Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 30. April – 8. Mai 2016
während des Frühjahrslagers in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.
30.4.2016, 7 Uhr
Konzentriert euch von Beginn des Zazen an völlig auf eure Haltung. Lasst euch nicht von den
Gedanken ablenken. Bringt eure Aufmerksamkeit auf die Senkrechte eures Rückens zurück. Dank
der richtigen Höhe des Zafus ist das Becken gut nach vorne geneigt, sodass man keine Muskeln
anspannen muss. Man drückt gut mit den Knien auf den Boden. Der Bauch ist entspannt. Das
Körpergewicht verteilt sich auf die Knie und das Zentrum des Damms, das auf das Kissen drückt.
Das gibt der Haltung eine stabile Basis.
Ausgehend von der Taille streckt man die Wirbelsäule und den Nacken. Man lässt alle Spannungen
des Rückens und der Schultern los. Das Kinn ist zurückgezogen, und man drückt mit der
Schädeldecke in den Himmel und mit den Knien in die Erde. Auf diese Weise ist die Haltung wie
eine Verbindung zwischen Himmel und Erde.
Das Gesicht ist entspannt, auch der Blick. Er ruht vor einem auf dem Boden. Man schließt die
Augen nicht. Nicht die Objekte des Sehens stören die Konzentration, sondern dass man sich an sie
klammert. Wenn man sich nicht an die visuellen Objekte klammert, kann man alles klar sehen, ohne
auf irgendetwas zu verweilen. Das Gleiche gilt für alle anderen Sinnesobjekte, einschließlich der
geistigen.
Während Zazen bemüht man sich nicht, die Gedanken zu unterdrücken, sondern man folgt ihnen
nicht, klammert sich nicht an sie. Man beobachtet ihre Unbeständigkeit und Leerheit und lässt sie
vorüberziehen, indem man zur Konzentration auf den Körper zurückkehrt. Die Zunge liegt am
Gaumen an. Das hilft, alle innere Diskussion anzuhalten. Wenn in Zazen Gedanken auftauchen,
unterscheidet man sie nicht bezüglich ihres Inhalts. Man betrachtet sie wie Wolken am Himmel und
lässt sie vorüberziehen.
Die linke Hand liegt in der rechten, die Daumen sind waagerecht, die Handkanten haben Kontakt
mit dem Unterleib. Die Schultern sind gut entspannt. Die Hände bilden das Mudra von Hokkai join,
das Siegel, in, des Samadhis, jo, des Dharma-Ozeans, hokkai. Wenn man sich völlig in der
Konzentration auf die Körperhaltung absorbiert, hört das geistige Unterscheiden auf. Man schafft
keinen Unterschied mehr zwischen innerhalb und außerhalb von einem selbst, also auch nicht
zwischen einem selbst und den andern. Im Dojo sind wir völlig in Einheit. Man schafft auch keinen
Unterschied mehr zwischen sich selbst und der Natur. Man ist mit ihr in Einheit. Man schafft auch
keinen Unterschied mehr zwischen Gott oder Buddha und einem selbst. Das ist das Verdienst von
hokai jo, des Samadhis des Dharma-Ozeans. Durch die Konzentration wird der Geist wie das weite
Meer, wenn der Wind aufgehört hat, die Oberfläche aufzuwühlen. Dann spiegelt er das ganze
Universum genau und wird bis in die Tiefe durchsichtig.
Vor allen Dingen schafft der Geist in Zazen keine Trennungen mehr zwischen der Praxis hier und
jetzt und der Verwirklichung, dem Satori. Wenn die Praxis richtig ist, d.h. wenn man sich völlig der
Praxis hingibt, wenn unser kleines Ego in der Praxis aufgesogen ist, ist die Praxis selbst
Verwirklichung, Leben ohne Trennung, Leben in Einklang mit dem Dharma-Ozean, erwachtes
Leben.
Während eines Sesshins behält man diese Konzentration in allen Praktiken des Tages bei: beim
Spaziergang nach Zazen, beim Rezitieren der Sutren während der Zeremonie, beim Sanpai, beim
Gassho, beim Essen, wenn man Samu macht, und selbst, wenn man in der Bar ist oder sich ausruht.
Man ist immer völlig gegenwärtig für die Wirklichkeit des Augenblicks. Dafür darf der Geist auf
nichts verweilen und muss immer völlig verfügbar bleiben. Wenn der Geist auf nichts stehen bleibt,
manifestiert sich der wirkliche Geist, der erwachte Geist.
30.4.2016, 16.30 Uhr
Bleibt während Zazen immer auf die Haltung konzentriert. Lasst euch nicht von den Gedanken
ablenken. Statt euren Gedanken zu folgen, folgt eher eurer Atmung. Sich auf die Haltung zu
konzentrieren, bringt uns an diesen Ort. Auf die Atmung achtsam zu sein, bringt uns in den
gegenwärtigen Augenblick. So lernt man in Zazen, den gegenwärtigen Augenblick tief zu leben, mit
der Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks in Kontakt zu treten, ohne in seinen Gedanken
eingeschlossen zu bleiben. Zazen weckt uns aus unserem täuschenden Traum.
Shantideva hat einen Text geschrieben mit dem Titel Der Weg des Lebens zum Erwachen. Es ist die
Praxis unter dem Blickwinkel des Erwachens: Was tun, damit uns die Praxis zum Erwachen
Buddhas führt?
Erwachen bedeutet, in Kontakt mit der Wirklichkeit zu treten, so wie sie ist – jenseits unserer
Gedanken. In Zazen kann man unmittelbar die Unbeständigkeit dessen erleben, was unsere Existenz
ausmacht. Unsere Körperempfindungen verändern sich unablässig; auch unsere Wahrnehmungen.
Gedanken erscheinen und verschwinden wieder. Es gibt nichts zu ergreifen. Zazen erlaubt es uns,
dies zu sehen, aber vor allem auch, dies zu akzeptieren, einen sanften, geschmeidigen Geist zu
verwirklichen, einen Geist, der in jedem Augenblick unsere Neigung, uns an alle Phänomene zu
klammern, loslassen kann.
Während Zazen denkt man mit dem ganzen Körper, nicht nur mit seinem Kopf, seinem Hirn. Wenn
man mit dem ganzen Körper denkt schafft man keine Unterscheidungen mehr, kein Klammern an
Konzepte. Dies gestattet uns, unsere Einheit mit allen Wesen zu sehen und nicht mehr zu
unterscheiden zwischen dem, was wir mögen, und dem, was wir nicht mögen, und so die Gifte des
Geistes, Hass und Gier, aufzugeben.
Wenn man von diesen Geistesgiften befreit ist, kann man in der Praxis selbst das Glück, die
Befreiung finden. Man benutzt nicht die Praxis um Glück und Befreiung zu erlangen, die Praxis
selbst wird Glück und Befreiung.
Wenn man mit der Praxis gar nichts mehr erlangen möchte, wird aus einer Praxis mit dem Ziel, das
Erwachen zu erlangen, hier und jetzt die Praxis des Erwachens. Der Praxis dieses Augenblicks fehlt
es an nichts. Man kann damit zufrieden sein, einfach zu sitzen.
Einfach sitzen.
30.4.2016, 20.30 Uhr
Die Blüten der Kirsche im Frühling,
Die scharlachroten Blätter im Herbst,
Der weiße Schnee im Winter.
Ich kann die Anziehungskraft nicht erklären,
die kein Ende findet.
Ein Gedicht von Meister Dogen.
1.5.2016, 7 Uhr
Bringt während Zazen eure Achtsamkeit immer wieder zurück zur Körperhaltung, insbesondere auf
die Senkrechte des Rückens. Das Kinn ist zurück gezogen, und die Schultern sind gut entspannt.
Statt den Gedanken zu folgen, legt man all seine Achtsamkeit in die Atmung. Wenn wir einatmen
sind wir völlig dieser KörperGeist, der einatmet. Wenn wir ausatmen, sind wir völlig dieser
KörperGeist, der ausatmet. Diese Achtsamkeit ermöglicht es, die Gedanken vorüber ziehen zu
lassen und sich nicht mehr an sie zu klammern, und so einen fließenden Geist wieder zu finden, der
auf nichts stehen bleibt. Die geistige Aufgeregtheit beruhigt sich und unsere Sicht wird klar.
Wir können die Schatten unserer Bonnos erhellen und ihre Wurzel abschneiden, unsere Anhaftung
an unser kleines Ego. Unsere Anhaftung an unser Selbst zeigt, dass wir uns mehr lieben als alles
andere. Wir sind für uns das Allerwichtigste. Alles, was diese Wünsche des Egos stört, führt dazu,
dass wir leiden.
Die Konzentration in Zazen ermöglicht es, dies klar zu sehen und einen noch größeren Wunsch
entstehen zu lassen: den Wunsch, zur tiefsten Wirklichkeit unserer Existenz zu erwachen. Das nennt
man Bodaishin. – Nur ein Wunsch, der viel größer ist als all die vielen kleinen Wünsche, erlaubt es
uns, diese auszurotten und all unsere Energie für die Praxis des Weges zu mobilisieren.
Wir haben die Möglichkeit gehabt, den Weg zu finden. Das ist eine ganz außergewöhnliche
Möglichkeit, also darf man sie nicht vergeuden. Der Wunsch zu erwachen wird ein sehr großer
Wunsch, wenn er alle Wesen einschließt. Wenn alles was wir praktizieren, dazu beiträgt, allen
Wesen zu helfen sich zu erwecken, wird alles Gelegenheit, auf dem Weg voranzuschreiten, alle
Umstände werden dann von Bodaishin genutzt. Die Menschen, die uns selbst leiden lassen, werden
zu unseren Wohltätern. Alle Wesen werden unsere Freunde.
In der Tiefe gibt es keine Trennung zwischen einem selbst und den anderen. So bedarf es keiner
großen Anstrengung, uns an ihre Stelle zu versetzen und ihnen gegenüber großes Mitgefühl zu
empfinden. Dann kann man nur wünschen, den Weg mit allen Wesen zu teilen. Dieses Gelübde
belebt unsere ganze Existenz, gibt ihr einen tiefen Sinn, eine starke Richtung.
