Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 20.-22. Januar 2012
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.
Freitag, 20.1.12, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen gut auf die Haltung eures Körpers. Neigt gut das Becken
nach vorne und drückt gut mit den Knien auf den Boden. Euer Zafu muss die richtige Höhe
haben, damit ihr die Muskeln nicht unnötig anspannen müsst. Entspannt gut den Bauch und
lasst das Körpergewicht auf das Zafu drücken. Ihr müsst euch gut in der Haltung verwurzelt
fühlen. Streckt von der Taille an gut die Wirbelsäule und den Nacken. Entspannt gut die
Schultern und den Rücken. Das Kinn ist zurückgezogen, das Gesicht entspannt, insbesondere
die Kiefer. Der Mund ist geschlossen, die Zunge liegt am Gaumen an. – Indem ihr euch auf
den Punkt konzentriert, wo die Zunge den Gaumen berührt, beruhigt ihr sofort den inneren
Dialog.
In Zazen ist es wichtig, jede Diskussion mit sich selbst aufzuhören, das ganze geistige
Wiederkäuen, indem man zum Körper zurückkommt, d.h. auf die Wirklichkeit unseres
Lebens hier und jetzt, vollständig in diesem Dojo auf diesem Zafu sitzend.
Der Blick fällt nach vorne vor sich auf den Boden. Die Augen sind halb geschlossen. Man
fixiert kein bestimmtes Objekt und keinen bestimmten Punkt. Der Blick ruht einfach vor
einem und umfasst alles, was vor einem ist. Es ist nicht nötig, die Augen zu schließen, um
konzentriert zu sein. Den Geist stören nicht die Dinge oder Wesen um uns herum, sondern
die Tatsache, dass wir uns an sie hängen, sei es, dass wir sie ergreifen oder dass wir sie
zurückweisen wollen, dass man sie liebt oder sie hasst.
In Zazen entwickelt man einen Geist, der ohne Anhaftung und Zurückweisung ist, der jedes
Ding und jedes Wesen so willkommen heißt, wie es ist, jenseits unserer Beurteilungen und
Gefühle. Der Geist empfängt aber auch unsere Gefühle und unsere Beurteilungen, so wie sie
sind, ohne sich an sie zu hängen oder sie zurückzuweisen. Man sieht sie einfach nur als
momentane Erscheinungen an, die erscheinen und verschwinden. Man lässt sie vorbeiziehen
wie Wolken am Himmel. Der Himmel wird nicht von den vorbeiziehenden Wolken gestört.
Der Geist in Zazen wird ebenso wenig gestört vom Vorüberziehen der geistigen Konstruktionen,
denn er ergreift sie nicht und weist sie nicht zurück.
Das ist wie die Hände in der Position von Hokaijoin: die linke Hand in der rechten Hand, die
Daumen waagerecht und die Handkanten in Kontakt mit dem Unterbauch. In dieser Haltung
ergreifen die Hände nichts und erschaffen nichts. Dieses Mudra nennt man Hokaijoin. Hokai
ist der ‚Ozean des Dharmas’, join ist das ‚Siegel des Samadhi’. Wenn man sich auf diese
Handhaltung konzentriert, hilft das, in diesen Zustand des Samadhi einzutreten, in dem
Körper und Geist in Einheit mit dem Ozean des Dharmas sind.
Es ist der Sinn eines Sesshins, vertraut mit dem wahren Geist zu werden, der alles umfasst,
der alle Dinge widerspiegelt, wie sie sind. Kehrt während des Sesshins so oft wie möglich zu
diesem Geisteszustand zurück, indem ihr euch auf den Körper konzentriert, auf die Gesten,
sei es in Zazen, Kinhin, Sanpai, beim Singen, beim Essen, beim Gehen, beim
Gemüseschneiden, oder wenn ihr euch ausruht. Alles ist Gelegenheit, das Samadhi zu
praktizieren.
Alles ist eine Gelegenheit, im Ozean des Dharmas zu schwimmen, vorausgesetzt dass wir
einen Geist verwirklichen, der nichts zurückweist und nichts ergreift. Wenn man es nicht so
macht, kann selbst das Zen zu einem Gegenstand der Anhaftung werden, und man verfehlt
völlig die wirkliche Befreiung. Konzentriert euch also während des Sesshins gut auf diesen
Punkt. Beobachtet euren Körper und euren Geist und fahrt mit dem Loslassen fort.
Freitag, 20.1.12, 11 Uhr
Während Zazen sitzt man einfach. Der ist Rücken senkrecht, die Daumen sind waagrecht.
Man sucht nicht nach einem besonderen Zustand. Man gibt sich damit zufrieden, einfach
völlig eins mit der Körperhaltung zu sein, völlig gegenwärtig hier und jetzt. Man identifiziert
sich mit keinem einzigen Gedanken, nicht einmal mit dem an das Erwachen.
Als er die Dharmahalle seines neuen Klosters Koshoji einweihte, sagte Meister Dogen zu
seinen Schülern: „Ich habe mich nicht in vielen Klöstern aufgehalten. Seit ich Meister Nyojo
getroffen habe, habe ich ganz klar erkannt, dass meine Augen waagerecht sind und meine
Nase senkrecht. Ohne mich von anderen täuschen zu lassen, bin ich mit leeren Händen nach
Japan zurückgekommen. Ich bin ohne Buddhismus. Am Morgen erhebt sich die Sonne im
Osten. In der Nacht geht der Mond im Westen unter. Die Wolken haben sich aufgelöst, und
die Berge sind klar. Der Regen hat aufgehört, und die nahen Berge scheinen niedrig. – Was
heißt das?“ Nach einem Schweigen ergänzte Dogen: „Ein Schaltjahr erscheint alle vier Jahre,
und der Hahn schreit früh am Morgen.“ Dann erhob er sich und ging.
Die Zazen-Praxis ist nicht die Suche nach einem besonderem Zustand. Sie ist einfach sitzen,
wenn man sitzt, gehen, wenn man geht, sich während der Mahlzeiten auf das Essen
konzentrieren, während des Samu auf das Arbeiten. Seine ganze Energie und Aufmerksamkeit
in die Praxis jeden Augenblicks geben. Aufhören, immer nach außen zu sehen und etwas
anderes zu suchen.
Wenn man sich in der Praxis des Weges engagiert, möchte man oft etwas anderes sein, als
man ist. Oft wollten die Mönche Buddha werden. Jetzt wollen wir das Erwachen erreichen. –
Aber das wirkliche Erwachen besteht einfach darin, unsere geistigen Konstruktionen
loszulassen und die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist; unsere eigene Wirklichkeit so zu
sehen, wie sie ist: die Augen waagrecht, die Nase senkrecht; sich völlig mit sich selbst zu
versöhnen; die wahre Natur unserer Existenz zu verwirklichen, die nicht etwas ist, die nicht
etwas ist, das man ergreifen kann, die sich aber ständig manifestiert. Um sie zu realisieren,
braucht man einen Geist, der auf nichts verweilt. Das ist Hishiryo. Den Geist aufgeben, der
bewertet, der misst, der urteilt, der alle Dinge kompliziert macht. Zazen zu praktizieren
bedeutet, insbeson-dere während eines Sesshins, zur größtmöglichen Einfachheit
zurückzukehren; aufzuhören ständig etwas anderes zu wünschen; wirklich vertraut zu werden
mit dem, was wir in der Tiefe sind, in dem nichts fehlt und nichts zuviel ist.
