Leerheit – 05.2013 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 4.-12. Mai 2013 während
des Frühjahrslagers in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche übersetzt.

Samstag, 4.5.2013, 7 Uhr
Konzentriert euch ab Beginn des Zazen völlig auf eure Haltung. Neigt gut das Becken nach vorne
und drückt gut mit den Knien auf den Boden. Entspannt den Bauch. Lasst das Körpergewicht auf
das Zafu und die Knie drücken, sodass ihr euch gut in eurer Haltung verwurzelt fühlt, stabil. Streckt
ausgehend von der Taille die Wirbelsäule und den Nacken, so als wolltet ihr den Himmel mit der
Schädeldecke drücken. Entspannt zugleich die Schultern. Zieht das Kinn zurück. Entspannt gut alle
Anspannungen des Rückens und des Nackens. Auch das Gesicht ist entspannt, insbesondere die
Kiefer. Der Mund ist geschlossen und die Zunge liegt am oberen Gaumenrand hinter den
Schneidezähnen.
Der Blick ruht vor einem auf dem Boden. Vermeidet es, die Augen zu schließen. Es ist nicht nötig,
die Augen zu schließen, um sich zu konzentrieren. Die sichtbaren Objekte um uns herum stören
nicht die Konzentration. Dass man sich an sie klammert, stört die Konzentration.
Deshalb gibt es keinen Grund, dass wir uns von der uns umgebenden Welt zu isolieren. Es ist nicht
nötig, die Augen zu schließen oder sich die Ohren zu verstopfen. Auch die Geräusche stören die
Konzentration nicht. Wenn man zum Beispiel das Geräusch eines LKW auf der Straße hört, so fährt
der LKW nur vorbei. Es gibt ein Geräusch und dann wieder Stille. Aber wenn man beginnt, sich
dem Geräusch zu widersetzen und sich sagt: „Das ist nicht normal, auf dem Land muss es völlig
still sein.“, ist es dieser Kommentar des Mentalen, der die Konzentration stört.
Wenn ihr das Kusen des Godos hört und es gewohnt seid, allein zu Hause in Stille zu praktizieren,
stört vielleicht die Stimme des Godos eure Konzentration. Aber in Wirklichkeit liegt das daran, dass
ihr euch gegen das Kusen stellt oder euch an es klammert und versucht, euch die Worte zu merken.
Sich an die Worte oder an die Stille zu klammern, sind Verhaltensweisen, die die Konzentration
stören. Wenn man sich ihrer bewusst wird und dann mit seiner Praxis unzufrieden ist, dann ist es
dieser Kommentar des Mentalen, der die Praxis stört.
Man kann die Phänomene nicht unterdrücken. Die Gedanken tauchen von selbst auf, selbst dann,
wenn es keine Phänomene im Außen gibt. Die richtige Haltung in Zazen ist, sich der Phänomene
bewusst zu werden und sie unmittelbar vorüber ziehen zu lassen, ob es sich um Phänomene im
Außen handelt oder um Empfindungen und Wahrnehmungen im Inneren. Letztlich gibt es keine
Trennung zwischen Innen und Außen. Denn wir nehmen alle Phänomene durch unseren Geist wahr,
und die Welt, in der wir leben, hängt von unserem Geisteszustand ab.
In Zazen ist man sehr achtsam auf den Geisteszustand, aber man kann ihn nicht wirklich
kontrollieren, nicht durch das Mentale. Aber wann man regelmäßig zur Konzentration auf die
Körperhaltung zurückkehrt, wenn man achtsam auf seine Atmung bleibt, statt seinen Gedanken zu
folgen, kann man völlig frei bleiben, welche Phänomene auch immer auftauchen. Der Geist ist
völlig bewusst, aber er verweilt auf nichts. Er kann immer bewusst bleiben, denn nichts verdunkelt
ihn, nichts hält ihn fest.
„Wenn der Geist auf nichts verweilt, erscheint der wirkliche Geist.“ ist der berühmte Satz aus dem
Diamant-Sutra, der den sechsten Patriarchen zum Erwachen führte. Jeder in diesem Dojo kann das
gleiche Erwachen realisieren, denn es ist die Essenz der Praxis, nicht ihr Ergebnis. Es ist die Weise
des Praktizierens selbst, die eine Praxis des Erwachens ist.
In der Rückkehr zur Konzentration auf die Haltung ist es wichtig, sich auf die Haltung der Hände zu
konzentrieren. Die linken Hand liegt in der rechten, die Daumen sind horizontal, die Handkanten
haben Kontakt mit dem Unterleib. In dieser Position ergreifen die Hände nichts. Das beeinflusst
unseren Geist, der ebenfalls nichts ergreift. Die Hände machen nichts, erzeugen nichts – wie der
Geist in Zazen. Sie bilden ein weites Oval, das Mudra von Hokai join, das Mudra des Siegels des
Samadhis des Ozeans des Dharmas.
In diesem Samadhi, in dieser großen Konzentration, ist das Ego aufgegeben. Die Geisteshaltung,
die eine Trennung zwischen außerhalb von einem und innerhalb von einem, zwischen der
Außenwelt und der Innenwelt schafft, verschwindet, und unsere völlige Einheit mit dem ganzen
Universum realisiert sich.
Wenn man sich auf die Atmung konzentriert, sieht man, dass es unablässig einen Austausch
zwischen dem Innen und dem Außen unseres Körpers gibt.
Zu diesem Leben ohne Trennung zu erwachen, ist die Essenz des Erwachen von Shakyamuni, das
was er weitergegeben hat, das, was wir als Essenz unseres Lebens praktizieren. Das ist nichts
Besonderes, sondern einfach zu unserem ursprünglichen Zustand zurückzukehren, normal, nicht
besonders.
Besonders ist die egoistische Haltung. Während des Sesshins hat man Gelegenheit, diese Haltung
aufzugeben und wieder zu lernen, im Einklang mit unserer wahren Natur zu leben, die sich nicht
von der Natur aller Wesen im ganzen Universum unterscheidet. Sinn des Sesshins ist es, vertraut zu
werden mit diesem wirklichen Geist.

Samstag, 4.5.2013, 16.30 Uhr
Wenn man Zazen praktiziert, wird man völlig mit sich selbst vertraut. Man sitzt der Wand
gegenüber, in Wirklichkeit sind aber der Blick und die Aufmerksamkeit nach innen gewandt. Von
Augenblick zu Augenblick sieht man alle mögliche Phänomen erscheinen. Wir haben Empfindungen,
Wahrnehmungen, Gedanken. Wir werden vertraut mit dem, was in uns wohnt. Dies ist eine
Weise sich selbst als ein Individuum kennen zu lernen, das sich von anderen unterscheidet.
In diesem Dojo hat jede, jeder in diesem Augenblick unterschiedliche Gedanken. Selbst wenn man
die gleiche Empfindung hat, ist es nicht genau die gleiche Empfindung. Jeder reagiert auf seine
Empfindungen aufgrund seines vergangenen Karmas. Das, was sich in jedem von uns in jedem
Augenblick manifestiert, hängt in Wirklichkeit von allen möglichen Bedingungen ab, von unserer
Geschichte, die sehr, sehr weit in die Vergangenheit zurückreicht, selbst vor unsere Geburt. Es
hängt auch von unserer Stellung in der Welt ab, von unserer Familie, von unserer sozialen
Funktion, von dem Land, in dem wir wohnen, von der Sprache, die wir sprechen. All diese
Bedingungen kombinieren sich für jeden in unterschiedlicher Weise. So ist jede, jeder von uns
einzigartig. In der Praxis von Zazen wird man mit dem vertraut, was uns persönlich charakterisiert.
Aber diese Weise sich selbst zu beobachten, sich selbst zu verstehen, zeigt nur die Oberfläche von
einem selbst, das, was erscheint, das, was sich manifestiert. Manchmal nennt man das die dharmische
Position.
Aber wenn wir mit unserer Beobachtung unser selbst fortfahren, können wir klar sehen, dass all
das, was uns ausmacht, sich unablässig ändert, wie die Bilder eines Films. Alles ist unablässig in
Bewegung. Alles taucht auf und verschwindet, Augenblick für Augenblick, wie die Bilder vor dem
Objektiv eines Vorführgeräts. Wenn man das erfassen möchte, was die Essenz von einem selbst ist,
um sich zu sagen: „Das bin ich. Das ist die Substanz meines Lebens, mein Ego.“, so ist das nicht
auffindbar. Selbst wenn man in Zazen mit sich vertraut wird, ist das, was man ‚man selbst’ nennt,
nicht fassbar. Das ist das Koan unseres Lebens.
Es ist auch das, was uns den anderen näher bringt. Denn selbst wenn jede, jeder während Zazen
unterschiedliche Erfahrungen macht, erfahren wir alle die Unbeständigkeit dessen, was uns
ausmacht, den nicht fassbaren Charakter unseres Egos. Da sind wir alle in der gleichen Erfahrung
vereint.
Das ist der Grund, weshalb man in einer Sangha miteinander vertraut wird. Im gewöhnlichen Leben
hat jeder die Tendenz, sich in seiner Individualität aufzuhalten und diese zu verstärken. Besonders
im Abendland sind wir alle sehr individualistisch und daher zwangsläufig auch egozentrisch. Zazen
zeigt uns, dass dieses Ego nicht das Zentrum der Welt und darüber hinaus völlig in Bewegung und
völlig unfassbar ist. Diese Erfahrung machen wir alle, denn das ist die universelle Dimension
unseres Lebens. Wir sind zugleich völlig einzigartig, völlig von den anderen unterschieden – von
den unterschiedlichen Phänomen ausgesehen, die uns beleben. Man könnte sagen von der
Sichtweise von Shiki aus. Aber in der Tiefe sind wir, weil all das ohne Substanz und völlig
unbeständig ist, alle ähnlich. In der Tiefe sind wir alle identisch. Wir machen die gleiche Erfahrung
von Ku, von der Leerheit. Das ist es, was uns einander näher bringt. Das ist die Dimension unseres
Lebens jenseits unserer Individualität, die universelle Dimension. Deshalb sagt man, dass wir in
Zazen die Erfahrung unserer völligen Einheit mit dem Universum machen.