1.5.2016, 16.30
Mondo
Du hast heute morgen im Workshop gesagt: „Soheit ist die positive Bezeichnung für Leerheit.“ Ich
sehe zwischen Soheit und Leerheit keinen Unterschied. Gibt es doch einen Unterschied?
Nein es gibt keinen wirklichen Unterschied. Soheit bezeichnet die Existenz so, wie sie ist, ohne
Substanz, ohne etwas Festes, vor allem jenseits aller unseren geistigen Projektionen. Es ist absolut
‚so’. Wenn man verstehen möchte, was es heißt, absolut so zu sein, versteht man, dass es bedeutet,
in völliger Wechselbeziehung mit allem Existierenden zu existieren, also ohne getrennte Existenz
zu sein, aber zu existieren.
Warum hat man begonnen, diesen Begriff zu benutzen? – Weil es einen etwas zu negativen
Eindruck erweckt, nur von der Leerheit zu sprechen. Wenn die Menschen das Wort ‚Leerheit’
hören, denken sie an das Nichts, an das Nicht-Existieren. Das Wort Leerheit selbst trägt zu dieser
Konfusion bei. Das ist der Grund weshalb, der Begriff Soheit erschienen ist.
Im Sanskrit ist ‚so’ tathata. Man sagt, dass Buddha der Tathagata ist, derjenige, der so gekommen
ist, der aus dieser Existenz ohne Substanz kommt, einer Existenz, die sich nicht in unseren
Konzepten einschließen lässt, die jenseits unserer Gedanken ist.
In der gleichen Denkrichtung hat man die Auffassung entwickelt, dass alles Geist ist. Auch das ist
ein Versuch, die tiefste Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, in einer positiveren Weise als
einfach zu sagen: „Alles es ist Leerheit, alles ist ohne Substanz.“
Es gibt diese zwei Annäherungen: ‚Alles ist einfach so.’ oder ‚Alles ist einfach Geist.’ Das sind
zwei positive Weisen zu sagen, dass alles, was existiert, nur in Wechselbeziehung existiert, also
ohne Substanz; leer von Substanz, aber nicht leer von Existenz.
Ich bin sehr zuvorkommend, dass ich versuche die Soheit zu erklären. Normalerweise ist die Soheit
etwas, was man nicht erklären kann. Es ist jenseits von jeder Erklärung.
Als ich zum Sesshin kam, haben mir viele Leute gesagt: „Lange, dass wir dich nicht gesehen
haben.“ Ich schiebe es immer wieder vor mir her, zu einem Sesshin zu gehen. Zazen ist
anstrengend, und ich bin sehr schläfrig. Ich kann nicht gut schlafen. Dann denke ich: ‚Na ja, ich
bin Nonne, gehe ich mal wieder hin.’ – Was sagst du dazu?
Ich finde gut, dass du gekommen bist.
Ein Sesshin zu machen, wenn man keine Lust dazu hat, ist eine sehr gute Praxis. Es bedeutet, dass
man in der Lage ist, sein Ego aufzugeben, das kein Lust hat, sich zu bemühen, das es vorzieht,
bequem zu Hause zu bleiben. Trotz alle dem, sagt man sich: „Ich muss den Weg mit der Sangha
praktizieren.“ und unternimmt die Bemühung zu kommen. Diese Entscheidung zu kommen, obwohl
unser Ego Widerstand leistet und keine Lust hat, ist eine Art loszulassen, ist ein kleines Satori.
1.5.2016, 20.30 Uhr
Ein anderes Gedicht von Meister Dogen:
Die wahre Person ist niemand Besonderes.
Wie die tiefblaue Farbe
Des unbegrenzten Himmels
Ist sie jede Person,
Überall in der Welt.
2.5.2016, 7 Uhr
Um diese Frühjahrslager praktizieren zu können, sind manche mit Freude gekommen, andere haben
sich sehr bemühen müssen, um zu kommen, sind spät angekommen. Selbstverständlich stoßen wir
im Leben auf alle möglichen Hindernisse, wenn wir den Weg praktizieren wollen. Äußere
Hindernisse, aber vor allem unsere eigenen Hindernisse, unsere Bonnos, unsere Anhaftungen.
Um über diese Hindernisse hinwegzugehen, muss man einen Wunsch entwickeln, der größer ist als
seine kleinen persönlichen Wünsche. Den Wunsch, den Weg mit den anderen und für die anderen
zu realisieren. Das ist Bodaishin, der Geist des Erwachens.
In der Tiefe hat jeder diesen Geist des Erwachens. Jeder hat das Bedürfnis, er selbst zu werden, die
wirkliche Natur unserer Existenz zu realisieren, ohne die man das wirkliche Glück nicht kennen
kann. Ohne Bodaishin, ohne diesen Geist des Erwachens, ist die Praxis des Weges schwierig. Selbst
wenn man intellektuell von seinem Wert überzeugt ist, wenn das Herz nicht folgt, ist es schwierig,
seine Energie in die Praxis zu legen. Alle möglichen Widerstände und Hindernisse tauchen auf.
Alles in der gegenwärtigen Welt steht im Gegensatz zu Bodaishin: Individualismus und
Materialismus haben alle Aspekte des Lebens überschwemmt.
Mit dem Geist des Erwachsen, der Praxis von Zazen, der Praxis des Gyoji, wird das Leben das, was
Shantideva das ‚Gehen zum Licht’ nennt: Die Praxis eines jeden Tages erhellt unser Leben, ist in
sich selbst bereits eine Praxis des Erwachens und keine Übung, um es später zu erlangen.
Shantideva sagt, dass Bodaishin es uns ermöglicht, die Leiden zu durchqueren, das Schlechte
entfernt und es erlaubt, sich wirklichen Glücks zu erfreuen. Es ist das Glück, in Einklang mit
unserer wirklichen Natur zu leben, mit dem, was wir in Wirklichkeit sind. Das suchen alle in der
Tiefe, aber auf falsche Weise.
Bodaishin manifestiert sich in dem Wunsch, den Gelübden zu folgen, und in den Geboten der
Bodhisattvas, d.h. im Empfang der Bodhisattva-Ordination. Durch sie wird man zu einem
wirklichen Sohn, zu einer wirklichen Tochter Buddhas. Wenn man mit Bodaishin Zazen praktiziert,
wird der eigene Körper der Körper Buddhas.
Dafür ist es erforderlich, eine starke Verbindung zwischen sich selbst und Buddha zu schaffen,
indem man die gleiche spirituelle Erfahrung wie macht er: die Erfahrung der Unbeständigkeit und
der Leerheit unseres kleinen Egos und die Erfahrung unseres wirklichen Lebens in Einheit mit allen
Wesen. Dann bemüht man sich auf natürliche Weise durch Körper, Geist und Worte, diesen Geist
mit anderen zu teilen, ihn bei anderen zu erwecken. Dann kann man Zazen mit wirklichem
Loslassen praktizieren, das heißt, man kann sich Zazen hingeben, alle seine Energie, alle seine
Aufmerksamkeit der Praxis geben. Die Praxis wird dadurch viel stärker und trägt uns über die
Hindernisse hinaus, die unser Ego stellt. Die Praxis selbst wird Praxis des Erwachens und stimuliert
ihrerseits Bodaishin, das nicht aufhört, anzuwachsen, wie auch unser Wunsch, das mit anderen zu
teilen.
Obwohl man manchmal Bodaishin als den Anfang des Weges ansieht, sagt Meister Dogen, dass
sich mit Bodaishin das höchste Erwachen verwirklicht. Es gibt keinen Unterschied zwischen
Bodaishin und dem höchsten Erwachen.
Dann wird alles leicht. Man braucht sich nicht mehr so sehr anzustrengen, um zu praktizieren. Es ist
die Praxis, die uns voran trägt. Man muss ihr nur folgen.
Alle Phänomene, denen wir begegnen, werden Gelegenheiten, den Weg zu praktizieren, ihn zu
vertiefen, zu erwachen. Jeder Tag wird ein guter Tag, und alle Orte werden gute Orte, um zu
praktizieren, gemeinsam mit allen Wesen.
Schlaft nicht! Konzentriert euch auf eure Haltung, insbesondere auf die Handhaltung!
2.5.2016, 16.30 Uhr
Das Zen, das wir hier praktizieren, ist keine therapeutische Meditation und auch keine
Wohlbefindensmeditation oder eine Art der Persönlichkeitsentwicklung. Es ist die Meditation
Buddhas, d.h. die Meditation, die das Erwachen Buddhas realisiert, die die wirkliche tiefe Natur
unserer Existenz realisiert, sogar jenseits unserer Gedanken.
Das ist nichts, was man mit dem Geist erfassen kann. Das verwirklicht sich, wenn man völlig
absorbiert ist in der Konzentration auf die Körperhaltung in Einheit mit dem ganzen Universum.
Das verwirklicht sich, wenn man völlig achtsam auf die Atmung ist in völliger Einheit mit jedem
Augenblick an dem Punkt, wo jede Trennung verschwindet, die Trennung zwischen hier und
woanders, zwischen nah und fern, zwischen jetzt und früher, zwischen jetzt und später. Aller Raum
und alle Zeiten sind hier und jetzt versammelt. Weil dieses Zazen bereits die Verwirklichung des
Erwachens ist, praktizieren wir nicht mit der Erwartung, dass etwas kommt, aber weil wir in Einheit
mit allen Wesen praktizieren, beeinflusst unsere Praxis sie und hilft ihnen, in den Weg einzutreten.
Wir praktizieren in der völligen Wechselbeziehung mit allen Wesen.
Wenn man den Geist des Erwachens, Bodaishin, realisiert, trägt alles zu seiner Entwicklung bei.
Alles zeigt uns das Dharma, insbesondere Geburt und Tod, die sich in jedem Augenblick
verwirklichen, d.h. die Unbeständigkeit aller Existenz. Alles taucht von Augenblick zu Augenblick
auf und verschwindet. Das ermöglicht es dem vergangenen schlechten Karma zu verschwinden. Die
Bonnos können verschwinden, und alles Gute kann erscheinen, denn es gibt Raum in unserem
Geist. Er ist nicht von dem vergangenen Karma verdunkelt.
