nach dem Herzen des großen Baumes ist und sich damit
zufrieden gibt, Triebe einzusammeln.
Danach spricht Buddha von einem anderen Mönch, der sich nicht damit zufrieden gibt,
Gaben und Respekt zu erhalten, die Disziplin erreicht zu haben, und auch nicht damit, die
geistige Konzentration verwirklicht zu haben. Er vertieft weiter seine Praxis und
verwirklicht Erkennen und Intuition. Er ist zufrieden und glaubt, sein Ziel erreicht zu
haben. Er ist jemand, der auf der Suche nach dem Herzen des großen Baumes ist und der
sich auch damit zufrieden gibt, Blätter und Triebe einzusammeln.
Dann spricht Buddha von einem anderen Mönch, der mit diesen verschiedenen
Verdiensten nicht zufrieden ist, seine Praxis weiterführt und eine zeitlich begrenzte
Befreiung verwirklicht. Er hält sich für glücklich, zufrieden und hört auf, sich auf seine
Praxis zu konzentrieren. Dies ist wieder jemand, der demjenigen ähnelt, der auf der Suche
nach dem Herzen des großen Baumes ist und sich damit zufrieden gibt, Blätter und junge
Triebe einzusammeln.
Zum Schluß spricht Buddha von einem anderen Mönch, der, obwohl er all dies realisiert
hat, nicht zufrieden ist. Er lobt sich nicht seiner Verdienste, kritisiert nicht die anderen und
versucht weiter, seine Praxis zu vertiefen und realisiert auf diese Weise die unbegrenzte
Befreiung. Buddha antwortet auf C.’s Frage im Mondo und sagt: “Es ist unmöglich für
einen solchen Mönch, diese Befreiung wieder zu verlieren.”
Der Sinn der Unterweisung Buddhas ist es nicht, kleine Verdienste zu erhalten, auch nicht
die geistige Konzentration und auch nicht das Verständnis durch Weisheit. Shakyamuni
sagt am Ende seiner Predigt: “Es handelt sich um die vollständige Befreiung. Das wahre
Herz des Weges.”
Heutzutage interessieren sich viele Leute für die Zazenpraxis. Sie finden jede Menge
Vorzüge und Verdienste. Zazen ermöglicht ihnen, den Streß zu kontrollieren, ihre
Konzentration zu verbessern, einen gewissen Geistesfrieden zu realisieren. All diese
Verdienste bergen die Gefahr zu stagnieren, weil man glaubt, etwas verwirklicht zu haben.
Aber man darf nicht vergessen, was das Herz des Weges ist.
Wir sollten nicht so sein wie diejenigen, die sich damit zufrieden geben, Blätter und junge
Triebe einzusammeln.
Das Herz ist das, was wir jeden Morgen und jeden Abend singen, wenn wir die vier
Gelübde des Bodhisattva singen, insbesonders das 4. Gelübde
Butsu do mujo seigando
Ohne Grenzen ist der Buddha-Weg,
Ich gelobe, ihn zu verwirklichen.

 