Wie kann man in Einheit mit der Sonne sein? – Wie wir ist sie in dieser Welt erschienen, hat sich als
ein immer leuchtenderer Stern entwickelt. Aber eines Tages wird sie erlöschen, wie wir, wie die
Blüten, die sich in Frühjahr öffnen und schnell fallen, sobald der Wind zu wehen beginnt. Aber statt
darüber traurig zu sein, kann man lernen, sich damit zu harmonisieren, indem man vermeidet, auf
seiner Position, in seinem Ego zu verweilen, indem man seine Fähigkeit entwickelt, sich an die
Stelle der anderen zu versetzen.
Das ist möglich, denn der andere ist nicht grundlegend von einem selbst unterschieden, unser Leben
ist nicht grundlegend anders als das einer Blume, eines Sterns. So können wir in Kommunion mit
dem ganzen Universum sein und die Täuschung eines völlig getrennten Egos aufgeben, diese
Illusion, die uns häufig zur Einsamkeit verdammt, wohingegen wir in Wirklichkeit in Beziehung
mit allen Wesen sind, nicht nur mit den fühlenden Wesen, sondern mit allen Wesen und daher
niemals allein.
Die, diese Erfahrung teilen, bilden die Sangha. Sie ist eine Kostbarkeit. Sie ist die Gemeinschaft, in
der alle sich bemühen, sich mit dieser Wirklichkeit zu harmonisieren, indem sie ihre egozentrischen
Sichtweisen fallen lassen, nicht weil diese schlecht sind, sondern weil sie täuschend sind. Wir sind
hierher gekommen, um uns zu bemühen, in Wahrheit zu leben, auf authentischerer Weise, indem
wir das Koan unseres Lebens realisieren, zugleich ein getrenntes Individuum und Teil des gleichen
Kosmos zu sein, allen Wesen dieses Universums ähnlich.
Das zu verstehen, ist Weisheit, daraus im Alltag alle praktischen Konsequenzen zu ziehen, ist
Mitgefühl.

Sonntag, 5.5.2013, 7 Uhr
Wenn man mit der Praxis von Zazen fortfährt, wenn man sein Leben vom Gesichtspunkt von Zazen
aus betrachtet, hat man die Möglichkeit zur Wirklichkeit unseres Lebens zu erwachen, wie Buddha
Shakyamuni es in Zazen gemacht hat. Die gleiche Erfahrung wie Shakyamuni zu machen, bedeutet
das Dharma zu realisieren.
Es gibt viele Unterweisungen im Dharma Buddhas, aber die Grundlage dieser Unterweisungen, das,
was seine Unterweisung charakterisiert, ist das, was man die ‚vier Siegel des Dharmas’ nennt. Sie
kann man in Zazen erfahren:
– In Zazen erfährt man, dass sich alles, was die Wirklichkeit unseres Leben ausmacht,
unablässig ändert. Von Augenblick zu Augenblick ändern sich unsere Gedanken. Bilder,
Gefühle, Erinnerungen, Wünsche, Schmerzen erscheinen. Aber nichts dauert an. Alles
vergeht. Das nennt man ‚Unbeständigkeit’.
– Daher gibt es in einem selbst nichts Substantielles. Was man als sein Selbst bezeichnet, ist
nie dasselbe. So ist man selbst nicht fassbar. Denn man selbst ist nicht vom ganzen
Universum getrennt. Man selbst ist sehr weit. Aber man macht daraus etwas Kleines, um
sich die Illusion einer Identität zu schaffen. Und dann gibt man sich viel Mühe, dieses
geistige Konstrukt zu verstärken und zu schützen, um jemand Wichtiges zu werden, um sich
gegen die Unbeständigkeit zu schützen.
Selbst wenn man damit Erfolg hat, wenn man das Glück findet, so weiß man im Inneren
doch, dass dieses Glück von einer Anzahl von günstigen Faktoren abhängt. In der Tiefe
seiner selbst weiß man, dass es nicht andauert. Denn alle diese Bedingungen sind jenseits
unserer Kontrolle. Sie hängen vom ganzen Universum ab.
– Also gibt es im Inneren eines Jeden eine gewisse Unruhe. Sie nannte Shakyamuni ‚Dukkha’,
den schmerzhaften oder nicht zufrieden stellenden Charakter der Existenz. Aufgrund ihrer
Unbeständigkeit sind selbst Glück und Freude Teil dieses nicht zufrieden stellenden
Charakters der Existenz.
Wenn man sich gegen diese Situation, gegen diese Bedingungen auflehnt, wenn man nicht
dahin kommt, sie als etwas Normales zu akzeptieren, wird unser Leben Samsara,
unablässige Transmigration. Manchmal ist man in der Hölle, leidet enorm, z.B. wenn man
eine schwere Depression hat. Man möchte vielleicht sogar sterben. In anderen Zeiten ist
man aufgrund seiner gesellschaftlichen Situation, seiner Arbeit oder seiner Familie besorgt.
Zu anderen Zeit praktiziert man in Meditation.
– Wenn diese Meditation so praktiziert wird, wie wir Zazen praktizieren, betrachtet man diese
ganze Landschaft unseres Lebens, man erkennt sie und akzeptiert sie, wie sie ist. Das ist
Nirvana, der Friede des Geistes. Er inspiriert uns in einer Weise zu leben, die im Einklang
mit der Wirklichkeit steht.
Wenn man diese Lebensweise mit dem Geist, der in Frieden ist, erfährt, öffnet sich das Herz. Man
verspürt nicht mehr die Notwendigkeit, sich gegen die anderen zu verteidigen oder mit ihnen in
Wettbewerb zu treten. Man fühlt sich mit allen Wesen solidarisch und wünscht, diesen Frieden des
Nirvanas mit den anderen zu teilen, nicht als ein weit entferntes Ziel der Existenz, sondern als eine
Lebenskunst hier und jetzt, in jedem Augenblick. Das lässt uns die Gelübde der Bodhisattvas
aussprechen.
Unsere Praxis des Weges besteht darin, dies unablässig zu vertiefen. Das kann man hier und jetzt
während dieses Sesshins erfahren. Es geht nicht um einen Glauben, sondern um ein tiefes
Vertrauen, das von unserer Erfahrung bestätigt wird. Meister Dogen nannte das ‚Praxis und
Verwirklichung sind Einheit’.

Sonntag, 5.5.2013, 16.30 Uhr
Mondo
Du hast wiederholt Meister Deshimaru zitiert, der gesagt hat „Ihr musst Angst haben, nicht der
kosmischen Ordnung zu folgen“. Meine Frage ist: Können wir überhaupt der kosmischen Ordnung
nicht folgen? Sind wir nicht, so wie wir sind, Teil der kosmischen Ordnung ?
Natürlich sind wir Teil der kosmischen Ordnung, so wie wir sind. Das stimmt. Wir sind ein Teil des
Kosmos. Wenn man aber von ‚kosmischer Ordnung’ spricht, spricht man von der Wirklichkeit, die
unserem Leben zugrunde liegt. Was ist die Wirklichkeit, die das Gesetz des ganzen Universums
formt? – Dieses Gesetz des Universums ist das Gesetz der Wechselbeziehung.
Wenn ein Mensch sich egozentrisch verhält, geht das gegen die kosmische Ordnung, es geht gegen
die Wechselbeziehung. Es bedeutet, sich so zu verhalten, als würde man allein existieren,
unabhängig von allem anderen; z.B. dass man die Natur verschmutzen kann, ohne dass das
Konsequenzen für einen selbst oder für andere hat. Einfach weil man aus egoistischen Gründen die
Reichtümer der Natur für sich selbst verwenden möchte, weil man sie ausbeuten möchte. Dann
vernachlässigt man völlig das Gesetz der Wechselbeziehung, das Gesetz der kosmischen Ordnung.
Die Konsequenzen dieses Handelns werden zwingenderweise schmerzhaft sein, für andere oder für
einen selbst.
Natürlich kannst du sagen, dass das Leiden auch Teil der kosmischen Ordnung ist, aber Buddha war
kein Wissenschaftler, er war ein religiöser, ein spiritueller Mensch, und seine Hauptsorge galt dem
Heilen der Leiden der Menschen und aller fühlenden Wesen. Alle Meister der Weitergabe, auch
Meister Deshimaru, hatten diese gleiche Sorge.
Wenn man sich nicht tief der Wechselbeziehung, der Substanzlosigkeit und der Unbeständigkeit
aller Phänomene bewusst ist und sie akzeptiert, verhält man sich auf einer Weise, die dem Dharma,
der kosmischen Ordnung, widerspricht. Die Konsequenz davon ist Leiden. Das ist das wirklich
Wichtige. Also selbst wenn Leiden Teil der kosmischen Ordnung ist, selbst wenn das Zerstören der
Natur Teil der kosmischen Ordnung ist, was man meinen könnte, glaube ich nicht, dass man als
Schüler Buddhas so denken sollte. Denn das bedeutet, dass man die ethische Dimension missachtet,
die Dimension, die nicht auf der Vernunft gründet, sondern auf dem Herzen. Das Herz spürt
Empathie für alle fühlenden Wesen und kann nicht Leiden schaffen wollen. Selbst wenn man,
abstrakt oder intellektuell gesehen, sagen kann, dass Leiden ein Teil des Kosmos ist.
Die Unterweisung, der kosmischen Ordnung zu folgen, zielt darauf ab, das Augenmerk auf die
Bedingungen des Glücks zu richten. Dabei geht es vor allem um ethischen Fragen und den Wert,
den man dem Wohlbefinden aller Wesen beimisst. Das ist keine rein wissenschaftliche oder
objektive Sichtweise. Das geht darüber hinaus.
Du bist Arzt und könntest natürlich sagen: „Krankheiten sind Teil der kosmischen Ordnung, auch
Viren sind Teil der kosmischen Ordnung.“ und einen Patienten, der einen Virus eingefangen hat,
der zum Tod führt, sterben lassen, weil das Teil der kosmischen Ordnung ist.
Gandhi hat das mit seiner Tochter so gemacht. Seine Tochter war krank, und er hat gesagt: „Sie
darf keine Antibiotika bekommen. Wenn sie stirbt, ist das Gottes Wille.“
Gandhi war kein Buddhist. Er hatte mit Sicherheit viele Qualitäten, aber er hatte nicht das
Verständnis eines Buddhas. Manchmal führt auch Gewaltfreiheit zur Gewalt.