Aber selbst wenn wir dies realisieren, dürfen wir nicht stolz auf unsere Verwirklichung sein, denn
das Dharma ist letztlich unfassbar, zu weit, um in unserem Geist eingeschlossen zu werden. In der
gleichen Weise kann man weder den Augenblick noch die Ewigkeit fassen. Die beiden Extreme der
Zeit sind nicht fassbar, genauso wenig wie das unendlich Kleine und das unendlich Große. Wenn
man das intuitiv wahrnimmt, kann man nur seinen Wunsch loslassen, etwas zu erfassen, was auch
immer das sein mag. Das ist in sich selbst eine große Befreiung. Denn Gier ebenso wie Hass sind
große Ursachen von Leiden.
Zazen mit Bodaishin praktizieren heilt nicht nur diese Leiden, sondern ist Quelle unendlichen
Glücks.
2.5.2016, 20.30
Ein anderes Gedicht von Meister Dogen:
Erwachen, während man die Blüten des Pfirsichbaumes sieht
Die Blütenblätter des Pfirsichbaumes
Öffnen sich im Frühlingswind
Und fegen alle Zweifel
Der Ablenkungen der Äste und der Blätter weg.
3.5.2016, 7 Uhr
Kehrt während Zazen immer wieder zur Konzentration auf die Körperhaltung zurück. Folgt nicht
euren Gedanken.
Während Zazen durchqueren alle möglichen Gedanken unseren Geist. Wünsche, Sorgen, Ängste
stören unablässig den Frieden unseres Geistes. Dennoch klammern wir uns an sie.
Shantideva fragt: „Wie kann ich nur Sklave meiner Bonnos werden. Sie stören mich, aber ich
befreie mich nicht von ihnen. Welch absurde Leidenschaft!“ – Manchmal handeln wir wie unser
schlimmster Feind. Wir sind auf den Weg der Großen Befreiung gestoßen, aber statt alle Energie
und Achtsamkeit darauf zu richten, diese Befreiung zu verwirklichen, lassen wir uns von unseren
illusorischen Gedanken ablenken. Wir wissen, was richtig ist, machen aber das Falsche. So als
würde uns völlig das Mitgefühl mit uns selbst fehlen.
Glücklicherweise sind unsere Bonnos einfach Fata Morganas. Zazen hat die Kraft, uns das zu
zeigen. Also lassen wir uns durch Zazen erhellen, lassen wir uns von Bodaishin führen. Dafür
müssen wir uns immer wieder daran erinnern, dass die Unbeständigkeit beständig ist, dass es keine
Zeit zu verlieren gibt. Diese Zeit des Sesshins, während der wir gemeinsam den Buddhaweg
praktizieren, ist sehr kostbar. Lassen wir sie nicht nutzlos verstreichen. Alles ist unbeständig, also
lasst uns das Gute tun, solange wir die Fähigkeit dazu haben.
3.5.2016, 20.30 Uhr
Ein weiteres Gedicht von Meister Dogen:
Das ursprüngliche Gesicht
Im Frühling die Kirschblüten,
Im Sommer der Ruf des Kuckucks,
Im Herbst der leuchtende Mond,
Im Winter der gefrorene Schnee.
Wie rein und klar sind die Jahreszeiten.
4.5.2016, 7 Uhr
Lasst während Zazen euren Geist nicht aus der Konzentration auf die Körperhaltung entweichen.
Seid völlig achtsam auf die Atmung. Ständig achtsam und sich völlig dessen bewusst zu sein, was
innerhalb und außerhalb von uns geschieht, ist erforderlich, um wirklich den Weg zu verwirklichen.
Wenn man nicht achtsam ist, geschehen alle möglichen Irrtümer in unserem Leben. Man ruft
Unfälle hervor. Man sagt Dinge, die man anschließend bedauert. Man macht, was man nicht
machen sollte, und unterlässt das, was man tun sollte.
Um in Einklang mit dem Weg zu sein, muss man seinen Geist frei von jeder Ablenkung halten.
Wenn unser Geist abgelenkt ist, muss man zum Körper zurückkehren. Nicht handeln. Einfach zur
Gegenwärtigkeit für einen selbst zurückkehren. Ruhig ausatmen, die geistige Unruhe sich beruhigen
lassen.
Wenn wir unser Leben betrachten, nehmen wir wahr, dass alle Gefahren, alle Leiden, die
geschehen, aus unserem Geisteszustand kommen. Wenn man wachsam ist, wenn der Geist achtsam
ist, wird man nicht mehr von seinen Bonnos gestört. Die Bonnos sind wie Diebe: Wenn man sie
überwacht, halten sie sich versteckt. Sobald man abgelenkt ist, nutzen sie das aus, um uns zu
überschwemmen.
Um die Paramita wirklich zu praktizieren, d.h. die Praktiken der Bodhisattvas, die es ermöglichen,
über die begrenzte Welt unseres kleinen Egos hinaus zu gehen, muss man unablässig vollkommen
bewusst sein, muss man seinen Geist kontrollieren. Denn alles kommt aus unserem Geist. Wenn
unser Geist von Wut erfüllt ist, erscheint uns die Welt um uns herum voller Feinde. Wenn unser
Geist zum Frieden zurückfindet, gibt es keine Feinde mehr. Selbst wenn Menschen Irrtümer
begehen, lösen sie unser Mitgefühl aus, nicht unseren Zorn. So kann man mit ihnen befreundet
bleiben.
Wenn unser Geist unablässig abgelenkt ist, in Sanran ist, immer mit allem möglichen beschäftigt,
oder wenn er andererseits schwer und schläfrig ist, werden alle Praktiken nutzlos. Sie fügen nur
noch Aufgeregtheit hinzu.
In Zazen können wir besonders gut unseren Geisteszustand beobachten, können wir sehen, wie er
sich von Gedanken ablenken lässt und wie er sie loslassen kann. Insbesondere indem man zur
Aufmerksamkeit auf die Atmung zurückkehrt. Wenn man völlig gegenwärtig in seiner Atmung ist,
klärt sich der Himmel unseres Geistes sehr schnell, die Wolken verziehen sich.
Unser Geist ist ohne Form, ohne alles Substanzielle, wie ein weiter Spiegel. Unablässig zeigen sich
alle möglichen geistigen Objekte vor diesem Spiegel. Wenn man sie in dem Augenblick betrachtet,
in dem sie auftauchen, wenn man ihre Leerheit wahrnimmt, kann man sie schnell zu ihrem
Ursprung zurückkehren lassen, sich nicht von ihnen überschwemmen lassen.
In Zazen kann man lernen, achtsam auf das Auftauchen der Gedanken zu sein, und auf diese Weise
sich nicht von ihnen überschwemmen zu lassen. Lernen, seinen Geist zu kontrollieren, bedeutet sich
die Fähigkeit zu geben, in mitten der Phänomene frei zu sein, sich nicht von ihnen konditionieren zu
lassen. Das erlaubt es loszulassen und immer verfügbar zu bleiben, um das zu empfangen, was sich
von neuem zeigt.
Völlig sich dessen bewusst zu sein, was geschieht, ohne etwas festzuhalten oder zurückzuweisen,
macht die Praxis des Weges einfach. Dafür bedarf es nicht des Studiums vieler Dinge. Einfach nur
einen achtsamen Geist kultivieren. Dann lehren uns alle Phänomene das Dharma und geben uns die
Möglichkeit zu erwachen.
4.5.2016, 16.30
Mondo
Du hast heute morgen im Seminar gesagt, dass im interreligiösen Dialog die Gefahr besteht, dass
durch die westlichen Benennungen und die Analogisierungen die Reinheit der Lehre beschmutzt
werden könnte. Ich glaube auch, dass diese Gefahr besteht. Wie soll man dann einen
interreligiösen Dialog führen?
Ich bin nicht gegen den interreligiösen Dialog. Ich glaube, dass es wichtig ist, dass sich Angehörige
verschiedener Religionen verstehen. Ich glaube, dass der Mensch in der Tiefe ein religiöses Wesen
ist. Religion ist der Wortbedeutung nach das, was uns hilft, uns mit anderen verbunden zu fühlen,
jenseits unseres Egos, das unablässig Unterschiede schafft. Sich zu bemühen, den religiösen Geist
anderer zu verstehen, der sich in unterschiedlichen religiösen Formen manifestiert, ist wichtig. Das
verhindert Intoleranz und religiösen Fanatismus, verhindert die Auffassung zu glauben, dass nur die
eigene Form die richtige Form von Religion ist.
Die Gefahr besteht aber darin, dass man zu sehr zeigen möchte, dass wir in der Tiefe ähnlich sind,
was Philosophie und Lehre angeht. Das führt dazu, dass man sich manchmal bemüht, das Zen in
religiöse Modelle zu pressen, die aus dem Westen stammen und ihm eigentlich fremd sind. Auch
ich laufe immer wieder Gefahr, das zu tun. Man glaubt, auf der Lehrebene sei es das Gleiche, aber
es ist nicht wirklich das Gleiche.
Es gibt aber eine wichtigere Ebene, die Ebene der spirituellen Erfahrung. Ich glaube, der
interreligiöse Dialog kann dort am wichtigsten sein, wo es darum geht, sich auf der
Erfahrungsebene auszutauschen, nicht auf der Ebene der Lehre.
Es gibt eine Vereinigung für den interreligiösen Klosterdialog, der es darum geht, die Erfahrung der
andern zu teilen, indem man die Praxis mit den anderen zusammen lebt. Zum Beispiel sind
japanische Mönche in Benediktiner-Kloster gegangen und haben mit den Benediktinern zusammen
praktiziert. Sie kamen nicht, um über Theologie oder Buddhanatur zu sprechen, sondern um die
Erfahrung eines Benediktinermönchs zu leben. Und umgekehrt haben christliche Mönche in Zen-
Klöstern in Japan gelebt.
Ich glaube, dass das Gyoji zu teilen, ohne zu sagen: „Das mache ich nicht.“, erlaubt, sich auf der
Erfahrungsebene dem Geist jenseits der Worte und Konzepte anzunähern.
Im interreligiösen Dialog läuft man Gefahr, die Unterschiede aus dem Bedürfnis nach Bruderschaft
hinwegzuwischen.
Wie kann man religiöse Extremisten erreichen?