Wenn man das realisiert, kann man wirklich im Frieden sein. Das ist das Nirvana hier und
jetzt, das Erlöschen aller unserer Illusionen. Das geschieht, wenn man sich im Spiegel von
Zazen betrachtet, einem Spiegel, der nicht deformiert. Es ist das Gleiche wie seinen Meister
zu treffen. Wenn der Geist des einen sich im Geist des anderen spiegelt. Dann ist alles völlig klar.
Nichts ist mehr notwendig.
Freitag, 20.1.12, 16.30 Uhr
Meister Dogen sagte: „Ohne mich von anderen täuschen zu lassen, bin ich mit leeren Händen
nach Japan zurückgekommen. Ich bin ohne Buddhismus.”
Wir haben oft die Neigung, die Wahrheit außerhalb von uns selbst zu suchen. Weil wir immer
etwas ergreifen oder zurückweisen wollen, werden wir von unserem begrenzten Ego
gesteuert. Dadurch lassen wir uns oft von anderen täuschen, nicht nur durch ihre Irrtümer oder
Illusio-nen, sondern auch durch ihre Wahrheit. Das kommt daher, dass wir kein Vertrauen
dazu haben, dass die Wahrheit in uns selbst existiert.
Kommen, um ein Sesshin zu machen, und mit dem Gesicht zur Wand zu sitzen bedeutet
aufzuhören, nach außen zu sehen, aufzuhören auf der Suche nach irgend etwas umher zu
rennen, seinen Blick vollständig nach innen, auf sich selber zu richten und zu realisieren, dass
der Weg in unserem eigenen Körper und in unserem eigenen Geist existiert.
Wenn man mit sich selbst vertraut wird, erkennt man, dass dieser Körper und dieser Geist
ohne Substanz sind, ohne Trennung vom ganzen Universum, dass sie nicht aus sich selbst
heraus existieren. Dann zerbricht die Schale unseres Egos, und wir können das Leben mit
einem neuen Blick entdecken, der nicht mehr durch unsere geistigen Konstruktionen verdunkelt
ist. Wir lassen uns nicht mehr durch uns selbst täuschen.
Die anderen sind nicht ich. Deshalb ist ihr Verständnis nicht das meine. Jeder und jede muss
den Weg durch sich selbst realisieren. Das bedeutet, sich nicht von anderen täuschen zulassen.
– Sich von den anderen täuschen zu lassen, bedeutet auch, fertige Wahrheiten zu bevorzugen,
Glaubenssätze und Dogmen zu übernehmen, statt die Wahrheit direkt durch sich selbst zu
erfahren.
Shakyamuni Buddha hat nicht aufgehört, seinen Schülern zu sagen, dass sie nicht glauben
sollten, was er sagt, sondern dass sie die Wahrheit seiner Unterweisung durch sich selbst
erfahren müssten. Buddha und die Meister der Weitergabe haben eine Richtung, einen Weg,
eine Art zu praktizieren, gezeigt, die es jedem und jeder ermöglicht, die Wahrheit durch sich
selbst zu realisieren.
Die Weitergabe des Dharma ist nicht die Weitergabe von etwas. Sie ist die Bestätigung, dass
das Dharma durch sich selbst erfahren wurde: Meister und Schüler kommunizieren in der
gleichen Erfahrung der Wirklichkeit, ohne sich von einander täuschen zu lassen.
Das Haupthindernis für diese Realisation besteht darin, dass sich selbst zu verstehen sich
selbst zu vergessen bedeutet. Das Ego will sich nicht selbst vergessen. Oft eignet es sich das
Dharma an, um sich selbst zu bestätigen. Deshalb müssen wir unseren Blick immer wieder
nach innen richten und unsere Illusionen erhellen, und niemals glauben, dass wir den Illusionen
ein Ende gesetzt haben.
Wenn man die Leerheit klar sieht, hat die Illusion weniger Macht, uns zu verführen und zu
täuschen. Man kann schneller loslassen. Zazen ist ein Training dieses Loslassens. In Zazen
kommen immer wieder alle möglichen Illusionen hervor. Ganz schnell lässt man sie los. Sie
verlieren ihre Verführungsmacht. Man lässt sich nicht mehr durch sich selbst täuschen und
noch weniger von den anderen.
Dogen sagte: „Ich bin mit leeren Händen zurück gekommen. Ich bin ohne Buddhismus.”
Trotzdem hatte er die Dharma-Weitergabe von Meister Nyojō bekommen. Aber er hat daraus
nicht etwas gemacht. Mit leeren Händen zurückzukommen bedeutet, immer wieder zu Ku, zur
Leerheit, zurückzukommen; bei jeder Ausatmung jeden Begriff und jedes geistige Konstrukt
loslassen.
‚Ohne Buddhismus zu sein’ bedeutet, wirklich eins zu sein mit der Essenz des Buddhismus.
Ohne Buddha zu sein bedeutet, Buddha ähnlich zu sein. Das heißt, wirklich man selbst zu
sein, ohne Trennung vom gesamten Universum, nicht etwas Besonderes. Es heißt außerdem,
ohne Geburt und Tod zu sein, nichts Greifbares. Nichts, was uns täuschen kann.
Mondo
Du hast gesagt, dass es die Weitergabe des Dharma ist, wenn Meister und Schüler die gleiche
Erfahrung machen. Ist das an eine bestimmte Methode, an Zazen, gebunden, oder war es das
gleiche, als Buddha die Blume drehte?
Diese Realisation ist natürlich prinzipiell an Zazen gebunden, aber sie ist nicht auf Zazen
begrenzt. Als Buddha die Blume nahm und sie drehte, war das Ausdruck einer völligen Aufmerksamkeit,
einer völligen Präsenz für die Wirklichkeit, wie sie ist. In Zazen ist unser
eigener Körper diese Blume. Wir sind völlig auf unseren Körper konzentriert, völlig achtsam
auf das, was ist. Das ist das gleiche, wie eine Blume zwischen den Fingern zu drehen, völlig
eins sein mit der Wirklichkeit, wie sie in diesem Moment ist.