Du hast davon gesprochen, keine Leiden zu schaffen. Niemand schafft freiwillig Böses, außer
Verrückte. Die Industriellen, die die Natur schädigen, glauben, dies geschehe zum Wohl der
Menschheit.
Es geht ihnen vor allem darum, ihr Bankkonto aufzufüllen.
Man schafft das Leiden nicht willentlich, sondern unfreiwillig. Wie kann man das vermeiden?
Indem man Weisheit entwickelt, wie Buddha es unterwiesen hat, d.h. indem man die Verknüpfungen
von Ursache und Wirkung all unserer Aktionen untersucht und darüber nachdenkt, bevor man
handelt. Das heißt, dass man die Weisheit hat, die Konsequenzen dessen zu sehen, was man sagen
oder tun möchte. Wenn man vorhersieht, das Resultat Leiden für einen selbst oder für andere wäre,
muss man einfach diese Handlung unterlassen.
Die Konsequenz sind manchmal so weit weg.
Es stimmt, die Konsequenzen innerhalb der Kausalität sind unendlich. Aus etwas Schlechtem kann
etwas Gutes werden. Deshalb sagt man manchmal: „Lassen wir es geschehen.“ Jemand ist krank:
„Lassen wir ihn sterben. Wenn er jetzt nicht stirbt, wird er vielleicht im nächsten Jahr ein
Krimineller.“ oder „Wenn er jetzt stirbt, wird er vielleicht unter besseren Bedingungen wiedergeboren
werden.“ – Aber das ist ein hinduistische Denkweise.
Buddha hatte eine sehr ethische Sichtweise der Existenz. Buddhas Unterweisung war: Vermeide das
Schlechte! Tue das Gute! Tue es für das Glück der anderen! – Wie auch schon große Philosophen
und Weise bemerkt haben, ist das sehr einfach, aber nicht sehr einfach zu realisieren. Selbst wenn
man weiß, was gut ist, macht man oft etwas, was schlecht ist, einfach deshalb, weil Gutes tun uns
dazu zwingt, Bemühungen zu unternehmen oder auf bestimmte Dinge zu verzichten. Man weiß,
was gut ist, aber man macht es nicht, weil der Egoismus stärker ist.
Auch kennt man nicht alle Konsequenzen. Aber das ist kein Grund, nichts zu tun, z.B. jemanden
sterben zu lassen. Sterben ist unmittelbar Leid. Für kein Lebewesen ist das Sterben angenehm und
auch nicht für die Menschen in seinem Umfeld, für seine Familie zum Beispiel. Also muss man,
selbst wenn man die Konsequenzen nicht kennt, die sich auf Dauer zeigen werden, wenn man
jemand heilt, ihn trotzdem heilen, muss man trotzdem machen, was gut ist. Nur ein allwissender
Buddha oder ein Gott, der die Geschichte des Universum bis zu seinem Ende kennt, kann wirklich
entscheiden, was gut und was schlecht ist.
Ich glaube, man muss auf der rein menschlichen Stufe bleiben und nicht nur hier und jetzt sein,
sondern die Fähigkeit der Antizipation nutzen, um das zu tun, was gut ist – in dem Bewusstsein,
dass man nicht allwissend ist und sich täuschen kann. Wenn man lebt, geht man das Risiko ein,
Fehler zu machen, aber so weit möglich vermeidet man die Fehler, die man vermeiden kann.

Montag, 6.5.2013, 7 Uhr
Während Zazen sitzt man nur. Alle möglichen Phänomene manifestieren sich. Gedanken tauchen
auf, Erinnerungen, manchmal Wünsche, Gefühle. Man neigt dazu, sie unterdrücken zu wollen.
Denn man stellt sich vor, dass die Meditation, dass Zazen darin besteht, alle täuschenden Phänomene
zurückzuweisen und in der Leerheit zu verweilen.
Aber wenn man so praktiziert, gibt es immer eine Anspannung, immer ein Ego, das sich
manifestiert, das die Gedanken zurückweisen möchte und den Wunsch hat, im Nichtdenken zu
verweilen, dass das Samsara zurückweist und das Nirvana ersehnt. In diesem Fall ist die Praxis ein
unablässiger Kampf. – Es gibt sogar Menschen, die die Bodhisattvas als Krieger bezeichnen.
Aber Zen ist jeden Kampf aufhören und klar sehen, dass alle Phänomene das Dharma Buddhas
sind. Es ist nicht nötig, sie zu bekämpfen, einfach ihre wirkliche Natur sehen. Alle Phänomene, die
in Zazen erscheinen, sind unbeständig. Alle Phänomene, die in Zazen erscheinen, sind ohne
Substanz. Selbst unser eigenes Ego ist nicht fassbar. Das zu sehen bedeutet, die Unterweisung der
Phänomene zu empfangen.
Alle Phänomene unterweisen uns das Buddha-Dharma. Das einzige, was man tun muss, ist sie klar
zu sehen. Dass heißt nicht, dass man den Phänomenen folgen und sich an sie klammern sollte.
Sondern einfach ihre wirkliche Natur sehen. Die wirkliche Natur unseres eigenen Egos sehen. Das
ist Satori, rechtes Verstehen, rechte Sicht.
Es ist nicht nötig, die Phänomene zurückzuweisen, um die Leerheit zu erlangen. Phänomene und
Leerheit sind eine einzige Sache. Es gibt keine Leerheit ohne Phänomene. Denn das, was man
Leerheit nennt, ist die Abwesenheit jeder festen Substanz aller Phänomene. Anders gesagt, es ist
ihre wirkliche Natur. Was der Bodhisattva realisieren muss, ist also lediglich Shoken, die rechte
Sicht. Aber nicht nur bezüglich der fünf Aggregate, die unsere Existenz ausmachen, sondern für alle
Phänomene des Universums.
Deshalb sind, wenn man Shoken, die rechte Sicht, praktiziert, die Blumen, die Bäume, Himmel und
Erde, Sonne, Mond und Sterne, Berge und Flüsse, Menschen und die Tiere, sind alle Existenzen das
Dharma Buddhas und unterweisen es uns unablässig. Man muss einfach nur Augen und Ohren
öffnen und die Unterweisung der Phänomene sehen und hören.
Deshalb ist es in Zazen nicht erforderlich, die Augen zu schließen, um sich von den Phänomenen zu
trennen. Ganz im Gegenteil: Zazen entwickelt unsere Aufnahmefähigkeit für die Unterweisung aller
Phänomene. Die Welt, die man Samsara nennt, die Welt der Phänomene, ist die Welt, in der wir
das Nirvana realisieren. So ist es nicht erforderlich, das Samsara zu verachten und das Nirvana
herbeizusehnen. Wir müssen einfach nur die wirkliche Natur des Samsara sehen und es verwandelt
sich unmittelbar in Nirvana, wie auch unsere Bonnos unmittelbar in Satori verwandelt werden.
Shiki soku ze ku. Soku ist die Umwandlung. Die Phänomene d.h. die Leerheit. Bonno soku bodai.
Die Täuschung d.h. das Erwachen. Das trifft unter einer Voraussetzung zu: unter der
Voraussetzung, dass man die wirkliche Natur von shiki, die wirkliche Natur der Bonnos sieht, sie
fallen lässt und sich nicht mehr an sie klammert.
Aber selbst wenn wir dies klar verstehen, sind wir so daran gewöhnt und so konditioniert, uns an
die Phänomene zu klammern, dass wir die Leerheit vergessen. Daher müssen wir die Praxis des
Loslassens unablässig fortsetzen und klar sehen: Was ist das? Das ist das Koan unseres Lebens.
Sehen, dass alles die Buddha-Natur manifestiert. Und es nicht nur sehen, sondern sich auch damit
harmonisieren, damit im Einklang leben, das ist der Buddha-Weg.
Montag, 6.5.2013, 16.30
Zur Zeit blühen die Bäume. Viele duften sehr gut. Wir mögen es, wenn die Bäume blühen. Bald
wird der Wind wehen, und die Blüten werden davon getragen werden und zur Erde fallen. Wir
werden das bedauern. Die, die einen Garten, insbesondere einen Gemüsegarten, haben, sind
unzufrieden, wenn im Frühling das Unkraut wächst, denn es ist viel Arbeit, das Unkraut
herauszureißen. Wenn der Garten sehr groß ist, hat, wenn man mit dem Ausreißen des Unkrauts am
Ende des Garten angekommen ist, es am Anfang des Gartens bereits wieder zu wachsen begonnen.
Anders gesagt, man hört nie auf, Unkraut herauszuziehen, und beginnt, das Unkraut wirklich zu
hassen.
Genauso verhält es sich mit unseren Täuschungen, mit unseren Bonnos. Man möchte, dass sie
verschwinden. Manchmal bemüht man sich, sie zu unterdrücken, aber sehr oft tauchen sie wieder
auf. Je mehr man sich bemüht hat, sie zu unterdrücken, um so unzufriedener ist man, dass sie
wieder auftauchen. Am Schluss fühlt man sich schuldig.
In unserem Leben ist es oft so. Wir leben in einer Welt, die wir unterteilen in die Dinge, die wir
mögen, und die Dinge, die wir nicht mögen. In unserem Geist sind Gedanken, Geisteszustände, die
wir mögen, positive Gefühle wie Freude und Glück, und negative Gefühle wie Wut und Eifersucht,
die wir nicht mögen. Wir bemühen uns, die einen zu kultivieren und die anderen zu unterdrücken.
Aber die Freude dauert nicht an. Trauer, Wut, Eifersucht, Bedauern, all das, was unser Leben
vergiftet, kommt zurück.
Wenn man beginnt, den Buddha-Weg zu praktizieren, lehrt man uns, dass die Phänomene in
Wirklichkeit Leerheit sind. Das hilft uns, uns nicht an sie zu klammern. Es ist noch besser, wenn
wir selbst realisieren, dass alle diese Phänomene tatsächlich unbeständig und substanzlos sind.
Denn das hilft uns wirklich, sie vorüber ziehen zu lassen und sie so zu sehen, wie sie sind: Gräser
sind nicht gut oder schlecht. Sie sind einfach Gräser. Man findet sie gut, wenn es einem gelingt, aus
ihnen eine Suppe oder einen Tee zu machen. Man findet sie schlecht, wenn sie den Garten
überschwemmen und den Platz der Salate einnehmen. Aber Gräser sind Gräser, aus sich selbst
heraus weder gut noch schlecht.