Ich glaube, dass man sich da sehr um Verstehen bemühen muss. Seit Jahrhunderten sind die
Moslems bezogen auf ihre Kultur erniedrigt worden. In der Bestätigung ihrer religiösen Werte
suchen sie, zu einem Stolz zurückzufinden. Darüber hinaus sind sie – wie wir alle – mit dem
Materialismus und dem Individualismus der westlichen Gesellschaft konfrontiert, der bezogen auf
die Spiritualität kein gutes Beispiel ist. So geht es also darum, die ursprünglichen Werte des Islams
wieder zu finden, indem man wie vor Jahrhunderten in Arabien praktiziert. Auf diese Weise möchte
man eine Reinheit wieder finden, die später korrumpiert worden ist. Das ist insbesondere im
Salafismus der Fall. Diese Leute sind nicht so sehr nach außen hin fanatisch, sondern es betrifft ihre
Art und Weise sich zu kleiden, ihre Aussehen.
Gefährlich wird es, wenn Politiker die Religionen und insbesondere den Islam benutzen, um
Menschen aufzuwiegeln, damit sie ihnen helfen, an die Macht zu kommen. Die Führer des IS sind
keine religiösen Führer. Die Religion ist für sie lediglich ein Mittel. Der Islamische Staat hat nichts
wirklich Islamisches. Sein Handeln geht gegen alle Werte des Islam.
Wenn extremistische Moslems junge Franzosen dazu auffordern, Attentate zu machen, ist das die
Ausbeutung einer bestimmten Hoffnungslosigkeit der französischen Jugend, die sich nicht in die
französische Gesellschaft integriert fühlt. 1968 wären sie vielleicht Linke geworden. Jetzt drücken
sie ihre Revolte gegen die Gesellschaft aus und werden von etwas ausgebeutet, das letztlich nichts
Religiöses hat.
Aber es gibt nicht nur islamische Extremisten, sondern auch christliche Extremisten: Vor ein paar
Jahren wollten wir in Osnabrück einen Raum der Stille etablieren, und machten dafür ein bisschen
Werbung auf der Straße. Wir wurden von einer Gruppe sehr radikaler Christen niedergeschrieen.
Man konnte überhaupt nicht mit ihnen reden. Wie kann man die erreichen? Die richten ja Schaden
an.
Ich glaube, dass es wichtig ist zu verstehen, warum sie so geworden sind. Jedes Karma hat eine
Ursache. Man muss also versuchen zu verstehen. Bevor man verurteilt oder kritisiert, sollte man
versuchen zu verstehen, warum sie dahin gekommen sind. Ihr Glaube wird nicht sehr fest sein.
Wenn man keinen starken Glauben hat, wird man von anderen gestört. Aber ich kann darauf keine
wirkliche Antwort geben.
Das hieße letzten Endes, in einen langen Dialog zu gehen.
Ja. Wenn man sich wirklich verstehen will, muss man sich Zeit lassen. Das Problem ist, dass wir in
einer Welt leben, in der es alle eilig haben. Wir lassen uns nicht die Zeit, die anderen zu verstehen
und auf diese Weise die Ursachen von Missverständnissen aufzulösen. Wir haben es eilig, uns eine
Meinung und ein Urteil zu bilden und dann die Leute zurückzuweisen.
6.5.2016, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von den Gedanken ablenken. Bringt eure Achtsamkeit unablässig
auf die Körperhaltung zurück, auf die Senkrechte des Rückens. Die Schultern sind entspannt, das
Kinn ist zurückgezogen. Die linke Hand liegt in der rechten, die Daumen sind waagerecht. Man
atmet ruhig durch die Nase ein und aus und lässt alle Gedanken vorüberziehen.
So lernt man, wieder mit dem ganzen Körper zu denken. Man findet die Einheit von Körper und
Geist wieder. Körper und Geist in Einheit sind immer im Hier und Jetzt, gegenwärtig für das
wirkliche Leben eines jeden Augenblicks. Sie verlieren sich nicht in der virtuellen Welt unserer
Vorstellungen. Hier und Jetzt ist alles in Frieden.
Wenn man das Dojo betritt und Gassho vor Buddha macht, gibt man all seine Energie in die Praxis
mit dem Körper. Dann befriedet sich der unterscheidende Geist. Man harmonisiert sich auf
natürliche Weise mit der Buddhanatur, mit dem Leben in Einheit mit allen Wesen. Man gibt sich
selbst völlig der Praxis hin, ohne irgendetwas zurückzubehalten.
Die Praxis von Zazen ist die Praxis des Gebens, des Fuse. Man gibt seine Energie der Praxis und
bringt die Verdienste dieser Praxis allen Wesen dar.
Im friedlichen Geist von Zazen verschwindet aller Zorn, alle Wesen werden unsere Freunde. Unsere
Seinsweise in der Welt hängt vollständig von unserem Geisteszustand ab. Wenn unser Geist
friedlich ist, wird alles um uns herum friedlich. Seinen Geist zu befrieden ist also die beste Gabe,
die man machen kann, um die Welt zu befrieden.
In Zazen hört jeder Kampf auf. Man kämpft nicht einmal gegen sich selbst. Wenn man klar die
Leerheit seines Egos sieht, verschwindet jede Täuschung. Selbst wenn Spuren unserer vergangenen
Täuschungen sich manifestieren, betrachtet man sie einen Augenblick lang und lässt sie
vorüberziehen, indem man all seine Aufmerksamkeit auf die Senkrechte der Haltung richtet und
sich auf die Atmung konzentriert.
6.5.2016, 11 Uhr
Während Zazen bleiben wir unbeweglich. Nichts lässt uns uns bewegen. So lernen wir Geduld.
Weder Wut noch Gier bringen uns in Bewegung. Weil Gier und Hass den Geistesfrieden stören,
erlaubt es die Praxis von Zazen, unseren Geistesfrieden wieder zu finden. Ohne Geistesfrieden kann
man weder Freude noch Wohlbefinden empfinden.
Wenn jedoch Schmerz auftaucht und man darunter leidet, kann auch das Gelegenheit zum
Erwachen werden: Was leidet? Wo kommt dieser Schmerz her? – Es gibt notwendigerweise eine
Ursache. Die Ursache des Schmerzes zu verstehen, erlaubt es, ihn zu heilen. Die Ursache des
Leidens zu verstehen, bedeutet unseren Geist zu verstehen, der leidet. Er leidet aufgrund seiner
Anhaftungen. Weil wir Leid empfinden, wünschen wir, den Weg zu praktizieren. Also gibt es
letztlich keinen Grund, das Leiden zu verachten. Das Leiden führt uns zum Erwachen.
Wenn wir aufgrund des Verhaltens anderer Wesen leiden, müssen wir verstehen, dass auch diese
Wesen Opfer von Leiden sind. Also gibt es keinen Grund, sie zu verachten. Es ist besser, sie
verstehen zu lassen, was die Ursache ihres Leids ist.
Auch unsere Bonnos sind die Ergebnisse von Ursachen. Also gibt es keinen Grund, unsere Bonnos
zu verachten. Wir müssen einfach durch die Praxis der Betrachtung ihre Ursache verstehen. Dass
alles, was geschieht, aufgrund von Ursachen geschieht, bedeutet, dass nichts eine eigene Substanz
hat. Absolut Schlechtes existiert nicht. Ursachen und Bedingungen führen es herbei. Also gibt es
auch Heilmittel dagegen.
Es geht nicht darum zu bekämpfen, sondern darum zu heilen.
Shantideva sagt: „Ich mag den Schmerz nicht, aber ich mag die Ursache des Schmerzes.“ d.h. die
Täuschungen, die Bonnos.
Es ist gut, diese Hellsichtigkeit zu haben. Wenn man die Dinge des Lebens auf diese Weise
betrachtet, ist alles, was geschieht, eine Gelegenheit zu erwachen. Selbst die aller unangenehmsten
Dinge werden Gelegenheit, Geduld zu lernen, also das Loslassen, also das Satori.
So geben uns alle Wesen die Gelegenheit, den Buddhaweg zu praktizieren. Shantideva empfiehlt,
sie wie Buddha zu verehren.
6.5.2016, 16.30 Uhr
Fahrt während Zazen damit fort, all eure Energie in die Haltung zu legen und all eure
Aufmerksamkeit der Atmung zu geben.
Shantideva sagt: „Das Erwachen, Bodhi, hat seinen Sitz in der Energie. Denn die Energie ist der
Mut zum Guten.“ Wir geben all unsere Energie der Praxis des Rechten und vermeiden, was falsch
ist. Das ist die Essenz des Paramitas der Energie. Manchmal verwendet man auch den Begriff
‚Bemühung’. Bemühung im Sinnes dieses Paramitas besteht darin, seine Energie in die richtige
Richtung zu kanalisieren, für den Weg.
Shantideva sagt: „Die Gegner des Paramitas der Energie sind die Anhaftung an den Irrtum, an das,
was schlecht ist, die Entmutigung und die Selbstverachtung.“ Nicht das zu praktizieren, was recht
ist, ist eine Art und Weise sich selbst zu verachten.
Sich um sich selbst zu kümmern, bedeutet die höchste Dimension unserer Existenz in einer Praxis
zu aktualisieren, die ihr ihren wirklichen Sinn gibt. Der Sinn unserer Existenz ist, zur Wirklichkeit
zu erwachen. Und auf diese Weise ein rechtes, ein authentisches Leben zu führen, ohne unsere
wirkliche Natur zu verraten.
Faulheit liegt an unserem Geschmack für unmittelbare Vergnügen. Vor allem aber an unserer Nicht-
Sensibilität dem Schmerz des Samsara gegenüber. Wenn man sich der Schmerzen des Samsara
bewusst wird, spürt man die Dringlichkeit, etwas dagegen zu tun. Das ermöglicht es, seine Energie
für die Praxis des Weges zu mobilisieren. Dies wird etwas Natürliches, Offenkundiges, kein Opfer.
Denn man wünscht nichts mehr, als den Weg zu verwirklichen. Das wird die Priorität in unserem
Leben, für unser eigenes Glück und das Glück der anderen.
Shantideva empfiehlt uns, unsere Faulheit abzuschütteln, bevor der Tod kommt. Er sagt von sich,
daß er sich wie ein Fisch in, einem Wasserbecken fühlt, in das man die Fische setzt, bevor man sie
isst.