Alle, die in der richtigen Weise Zazen praktizieren, müssten dies verwirklichen, und zwar
nicht nur, wenn sie in Zazen sitzen, sondern auch in anderen Momenten des Lebens. Die
Realisation des Dharma geschieht wirklich in der Praxis selbst. Das ist die Essenz des Zen,
wie es uns von Dogen weitergegeben wurde. Die Weitergabe findet also auch im Dojo statt ,
unter allen, die mit dem gleichen Geisteszustand, mit dem gleichen Hishiryo-Bewusstsein
praktizieren. Die Weitergabe des Dharma ist nicht auf das Shiho begrenzt. Ich hoffe, dass
alle, mit mir Zazen im Dojo praktizieren, diese Erfahrungen realisieren und realisieren, dass
das Dharma in ihnen und überall existiert.
Wenn unser Körper und unser Geist keine Substanz haben, wo ist dann die Substanz, und was
ist sie?
Sie ist nirgendwo. Es gibt nirgendwo Substanz. ‚Substanz’ ist nur ein geistiges Erzeugnis.
‚Substanz’ ist nur ein Wort in unserem Geist. Es gibt keine Substanz, wenn man unter
‚Substanz’ etwas Festes, Permanentes versteht, etwas, was sich nie ändert, was immer
identisch bleibt. Dieser Begriff der Substanz wurde von Buddha kritisiert. Er wird auch in der
Praxis von Zazen kritisiert, weil wir uns in Zazen bewusst werden, dass es nichts Festes,
nichts Permanentes gibt. – Suchst du irgendwo eine feste Substanz? Du fragst mich, wo sie ist.
Vielleicht besteht ein Unterschied zwischen einer Substanz und etwas Festem, das zu etwas
Absolutem führt.
Es gibt nichts Absolutes. Das, was man das ‚Absolute’ nennt, existiert nur bezogen auf das
Relative. Man kann nur von einer absoluten Wahrheit bezogen auf etwas anderes sprechen,
das die relative Wahrheit ist. Sie existieren nicht unabhängig von einander. In Wirklichkeit
gibt es nichts Absolutes, d.h. nichts Getrenntes.
Ich verwende lieber den Begriff ‚tiefe Wahrheit’. Aber ‚tief’ heißt ‚nicht oberflächlich’.
Beides existiert nicht getrennt voneinander. Es gibt keine Tiefe ohne Oberfläche. Wenn wir
Worte benutzen, funktionieren wir in der Dualität. ‚Absolute Wahrheit’, ‚permanente Substanz’
sind Begriffe, geistige Konstruktionen, die nur im Verhältnis zu anderen geistigen
Konstruktionen Sinn machen, das Hohe im Verhältnis zum Tiefen, das Ich im Verhältnis zum
Du, usw..
Unsere Praxis des Weges besteht darin, das tief zu verstehen und uns nicht mehr von diesen
geistigen Konstruktionen täuschen zu lassen und eine Intuition zu haben, die sich nicht mehr
in diese Begriffe und geistige Konstruktionen einschließen lässt. Es ist schwierig, das dann zu
benennen. Man kann es ‚das Leben’ nennen. Buddha hat es vorgezogen, eine Blume zu
nehmen und zwischen seinen Fingern zu drehen. In der Praxis mit dem Körper, in den Gesten,
in Gassho, in Sanpai drückt man viel mehr die Wirklichkeit, so wie sie ist, aus als mit
Worten. Deshalb besteht man im Zen so sehr auf der Praxis mit dem Körper. Man muss alle
geistigen Konstruktionen loslassen.
Dogen hat davon gesprochen, dass er mit leeren Händen und ohne Buddhismus nach Japan
zurückkam. Wäre es in unserer Praxis richtig und vielleicht auch hilfreich, statt von
‚Erleuchtung’ eher von ‚Ernüchterung’ zu sprechen oder vom ‚Verlieren der Illusionen’?
Wenn man vom Erwachen spricht, meint das, die Illusionen zu erhellen und sie fallen zu
lassen. Es passiert oft, dass die Menschen schnell die Bedeutung der Worte vergessen, die sie
benutzen, und sich an ihre eigenen Ideen bezüglich des Erwachens klammern. Jedes Mal,
wenn ich von ‚Erwachen’ spreche, spreche ich davon, aus seinen Illusionen zu erwachen und
ihre Leerheit zu sehen. Ich habe nie vom Erwachen als etwas gesprochen, das man ergreifen
kann.
Das Problem besteht darin, dass es immer einen Unterschied gibt zwischen der Unterweisung,
wie ich sie gebe, und der Weise, wie jeder einzelne sie hört und versteht. Um zu vermeiden,
dass die Unterweisung falsch verstanden wird, muss man sie immer wieder wiederholen. –
Aber in dem Moment, wo man spricht, muss man Worte benutzen.
Wie ich in letzter Zeit mehrfach gesagt habe, benutze ich lieber das Verb ‚erwachen’ als das
Nomen ‚Erwachen’. Erwachen ist eine Handlung, eine Praxis, eine Funktionsweise. Es geht
nicht darum, etwas zu erlangen.
Samstag, 21.1.12, 7 Uhr
Wenn die Sangha hier in Grube Louise versammelt ist, wird dieser Ort ein Kloster, selbst für
ein einfaches Wochenende. Das Kloster ist der Ort, an dem wir eins mit dem Weg werden.
Das heißt eins mit uns selbst, eins mit der wahren Natur unserer Existenz. Diese Natur haben
wir mit allen Wesen gemeinsam.
Meister Dogen sagte: „Der Bereich Buddhas ist identisch mit allen Dingen. Das Kloster ist
der beste Ort für diesen Buddha-Geist. Dort schlage ich einmal auf meinen Stuhl. Ich schlage
dreimal die Trommel, und ich lasse die wunderbare Stimme des Tathagata erklingen. Was
sagt ihr Mönche jetzt?“ – Nach einer kurzen Stille fügte Dogen hinzu: „Jeder Ort ist der
Buddha-Geist. So sind die einfachen Menschen immer mit ihm identisch.“
Der Buddha-Geist ist der Geist, der sich in Zazen verwirklicht, der erwachte Geist, der zur
wahren Sicht der Wirklichkeit erwacht ist. Das geschieht, wenn man sich nicht mehr an seine
geistigen Konstruktionen klammert, wenn man mit dem ganzen Körper denkt, wenn man der
Intuition erlaubt, sich zu entfalten. Die Intuition nennt man Prajna.
Prajna ist die Intuition, die wirkliche Weisheit erzeugt. Sie funktioniert, wenn unser Geist
auf nichts stehen bleibt, wenn er sich nicht mehr mit Begriffen und Konzepten identifiziert,
wenn man jenseits der Worte denkt. – Worte habe die Eigenart, die Realität zu fixieren. Im
Gegensatz dazu ist das Bewusstsein in Zazen fließend und harmonisiert sich auf natürliche
Weise mit der Nicht-Fassbarkeit der Wirklichkeit.
Um dies an andere weitergeben zu können, benutzt man Worte, macht Kusen, hält Vorträge.
Man versucht, das Dharma in einer möglichst richtigen Art und Weise auszudrücken.