Es ist recht leicht, das zu verstehen, aber das wirklich zu leben ist schwieriger. Man kann
intellektuell verstehen, dass alle Phänomene Leerheit sind und daher einander ähneln. Aber das
hindert uns nicht daran, dass wir Vorlieben haben
Meister Sozan sagt: „Den Weg zu durchdringen ist nicht schwer. Man darf weder Liebe noch Hass
haben, weder auswählen noch zurückweisen.“ Denn Liebe und Hass, Auswählen und Zurückweisen
erzeugen Anhaftungen, negative Gefühle. Sie hindern uns daran, eins zu sein mit der Wirklichkeit,
so wie sie ist, eins mit dem Unkraut, so wie es ist, eins mit den Blumen, so wie sie sind, jenseits
unserer Vorlieben.
Wenn wir mit dieser Sichtweise der Dinge praktizieren, wird das dazu zu führen, dass wir unsere
negativen Gefühle verachten und uns an unsere positive Gefühle klammern. Oder wir klammern uns
daran, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist, was man für das Satori hält. Das bedeutet
einfach, dass wir noch immer Gefangene unserer Urteile sind.
Wenn wir unsere Praxis vertiefen, sehen wir klar, dass unsere Täuschungen Teil der Wirklichkeit
sind, so wie sie ist. Das vermeidet, dass wir das Auftauchen unserer Täuschungen zu sehr
dramatisieren. Täuschungen sind einfach Täuschungen. Dass wir sie in manchen Augenblicken
nicht mögen, ist auch die Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick, so wie sie ist, Inmo, einfach
dies. Es gibt nichts außerhalb der Wirklichkeit, so wie sie ist.
Das zu realisieren, bedeutet den weiten Geist zu realisieren. Die Phänomene sind nicht einmal
Leerheit. Phänomene sind einfach Phänomene. Das zu sehen, bedeutet, zur Wirklichkeit, so wie sie
ist, nicht noch unsere Gedanken hinzuzufügen. Und wenn Gedanken auftauchen, sind es einfach nur
Gedanken.
Natürlich kann man sich sagen, dass sie unbeständig sind, dass sie Leerheit sind, dass sie
substanzlos sind. Aber es ist viel einfacher zu sehen, dass sie einfach nur Gedanken sind, ohne dem
das Konzept der Leerheit, der Unbeständigkeit hinzuzufügen. Jedes Phänomen, das wir leben, ist
einfach so, wie es ist, jenseits unserer Gedanken. Und selbst wenn sich unsere Gedanken
einmischen, sind unsere Gedanken einfach nur Gedanken. Einfach nur dies.
Das zu realisieren, bedeutet, einen einfachen Geist wieder zu finden, im Einklang mit der Erfahrung
des gegenwärtigen Augenblicks, ohne das Bedürfnis zu empfinden, dem etwas hinzuzufügen oder
dem etwas wegzunehmen.

Dienstag, 7.5.2013, 7 Uhr
Folgt während Zazen nicht euren Gedanken. Lasst euch nicht von ihnen verführen. Bringt eure
Achtsamkeit unablässig zur Körperhaltung zurück. Drückt den Himmel mit der Schädeldecke, die
Erde mit den Knien. Entspannt gut den Rücken, die Schultern und den Bauch. Atmet ruhig durch
die Nase ein und aus, und lasst alle geistigen Erzeugnisse vorüberziehen. Seht sie so wie sie sind,
als unbeständige Phänomene, als Wellen an der Oberfläche des Wassers.
Wenn man so praktiziert, nimmt man Augenblick für Augenblick die Leerheit unserer geistigen
Erzeugnisse wahr. Von was sind sie leer? Von etwas Festen, Dauerhaften. Sie formen sich ohne
Unterlass um – wie alle Phänomene, die wir wahrnehmen. Damit harmonisiert man sich, indem man
einen Geist hat, der auf nichts verweilt, indem man all seine geistigen Verstopfungen sich auflösen
lässt und es auf diese Weise dem Geist erlaubt, seine natürliche Freiheit wieder zu finden. Jenseits
der Grenzen, in den wir ihn einfassen, oder besser gesagt, jenseits der Grenzen, in denen er sich
selbst einschließt.
Die Dinge so zu sehen bedeutet Prajna Paramita zu realisieren. Prajna: die Weisheit; Paramita:
die es erlaubt, darüber hinaus zu gehen. Über unsere begrenzte Sichtweise hinaus, über unseres Ego
hinaus, das von der Wirklichkeit getrennt ist.
Wir neigen dazu zu denken, Weisheit sei etwas, was uns gehört, was wir dank der Praxis realisieren,
die rechte Sicht. Die rechte Sicht der Unbeständigkeit und der Leerheit aller Phänomene, die es
erlaubt sich von seinen Anhaftungen zu befreien, die die Ursache all unseres Leidens sind. Das ist
in der Tiefe die Essenz der Unterweisungen Buddhas, die wir zelebrieren, wenn wir das Hannya
Shingyo rezitieren, das Sutra der großen Weisheit, die es erlaubt, über das Darüberhinaus hinaus zu
gehen.
Wir neigen dazu anzunehmen, dass die Weisheit in diesem Sutra, in dieser Unterweisung, liegt und
letztlich in unseren Gedanken, in unserer Sichtweise. Aber in Wirklichkeit unterweisen alle
Phänomene, die in sich unbeständig und substanzlos sind, die Weisheit, zeigen uns die
Wirklichkeit, wie sie ist, jenseits der Worte. Die Blume, die sich im Frühling öffnet, sagt nicht: „Ich
bin leer, unbeständig.“ Sie ist einfach nur die Blume selbst. Sie ist selbst Prajna Paramita, jenseits
erklärender Worte. Sie begnügt sich, es zu zeigen. So wie sie ist. Alle Phänomene sind Prajna
Paramita, geben die Unterweisungen der großen Weisheit, jenseits erklärender Worte.
Um diese Prajna Paramita wahrzunehmen, diese Unterweisung der Natur aller Phänomene, müssen
wir selbst der Natur ähnlich werden. Aber wir sind bereits diese Natur. Also müssen wir einfach nur
das aufgeben, was uns von ihr trennt, unsere geistigen Erzeugnisse. Die Blume, die sich im Frühjahr
öffnet, ist nicht Leerheit. Was Leerheit ist, sind unsere Gedanken. Unsere Gedanken sind
substanzlos, wohingegen wir sie für die Wirklichkeit halten.
Zweifellos hat Shakyamuni deshalb einfach eine Blume genommen und sie zwischen seinen
Fingern gedreht, um die Essenz seiner spirituellen Erfahrung weiterzugeben, die Essenz seines
Erwachens. Er hat die Blume gezeigt, so wie sie ist. Sie gibt eine schweigende Unterweisung. Sie
spricht nicht von Phänomenen, nicht von Leerheit, nicht von Unbeständigkeit, von Wechselbeziehung,
von Substanz oder Nicht-Substanz. Sie ist jenseits all unserer Konzepte, jenseits all der
Dinge, die wir erzeugen, um die Wirklichkeit zu erfassen. Sie ist einfach so wie sie ist.
Wenn wir auf die Zazen-Haltung konzentriert sind, wenn wir auf die Atmung achten und alle
geistigen Erzeugnisse, alle Gedanken vorüberziehen lassen, werden wir selbst so. Dieser Körper
und Geist in der Haltung Buddhas. So. Oder besser gesagt, in der sitzenden Haltung, die jenseits
Buddhas ist, jenseits jedes Gedankens, jenseits jeder Idee bezüglich Buddhas. Die Haltung von
Zazen selbst ist die Wirklichkeit: So. Und wir empfangen ihre Unterweisung jenseits von Worten.
Das ist der Grund warum man, wenn man sich in Zazen setzt, spürt, dass man wirklich wie
Nachhause zurückgekehrt ist. In Berührung mit der Wirklichkeit unseres Lebens. Jenseits all
dessen, was wir uns im Geist vorstellen. Befreit von den Fallen und Netzen der Gedanken des
Mentalen.
Und selbst wenn man im Alltag nach Zazen dieses Mentale benutzen muss, nutzt man es einfach
nur so, wie es ist, als ein nützliches Mittel, um sich im Leben zu orientieren, um auszuwählen und
Entscheidungen zu treffen. Aber das Mentale überflutet nicht das ganze Feld unseres Bewusstseins.
Wir können in Berührung mit dem Bewusstsein bleiben, das jenseits des Mentalen liegt, das sich
nicht mehr von ihm in die Falle locken lässt, sondern es frei benutzen kann.

Dienstag, 7.5.2013, 16.30 Uhr
Während Zazen, besonders während eines Sesshins, wird man völlig mit sich selbst vertraut. Außen
sind nicht so viele Phänomene, die uns ablenken. Unser Bewusstsein verinnerlicht sich. Wenn man
mit sich selbst vertraut wird, entdeckt man vor allen Dingen die Breite der eigenen Anhaftungen,
insbesondere bis zu welchem Punkt man egozentrisch sein kann.
Oft haben die Leute, die bereits seit einiger Zeit praktizieren, den Eindruck, dass sie Rückschritte in
ihrer Praxis machen und sich immer mehr in Täuschungen befinden. Aber es ist so, dass sie eher
hellsichtiger bezüglich ihrer Täuschungen werden. Es ist nicht notwendig, das zu bedauern. Denn
seine Täuschungen zu erhellen, ist das Satori. Unter der Voraussetzung natürlich, dass man sich
nicht daran klammert, seine Täuschungen fortzusetzen. Diesbezüglich sagte Meister Dogen:
„Gewöhnliche Menschen sind die, die sich über das Erwachen täuschen. Buddhas sind die, die ihre
Täuschungen erhellen“. Seine Täuschungen klar zu sehen, sich seiner Egozentrik bewusste zu
werden, bedeutet das Erwachen zu realisieren. Auf jeden Fall besteht ein bedeutender Aspekt des
Erwachens darin, sich aus seinen Täuschungen zu erwecken.