In einem solchen Becken zu sein, ist eine gefährliche Situation. Man kann sich nur wünschen,
daraus zu entkommen. Dann wird es leicht, seine Energie für die Praxis zu mobilisieren, und man
wird nie entmutigt sein, selbst wenn man ein bisschen leiden muss. Denn manchmal muss man ein
wenig leiden, um die viel größeren Leiden zu überwinden. Aber das heißt nicht, dass man sich
Kasteiungen oder eine extreme Askese auferlegt. Shantideva unterstreicht, dass die Ärzte mit
sanften Mitteln schwere Krankheiten heilen. Sich zum Beispiel im Geben üben, im Fuse, ist ein
sanftes Heilmittel gegen Gier.
Man sagt, dass die Bodhisattvas aus Mitgefühl im Samsara bleiben und ihr Eintreten in das Nirvana
hinausschieben, solange es noch Wesen gibt, die im Samsara leiden. Aber diese Ausdrucksweise ist
ein bisschen falsch. Denn diese Ausdrucksweise läßt glauben, dass Samsara und Nirvana zwei
verschiedene, voneinander getrennte Orte sind. So wie man zum Beispiel das Leben in der
Gesellschaft dem Leben im Kloster gegenüberstellt.
In Wirklichkeit ist das alles eine Frage des Geisteszustandes. In einem Kloster zu leben kann die
Hölle sein. In der Gesellschaft zu leben und dort die Gelübde der Bodhisattvas zu praktizieren,
macht aus diesem Leben in der Gesellschaft ein Nirvana. Denn das Nirvana ist nichts Anderes als
ein Leben, in dem man die drei Geistesgifte Gier, Hass und Verblendung aufgibt. Jedes Mal, wenn
man diese drei großen Bonnos aufgibt, öffnet sich das Tor des Nirvanas unmittelbar, hier und jetzt,
völlig gleichgültig, an welchem Ort man sich befindet. Wenn man diese drei Gifte nicht aufgibt,
wird das Leben, selbst wenn man in einem Kloster praktiziert, das schlechteste der Samsara.
Nirvana bedeutet, mit Bodaishin zu leben, mit einem großzügigen Geist, der gelobt, all seine
Energie und Weisheit zu verwenden, um den Wesen zu Hilfe zu eilen, die leiden. Das ist der Sinn
der Bodhisattva-Ordination und natürlich auch der Mönch- und Nonnenordination. Denn Mönch
oder Nonne zu werden bedeutet, den Bodhisattva-Gelübden die absolute Priorität in seinem Leben
zu geben. Wenn wir so leben, wird unser Leben Nirvana.
Mondo
In dem, was du gerade im Kusen gesagt hast, kann ich mich tief wieder finden. Als ich letztes Jahr
dein Sekretär war, hast du zu mir gesagt, dass du Bananen brauchst, weil du ein Affe bist, der einen
Tiger reitet.
Affe ist mein chinesisches Sternzeichen. Das war ein bisschen ein Spaß, das darfst du nicht zu ernst
nehmen. Ich mag einfach nur Bananen.
Ich denke mir oft, dass ich ein Esel bin, der eine Schildkröte reitet.
Die arme Schildkröte.
Wie kann ich das Gefährt wechseln?
Nimm die Schildkröte auf deinen Rücken.
Was möchtest du mit dem Vergleich sagen? Ein Esel auf einer Schildkröte, was heißt das für dich,
für dein Leben, in deiner Praxis?
Wenn ich Sesshins mache, kann ich diese Erfahrung aktualisieren. Aber im Alltag kehre ich immer
wieder zurück in die Verblendung, in die Faulheit und das Nicht-Sehen-Wollen.
Was willst du nicht sehen?
Das, was ist.
Siehst du denn klar, bis zu welchem Punkt du deine Täuschungen magst?
Ja.
Das ist schon mal eine gute Grundlage.
Aber ich folge den Täuschungen.
Dann musst du wirklich Energie einsetzen, ihnen nicht zu folgen.
Ich glaube, dass du deshalb das Kusen gemocht hast. Shantideva sagt: „Energie ist der Sitz des
Erwachens.“ Du verwendest viel Energie, um Zazen zu machen, aber nicht viel Energie, um den
Weg in deinem Alltag fortzusetzen. Im Alltag muß man jede Handlung, alles, was im Alltag ist, als
Praxis des Weges sehen, auf der gleichen Ebene wie Zazen. So weit möglich sollte man jeden Tag
mit Zazen beginnen, selbst wenn es nur eine Viertelstunde zuhause ist, um dem Tag eine gute
Richtung zu geben. Vergiss nicht, dass du Mönch bist, und handle im Alltag wirklich wie ein
Mensch des Weges.
Einverstanden?
Einverstanden.
Es ist sehr einfach, mit dem Mund zuzustimmen. Aber Körper und Geist müssen in ihrer Ganzheit
zustimmen.
Ich habe immer wieder gehört, dass ein Mönch oder eine Nonne drei Kesas braucht. Das Rakusu,
das siebenbahnige und das neunbahnige Kesa. Ich habe angefangen, das neunbahnige Kesa zu
nähen, frage mich aber immer wieder, wozu man das eigentlich braucht, ob es überhaupt nötig ist,
es zu haben, oder ob das eine veraltete Idee ist.
Ja, es ist die Tradition, aber eine gute Tradition. Selbst wenn sie alt ist. Zunächst einmal verpflichtet
es dich dazu, dich auf das Nähen eines Kesas zu konzentrieren. Das ist für dich nicht einfach, du
studierst, du arbeitest. Aber genau weil es nicht einfach ist, ist die Zeit, die Energie, die Geduld, die
du in das Nähen dieses Kesas gibst, eine hervorragende Praxis. Das führt dazu, dass du das Kesa
noch mehr liebst. Und das Kesa wird dir umso mehr helfen, weil du viel für es gegeben hast.
Wenn ich es dann habe, dann habe ich ja zwei Kesas. Ich kann nicht beide zum Zazen anziehen.
Wenn es sehr kalt ist, kannst du das eine auf das andere ziehen, z.B. wenn es im Dojo keine
Heizung gibt. Die Mönche in China waren früher sehr arm, hatten wenig Geld und wenig
Möglichkeit zu heizen. Daher haben sie mehrere Kesas übereinander getragen.
Das siebenbahnige Kesa trägt man in der täglichen Praxis, wenn man der Wand gegenübersitzt. Das
neunbahnige Kesa ist für den Fall, dass man eine Verantwortung im Dojo hat. Wenn du deine
beiden Kesas zum Sesshin mitbringst, kannst du, wenn du eine Verantwortung hast, das
siebenbahnige jemand anderem leihen, der eine Funktion, aber kein Kesa hat und du selbst trägst
das neunbahnige. Das gibt anderen die Möglichkeit, mit dem Kesa zu praktizieren. Oft hat es einen
guten Einfluss. Viele Leute waren sehr beeindruckt, zum ersten Mal Zazen mit einem Kesa zu
machen. Oft führt das zu dem Wunsch, selbst ein Kesa zu nähen und um die Ordination zu bitten.
Meister Deshimaru sagte oft, dass man die wirkliche spirituelle Dimension von Zazen spüren kann,
wenn man Zazen mit dem Kesa praktiziert. Ohne Kesa kann Zazen zu einer Entspannungstechnik
werden, aber mit dem Kesa spürt man seine religiöse Dimension. Es trägt dazu bei, die Praxis zu
vertiefen und hat Einfluß auf die anderen. Deshalb bittet man die Pfeiler, ein Kesa zu tragen. Wenn
jemand das Kesa trägt, empfangen alle, den guten Einfluss des Kesas.
Du nähst also das Kesa nicht nur für dich. Die Bemühung, die Energie, die du in das Kesa-Nähen
legst, hilft den anderen.
Heute morgen habe ich im Kusen gehört, dass die Bonnos dem Geist entspringen. Mein Wissen
zeigt mir, dass ich diese Bonnos mehr aufgrund der Erfahrungen habe, die mein Leben geprägt
haben.
Aber diese Erfahrungen hast du mit deinem Geist gelebt.
Diese Antwort ist einfach.
Ja. Man lebt mit seinem Geist. Das gleiche Ereignis kann für zwei Menschen unterschiedliche
Folgen haben. Ein Unfall oder eine schwere Krankheit ist für eine Person eine Gelegenheit zu
erwachen, bei jemand anderen löst das eine schwere Depression. Die Umstände des Lebens
erzeugen nicht die gleichen Ergebnisse. Es hängt von dem Geisteszustand ab, welche Ergebnisse sie
erzeugen.
Ich möchte eine Frage anschließen: Ich habe im letzten Jahr von dir gehört, dass es 108 benannte
Bonnos gibt. Gibt es auch das Pendant zu den Bonnos, Zugewandtheit, Freundlichkeit,
Aufmerksamkeit, u.a.?
Ja klar. Ich habe begonnen die ‚108 Pforten des Dharmas’ zu kommentieren. Es sind 108
wunderbare Unterweisungen des Dharmas. Das ist ein Sutra, das Meister Dogen dem Shobogenzo
hinzugefügt hat, bevor er starb, ohne es zu kommentieren. 45 Pforten des Dharmas habe ich bereits
kommentiert.
Man spricht von 108 Bonnos oder von 108 Pforten des Dharmas. In Wirklichkeit sind die Bonnos
aber unzählig, sehr, sehr zahlreich, und natürlich auch die Pforten des Dharmas.
Manchmal sind die Bonnos Pforten des Dharmas. Ein Bonno ist etwas, was uns leiden macht. Eine
Anhaftung wird Ursache von Leiden. Und weil wir nicht leiden wollen, bewegt uns das Leid dazu,
ein Heilmittel gegen dieses Bonno zu finden.
Es sind oft Bonnos, die uns dahin bringen, den Weg zu praktizieren. Jemand, der nicht so viele
Anhaftungen, wenige Bonnos hat, kann ein recht bequemes Leben führen und wird nicht so
gedrängt sein, das Erwachen zu suchen, wie jemand, der aufgrund seiner Bonnos leidet. Das heißt
aber nicht, dass man die Bonnos kultivieren sollte.
Im Diamant-Sutra heißt es, dass der Buddha kein Dharma gelehrt hat und nichts zu lehren hatte.
Trotzdem gibt es von dir eine Unterweisung. In welchem Maße muss ein Schüler von dir deine
Unterweisung intellektuell verstehen um i shin den shin zu praktizieren?