Man spricht von den drei Siegeln des Dharma: Man sieht, dass alle Dinge unbeständig sind,
dass alles, was existiert, ohne Substanz ist, und dass alles, was existiert, völlig gegenseitig
abhängig ist. Wenn man das nicht versteht, wenn man das nicht akzeptiert, wird alles Leid.
Selbst Glück wird zu Leid. Denn man klammert sich an es und wünscht, dass es andauert,
wohingegen es unbeständig ist. Aber wenn man die drei Siegel des Dharma akzeptiert und
sie aus dem Grund seines Körpers und Geistes heraus versteht und sich mit ihnen in der
konkreten Praxis harmonisiert, dann realisiert man unmittelbar das Nirvana.
Das Nirvana ist kein Ort, an dem man nach dem Tod wiedergeboren wird. Es ist der Ort, an
dem wir in jedem Augenblick nach dem Tod unseres Egos und unserer geistigen Konstruktionen
wiedergeboren werden, im völligen Loslassen all unserer Anhaftungen. Das kann
man nicht willentlich realisieren. Das Ego kann nicht loslassen. Es ist die Praxis von Zazen,
die das Loslassen verwirklicht, die Praxis des Zazen, das uns über die Grenzen unseres
kleinen Egos hinaus trägt in den Bereich des Buddha-Geistes, der identisch mit allen Dingen
ist. Da es die Praxis ist, die das verwirklicht, ist das Kloster der beste Ort, um diesen Buddha-
Geist zu verwirklichen. Das wirkliche Kloster ist der Ort, an dem man den Weg praktiziert.
Samstag, 21.1.12, 11 Uhr
„Was ist die Praxis des Weges?“ Auf diese Frage Dogens antwortete der alte Tenzo: Der Weg
existiert überall.“ – „Was trennt uns dann von ihm?“ – „Nichts!“
Wir sind nie vom Weg getrennt. Aber wir vergessen das und halten uns für getrennte Wesen,
weil wir von dem dualistischen Geist konditioniert sind. Der Geist, der durch die Sprache
konditioniert ist, hat die Gewohnheit angenommen, die Wirklichkeit zu zerlegen und zu
trennen. Wir identifizieren uns mit einem getrennten Ego. Wir sagen: „Ich denke dies.“, „Ich
denke das.“, „Damit bin ich nicht einverstanden.“ „Ich möchte dies.“, „Ich möchte das.“ So
wird man ein egozentrisches Wesen und verliert den Kontakt mit der tiefen Wirklichkeit der
Existenz. Deshalb leidet man und ist unzufrieden. Man versucht, diesen Mangel zu kompensieren,
indem man allen möglichen Objekten nachläuft. Je mehr man das macht, umso mehr
entfernt man sich von der Wirklichkeit. Das ist wie eine Drogenabhängigkeit: Man muss
immer wieder die Dosis erhöhen, um eine Wirkung zu erzielen. Die Krise der heutigen Welt
ist eine Krise der Gier, der Gier des Egos, das völlig in der Täuschung lebt. Daher ist es sehr
dringlich, sich dessen bewusst zu werden und den Weg unter unseren Füßen wiederzufinden
und aufzuhören, immer etwas woanders, außerhalb zu suchen.
Wenn man in Zazen mit dem Gesicht zur Wand sitzt, nur auf die Senkrechte des Rückens
konzentriert, und nicht seinen Neigungen folgt, wird man völlig aufmerksam, ist man völlig
hier. Dieses Hier ist nicht getrennt vom Außen. Das Hier unseres Lebens zu durchdringen
bedeutet, die unbegrenzte Dimension unserer Existenz zu durchdringen, indem man sich
einfach auf seinen Körper hier konzentrieret. Denn so gibt man die Funktionsweisen des
Geistes auf, die Trennungen schafft.
Man atmet ruhig durch die Nase ein und aus, ist vollkommen gegenwärtig im Augenblick und
hat keinen Grund, sich über die Vergangenheit zu grämen oder sich um die Zukunft zu
sorgen. Der gegenwärtige Augenblick ist mit allen Zeiten verbunden. So ist er nicht begrenzt.
Den gegenwärtigen Augenblick vollständig zu leben, bedeutet, die Ewigkeit zu erfahren. Es
bedeutet, auf den Punkt konzentriert zu sein, der Vergangenheit und Zukunft umfasst.
In jedem Moment der Praxis des Weges kommt man ganz konkret auf das Hier und Jetzt
zurück, indem man völlig gegenwärtig in jeder seiner Handlungen ist. Man kann spüren, dass
hier und jetzt nichts fehlt. Dann kann man in Frieden praktizieren, seine Identität mit dem
gesamten Universum wiederfinden. Dies ist es, was Dogen den ‚Bereich des Buddha-Geistes’
nennt.
Der Ort des Dojos und die Zeit des Sesshins sind die besten Umstände, um dies zu erfahren,
um die Konditionierungen unserer Gewohnheiten zu verlassen und eine wirkliche spirituelle
Revolution zu realisieren, um eine andere Seinsweise zu erfahren und zu einer neuen Lebensweise
wiedergeboren zu werden. – Das hat nichts von einem Opfer. Denn das, was aufgegeben
wird, ist das, was uns begrenzt und leiden lässt, und das, was realisiert wird, ist die Quelle
wirklichen Glücks, d.h. das Leben in Einklang mit der kosmischen Ordnung, ein authentisches
Leben.
Wenn man dies erfährt, und sei es auch nur kurz, dann erscheint ein tiefes Vertrauen, ein
neues Vertrauen in das Selbst, in das Selbst, das nicht verschieden von Buddha ist. Das ist die
Quelle des wirklichen religiösen Geistes jenseits aller Religionen. Es ist die Rückkehr zu der
Wirklichkeit, von der man nie getrennt war. Deshalb hat man oft, wenn man mit Zazen
beginnt, das Gefühl nach hause gekommen zu sein. Dieses Haus ist das wirkliche Kloster, der
Ort, an dem sich der Weg realisiert. Das ist kein besonderer Ort. Jeder Ort ist ein guter Ort.
Alle Orte werden Kloster, wenn man sich auf die Praxis des Zazen konzentriert, wenn man
vom Zen-Geist geleitet wird.
Samstag, 21.1.12, 16.30 Uhr
Mondo
Während dieses Monats hatte ich ein Gefühl, das in meinem täglichen Leben sehr gegenwärtig
ist, eine gewisse Traurigkeit. Aber wenn ich Zazen mache, bleibt davon keine Spur.
Woran kann ich erkennen, dass ich mich in Zazen nicht verstecke?
Es ist nicht notwendig, das zu wissen. Warum willst du das wissen?
Ich frage mich, ob ich mich in Zazen vor diesem Gefühl verstecke, es unterdrücke, oder ob ich
mich im Alltag täusche.