Aber wenn man aus seinen Täuschungen erwacht, dann deshalb weil man zugleich zur Wirklichkeit
erwacht. Sich einer Täuschung bewusst zu werden bedeutet, sich bewusst zu werden, dass man sich
von der Wirklichkeit entfernt hat. Es bedeutet also zugleich, zur Wirklichkeit zu erwachen. Aber
natürlich ist es schmerzhaft, sich der Kluft bewusst zu werden zwischen dem, was man lebt, d.h.
einer täuschenden Weise zu denken oder sich zu verhalten, und der Wirklichkeit, die man gesehen
hat. Man weiß, was gut ist, tut aber das Schlechte. Man hat die Wirklichkeit wahrgenommen,
verfolgt aber die Täuschung.
Um das daraus resultierende Missfallen zu beenden, hören manche mit der Praxis auf. Aber das
Einzige, was in dieser Situation zu tun ist, ist Reue zu praktizieren: seinen Irrtum, seine
Täuschungen bereuen und sich selbst versprechen, diesen Täuschungen nicht weiter zu folgen.
Anders gesagt, es bedeutet seinen Geist zu bekehren, die Richtung zu wechseln. Bisher ist man
einer falschen Richtung gefolgt, hat sich getäuscht. Aber man ist sich dessen bewusst geworden und
hat sich entschieden umzukehren, in die andere Richtung zu gehen.
Bereuen ist Erwachen. Seine Täuschung zu erhellen und sie fallen zu lassen, ist das Satori. Wie
Meister Kodo Sawaki sagte: „Die Dunkelheit des Schattens der Pinie hängt von der Helligkeit des
Lichtes des Mondes ab.“ Je hellsichtiger unsere Praxis wird, desto mehr entdecken wir die Schatten
unseres Geistes. Davor braucht man keine Angst zu haben. Man muss einfach nur ihre Leerheit
bemerken. Die Täuschung ist substanzlos, beruht auf nichts. Wenn man aufhört sie zu unterhalten,
verschwindet sie unmittelbar.
Ein Sesshin zu praktizieren bedeutet, sich die Gelegenheit zu dieser Verwandlung zu geben. Nicht
nur der Sicht, sondern auch der Handlung, unserer Art und Weise zu handeln und zu denken. Das
heißt den Einklang mit unserer wirklichen Natur wieder zu finden. Wir sind ihr untreu geworden,
wir kehren nach Hause zurück.

Mittwoch, 8.5.2013, 7 Uhr
Während Zazen lernt man, einfach nur zu sitzen. Man spricht oft davon Zazen zu machen. Aber in
Wirklichkeit ist Zazen, aufzuhören irgendetwas zu machen. Wie die Hände in der Haltung von
Hokai join, die nichts mehr machen, nichts mehr erzeugen. Man sitzt vor der Wand, bleibt
unbeweglich. Es gibt nichts zu ergreifen und nirgendwohin zu gehen. Man kann sich selbst
betrachten und realisiert sehr schnell, dass man selbst kein fassbares Objekt ist. Man selbst ist Teil
des ganzen Universums, viel zu groß, um mit unserem Mentalen erfasst zu werden.
Dieser Körper und Geist, die Zazen praktizieren, existierte vor unserer Geburt, bereits bevor das
Mentale begonnen hat, eine Trennung zwischen dem Selbst und dem Universum zu schaffen, indem
es begonnen hat, sich mit bestimmten Gedanken zu identifizieren und eine Art persönliche Identität
zu schaffen. ‚Ich’ getrennt von ‚dir’, unterschieden von ‚dir’. Aber dieses Ich war nie vom ganzen
Universum getrennt.
Dieses Leben ohne Trennung nennt man die wirkliche Natur, die Buddha-Natur. Wir können sie
vergessen, aber wir können von ihr nicht wirklich getrennt sein. Doch wenn wir sie ergreifen
wollen, ist das nicht wirklich möglich, obwohl sie die Wirklichkeit unseres Lebens ist: Sie ist zu
weit. – Wie das Kind, das mit seinem Eimerchen das ganze Wasser des Ozeans schöpfen wollte.
Sankt Augustin, der vorbeikam, hat dem Kind empfohlen, das Eimerchen in das Wasser zu werfen.
Unser Mentales ist zu klein, um die Wirklichkeit zu enthalten, so geben wir es in Zazen auf, weisen
es zurück. Wir hören auf, irgendetwas ergreifen oder behalten zu wollen. Wir bemühen uns nicht
einmal, uns selbst zu betrachten. Wir lassen alle unsere gedanklichen Erzeugnisse fallen. Alle
Fallen und Netze, mit denen wir versuchen, die Wirklichkeit einzufangen. Selbst unsere Gedanken
bezüglich Buddhas oder der Buddha-Natur sind noch weit von der Wirklichkeit entfernt. In Zazen
geben wir sie auf.
Zazen ist Hishiryo, jenseits jeden Gedankens. Wir sind Teil der Buddha-Natur, wir können sie nicht
verlassen, um sie zu kontemplieren. Wir sind wir selbst. Man kann nicht aus sich selbst
heraustreten, um sich selbst wie ein Objekt zu betrachten. Man kann einfach nur völlig vertraut mit
sich selbst werden, ohne dies zu benennen, ohne sich zu bemühen, es darzustellen.
Manche wollen ihr eigenes Erwachen erfassen. Manche haben sogar die Täuschung, das Erwachen
realisiert zu haben: „Als ich damals das Satori realisiert habe, …“ Des wirklichen Satoris kann man
sich nicht bewusst sein. Es ist die Erfahrung, jenseits unseres Bewusstseins zu sein. Es ist völlig
sich selbst vergessen und eins mit dem ganzen Universum werden, ohne zu denken. Dann
manifestieren sich die Auswirkungen. Das Satori selbst ist nicht fassbar, aber seine Realisation
entfaltet ihre Wirkung in unserem Leben. Der Geist wird völlig friedlich, befreit von den
Empfindungen von Mangel und Überfluss. Man sucht nichts, man weist nichts zurück. Man ist
einfach damit zufrieden zu sein, so. Jetzt z.B. einfach sitzend, ruhig ein- und ausatmend und alle
Gedanken vorüberziehen lassend, ohne zu versuchen irgendetwas zu ergreifen. In Einklang mit der
Wirklichkeit.

Mittwoch, 8.5.2013, 16.30
Mondo
Ist das, was man als europäischen Zen-Buddhismus bezeichnet, der Anfang des Zen-Buddhismus in
Europa, ist das schon eine eigenständige Entwicklung oder geht es darum, dass sich der
europäischen Zen-Buddhismus zum japanischen Zen-Buddhismus hin entwickelt. Wie wird die
Entscheidung getroffen ?
Das ist eine sehr weite und sehr komplizierte Frage, aber ich werde sie sehr vereinfachen: Ich gebe
keinen japanischen Buddhismus weiter, ich gebe die Praxis des Soto-Zen weiter, die ihren Ursprung
in China hat und davor noch in Indien bei Buddha Shakyamuni, die mit Meister Deshimaru nach
Europa gekommen ist, die im wesentlichen auf der Praxis der Meditation, auf Zazen beruht. Um die
Praxis von Zazen herum gibt es natürlich bestimmte Formen, zum Beispiel Dojo-Regeln und
Regeln, wie man bestimmte Zeremonien macht.
Meister Deshimaru hat Zeremonien eingeführt, ungefähr die gleichen, die wir machen. Er hat sich
bemüht, wirklich das zu nehmen, was die Quintessenz der Zeremonien ist. Nach seinem Tod haben
wir das fortgesetzt. Nachdem wir in Japan waren und Angos gemacht haben, haben wir bestimmte
Dinge gesehen, die uns in der Weise, wie sie gemacht wurden, klarer erschienen, insbesondere was
die Ekos betrifft, die Widmung der Zeremonien.
Im Großen und Ganzen handelt es sich um die Tradition des japanischen Soto-Zen und nicht um die
des japanischen Buddhismus. Der japanische Buddhismus ist sehr weit. Es gibt mindestens zehn
verschiedene japanische buddhistische Schulen. Ich halte das Soto-Zen nicht für besonders
japanisch. Das Herz dieser Praxis ist Zazen, und Zazen ist universell Es ist keine Antwort auf
historische oder kulturelle Kriterien. Natürlich stützen wir uns auf Unterweisungen von Meistern
wie Dogen oder Keizan, die Japaner waren. Aber ich finde nicht, dass die Unterweisung des Soto-
Zen sehr von der japanischen Kultur beeinflusst ist. Ich bemühe mich, das weiterzugeben, was
völlig jenseits der Unterschiede ist, die man zwischen Japan und Europa machen kann.
Natürlich kann man sagen: „Ihr tragt einen Kolomo.“ Aber der Kolomo ist ursprünglich chinesisch.
Das Kesa ist auch nicht japanisch, es stammt aus Indien. Der Kimono ist japanisch. Slip und T-Shirt
sind aus Frankreich, aber bestimmt in China oder in Indonesien produziert worden.
Ich glaube, man sollte sich nicht mit dieser Art von Fragen auseinandersetzen. Was wichtig ist, ist
zur Essenz der Praxis zurückzukehren und die Unterweisungen zu benutzen, ob sie nun aus Indien,
China oder aus Europa kommt, um den Sinn der Praxis zu vertiefen und vor allen Dingen zu lernen,
sie in unserem Alltag zu entwickeln. Es geht nicht allein um das soziologische Phänomen der
Akulturation einer japanische Tradition in Europa. Diese Dinge interessieren mich nicht. Mich
interessiert den Weg des Erwachens Buddhas im Alltag zu aktualisieren, hier und jetzt, wo wir sind,
in Deutschland, Frankreich, Italien, ausgehend von Zazen. Und Zazen ist jenseits der Unterschiede
zwischen Japan, Frankreich, Deutschland. Das Hishiryo-Bewusstsein in Zazen geht darüber hinaus,
über alle Trennungen und Grenzen, über die kulturellen Gegensätze. Es ist die Praxis, die uns
erlaubt, das zu berühren, was am universellsten im Menschen ist. Und es geht sogar über den
Menschen hinaus. Es ist das, was uns in Einheit mit der Natur und mit dem ganzen Kosmos bringt.
Wie ich es verstanden habe, ist alles von Leerheit gekennzeichnet, auch der Kosmos und alles, was
in ihm vorkommt. Es muss aber etwas gegeben haben, was den Kosmos aus der Leerheit heraus
geschaffen hat: Zuerst war die Leerheit und dann war der Kosmos. Ich möchte gern wissen, was
vor der Leerheit war.