27.2. 2000, 11Uhr
Selbst wenn man oft Zazen macht, sollte es keine Gewohnheit werden. Zu Beginn eines
jeden Zazen sollte man die Haltung einnehmen, als würde man zum ersten Mal Zazen
machen, mit der gleichen Aufmerksamkeit. Streckt gut die Nierengegend und drückt die
Knie fest in den Boden. Sitzt so auf dem Zafu, als wolltet ihr, daß der After nicht das Zafu
berührt. So kann eure Haltung dynamisch werden. Von der Taille aus streckt man gut die
Wirbelsäule und den Nacken, das Kinn ist zurückgezogen.
Bei diesem Sesshin haben alle eine gute Haltung. Deshalb wiederhole ich nicht immer alle
Punkte. Zu Beginn eines jeden Zazen sollte man sie für sich wiederholen, vor allem die
Beckenneigung nach vorne, insbesondere auch das zurückgezogene Kinn und das Lockern
der Schultern. Und vergeßt nicht, mit eurer Atmung in Berührung zu bleiben. Atmet tief
ein und aus. Folgt eher eurer Atmung als euren Gedanken.
Das ist die Grundlage unserer Praxis. Das heißt aber nicht, daß wir Haltungstechniker
werden sollen. Selbst ein Gelähmter, der im Rollstuhl sitzt, kann Zazen praktizieren. Wenn
man glaubt, wenn man diese gute Haltung eingenommen hat, hätte man das Ziel des
Weges erreicht, würde man auch das Herz des großen Baumes mit den Blättern und
Zweigen verwechseln.
Eines Tages sprach Meister Dogen von jemandem, der sich für einen Meister hielt. Er
sagte über ihn, er habe nie das Erwachen verwirklicht, weil er sich nie die richtige Frage
gestellt habe.
In Buddhas Sangha gab es einen Schüler, der eines Tages zu Buddha sagte: “Wenn Ihr
nicht meine Fragen beantwortet, gehe ich weg.” Er hatte alle möglichen Fragen. Er wollte
wissen, ob das Universum im Raum begrenzt oder unbegrenzt ist, ob es in der Zeit
begrenzt oder unbegrenzt ist, ob es einen Ursprung habe oder nicht. Er wollte wissen, ob
das Lebensprinzip das gleiche sei wie der Körper, er wollte wissen, ob Buddha auch nach
dem Tod existiere oder nicht. Auf all diese Fragen hat Buddha ihm geantwortet: “Sind Sie
gekommen, um eine Antwort auf diese Fragen zu finden? Hängt die Praxis des Weges für
Sie von diesen Fragen ab?” Und er sagte ihm – ich fasse es zusammen: “Obwohl es zu
diesen Themen viele Meinungen gibt, hängt die Verwirklichung des Weges nicht von
ihnen ab.” Obwohl es z.B. die Auffassung gibt, daß Buddha auch nach dem Tod existiert,
gibt es auch die andere Meinung, daß Buddha nach dem Tod nicht existiert.
Buddha sagte: “Es gibt Sachen, die ich erklärt habe, und andere Sachen, die ich nicht
erklärt habe. Ich habe nicht erklärt, ob das Universum ewig ist oder nicht, ob es Grenzen
hat oder nicht, ob das Lebensprinzip das gleiche wie der Körper ist, ob der Tatagata nach
dem Tod existiert oder nicht. Ich habe das alles nicht erklärt, weil es nicht nützlich ist. Es
ist nicht grundlegend verbunden mit der Verwirklichung des Weges. Es führt nicht zur
Befreiung, zur Beendigung des Leidens, zum Frieden, zum tiefen Verständnis, zur
vollständigen Verwirklichung des Nirvana.” – Für Buddha war das kein Zustand nach dem
Tod, sondern eine Verwirklichung hier und jetzt. – Und er sagte: “Deshalb habe ich dies
nicht erklärt. – Welche Sachen habe ich erklärt? Ich habe Dukkha erklärt.” – Er sagte nicht
Leiden, sondern Dukkha, denn Dukkha umfasst auch Glück, Freude, das Gefallen. Dukkha
ist all das, was im Leben nicht zufriedenstellend ist, weil es unbeständig ist. Dukkha hängt
grundlegend von unserem Geisteszustand ab. Das hat Buddha erklärt. Er hat die Ursache
davon erklärt, die Beendigung und den Weg der zu dieser Beendigung führt. Dies führt zur
Befreiung, zum wahren Erwachen.
Ich erzähle euch von diesem Sutra und beende mit ihm dieses Sesshin, weil ich glaube, daß
es für jede und jeden wichtig ist, zu verstehen, was für sie, was für ihn die wichtige Frage
ist.
Buddha hat das Erwachen realisiert, weil er sich die richtige Frage stellte. Er hat sich nur
auf eine Frage konzentriert, ohne seine Zeit zu verlieren. Bestimmt denken einige, daß für
sie die Leidensfrage nicht die Frage ist, daß das Leiden normal und ein Teil des Lebens ist.
Für die hat die Unterweisung Buddhas nicht viel zu sagen.
Ich glaube, man sollte das Leiden in weitem Sinne, im Sinne Dukkhas verstehen, wie das
Symptom einer Krankheit, das Symptom dafür, daß wir nicht im Normalzustand sind, das
Symptom dafür, dass wir nicht in Harmonie mit unserer tiefen Wahrheit leben. Dann geht
es nicht nur darum, das Leiden zu Ende zu bringen, sondern den wahren Sinn unseres
Lebens zu verwirklichen. Im Zen nennt man das, seine wahre Natur zu verwirklichen.
Ich wünsche euch eine gute Fortsetzung eurer Praxis. Ich wünsche auch, daß ihr über eure
wahre Frage nachdenkt, wenn ihr eine habt.

Veröffentlicht in Roland.