Im Geist gibt es keine feste Substanz. Manchmal ist man traurig, manchmal ist man nicht
traurig. Wenn du im täglichen Leben traurig bist, kannst du dich fragen: „Was ist das, diese
Traurigkeit?“ Du nimmst dieses Gefühl als eine Art Koan, das dir etwas über dein Leben sagt.
„Was ist das, diese Traurigkeit?“
Wenn dieses Gefühl in Zazen verschwindet, liegt das daran, dass man in Zazen in einer
anderen Energie ist. Man ist weniger auf sein Ego zentriert. Normalerweise ist es das Ego, das
traurig oder frustriert ist, weil es nicht das bekommt, was es will. Ich glaube nicht, dass man
in Zazen das Ego unterdrückt. Man ist einfach in einem viel weiteren Geisteszustand als im
Alltag, in dem es diese Frustration des Egos nicht mehr gibt. Ich glaube, dass es so ist, aber du
musst es überprüfen.
Bedeutet man selbst werden, wie es in der Unterweisung gesagt wurde, dass es eine Form der
kosmischen Identität gibt?
Ja. Die kosmische Identität ist Ku, Leerheit. Sie ist nichts, was man ergreifen kann. Sie ist
etwas, das sich nicht in das einschließen lässt, was man normalerweise Identität nennt.
Normalerweise sagt man ‚meine Identität’ mit Bezug auf bestimmte Kriterien: „Ich bin
jemand, der so und so ist.“, also anders als die anderen. Unsere Identität baut sich aus Unterscheidungen
und Trennungen auf. Diese Identität ist etwas Konstruiertes, ein geistiges
Produkt. Im Grunde, in der Wirklichkeit, hat sie keine feste Substanz.
Diese Dimension unseres Lebens ohne feste Substanz zu erfahren, ist unsere wirkliche Identität.
Denn darin ist man mit allen Wesen des Universums identisch. Der gemeinsame Punkt
zwischen uns und allen Existenzen ist, dass wir ohne Substanz sind. Das ist wirkliche der
gemeinsame Punk vom Atom bis zur Galaxie. Berge, Flüsse, Menschen, alle Existenzen
existieren nur in wechselseitiger Abhängigkeit voneinander, d.h. sie sind ohne feste, eigene
Substanz. Das ist es, was ich meine, wenn ich von einer ‚wirklichen’ Identität spreche. Die
wirkliche Identität ist keine Identität.
Wenn man das Wort Identität benutzt, meint man, dass etwas identisch bleibt. Aber in Wirklichkeit
gibt es nichts, was immer gleich bleibt. Alles ändert sich unablässig. Unsere wirkliche
Identität ist, dass wir unbeständig und ohne Substanz sind. Das wirkliche Selbst ist das Nicht-
Selbst.
Man selbst zu sein bedeutet, in Harmonie mit der Unbeständigkeit zu sein?
Genau. – Das ist etwas anderes, als wenn man in der Persönlichkeitsentwicklung davon
spricht, man selbst zu werden. Dort geht es darum, seine Wünsche zu befriedigen: „Bisher
habe ich mich immer so verhalten, wie meine Familie es wollte. Jetzt will ich endlich ich
selber sein. Ich will meine eigenen Wünsche befriedigen.“ Das heißt aber eigentlich, dass man
sein Ego verwirklichen will. Es ist im Allgemeinen das Ziel von Therapien und von Techniken
der Persönlichkeitsentwicklungen, das Ego zu stärken.
Zen fängt genau jenseits davon an, indem man realisiert, dass das eine Illusion ist. Seine Zeit
damit zu verbringen, so zu werden, wie die anderen es erwarten, ist eine Illusion. Aber sich
mit seinen Wünschen identifizieren zu wollen, ist auch eine Illusion. Zen ist also wirklich sich
mit dem zu harmonisieren, was man das Dharma, die kosmische Ordnung, nennt, mit der
wirklichen, der tiefsten Natur der Existenz – also mit der Unbeständigkeit, der wechselseitigen
Abhängigkeit, dem Nicht-Selbst. Das impliziert nicht nur ein intellektuelles Verständnis,
sondern auch ein wirkliches Loslassen und ein sich mit dieser Dimension Harmonisieren.
Wenn man sich damit harmonisiert, resultiert daraus eine große Befreiung, eine wirklich
radikale Lösung aller Leidensursachen. Das hat Buddha ‚Nirvana’ genannt, das Verlöschen
aller Geistesgifte, das Verlöschen von Gier, Hass und Verblendung.
Wenn es heißt, dass das wahre Leben die Harmonie mit der kosmischen Bewegung ist, was
sind dann die Gesetze dieser kosmischen Bewegung?
Oh, es gibt viele Arten von Gesetzen. Aber die grundlegenden Gesetze sind das der Unbeständigkeit
und das der wechselseitigen Abhängigkeit. Es reicht für unser Leben, das zu
verstehen. Denn das bedeutet, einen geschmeidigen Geist anzunehmen, der auf nichts
verweilt, einen offenen Geist, der mit Empathie funktionieren kann, Empathie mit allen
lebenden Wesen, mit denen wir die gleichen Bedingungen teilen. Also weniger egoistisch und
viel solidarischer mit den anderen zu sein, mit mehr Mitgefühl, mit mehr Wohlwollen zu sein.
Das ist die natürlichen Haltung der Bodhisattvas, die diese Dimension der Existenz realisiert
haben. Sie ist ein Träger von wirklichen Werten, die unserem Leben einen Sinn geben.
Wenn du einen wissenschaftlichen Geist hast, kannst du die kosmischen Gesetze untersuchen.
Aber da geht es um eine andere Ebene, z.B. um Gesetze der Meteorologie, Gesetze des Blutkreislaufs,
Gesetze der Biologie. Es gibt viele Gesetze. Aber sie funktionieren alle im selben
Prozess von wechselseitiger Abhängigkeit und Unbeständigkeit. Es gibt keine Existenz im
Universum, von der kleinsten bis zur größten Einheit, vom Atom und bis zur Galaxie, die
nicht den Gesetzen der Unbeständigkeit und der wechselseitigen Abhängigkeit unterworfen
ist.
Der menschliche Geist liebt es, die Gesetze zu untersuchen, die die verschiedenen Bereiche
der Existenz bestimmen, um in der Lage zu sein, sie zu beherrschen. Um die ökonomische
Krise meistern zu können, studiert man z.B. die Gesetze der Ökonomie.
Wenn man von der Lehre Buddhas durchdrungen ist, wird man die Dinge untersuchen wollen,
die das dazu beitragen, das Leid zu lösen und Gutes um einen herum zu schaffen. Es ist z.B.
gut, Medizin, Psychotherapie oder ähnliches zu studieren; also etwas, was wirklich dahin
führt, die Probleme der Menschen zu lösen.
Auf dem Sesshin kommt bei mir einiges hoch. Ich habe ein bisschen Angst, dass ich mich,
wenn ich in den Alltag zurückkomme, wieder in allen möglichen Dingen verliere.