Niemand weiß das. Auf jedem Fall weiß man, dass die Leerheit nicht leer war. Sie war Energie. In
der Quantenphysik, spricht man von Leerheit und das ist Energie. In Europa gibt es immer
Verwirrung. Bei ‚Leerheit’, ‚Leere’ denkt man immer an das Nichts. Aber das ist nicht der buddhistische
Sinn des Leeren: Buddha sprach von der Leerheit unserer Täuschungen.
Die Leerheit ist einfach ein Heilmittel gegen unsere Täuschungen. Wir glauben ein Ego zu haben,
das eine Substanz hat, das immer andauert. Das ist eine Täuschung. Das ist nur ein geistiges
Erzeugnis. Es existiert, aber in völliger Abhängigkeit vom Rest, und ist unbeständig. Also sagt man:
„Das Ego ist leer.“ Aber es ist leer von etwas, das niemals außerhalb unserer Vorstellungen existiert
hat. Es ist unsere Vorstellung eines substanziellen Egos, die leer ist. Ein substanzielles Ego existiert
nicht. Von der Substanz des Egos zu sprechen, sind leere Worte, nur geistige Erzeugnisse, Begriffe,
denen nichts entspricht.
Das bedeutet nicht, dass der Mensch keine Persönlichkeit hat, kein Ego. Jeder hat ein Ego, aber
nicht so, wie man es sich vorstellt. Das ist nur ein geistiges Erzeugnis, eine Identität, die man nach
und nach aufbaut, die sich unablässig verändert, die man den anderen gegenüber bestätigen möchte,
an die man sich klammert, die jede Menge Konflikte und Spannungen erzeugt. Die Unterweisung
Buddhas hilft uns, uns davon zu lösen, indem sie ihm den richtigen Platz zuweist, einen völlig
relativen Platz.
Was deine Frage in Bezug auf den Kosmos angeht, so kann man nur sagen, dass der Kosmos aus
buddhistischer Sicht in unablässiger Veränderung begriffen ist. Man kann den Ursprung des
Kosmos nicht denken. Wenn man sagt, dass etwas am Ursprung war, Gott oder die Energie, kann
man fragen: „Wer hat Gott geschaffen? Wer hat die Energie geschaffen?“ Es gibt keinen wahrnehmbaren
Anfang, weil alles, was existiert, von etwas verursacht ist. Man stellt fest, dass alles
aufgrund von Ursachen und Wirkungen existiert. Das ist die grundlegende Unterweisung Buddhas.
Leerheit nennt man die Tatsache, dass das Leben von einer Vielzahl von Phänomen verursacht ist.
Aber wovon ist es leer? – Von etwas Absolutem, das unabhängig von jeder Ursache ist. Das heißt
aber nicht, dass es nicht existiert. Das Leben existiert, aber verursacht von etwas, also nicht aus sich
selbst heraus, unabhängig. Und wenn die Ursachen und die Bedingungen sich ändern, wenn sie das
Leben nicht mehr erlauben, verschwindet das leben. Das ist alles.
Was muss ich als praktizierender Zen-Buddhist über das Sterben und den Tod wissen ?
Du muss wissen, dass du sterben wirst. Das ist sicher. Fast sicher: Man weiß nie, vielleicht gibt es
für dich ein Wunder. Aber möglicherweise wirst du sterben. Daraus musst du Konsequenzen
ziehen. Die Konsequenz ist, dass all das, von dem du denkst, dass du es bist, unbeständig und
sterblich ist. Es verdient also nicht, dass du dich daran klammert, aber zugleich kann dieses Leben,
das dir gegeben wurde, bestimmte Auswirkungen erzeugen: Es kann anderen und dir Glück bringen
oder für dich oder für andere Leiden schaffen. Das Leben kann harmonisch gelebt werden oder als
ein Chaos.
Die Frage ist: Wie dieses Leben bis zum letzten Atemzug leben? Bis zum letzten Augenblick ist es
möglich zu erwachen und sich mit der wahrer Natur unserer Existenz zu harmonisieren. Ich glaube,
dass es am wichtigsten ist zu versuchen, auf eine Weise zu leben, dass man beim Sterben kein
Bedauern empfindet, indem man sich auf die wichtigen Dinge konzentriert, indem man vermeidet,
seine Zeit zu vergeuden. Aus buddhistischer Sicht, bedeutet seine Zeit nicht zu vergeuden, den Weg
zu praktizieren und anderen zu helfen, ihn zu praktizieren.
Wenn du Sterbende begleitest, die keine Buddhisten sind, musst du versuchen, dass sie sich mit
dem verbinden, was für ihr Leben das wichtigste war. Wenn es sich um religiöse Menschen handelt,
kann das z.B. heißen, dass sie sich mit ihrer Religion verbinden.
Warum stellst du diese Frage? Begleitest du jemanden, der sterben wird?
Ja.
Ich glaube, dass zwei Aspekte bei der Sterbebegleitung wichtig sind. Der erste ist der der Tröstung.
Die Person, die sterben wird, wird Beziehungen verlieren, an die sie sich klammert. Sie bedarf also
menschlicher Wärme, sie bedarf des Trost. Es ist auch wichtig, sie an die guten Dinge, die sie im
Leben getan hat, zu erinnern und daran, dass sich deren positive Auswirkungen weiter entwickeln
werden.
Wenn man sterben wird, kann man den Eindruck haben, dass das das Ende von allem ist und dass
alles, was man im Leben getan hat, nutzlos war. Das stimmt nicht. Jemand, der stirbt, hinterlässt
Spuren, Erinnerungen, Einflüsse. Selbst die Weise, wie man stirbt, kann ein Geschenk für die
Lebenden sein. Die Geisteshaltung einer Person, die krank ist und sterben wird, kann sehr positive
Einflüsse ausüben.
Wenn es sich um eine Person handelt, die sich nie mit spirituellen Themen befasst hat, kann das
auch ein Augenblick sein, möglicherweise Fragen zu stellen in Bezug auf die spirituelle Dimension
des Lebens und am Ende des Lebens eine Dimension zu realisieren, die man bisher vernachlässigt
hat. Die Todesnähe ist keine verlorene Zeit oder nur Leiden. Es kann auch Zeit des Erwachens sein.
Als Bodhisattva oder Mönch sollte man in der Begleitung auf diese zwei Aspekte hinzielen, zum
einen auf die Tröstung, zum anderen auf das spirituelle Erwachen.
Wenn ich eine Handlung begehe, bin ich in einem juristischen und karmischen Sinn verantwortlich,
weil ich die Konsequenzen einigermaßen abschätzen kann und meine Impulse kontrollieren kann.
Es gibt aber Menschen, die können das nicht. Sie sind juristisch nicht verantwortlich. Sind sie
karmisch verantwortlich?
Im Allgemeinen nein. Es gilt das gleich Prinzip. Die karmische Verantwortung hängt davon ab,
dass die Person in der Lage ist, den Wert der eigenen Handlung einzuschätzen, und mit einer
gewissen Freiheit handelt.
Der Begriff der karmischen Verantwortung ist sehr subtil, ein bisschen wie die juristische
Verantwortung. Zum Beispiel wird jemand, der unabsichtlich einen Unfall herbeiführt, nicht ins
Gefängnis geschickt: Jemand hat Blumentöpfe auf der Fensterbank stehen, und es kommt ein Böe.
Ein Blumentopf fällt und tötet jemanden. Diese Person wird nicht ins Gefängnis geschickt, was sie
würde, hätte sie den Blumentopf gezielt geworfen. Aber man kann ihr vorwerfen, fahrlässig
gewesen zu sein. Sie hätte den Blumentopf besser sichern müssen, damit er nicht fallen kann.
Im Buddhismus gilt das Gleiche: Es gibt ein Karma, das mit der Nachlässigkeit verbunden ist.
Selbst wenn man nicht bewusst eine schlechte Handlung herbeiführt, kann eine Nachlässigkeit eine
Folge. In diesem Augenblick ist das Karma weniger schwer, aber es ist ein Karma, das Karma der
Nachlässigkeit.

Freitag, 10.5.2013, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von den Gedanken ablenken. Kehrt immer wieder zur Konzentration
auf eure Körperhaltung zurück, besonders auf die wichtigen Punkte der Haltung. Neigt das
Becken gut nach vorne, drückt die Knie fest auf den Boden, entspannt den Bauch und lasst das
Körpergewicht auf das Zafu drücken. Von dem geneigten Becken aus streckt ihr gut die
Wirbelsäule und den Nacken. Drückt den Kopf in den Himmel und lockert die Spannungen im
Rücken und in den Schultern. Zieht das Kinn zurück, und lasst den Kopf nicht nach vorne fallen.
Der Blick ruht auf dem Boden. Man braucht nicht die Augen schließen, um sich zu konzentrieren.
Was die Konzentration stört, ist, dass man den Objekten der Wahrnehmung anhaftet.
In Zazen wird man völlig mit sich selbst vertraut. Das ist der Sinn des Sesshins: völlig vertraut
werden mit seinem Körper und seinem Geist. Vertraut werden heißt, völlig eins mit Körper und
Geist zu werden, ohne Trennungen. Der Körper ist nicht der Gegenstand unserer Konzentration und
auch nicht der Gegenstand unserer Praxis, genauso wenig wie der Geist. Man praktiziert mit der
Ganzheit von Körper und Geist. Es ist diese Ganzheit von Körper und Geist, die praktiziert, ohne
einen einzigen Augenblick lang von der Praxis getrennt zu sein. Körper, Geist und Praxis bilden
eine Einheit. Das ist völlige Vertrautheit, das Nicht-Getrenntsein.
Zazen praktizieren heißt, sich selbst zu studieren. Dieses Selbst ist nicht etwas, kein Objekt. Es ist
nichts, das man ergreifen kann, weil man sich nicht von sich selbst trennen kann. Man kann sich
Vorstellungen über sich selbst machen, aber diese Vorstellungen sind eben nur Vorstellungen,
geistige Konstrukte. Man selbst ist jenseits aller Gedanken. Man selbst ist das Leben des ganzes
Universums, das sich hier und jetzt vergegenwärtigt. Dies kann man erleben, aber nicht erfassen,
denn es ist grenzenlos, unendlich. Diese Vertrautheit mit sich selbst, die nicht vom Universum
getrennt ist, ist die Erfahrung von Zazen, die Erfahrung des Sesshins. Diese Vertrautheit ist die
Erfahrung Buddhas, weil es die gleiche Erfahrung ist, die Buddha Shakyamuni machte: das
Erwachen zur Wirklichkeit unserer Existenz.