Natürlich kann die Unterweisung auf einer intellektuellen Ebene verstanden werden, d.h. bewusst,
mit Vernunft. Aber das ist nicht das wirkliche, tiefe Verstehen. Das tiefe Verstehen vollzieht sich
dadurch, dass man den Wert der Unterweisung in der Praxis und im Leben beweist, indem man die
Lehre in die Praxis umsetzt.
Die Worte, die Sätze zu verstehen ist nicht so schwer, zumal ich mich immer bemühe, mich klar
auszudrücken. Also haben die Leute den Eindruck, dass sie das verstehen, was ich sagen will. Aber
das reicht nicht. Ich selbst verstehe sehr gut das, was ich sage. Aber ich habe manchmal
Schwierigkeiten, es zu praktizieren.
Wirkliches Verstehen besteht also darin die Unterweisung durch die Ganzheit von Körper und Geist
im Leben zu verwirklichen.
Was die Aussage im Diamant-Sutra angeht, dass Buddha nichts gelehrt hat, so handelt es sich da
um die Sichtweise der Leerheit, um die tiefste Wirklichkeit. Die tiefste Dimension ist, dass alles
unbeständig und ohne Substanz ist. Selbst das Dharma. Alles ist Leerheit. Das bedeutet, dass nichts
unterwiesen werden kann. Aber wenn man das tief versteht, realisiert man wirklich das Erwachen
Buddhas, ohne sich noch an Worte, an Sätze, an Konzepte, an Wahrheiten zu klammern.
7.5.2016, 7 Uhr
Seid während Zazen völlig gegenwärtig in der Praxis jeden Augenblicks, ohne euch von den
Gedanken stören zu lassen. Wir praktizieren den Weg, um uns von den Leidensursachen zu befreien
und das wirkliche Glück zu finden. Wenn wir wirklich in Einheit mit der Praxis eines jeden
Augenblicks sind, fehlt uns nichts. Wir sind unmittelbar jenseits von Unglück und Glück. Das nennt
man die große Befreiung. Sie erlaubt es, den Frieden des Geistes zu finden, ohne Furcht und ohne
Erwartung zu sein. Denn hier und jetzt brauchen wir nichts zu fürchten, brauchen wir nichts, denn
wir sind völlig in Einheit mit dem Leben. Wir brauchen nichts anderes als voll zu sitzen.
Heute Morgen werden wir die Zeremonie Verstorbenen widmen. Das ist unser Gebet dafür, dass sie
ihren spirituellen Weg fortsetzen können.
Das Glück, das wir in der Praxis erleben, treibt uns dazu zu wünschen, es mit den anderen zu teilen,
mit den Lebenden und denjenigen, die jenseits des Todes in einem neuen Leben wiedergeboren
werden. In jedem Augenblick werden wir in ein neues Leben wiedergeboren. Unsere Praxis besteht
darin, befreit wiedergeboren zu werden, befreit von unserem begrenzten Ego.
Es ist diese Erfahrung, die wir mit allen Wesen zu teilen wünschen, denn sie ist Quelle unendlicher
Freude.
7.5.2016, 11 Uhr
Während Zazen macht man nichts, will man nichts, sucht man nichts. Man ist einfach zufrieden, zu
sein, im Augenblick gegenwärtig zu sein, Körper und Geist in Einheit mit der Praxis.
Ein Sesshin zu praktizieren bedeutet, unsere Vertrautheit mit unserem wirklichen Geist wieder zu
finden, indem wir alle Sorgen fallen lassen, die uns von ihm trennen.
Wenn man jemanden liebt, wünscht man, mit dem geliebten Wesen vereint zu sein, und leidet
darunter, von ihm getrennt zu sein. Der Wunsch wird aus der Trennung geboren. Und selbst, wenn
man in Gegenwart des geliebten Wesens ist, ist man getrennt, ist man nicht wirklich eins mit dem
anderen, wenn der Geist mit Gedanken befasst ist.
Um die Einheit wieder zu finden, muss man die Funktionsweise des Geistes aufgeben, der sich an
die Gedanken klammert, der unterscheidet. Zazen ermöglicht es uns, dieses Aufgeben zu
verwirklichen. Deshalb ermöglicht es Zazen, den religiösen Geist vor allen Religionen zu
verwirklichen, den Geist, der sich in Einheit mit allen Wesen fühlt.
Oft heißt es, dass es keine glückliche Liebe gibt, einfach, weil wir, wenn wir mit unserem Ego
lieben, aus dem anderen ein Objekt machen. Wir schaffen die Trennung und erzeugen unsere eigene
Einsamkeit. Aber in Wirklichkeit existiert diese Trennung nicht, sie ist nur ein geistiges Erzeugnis,
sie ist Leerheit. Also kann man sie aufgeben, sich von ihr befreien.
Wenn uns diese Befreiung manchmal schwierig erscheint, dann deshalb, weil wir Angst haben, das
zu verlieren, an das wir gewöhnt sind, die Welt unserer Bonnos, unserer Anhaftungen, die uns den
ganzen Tag beschäftigen und uns all unsere Energie nehmen.
In Zazen kann man eine völlig andere Seinsweise erfahren: zur wirklichen Natur unserer Existenz
erwachen, die nicht ein Etwas ist, sondern eine Seinsweise im Einklang mit dem Leben, mit dem
wirklichen Leben, so wie es ist, ohne die vom Geist erzeugten Trennungen. Wenn man das in Zazen
erfährt, ist es eine große Befreiung und ein großes Glück. Man kann nur wünschen, das auch im
Alltag zu leben und diese Seinsweise mit den anderen zu teilen.
Deshalb lieben wir es, uns zu treffen, um gemeinsam Sesshins zu machen, um eine erwachte
Seinsweise zu realisieren, die völlig anders ist, als die in einer gesellschaftlichen Welt.
Das Leben, das man während eines Sesshins erfährt, ist das Heilmittel gegen unsere Sehnsucht,
unsere Sehnsucht nach dem Himmelreich, das in Wirklichkeit nicht weit weg ist, sondern in
unserem eigenen Herzen, wenn es sich für die Einheit mit allen Wesen öffnet. Das genau ist die
Bedeutung des Wortes Sesshin: die Einheit mit dem wirklichen Geist ohne Trennung wieder zu
finden, die Religion vor den Religionen. Das erlaubt es uns aufzuhören auf dieser Erde
herumzuirren wie Fremde und sich überall zu Hause zu fühlen. Wirklich eins mit allen Wesen
jenseits unserer Zu- und Abneigungen.
Das ist nicht sehr schwer zu verwirklichen. Die Praxis von Zazen belegt, dass das hier und jetzt
möglich ist. Also, lasst uns auf diese Erfahrung von Zazen vertrauen. Denn sie zeigt uns den
wirklichen Weg, die rechte Seinsweise, in Einklang mit dem, was wir in der Tiefe und in
Wirklichkeit sind, in Einklang mit allen Wesen.
Glückliche Liebe ist möglich, wenn sie ohne Eigennutz ist: Das ist die Liebe Buddhas, die Liebe der
Bodhisattvas
7. 5.2016, 16.30 Uhr
Mondo
Zazen hat das Ziel, sich vom Ego zu befreien. Wenn man unter Ego die Struktur des Charakters
versteht, ist auch das Ziel mancher Psychotherapie, oder?
Ziel der Psychotherapie ist es, dem Ego zu ermöglichen, besser zu funktionieren, d.h. die Blockaden
zu lösen, die aus alten Traumata entstanden sind und verhindern, dass sich gesunde Wünsche auf
normale Weise verwirklichen. Die Psychotherapie hat also das Ziel, dem Ego eine gesunde
Funktionsweise zu ermöglichen, um genug Befriedigung im Leben zu finden. Die Praxis von Zazen
hat das Ziel, über diese Dimension des Egos hinaus zu gehen.
Es geht nicht darum, das Ego zu zerstören. Jeder hat das Bedürfnis nach einem normal
funktionierenden Ich, das in der Lage ist, im Leben Befriedigung zu empfinden. Aber das Ego lässt
uns in einer sehr begrenzten Weise leben, weil es sich ausgehend von der Trennung zwischen dem,
was es ist, und dem, was außerhalb von ihm ist, geschaffen hat. Das Ego hat also die Funktion der
Unterscheidung, der Trennung. Wenn das Ego einen zu wichtigen Platz im Leben einnimmt, wenn
man egozentrisch wird, dann fehlt uns eine viel tiefere und weitere Dimension der Existenz, das
Leben in dem man sich in Sympathie und Harmonie mit allen Wesen fühlt.
Das Ego ist wie eine Haut. Eine Haut ist da, um etwas zu schützen und zu enthalten. Aber zur
gleichen Zeit trennt uns die Haut von dem, was außen ist. Eine normale Haut ermöglicht das
Atmen. Aber wenn die Haut sich zu sehr verhärtet und ein Panzer wird, ist man völlig blockiert und
rigide und kann nicht mehr in einem gesunden Kontakt mit der Umwelt sein.
Die Zazen-Praxis lässt dem Ego seinen Platz. Es hat seine Funktion. Es ermöglicht uns, uns zu
identifizieren, uns von anderen zu unterscheiden, unsere Bedürfnisse zu sehen und eine gesunde
Möglichkeit zu finden, sie zu befriedigen. Aber da hört seine Funktion auf. Zu einer viel weiteren
Dimension zu erwachen, zur Wirklichkeit, dazu, dass wir unablässig in völliger Einheit und völliger
Wechselbeziehung mit dem Universum stehen, ermöglicht das Ego nicht. Seine Funktion besteht
wirklich darin zu trennen und zu schützen. Es erlaubt nicht die Kommunion, die Rückkehr zur
Einheit, zur Nicht-Getrenntheit. Das suchen die Religionen.
Der religiöse Geist ist der Geist, der die Einheit mit dem sucht, was über das Ego hinaus geht.
Wenn man von einem spirituellen Weg spricht, spricht man von einem Weg, der über das Ego
hinaus geht. Oft verwenden Religionen lediglich Glauben und Riten, um eine Wahrnehmung dieser
Dimension jenseits des Egos zu ermöglichen, oft unterdrücken sie das Ego, häufig auch mit
Schuldgefühlen.