Was kommt beim Zazen hoch? Was hast du Angst zu verlieren?
Bei Zazen kommt z.B. der Wunsch, ein ruhigeres Leben, einfacheres Leben zu führen.
Das wünsche ich mir auch!
Ich habe Angst, mich in den Komplikationen des Alltags zu verlieren, den Reizen zu folgen.
Dann musst du jeden Tag Zazen machen. Du musst zweimal am Tag Zazen machen, morgens
und abends. Das ist das Rezept, das ich dir gebe: Zazen wiederholen, morgens und abends.
Und wenn du während des Tages in Komplikationen kommst, dich verstrickst, kannst du auch
während des Tages kurz Zazen machen. Du musst nicht drei oder vier Mal am Tag ins Dojo
gehen. Es ist auch möglich, dort, wo man ist, fünf oder zehn Minuten Zazen zu machen, selbst
in deinem Auto, in deinem Büro: Du konzentrierst dich auf deinen Körper und atmest ruhig
aus, lässt die Gedanken vorbeiziehen, und die Komplikationen werden aufhören.
Es gibt auch eine andere Methode. Sie beruht mehr auf der Beobachtung. Wenn wieder
komplizierte Sachen, komplizierte Gedanken auftauchen, frage dich: „Wenn ich jetzt sterben
müsste, was wäre dann wichtig?“ – Das ist sehr radikal.
Ich möchte eine Frage in Bezug auf das Karma stellen: In welchem Moment trifft man
wirklich eine Entscheidung über sein Leben?
In jedem Moment.
Und wo ist das Karma?
Wenn ich jetzt z.B. die Entscheidung treffe, auf die Uhr zu schauen, ist das kein Karma.
Karma bedeutet eine Handlung, die einen ethischen Wert hat.
Ich meine nicht das Karma, das man erzeugt, sondern das Karma, das uns bis hierher
gebracht hat.
Du hast doch ein gutes Karma, wenn du Mönch bist. Du bist hier und machst Zazen, also ist
alles gut.
Wenn man sich in Zazen hinsetzt und praktiziert, ist das eine Auswirkung von gutem Karma
der Vergangenheit, oder ist das eine Entscheidung hier und jetzt?
Es ist eine Entscheidung hier und jetzt, die aber durch vergangenes Karma bedingt ist. Es gibt
nichts, was nicht bedingt ist. Das heißt aber nicht, dass es keine Freiheit gibt. Das ist ein sehr
heikler Punkt. Unser gesamtes Leben ist Folge von vergangenen Ursachen und Bedingungen.
Sie haben bewirkt, dass wir jetzt an dem Punkt sind, an dem wir sind. Je mehr Zazen man
praktiziert, um so klarer man sieht, was uns konditioniert, und um so ‚freiere’ Entscheidungen
kann man treffen.
Ich glaube nicht, dass man zu hundert Prozent von vergangenem Karma bedingt ist. Aber das
vergangene Karma schafft bestimmte Bedingungen. – Ich vergleiche das mit einem Kartenspiel:
Am Anfang bekommt man Karten und dann spielt man mit ihnen. Man kann die Karten
nicht wählen, aber man kann sich entscheiden, die eine oder die andere Karte zu spielen. Oder
man kann entscheiden, das Spiel zu beenden. Im Rahmen bestimmter Ursachen und Bedingungen
kann man wählen. Für viele Leute, die sich der Ursachen und Bedingungen nicht
ausreichend bewusst sind, ist die Wahlmöglichkeit jedoch sehr beschränkt. Sie werden von
ihrem Karma mitgerissen.
Wenn man Zazen praktiziert, wird man sich darüber immer klarer, wovon man konditioniert
wird. Man sieht sein Karma immer klarer. Das ermöglicht es, dem Karma gegenüber Stellung
zu beziehen: Möchte ich dieses Karma fortsetzen oder will ich etwas ändern? Je klarer man
ist, desto freier ist man.
In Zazen gibt es immer zwei Aspekte: Der eine ist die Beobachtung, die Weisheit und
Verständnis hervorbringt. Aber das reicht nicht: Selbst, wenn man verstanden hat, kann man
immer noch dieselben Irrtümer begehen. Der zweite, sehr wichtige Aspekt der Praxis ist die
Konzentration. Sie erlaubt es loszulassen, nicht zu folgen. Wenn man es schafft, sich gut auf
den Körper und die Atmung zu konzentrieren, geschieht ein Loslassen all dessen, was uns
konditioniert. Man sieht es, wird von ihm aber nicht mehr angetrieben.
Es gibt z.B. sehr cholerische Leute. Wenn sie Zazen praktizieren, sehen sie die Gründe für
ihre Wut auftauchen. Sie sehen auch das Gefühl, das auftaucht und größer wird. Aber sie sind
in der Lage, sich nicht zu bewegen: nichts sagen, nicht bewegen, nicht zuschlagen, ausatmen
und vorbeiziehen lassen. So hat man die Wut nicht unterdrückt, man hat klar gesehen, wie sie
sich manifestiert, aber man hat sich von ihr nicht mitreißen lassen. – Das gilt für alle Gefühle.
Man kann ein Gefühl haben, z.B. Traurigkeit, und darin schwelgen. Man kann aber auch die
Traurigkeit einfach sehen, sich auf die Atmung konzentrieren, hier und jetzt sein und die
Traurigkeit vorbeiziehen lassen, wie sie aufgetaucht ist, ohne dass sie uns völlig aufsaugt.
Dass wir in der Lage sind, all dem nicht mehr zu folgen, was uns konditioniert, ist wirklich
die Voraussetzung von Freiheit. Klar sehen, was uns konditioniert, ihm aber nicht folgen. Das
ist wirklich die Frucht der Zazen-Praxis.
Während eines Sesshins sitzen hier siebzig Leute. Viel Karma manifestiert sich. Wenn wir
nicht im Dojo wären, würde jeder etwas machen, etwas sagen, würde sich aufregen, würde
weinen. Und jetzt: Alles zieht vorbei wie ein Film. Man lässt sich davon nicht mitreißen. Das
ist eine sehr wertvolle Erfahrung.
Dann gibt es Leute, die sagen: „Was mache ich nach dem Sesshin? Da bin ich wieder in
Schwierigkeiten, in Emotionen.” Deshalb habe ich gesagt: „Dann muss man auf Zazen
zurückkommen.“ Zazen ist wirklich ein Rezept, das man immer wieder erneuern muss. Wie
bei chronischen Krankheiten: Man muss ein Rezept haben, das für immer gilt.
In der Praxis taucht vergangenes Karma auf. Das kann Angst machen. Ich sehe oft im Dojo,
dass Leute über diesen Punkt nicht hinauskommen. Es geht ihnen schlecht, und dann kommen
sie nicht mehr. Mir hat einmal eine alte Nonne gesagt: „Zazen macht den Koffer auf.“ Hast
du einen Rat, wie man solchen Leuten helfen kann, trotzdem weiterzumachen?