Dies zelebrieren wir nach dem Zazen bei der Zeremonie. Wir drücken unsere Dankbarkeit allen
Buddhas und Patriarchen gegenüber aus, die uns diese Praxis weitergegeben haben, um es uns zu
ermöglichen, diese Erfahrung zu machen.

Freitag, 10.5.2013, 11 Uhr
Während Zazen begnügt man sich damit, einfach nur zu sitzen. Anfangs konzentriert man sich auf
die Haltung, um seine Aufmerksamkeit zum Hier und Jetzt der Praxis zu bringen. Man achtet auf
seine Atmung, so dass man leichter die Gedanken vorbeiziehen lassen kann, aber letztendlich macht
man gar nichts mehr. Die Haltung ist kein Konzentrationsobjekt, wir sind völlig diese sitzende
Haltung. Es gibt keine Trennung zwischen uns und der sitzenden Haltung. Wir sind ein Körper und
Geist, der in Zazen sitzt und ruhig durch die Nase ein- und ausatmet. Wir beobachten die Gedanken,
aber wir greifen sie nicht auf. Wir kategorisieren sie nicht in gut oder schlecht und versuchen auch
nicht, sie zu verdrängen. Das Erscheinen der Gedanken in Zazen ist wie das Erscheinen der
Einatmung nach der Ausatmung. Die Gedanken kommen und gehen wie die Atmung. Man lässt den
Geist auf nichts verweilen.
Mit sich selbst vertraut werden heißt, auf diese Weise zu praktizieren. Man selbst ist völlig die
Praxis, man ist ein Körper und Geist, der in Zazen sitzt. Es gibt kein Ich oder jemand, der von der
Praxis hier und jetzt getrennt ist. Wenn man geht, zum Beispiel beim Kinhin, gilt das Gleiche. Es
gibt keinen Gehenden, der vom Gehen getrennt ist. Wenn der Gehende vom Gehen getrennt wäre,
würde er nicht gehen. Und wenn er nicht geht, ist er kein Gehender. Es gibt also keine Trennung
zwischen einem selbst und der Praxis.
In dieser Praxis gibt man jeden Gedanken über sich selbst auf, weil man genau sieht, dass diese
Gedanken völlig unbeständig sind. Diese Gedanken bilden kein Selbst. Wir können den Ursprung
unserer Gedanken nicht ergreifen, und wenn ein Gedanke verschwindet, können wir den Ort, an
dem er verschwunden ist, nicht erfassen. Wir selbst haben keine Grenzen. Selbst unsere Haut bildet
keine Grenze. Unsere Haut atmet genauso wie unser Körper und das ganze Universum.
Wenn wir in Zazen sitzen, sitzen wir mit dem ganzen Universum. Da gibt es nichts, das fehlt oder
zu viel wäre. Diese Praxis, einfach zu sitzen, heilt uns von Gier und Hass.
Wenn wir in den Grenzen unseres kleinen Egos eingeschlossen sind, sind wir unzufrieden, weil wir
nicht in Einklang mit unserer wahren Natur sind. Dann haben wir ständig das Gefühl, dass etwas
fehlt. Wir suchen unablässig Objekte der Befriedigung. Wir versuchen ständig, das zu vermeiden,
was uns missfällt oder was uns daran hindert, unser Objekt der Befriedigung zu erlangen. Das ist es,
was man Samsara nennt: Weil wir nicht wissen, dass wir eins mit dem ganzen Universum sind,
werden wir von den Giften Gier und Hass konditioniert.
Zazen offenbart uns diese Einheit, nicht als Vorstellung oder Theorie, sondern weil wir all das
fallenlassen, was ein Hindernis zur Verwirklichung dieser Einheit darstellt. Dann können wir sie
voll und ganz erleben und damit zufrieden sein, einfach zu sitzen.
Dies ist das Verlöschen der Ursachen unserer Unzufriedenheit und unserer Leiden. Dieses
Verlöschen nennt man Nirvana oder Geistesfrieden, der Frieden des Geistes, der endlich in
Harmonie mit seiner wahren Natur lebt. Diese Erfahrung hat Buddha Shakyamuni unter dem Baum
des Erwachens in Zazen gemacht. Was er weitergegeben hat, ist die Praxis, die wir empfangen
haben und hier gemeinsam in diesem Dojo ausüben.
Wenn man weiter auf diese Weise praktiziert, hat man nicht mehr den Eindruck, etwas Besonderes
zu praktizieren. Es ist eine Seinsweise in Harmonie mit einem selbst und allen Wesen, ohne
Trennungen zu schaffen. Diejenigen, die dies gemeinsam erleben, bilden die Sangha, die
harmonische Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist dazu berufen, sich zu verbreiten, denn alle
Wesen sind die Buddha-Natur, und alle Wesen sind dazu berufen, sie zu aktualisieren.

Freitag, 10.5.2013, 16.30 Uhr
Konzentriert euch während Zazen gut auf die Haltung der Hände. Die linke Hand ruht in der
rechten, die Daumen sind waagerecht und bilden mit den Zeigefingern ein weites Oval. Die
Handkanten berühren den Unterbauch. In dieser Haltung ergreifen die Hände nichts und fabrizieren
nichts.
In Zazen macht man nichts, man greift nach nichts. Man gibt einfach seine ganze Energie und
Aufmerksamkeit in die Praxis des Augenblicks, in die Praxis einfach nur zu sitzen. Alles andere
lässt man los, selbst gute Absichten wie, Zazen zu praktizieren, um das Erwachen zu verwirklichen
oder um seine Illusionen zu beseitigen. Selbst solche guten Absichten gibt man in der Praxis auf.
Shikantaza, einfach nur sitzen, bedeutet, sich völlig der Praxis eines jeden Augenblicks zu widmen,
indem man jede Anhaftung an Körper und Geist aufgibt. Dies ist das Herz, die Essenz der Praxis
des Weges.
Auf einem Sesshin gibt es alle Arten von Tätigkeiten. Man praktiziert Zazen, Kinhin, Zeremonien,
Samu. Aber der Kern all dieser Praktiken ist, einfach nur zu sitzen, Körper und Geist aufgegeben in
der Praxis eines jeden Augenblicks. Es ist die Praxis des völligen Loslassens. Man kann sich dabei
völlig entspannen. Es ist die Mushotoku-Praxis, in der wir jedes Zielobjekt aufgeben und wir uns
nicht mehr in irgendeine Richtung bewegen. Wir können uns einfach in Frieden hinsetzen. Dabei
verwirklicht sich unbewusst und natürlich der Sinn des Weges. Wir brauchen nicht mehr all unsere
Wunschobjekte zu verfolgen.
Sobald man im Alltag mit etwas Angenehmen in Berührung kommt, möchte man es ergreifen und
für sich behalten. Umgekehrt, wenn man etwas Unangenehmen begegnet, will man ihm entfliehen
oder es verwerfen. Wie ich es heute Morgen bereits gesagt habe, ist dies der Mechanismus des
Samsara, in dem man niemals Frieden findet.
In Zazen wird diese Haltung unbewusst und natürlich aufgegeben. Es ist nicht so, dass wir uns
bemühen, gegen unsere Bonnos anzukämpfen, um sie loszuwerden. Sie stören uns einfach nicht
mehr. Die Quelle aller Bonnos ist unsere Unwissenheit, aber in Zazen wird diese Unwissenheit
durch das Hishiryo-Bewusstsein erhellt. Man sieht ganz klar die Leerheit all der Objekte, die man
erlangen will, und verspürt nicht mehr die Notwendigkeit, sie zu verfolgen, weil in der Praxis eines
jeden Augenblicks nichts fehlt. Es ist die Praxis, die uns mit uns selbst versöhnt, die uns mit der
wahren Natur unserer Existenz harmonisiert. Sie macht es uns möglich, einfach nur in Frieden zu
sitzen.
Mondo
Ich bin sehr verbunden mit dir und der Sangha, ich fühle mich auch als deine Schülerin, obwohl ich
keine Nonne bin. Ich habe aber gehört, dass man Nonne sein muss, um Schülerin zu sein. Siehst du
das auch so?
Nein, es ist so völlig in Ordnung. Wenn jemand Mönch oder Nonne werden will, muss er einen
Meister wählen. Dies ist nötig, weil ein Mönch oder eine Nonne einen Meister braucht. Natürlich
kann auch ein Bodhisattva einen Meister haben.
Für mich sind die Gelübde der Bodhisattvas das Allerhöchste. Mönch oder Nonne zu werden,
bedeutet nichts anderes, als sein Leben noch mehr der Erfüllung der Bodhisattva-Gelübde zu
widmen. Und die Beziehung zwischen Meister und Schüler ist nichts anderes, als gemeinsam in die
Richtung der Verwirklichung dieser Gelübde zu gehen. Das ist die Bedeutung unserer Praxis.
Jemand, der die Bodhisattva-Gelübde abgelegt hat und mit mir in der Sangha praktiziert, ist ganz
und gar mein Schüler. Was ein Schüler definiert, ist nicht in die Anhaftung zwischen Meister und
Schüler oder Schüler und Meister, sondern die Tatsache, dass der Schüler sich bemüht, die
Unterweisung des Meisters zu praktizieren. Der Schüler setzt die Unterweisung, die er vom Meister
empfängt, um.
Dies löst auch das Problem der geografischen Distanz. Manche Leute fragen sich, ob sie nicht nach
Nizza ziehen müssten, wenn sie mein Schüler sein wollen, um jeden Tag mit mir zu praktizieren.
Ich denke nicht, dass dies nötig ist. Wenn ihr kommen möchtet, seid ihr natürlich willkommen, aber
es ist nicht absolut notwendig. Man kann sich geografisch nah sein, aber wenn der Schüler nicht die
Entschlossenheit hat, den Unterweisungen seines Meisters zu folgen, ist er kein richtiger Schüler,
selbst wenn er in der Nähe wohnt. Wenn er weit weg wohnt und die Unterweisungen, die er
bekommen hat, praktiziert, ist er ein wahrer Schüler.