In der Praxis von Zazen ist es nicht so. Die Dimension jenseits des Egos verwirklicht sich durch die
Praxis der Konzentration und der Beobachtung. Die Konzentration hilft uns, unsere durch die
Vergangenheit konditionierten Gewohnheiten loszulassen. Sie erlaubt es auch, wirklich hier und
jetzt zu leben, d.h. aus den Konditionierungen unseres Egos herauszutreten, aus unseren alten
Gewohnheiten, aus unseren Verteidigungssystemen. Die Beobachtung erlaubt es uns zu sehen, dass
das, von dem wir glauben, dass es unser Ego ausmacht, in der Tiefe, in der Wirklichkeit, keine
getrennte Realität hat. Es hat keine Substanz.
Das rezitieren wir, wenn wir das Hannya Shingyo rezitieren. Der Körper ist ohne Substanz. Er
besteht aus Partikeln des ganzen Universums, die sich vorübergehend in dieser Form
zusammengefunden haben. Empfindungen und Wahrnehmungen stehen völlig in
Wechselbeziehung mit der Welt, die uns umgibt. Sie verändern sich unablässig.
So ist es auch mit unserem Bewusstsein: Es gibt kein getrenntes Bewusstsein. Man hat immer das
Bewusstsein von etwas. Und dieses Etwas verändert sich unablässig. Man ist sich z.B. seines
Körpers, seiner Wahrnehmungen, seiner Empfindungen bewusst. Die Objekte des Bewusstseins
sind unbeständig, also ist auch das Bewusstsein unbeständig.
Nichts, was das Ego ausmacht, hat eine permanente, autonome Substanz. Dies ist die grundlegende
Unterweisung Buddhas. Ihr Ziel ist es, uns von der Täuschung der Getrenntheit zu befreien.
Die Unterweisung der Zen-Meister unterscheidet sich sehr von der Unterweisung der
Psychotherapeuten: Eka hatte einen Geist, der voller Leiden war. Hätte er einen Psychotherapeuten
aufgesucht, hätte dieser ihn vielleicht aufgefordert, von seiner Kindheit zu erzählen. Aber er suchte
Bodhidharma auf. Der sagte einfach nur: „Zeig‘ mir deinen Geist!“ Er hat ihn also völlig ins Hier
und Jetzt gebracht. Er hat nicht Ursachen und Umstände der Vergangenheit analysiert. Eka wurde
sich bewusst, dass sein Geist nicht fassbar ist, dass er kein Objekt ist. Bodhidharma sagte: „Wenn
du wirklich verstanden hast, dass dein Geist nicht fassbar ist, ist er von seinen Leiden befreit.“
Der Geist ist nicht etwas. Er ist immer jenseits dessen, was ihn durchquert. Also kann man immer
das Objekt seines Leidens loslassen. Es hat keine Substanz. – Das ist eine viel radikalere Methode
als die Psychotherapie.
Ich weiß nicht, welches Ergebnis es hätte, würde ein Neurotiker einen Psychotherapeuten aufsuchen
und dieser ihn wie Bodhidharma behandeln. – Ich selbst habe das als Psychotherapeut noch nie
versucht. Ich glaube, dass die Methode Bodhidharmas sich nur für Menschen eignet, die eine tiefe
Meditationspraxis haben. Sie haben bereits erfahren, dass der Geist nicht fassbar ist, und können
das unmittelbar verbinden. Menschen, die keine Meditationserfahrung haben, können das nicht
verstehen.
Im Alltag fällt mir der Umgang mit der ersten Edlen Wahrheit schwer. Sie steht in Widerspruch zu
dem, was ich bei den Menschen sehe. Ich sehe Menschen, die leiden, die aber sehr gute Mittel
finden, um ihre Leiden zu lösen. Andere Menschen leiden überhaupt nicht.
Du hast den Eindruck, du siehst etwas, was andere nicht sehen. Wenn Buddha von Dukkha spricht,
sagt er nicht, dass alle Menschen unablässig leiden, aber wenn wir nicht zur wahren Dimension
unseres Lebens erwacht sind, werden wir früher oder später zwingend leiden. Hier und jetzt ist
bereits Unzufriedenheit vorhanden. Diese kann das Ego häufig maskieren.
Das ganze soziale und ökonomische Leben baut darauf auf, nicht zu sehen, dass das gewöhnliche
Leben nicht zufrieden stellend ist. Daraus zieht die Wirtschaft ihren Profit. Unablässig sagt sie den
Menschen: „Kauft dieses Produkt, das wir entwickelt haben. Es wird eure Bedürfnisse erfüllen. Und
wenn ihr keine Bedürfnisse habt, werden wir welche für euch entwickeln. Es kann nicht sein, dass
ihr unsere wunderbaren Produkte nicht braucht.“
Das bewirkt, dass die Menschen nicht unablässig das Leid berühren. Sie sind von der Täuschung
erfasst, dass es ein Mittel gibt, wirkliche Befriedigung zu erlangen. Leiden ist nur ein Zufall. Oder
es existiert, weil sie noch nicht das gefunden haben, was sie befriedigen wird. Noch nicht den
richtigen Partner, noch nicht die richtige Partnerin, noch nicht den richtigen Weg, um viel Geld zu
verdienen.
Viele Menschen glauben, das Glück sei möglich, wenn es ihnen nur gelänge, sich die Objekte
anzueignen, die es ermöglichen, diesen Wunsch nach Glück zu befriedigen. Menschen, die wenige
Wünsche haben, halten sich für nicht normal und gehen dann zum Psychotherapeuten, damit dieser
ihnen hilft, ihre wirklichen Bedürfnisse zu entdecken. Es gibt tatsächlich Menschen, die darunter
leiden, keine Wünsche zu haben. Sie sind nicht befreit, weil sie darunter leiden.
In der Gesellschaft gibt es alle möglichen Mechanismen, die verhindern, dass sich die Menschen die
wirkliche, grundlegende Frage nach dem Leiden stellen, nach dem Leiden im Sinne der nicht
zufrieden stellenden Existenz.
Wie kann man das so jemandem erklären?
Es geht nicht darum, das jemandem zu erklären. Menschen, die keine Probleme haben, die glücklich
sind, muss man in Ruhe lassen. Es geht nicht darum, denen zu sagen: „Ihr irrt euch! Ihr seid gar
nicht glücklich!“ – Wenn die betreffende Person nicht das Bedürfnis verspürt, zu der tieferen
Dimension der Existenz zu erwachen, heißt das nur, dass es jetzt nicht der richtige Moment ist.
Buddha hat nie zu den Menschen gesagt, dass sie unglücklich sind und dem Weg folgen müssen.
Wenn Menschen sich Fragen stellten und ihn nach Antworten fragten, wenn sie also in der Lage
waren, ihre gewöhnlichen Verhaltensweisen in Frage zu stellen, dann hat er ihnen geantwortet.
Man muss in der Lage sein zu erkennen, wann ein Mensch das Bedürfnis hat, dass man vom Weg
spricht. – Auch ein Psychotherapeut kann nur Menschen helfen, die ihn um Hilfe bitten. –
Bodhisattvas müssen auf das achten, was im Geist der Menschen und in ihren Beziehungen
geschieht. Dann können sie, wenn sich eine Gelegenheit zeigt, in der Dukkha verstanden werden
kann, vom Weg sprechen.
Deshalb sagt z.B. Keizan: „Sprecht nur vom Weg, wenn man euch mindestens drei Mal danach
fragt.“ – Man sollte nicht versuchen, Menschen zu essen zu geben, die keinen Hunger haben.
Was ist Geist? Habe ich einen Geist? Wenn ich meditiere, erlebe ich, dass ich denke, dass ich fühle.
Ich merke auch, dass da jemand ist, der das Zazen beobachtet. Ist das dann Geist? Sind Geist,
Psyche und Seele unterschiedlich?
Ja, da gibt es große Unterschiede. Man kann sagen, es gibt einen Geist, der aber alle möglichen
Formen annimmt und alle möglichen Funktionen hat. Der Geist ist nicht etwas, er ist nichts Festes.
Also kann man den Geist auch nicht definieren. Aber gibt geistige und spirituelle Funktionen, die
man mit dem Nicht-Fassbaren in Verbindung bringt, das man den Geist nennt.
Gedanken tauchen auf, also unterstellt man, dass es einen Geist gibt, der denkt. Es wird unterstellt,
dass der Geist das ist, was die Gedanken erzeugt. Manchmal hat man Empfindungen. Dann
unterstellt man, dass der Geist das ist, was das angenehme oder unangenehme Gefühl empfindet.
Manchmal hat man Wünsche. Dann denkt man: ‚Mein Geist wünscht etwas.‘
Wie eine Quelle…
Ja, das ist eine Hypothese, das wird unterstellt. Deswegen ist der Geist in der Tiefe nicht fassbar.
Man kann sagen „ein Geist“. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um ein Kaleidoskop, denn es gibt
viele Funktionen.
Und es gibt auch das, was man den Geist des Erwachens nennt. Das ist der Geist, der das Erwachen
sucht. Und auch den Geist, der erwacht ist. Das ist der Geist, der die Dimension der Existenz ohne
Trennungen realisiert. Den nennt man dann Buddha-Geist, erwachten Geist.
Dieser Geist erzeugt andere Funktionen, z.B. Großzügigkeit, Mitgefühl, Wohlwollen. Deswegen
kann man sagen, es gibt den Geist des Mitgefühls, den Geist des Wohlwollens, den Geist des Fuse.
All das ist der Geist.
In gewissem Sinn ist dann alles Geist. Weil man alles, was man in der Existenz erfährt, durch das
erfährt, was man als Geist bezeichnet, was aber nicht fassbar ist. Man wird sich etwas bewusst
aufgrund der Funktionsweise des Geistes, Bewusstsein zu schaffen.
Könnte es so sein, dass es eine Quelle ist, aus der die Gedanken oder die Gefühle entstehen?
Ja, sicher.
Es gibt auch die Vorstellung eines Speichers. Im Buddhismus gibt es eine ganze Schule, die den
Geist sehr studiert hat. Sie wird Yogacara genannt. Diese Schule hat zumindest drei verschiedene
Ebenen des Geistes beschrieben: In der tiefsten Ebene des Geistes befindet sich das, was man das
Alaya-Bewusstsein, Speicher-Bewußtsein, nennt. In ihm befinden sich die Samen aller Gedanken,
aller Wünsche. Und dieser Speicher enthält auch die Spuren aller Erfahrungen der Vergangenheit.