Vielleicht, indem man sagt: „Das ist eine Phase, die vorbeigeht. Wir haben alle diese Erfahrung
gemacht.“
Das sage ich ja schon. Aber es nutzt nichts.
Die Leute haben kein Vertrauen. Deshalb ist es sehr wichtig zu versuchen, dieses Vertrauen
weiterzugeben. Eine Möglichkeit besteht darin, die Beispiele der alten Meister zu verwenden,
die auch ein Karma und verschiedene Erfahrungen hatten, die aber am Ende wirklich den
tiefen Frieden des Nirvanas gefunden haben.
Meister Deshimaru hat uns dazu gesagt: „Je stärker die Illusionen, die Anhaftungen, die
Bonnos, desto größer das Satori.“ Wenn die Leute große Bonnos, große Täuschungen, haben,
die sie leiden lassen, sollte man sie an diese Unterweisung erinnern. Oft ist es so, dass Leute,
die völlig verzweifelt sind, ganz plötzlich loslassen. So wird tiefe Hoffnungslosigkeit Quelle
des Erwachens.
Dazu muss man natürlich mit der Praxis weitermachen. Wenn man weiter praktiziert, werden
alle Hindernisse, die einem auf dem Weg begegnen, Gelegenheiten zu erwachen. Aber viele
Leute mögen diese Hindernisse nicht. Sie hätten lieber einen glatten Weg ohne Hindernisse.
Sie sagen sich: „Ein Weg mit Hindernissen ist kein guter Weg.“ Aber im Gegenteil: Der Wert
der Praxis, der Wert des Weges, zeigt sich darin, wie man die Hindernisse überwindet. Wenn
es im Verlauf der Praxis einen großen Zweifel oder ein großes Problem gibt, muss man sich
sagen: „Das ist eine hervorragende Etappe, durch die ich hindurch muss. Was geschieht hier
jetzt?“
Für dich als Verantwortliche eines Dojos ist es vielleicht auch wichtig, wenn die Leute Vertrauen
zu dir haben, sie zu fragen: „Was passiert gerade in deinem Leben? Was passiert wirklich?
Wie kann man das transformieren?“
Dann fangen die Leute an, ihr ganzes Leben zu erzählen.
Man muss auch zuhören können. Kannon ist der Bodhisattva, der die Klagen der Welt hört.
Oft fällt es einem schwer zuzuhören, weil man glaubt, man müsse eine Antwort geben. Es ist
nicht nötig eine Antwort zu geben, oft muss man nur zuhören. Das reicht. Nach und nach wird
das Klagen weniger. Wie bei einem Baby, das weint. Man wiegt es in den Armen und ganz
allmählich beruhigt es sich.
Ich habe früher in Zazen auch immer mal gerne gelitten. Da habe ich mir gesagt: „Niemand
zwingt dich zu leiden. Du hast die Wahl zu leiden oder nicht zu leiden.“ Und ich habe mich
entschieden, nicht zu leiden. Das hat geholfen. Der Mensch ist frei zu leiden oder nicht zu
leiden. Er muss sich nur entscheiden.
Gibt es gutes und schlechtes Karma oder gibt es einfach nur Karma?
Karma ist immer gut oder schlecht. Es ist nicht neutral. Karma ist im Bereich der Ethik
angesiedelt, im Bereich von gut und schlecht, von richtig und falsch. Aber Karma verändert
sich ständig. Deshalb ist ein schlechtes Karma nicht zwingend für immer schlecht. Ein
schlechtes Karma, das Leiden erzeugt, kann auch die Gelegenheit für eine radikale Änderung
des Lebens sein. Je schmerzhafter das Karma ist, um so mehr kann man den Wunsch
verspüren, dieses Karma zu beenden und z.B. in die Praxis des Weges einzutreten. – Ich habe
im Gefängnis Leute gesehen, die wirklich ein ganz übles vergangenes Karma hatten, das für
sie aber eine große Anregung war, Zazen zu praktizieren und ihr Karma zu ändern.
Es gibt sehr wohlwollende Leute, denen es sehr gut geht und die sich fragen: „Warum sollte
ich Zazen machen? Das brauche ich nicht.“ Es ist oft so, dass das, was wir schlechtes Karma
nennen, zur Gelegenheit wird, den Weg zu betreten. – Ich will damit nicht sagen, dass alle, die
Zazen praktizieren, notwendigerweise ein schlechtes Karma haben. Aber man muss sehen,
dass schlechtes Karma oft Bodaishin, den Geist des Erwachens, weckt. Es braucht jedoch
auch gutes Karma, um den Weg zu betreten. Man braucht beides. Man braucht das schlechte
Karma, das das Leiden und den Wunsch, aus ihm herauszukommen, schafft, und man braucht
das gute Karma, das die Gelegenheit eröffnet, dem Zen zu begegnen, ein Buch, einen Meister,
ein Dojo zu finden. Man braucht auch eine Gelegenheit für den Kontakt zum Zen. Das ist das
Ergebnis des gute Karmas.
In unserem Leben mischen sich gut und schlecht unablässig. Deshalb ist es sehr kompliziert.
Daher ist es besser Zazen zu machen und das Karma fallen zu lassen.
Sonntag, 22.1.12, 7 Uhr
Konzentriert euch auf die senkrechte Haltung. Streckt gut die Wirbelsäule nach oben und
entspannt den Rückens und die Schultern. Drückt mit der Schädeldecke gegen den Himmel
und mit den Knien in den Boden. Atmet ruhig durch die Nase ein und aus, und lasst euch
nicht von den Gedanken forttragen. Seht sie so, wie sie sind, und kommt zur Haltung und zur
Atmung zurück.
Jedes Mal, wenn wir zur Haltung und zur Atmung zurückkommen, lassen wir los. Unser Geist
findet seine Verfügbarkeit wieder. Die Tatsache, dass wir loslassen können, bestätigt, dass
alle Objekte des Denkens und der Wahrnehmung ohne Substanz, nicht fassbar sind.
Deswegen kann man sie loslassen.
Während eines Sesshin geht man durch viele Erfahrungen hindurch. Gestern hatten einige
Knieschmerzen. Aber denkt nicht, dass eure Praxis nicht gut ist, weil ihr Knieschmerzen habt.
Die Praxis besteht aus dem Loslassen, auch aus dem Loslassen des Egos, das sich gegen die
Knieschmerzen wehrt, des Egos, das nicht einverstanden ist mit der Wirklichkeit, wie sie hier
und jetzt ist.