Das ist wirklich das tiefste Bewusstsein. Das ist, was du als Quelle bezeichnest.
In vielen Religionen gibt es vorgeschriebene Fastenzeiten, z.B. den Ramadan. Gibt es so etwas im
Zen? Wenn nicht, warum deiner Meinung nach?
Soweit ich weiß, gibt es keine Fastenzeiten. Einfach, weil der Buddhaweg der Weg der Mitte ist.
Buddha empfahl, mit Mäßigung zu essen. Er selbst hatte die Erfahrung des Fastens gemacht.
Nachdem er fast gestorben war, hat er diese Kasteiung, das Fasten, aufgegeben. Er sah das als eine
extreme Sichtweise an.
Buddha war immer gegen Exzesse, dagegen sich an seine Nahrung zu klammern, zuviel zu essen,
nur Leckeres essen zu wollen. Er war aber auch gegen strenge Diäten, dagegen nur Reis zu essen,
die Reismenge immer weiter zu verringern, bis man nur noch ein Reiskorn pro Tag aß. Er hatte die
Erfahrung gemacht, dass das nur den Körper schwächt. Er hatte sehr exzessiv gefastet.
Das Fasten kann natürlich eine therapeutische Methode sein. Aber das ist nicht mit dem
Buddhismus verknüpft. Es gibt viele Menschen, die sich durch Fasten heilen. Aber es ist nicht der
Buddhismus, der das vorschreibt.
Die Unterweisung Buddhas ist wirklich der Weg der Mitte. Es geht nicht darum, sich Quellen des
Vergnügens zu entziehen. Wenn man keine Quelle des Vergnügens hat, läuft man Gefahr, jemand
Trauriges zu werden. Das ist nicht gut. Man muss Vergnügen finden. Aber unablässig nach dem
Vergnügen zu suchen, ist das völlige Gegenteil des Weges. Der Mensch hat eine große Neigung,
von allen möglichen Dingen abhängig zu werden: von Zigaretten, von Alkohol, von Nahrung, etc.,
etc. Einfach, weil in der Tiefe der Geist nicht erwacht ist. Er sucht immer irgendwo nach einer
Ersatzbefriedigung: kein Erwachen, aber kleine Kompensationen, z.B. Schokolade essen, weil man
frustriert ist.
Das ist die Geschichte von dem Menschen, der von einem Tiger verfolgt wird. Der Tiger rennt
hinter dem Menschen her. Plötzlich befindet sich der Fliehende am Rande eines Abgrunds. Er sieht,
dass da eine Liane hängt, ergreift sie und klettert nach unten. Unten wartet ein Monster auf ihn.
Dann nimmt er wahr, dass eine Ratte begonnen hat, über ihm an der Liane zu nagen. Die Situation
ist also wirklich hoffnungslos. Auf einmal sieht er eine Erdbeere, die am Felsen wächst. Er nimmt
diese Erdbeere. „Ahh, wie gut das schmeckt!“ – Für einen Augenblick vergisst er den sicheren Tod,
der ihn erwartet. Das ist ein Bild für das menschliche Leben.
Die meisten Menschen verhalten sich so. Man wird von Unbeständigkeit bedroht, der Tod ist sicher.
Aber während man darauf wartet, bemüht man sich, Walderdbeeren zu finden, alle möglichen
kleinen Freuden. Und wenn man nicht mehr weiß, welche Freude man finden soll, wird man
depressiv und geht zum Psychiater, der einem dann hilft, bestimmte Wünsche zu finden, die man
vergessen hat. Hat man dann neue Wünsche hat, glaubt man, geheilt zu sein.
In einem Kapitel des Shobogenzo sagt Dogen: „Alles ist Geist, auch Berge und Flüsse.“ Wie
kommt er zu dieser Aussage? Wie muss man das verstehen?
Weil alles, was existiert, durch den Geist wahrgenommen wird, auch die Berge. Man kann von
Bergen sprechen, weil unser Geist einen Berg sieht. Der Berg wird zum Berg durch den Geist, der
den Berg sieht. Anders gesagt: Die Wirklichkeit selbst ist nicht fassbar.
Von dieser Blume hier (zeigt auf eine Blume vor sich) kann ich ein Bild haben. Ich sehe ihre
Farben, ich kann sie berühren, ich kann ihren Duft riechen. Aber die Blume selbst, die Wirklichkeit
der Blume selbst, kann ich nicht erfassen. Alles, was ich erfassen kann, sind die Wahrnehmungen,
die diese Blume an mich sendet. Die Blume ist also mein Geist.
Darüber hinaus ist das völlig wechselseitig abhängig. Ohne Geist gibt es keine Welt. Es gibt
Menschen, die daraus einen Schluss gezogen haben, mit dem ich überhaupt nicht übereinstimme.
Sie sagen, dass alles, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, eine Projektion unseres Geistes ist. In
der Philosophie nennt man das Idealismus. Im Buddhismus gibt es die Strömung des Vijnanavada,
den Weg des Bewusstseins. Sie sagt: „Alles ist nur Projektion des Bewusstseins.“
Das finde ich übertrieben. Ich bin damit einverstanden zu sagen: „Alles ist Geist.“, in dem Sinne,
wie ich es eben erklärt habe: Man kann mit der Welt nur mit dem Geist in Kontakt sein. Die Sache
selbst kann man nicht erfassen. Man kann nur die Informationen erfassen, die sie uns liefert. Aber
die Sache selbst kann man nicht erfassen. In diesem Sinne kann man sagen, dass alles Geist ist, weil
alles, was ich wahrnehme, eine Rekonstruktion meines Gehirns ist. Aber zu sagen, dass alles, was
um mich herum existiert, nur Projektion meines Geistes ist, ist falsch. Es gibt eine Wirklichkeit
außerhalb des Geistes.
Wenn Menschen denken, dass alles Projektion des Geistes ist, ist das sehr gefährlich. Wenn man
z.B. glaubt, der Bürgersteig zehn Stockwerke tiefer sei nur eine Projektion des Geistes und man
könne sich nicht wehtun, wenn man aus dem Fenster springt, irrt man sich. Der Beton, auf dem man
dann zerschellt, ist keine Projektion deines Geistes.
Wenn jemand stirbt, verschwindet seine subjektive Welt. Für die anderen geht die Welt weiter.
Ich finde, dass diese idealistische Konzeption vollkommen übertrieben ist. Buddha hat das auch nie
gesagt. Es waren Philosophen nach ihm, die diese Konstruktionen aufgebaut haben. Buddha wollte
nur sagen, dass die Wirklichkeit nicht fassbar ist, dass sie keine Substanz hat. Er hat nie gesagt, dass
sie nicht existiert. Die Idealisten glauben, dass die Wirklichkeit nicht existiert, sondern nur eine
Projektion des Geistes ist. Das ist nicht der Weg der Mitte.
Sagt Nagarjuna das nicht auch?
Nagarjuna vertritt genau das, den Weg der Mitte. Alles existiert in Wechselbeziehung. Nichts
existiert getrennt. Das heißt aber nicht, dass nichts existiert. Die Natur der Wirklichkeit ist es, in
Wechselbeziehung zu stehen.
In der traditionellen indischen Philosophie ist nur das wirklich, was eine feste Substanz hat. Was
keine feste Substanz hat, ist nicht wirklich. Alles, was unbeständig ist, ist wie ein Traum, hat keine
Existenz. Aber Dogen sagt, die Träume existieren, auch die Träume sind Wirklichkeit.
8.5.2016, 7 Uhr
Die neun Tage des Frühjahrslagers sind sehr schnell vorbeigegangen, das Lager wird bald zu Ende
sein.
Unser Leben ist ein Zustand unablässiger Veränderung, ein Zustand der Unbeständigkeit. Wenn wir
diese Wirklichkeit nicht annehmen, entstehen daraus alle möglichen Arten von Leiden. Wenn wir
dank der Praxis von Zazen einen geschmeidigen Geist verwirklichen, einen Geist, der sich mit der
Unbeständigkeit der Welt in Einklang bringt, der sie als etwas Natürliches akzeptiert, verschwindet
jeder Anlass von Furcht, und man kann seine Anhaftungen leicht loslassen. Der Weg, den wir
praktizieren, ist der Weg des Einklangs, des sich mit der kosmischen Ordnung Harmonisierens.
Meister Dogen sagt, dass wir niemals vergessen dürfen, nicht einmal einen kleinsten Augenblick,
dass unser Leben ein unablässiger Zustand von Geburt und Tod ist. Wenn wir das im Geist behalten
und geloben, den anderen zu helfen, das andere Ufer zu erreichen, bevor wir es selbst erreichen,
erscheint unmittelbar das ewige Leben vor uns. Das ewige Leben ist das Leben jenseits unseres
kleinen Egos.
8.5.2016, 11 Uhr
Das Sesshin wird bald zu Ende sein, und alle werden nach hause fahren. Aber während des Sesshins
haben wir erfahren können, dass sich das wirkliche Zuhause in Zazen findet, dass der Weg unter
unseren Füßen ist und der Himmel in unserem Herzen ist. Wenn man das erlebt, verspürt man eine
große Freude. Selbst inmitten der Phänomene des Lebens verlässt uns diese Freude nicht mehr.
Denn überall kann man in Einklang mit dem Weg leben und den Geist des Weges mit allen Wesen
teilen. Auch das ist eine große Freude. Alle Wesen sind uns nahe gekommen, und wir werden uns
niemals mehr allein fühlen. Auch das ist eine große Freude. Alle Phänomene, die uns begegnen,
zeigen uns das Dharma, drücken die tiefste Wirklichkeit aus und bieten uns die Gelegenheit, unser
Erwachen zu erneuern. Auch das ist eine Quelle von Freude.
Wenn wir die Praxis mit der Sangha fortsetzen, wenn wir gemeinsam das Dharma weiter vertiefen
und unsere Dankbarkeit Buddha gegenüber zum Ausdruck bringen, dann schützen wir die Drei
Kostbarkeiten. Auch das ist eine Quelle von Freude.
Wenn man das empfindet, kann man nur wünschen, gemeinsam weiter zu praktizieren. Also eine
gute Fortsetzung eurer Praxis und bis bald auf dem Weg!