Wir haben drei Tage in Grube Louise verbracht, einem schönen Ort in der Natur, aber leider
regnet es. Manchmal bedauert man das schlechte Wetter, aber das Wetter ist jenseits unserer
Macht. So wie auch Krankheit, Alter und Tod jenseits unserer Macht sind. In unserer Macht
steht jedoch, wie wir diesen Aspekten der Wirklichkeit begegnen. Deswegen sagte Meister
Sosan: „Den Weg zu durchdringen, ist nicht schwer.“ Es geht nicht darum, die Welt zu
ändern. Sosan ergänzte: „Es genügt, ohne Gier und Hass, ohne Auswahl und Zurückweisung
zu sein.“
In Zazen geht es darum, durch alle Erfahrungen, die wir machen, hindurchzugehen, durch alle
Empfindungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Geisteszustände, ohne sich an irgendetwas zu
klammern oder irgendetwas zurückzuweisen; unablässig über unsere Neigung hinauszugehen,
ständig auf etwas verharren zu wollen.
Sinn des Buddha-Dharmas ist die Befreiung, Befreiung in Bezug auf unserer eigenes Ego, in
Bezug auf unseren begrenzten Geist, der Trennung schafft, der sich in engen Begriffen
einschließt, indem er sich mit bestimmten Ideen und Dingen identifiziert: „Ich bin jemand, der
so oder so ist.“ Davon ausgehend ist man bereit, gegen alles zu kämpfen, was einen stört, und
gegen alles, was das Bild stört, das man sich von sich macht.
Während des Mondos gestern gab es viele Fragen, und auch an der Bar haben mir einige
junge Leute viele Fragen gestellt. Aber zu viele Fragen führen nur zur Verwirrung. Man muss
dahin kommen, sich nur eine einzige Frage zu stellen, die essentielle Frage seines Lebens, die
Frage, die Meister Eno seinem jungen Schüler Nanganku stellte: „Woher kommst du? Was
kommt so?“ Was ist das, dieses Ego, dieses Ich? Und vollständig auf diese Frage konzentriert
bleiben. Das ist das wahre Koan unseres Lebens. Man muss es bis auf den Grund
durchdringen, vollständig. – Nach sieben Jahren Praxis mit diesem Koan kam Nanganku zu
der Antwort: „Es ist nicht etwas.“
Was ist die wirkliche Natur unserer Existenz? Es ist nicht etwas. Es ist nichts Greifbares. Es
ist nichts Begrenztes. Deshalb gibt es keine Seite, von der aus man es ergreifen kann. Es ist
immer in Einheit mit dem ganzen Universum. – So verweist diese Frage direkt auf unsere
wirkliche Buddha-Natur, die nichts Greifbares ist, die sich manifestiert, wenn man den Geist
loslässt, der immer etwas ergreifen will.
Deshalb gab Nanganku auf die Frage von Meister Eno: „Existiert das in der Praxis und der
Realisation oder nicht?“ die berühmte Antwort: „Es ist nicht so, dass es weder Praxis noch
Realisation ist. Es ist nur so, dass sie nicht beschmutzt werden kann.“ Meister Eno sagte:
„Deine Antwort ist wunderbar. Diese Existenz ohne Beschmutzungen wurde von allen
Buddhas beschützt. Du bist so, und ich bin auch so.“ – So sein ist die Existenz ohne
Beschmutzung, nyoze. Jenseits aller Begriffe. Jenseits aller Begrenzungen.
Zazen bringt uns in Kontakt mit dieser Wirklichkeit, die sich nicht in Konzepte fassen lässt,
die nicht von Begriffen beschmutzt ist. Es macht uns vertraut mit dem Leben ohne Trennung.
Ohne Trennung zwischen Körper und Geist, zwischen einem selbst und den anderen,
zwischen einem selbst und der Natur, zwischen einem selbst und Buddha. Zwischen beidem
keine Trennung, keine Beschmutzung: nicht zwei. Es ist der Geist des Vertrauens, der damit
vertraut wird.
Sonntag, 22.1.12, 11 Uhr
Während eines Sesshins wird man mit seinem wirklichen Geist vertraut, mit dem Geist
Buddhas, d.h. mit dem Geist, der keine Trennungen mehr schafft. Das ist die wirkliche
Vertrautheit. Wir sind oft wie Fremde auf dieser Erde, weil wir ohne Unterlass Trennungen
und Unterscheidungen schaffen. Zazen ist der Moment, in dem wir eine andere Seinsweise,
erfahren können, eine Seinsweise, in der unser Geist weit wird und alles umfasst.
Meister Dogen sagte: „Wenn ihr das wirkliche Erwachen realisiert, und nicht einfach nur
einen Traum, werdet ihr feststellen, dass der Bereich der kosmischen Ordnung nicht weit und
ein Atom nicht klein ist. Das erste als weit und das zweite als klein anzusehen, ist nicht
richtig. Also wo kommt ein Satz des Dharma her?
Ich wage zu sagen, dass eine Kröte auf dem Grund eines Brunnens den Mond verschluckt. Ein
Hase auf dem Mond schläft in den Wolken.“
„Eine Kröte, die auf dem Grund eines Brunnens den Mond verschluckt“, ist der Bereich des
Erwachens jenseits von Identität und Unterschied. „Ein Hase, der in den Wolken schläft“, ist
der Bereich jenseits des Weiten und des Kleinen, d.h. der Bereich des Hishiryo-Bewusstsein
während Zazen, der Bereich des Erwachens, der Bereich der Harmonie mit der tiefsten
Wirklichkeit.
Nicht nur verschluckt eine Kröte den Mond, sondern sie wird auch vom Mond verschluckt.
Denn der Mond ist nicht nur der Mond am Himmel. Er ist der Geist von Zazen, der alles
widerspiegelt. In Zazen verschluckt der Mond unseres Geistes alles in seinem Licht. So gibt
es keine Dualität, keine Trennung mehr, zwischen einem selbst und allen Gegenständen der
Welt, zwischen einem selbst und allen Wesen des Universums.
„Also was ist das? Es hat etwas Unbeschreibbares.“ – Das, was nicht mit Worten beschrieben
werden kann, müssen wir beschützen. Weil es die Kraft hat, uns von allen Anhaftungen und
Leidesursachen, von der Anhaftung an ein begrenztes, eingebildetes Ego zu befreien. Das
erlaubt es uns, darüber hinaus zu gehen und uns völlig solidarisch mit allen Wesen zu fühlen,
die im Grunde nicht verschieden von uns sind. So verschwindet jedes Hindernis für Wohlwollen
und Mitgefühl, für wirkliche Liebe. Alle Knoten, die uns einengen, sind aufgelöst. Das
bedeutet Buddha zu sein, wirklich befreit. So können wir uns auf natürliche Weise mit der
wahren Natur unserer Existenz harmonisieren, mit dem Tao, mit dem Weg.
Wenn man das in Zazen realisiert, kann man nur noch ewig mit dieser Praxis fortfahren;
fortfahren, diese Dimension der Existenz in der Praxis zu aktualisieren – und von Zazen aus
auch in allen Handlungen Alltags, in jedem Augenblick Alltags. So werden alle Tage gute
Tage und alle Orte gute Orte, um den Weg zu verwirklichen. Das ist das Geschenk von Zazen.
Nehmt es an!