Ich würde gerne wissen, ob die Angst vor dem Tod eine Hilfe oder ein Hindernis auf dem Weg ist.
Ich denke, dass sie eine Hilfe sein kann, aber das hängt davon ab, wie man auf diese Angst reagiert.
Wenn man Angst vor dem Sterben hat und sich sagt: „Das Leben ist wichtig, man darf keine Zeit
verlieren“, damit man im Augenblick des Sterbens nicht die verlorene Zeit bedauert, kann die Angst
vor dem Tod ein guter Anreiz sein. Sie kann ein noch besserer Anreiz sein, wenn man diese Angst
vertieft und näher betrachtet und sich fragt: „Wer hat letztlich Angst vor dem Sterben? Was ist
dieses Ego, das Angst vor dem Sterben hat?“ Wenn man dann realisiert, dass dieses Ego keine
Substanz hat, das heißt, kein Anfang und kein Ende, und dass es nie vom ganzen Universum
getrennt war, begreift man, dass dieses Ego nicht geboren wurde und nicht sterben wird. In diesem
Moment verwirklicht man das, was man Nirvana nennt, das Erlöschen der Angst vor dem Sterben.
Die Angst vor dem Sterben kann der Ausgangspunkt der Praxis sein, aber ihr Verschwinden kann
auch das Ende der Praxis bedeuten.
Es hängt davon ab, was man aus dieser Angst macht. Wenn man Angst vor dem Sterben hat und
sich sagt: „Ich muss jeden Tag von allen Freuden des Lebens profitieren!“, und allen möglichen
Wunschobjekten hinterherläuft, dann schickt uns diese Antwort auf die Todesangst in eine ganz
falsche Richtung, in die entgegengesetzte Richtung des Weges. Ich glaube, dass dieses Phänomen in
der aktuellen Gesellschaft sehr oft vorkommt. Die meisten Menschen finden sich damit ab, dass sie
den Sinn ihres Daseins nicht verstehen. Sie ignorieren die grundlegende Frage, warum wir leben,
warum wir sterben, und werfen sie sich in ein zügelloses Konsumverhalten, das in eine Sackgasse
führt.
Alle Emotionen, die man erlebt, nicht nur die Angst vor dem Tod, können ein Anreiz sein und gute
Auswirkungen oder im Gegenteil völlig negative Auswirkungen haben. Es hängt davon ab, wie man
auf diese Emotionen reagiert. Dafür braucht man, glaube ich, eine Praxis wie Zazen. Egal welche
Emotion während Zazen hochkommt, auch eine Emotion wie die Angst vor dem Tod: Man kann
sich nicht bewegen, man kann nichts machen. Man kann sie also nur betrachten und schauen, was
da ist. Worum handelt es sich? Und sich gedulden, ohne zu reagieren. Und die Tatsache zu
betrachten ohne zu reagieren, gibt einem die Zeit, tiefer zu verstehen. Im gewöhnlichen Leben ist
man immer in der Reaktion. Man reagiert, ohne sich genug Zeit zu geben zu verstehen, was einem
eigentlich geschieht. Ein Sesshin ist demnach eine gute Gelegenheit, sich Zeit zu geben und zu
beobachten, was gerade passiert.
Ich habe versucht, mich mit meinem Tod zu konfrontieren, aber ich schaffe es nicht. Ich verstehe
die Angst vor dem Tod als Antrieb zur Praxis, aber die Konfrontation mit meinem Verschwinden
erzeugt in mir Panik. Meinst du, man soll sich damit konfrontieren?
Ich denke, man darf es nicht übertreiben.
Das erinnert mich an eine Geschichte aus der Zeit von Buddha Shakyamuni, in der er seinen
Mönchen geraten hat, sich mit der Vorstellung des Todes zu konfrontieren. Um sich ganz konkret
damit zu konfrontieren, schlug er ihnen vor, auf Friedhöfen zu praktizieren. Zu dieser Zeit hat man
die Toten nicht systematisch vergraben, so dass die Mönche auf Leichname in verschiedenen
Zersetzungszuständen trafen. Einige haben diesen Anblick nicht ertragen, und manche wurden
dadurch dermaßen deprimiert, dass sie sich umbrachten. Daraufhin verbot Buddha diese Art von
Praxis. Sie war zu extrem.
Es gibt die Unbeständigkeit und den Tod, aber es ist nicht nötig, sich von ihnen beherrschen zu
lassen, vor allem weil man seinen eigenen Tod letztlich nicht betrachten kann. Das ist unmöglich,
selbst wenn man es wirklich will. Solange man an den Tod denkt, lebt man. Daher kann man nie
seinen eigenen Tod sehen. Es ist sogar schwierig, ihn sich vorzustellen, weil alles, was man sich
vorstellen kann, das Produkt eines lebenden Wesens ist. Man kann vielleicht den Tod von jemand
anderem sehen, aber nicht seinen eigenen Tod. Selbst im Moment des Sterbens, solange man noch
denkt: „Ich werde sterben!“, lebt man noch. Erst im Augenblick des Todes denkt man nicht mehr.
Man kann es sich nicht vorstellen, man kann es nicht denken. Man kann nur daran denken, dass
man eines Tages sterben wird, aber die Wirklichkeit des Todes selbst, kann man nicht denken.
Ich sage mir, dass es wirklich das Unbekannte ist. Und weil ich das Unbekannte mag – schon als
Kind hatte ich immer Entdeckergeist -, sage ich mir: „Der Tod ist interessant.“ Ins Unbekannte
eintauchen. Was wird passieren? Ein neues Abenteuer. – Das ist eine Sichtweise. Aber ich denke
nicht so oft daran und versuche, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Das ist wichtiger.
Du hast in der Vorbereitungszeit gesagt, man könne bei einer Blume nicht von Leerheit sprechen.
Für mich ist Leerheit leer von etwas, Abwesenheit von Substanz. Ich bin etwas verwirrt, weil es
doch nichts gibt, das feste Substanz hat. Warum hat eine Blume Substanz?
Nein, die Wesen und alle Daseinsformen sind letztlich jenseits von Begriffen wie ‚Substanz‘ oder
‚Leerheit‘. Selbst der Begriff ‚Leerheit‘ ist eine Erfindung des Menschen, um der Illusion einer
Substanz entgegenzutreten. Deshalb haben die Buddhisten und insbesondere Buddha Nachdruck auf
die Leerheit gelegt. Aber genauso wie die Vorstellung von etwas Dauerhaftem oder einem Wesen,
das dauernd weiterlebt, ist der Begriff ‚Substanz‘ ein geistiges Konstrukt, das es nicht gibt, das man
noch nie gesehen hat. Deswegen sagen wir: Es ist Leerheit. Aber auch die Leerheit ist ein Konzept,
die Antwort auf den Begriff ‚Substanz‘. Im wirklichen Leben sind ein Baum, ein Tier, du, ich, ein
Wesen, das hier und jetzt existiert, jenseits jeden Begriffs. Der menschliche Geist versucht, all dies
zu beschreiben und in Kategorien einzuordnen. Aber dein Wesen hier und jetzt kann nicht in
dauerhaft oder nicht dauerhaft, in Substanz oder Leerheit eingeschlossen werden, es geht darüber
hinaus. Das wollte ich damit sagen. Und ich denke, das ist die Bedeutung der Geste Shakyamunis,
als er die Blume drehte. Man kann stundenlang über die Unbeständigkeit, die wechselseitige
Abhängigkeit, die Nichtsubstanz reden, aber letztlich gibt es etwas, das über all das hinausgeht: die
einfache Gegenwart der Existenz hier und jetzt, die jenseits von all unserer geistigen Kategorien ist.
Das ist das Wertvollste, was wir in Zazen erfahren können: Es geht über unsere geistigen
Kategorien hinaus. Deshalb rät man in Zazen, sich einfach hinzusetzen, um für diese Gegenwart
verfügbar zu sein, jenseits von allen Gedanken. Man nennt dies Hishiryo, das Hishiryo-Bewusstsein
von Zazen. Hi bedeutet darüber hinaus und shiryo ist das Denken, das kategorisiert, misst,
vergleicht, unterscheidet, das zum Beispiel zwischen Substanz und Leerheit unterscheidet, zwischen
Leben und Tod, ich und die anderen, und so weiter.

Samstag, 11.5.2013, 7.00 Uhr
Wir sind hier auf diesem Frühlingslager vereint, weil wir den Weg, das Dharma suchen. Im Alltag
verfolgen wir alle Arten von Objekte der Befriedigung, und letztendlich stellen wir fest, dass sie
nicht zufriedenstellend sind. Kein Objekt kann unseren tiefen Wunsch wirklich befriedigen. Man
beginnt, etwas anderes zu suchen als die Befriedigung in Objekten oder in gesellschaftlichem
Ehrgeiz, und man begegnet dem spirituellen Weg. In unserem Fall handelt es sich um den Weg
Buddhas, der sich als Befreiung von den Leidensursachen darstellt, insbesondere von dem Leiden,
dass es die Unbeständigkeit gibt, dass nichts tatsächlich andauert und dass wir eines Tages sterben
müssen. Einige spüren Angst, die sie dazu bringt, den Weg zu suchen, den Weg zur Auflösung
dieser existenziellen Krise. Aus diesem Grund fängt man an, die Zen-Praxis zu üben.
Aber das angestrebte Ziel wird seinerseits zu einem Hindernis auf dem Weg zur wahren Befreiung,
denn im Grunde hat die Funktionsweise des Geistes sich nicht wirklich geändert. Anstelle von
gewöhnlichen Befriedigungen des Alltags sucht man die spirituelle Befriedigung, und man benutzt
die Praxis und die Unterweisungen, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei funktioniert man weiterhin
in der Dualität. Es gibt immer noch ein Ich, ein Ego, das etwas sucht, und dieses Etwas wird uns
immer entgehen.
Im Zen gibt es den Ausdruck „mit Händen und Füßen an Buddha gefesselt sein“. Meister Rinzai
sagte: „Wenn dir Buddha begegnet, töte ihn.“ Das heißt: „Gib die Absicht deiner Praxis auf.“
Darum empfahl Meister Dogen, einfach zu sitzen, Shikantaza, wobei man jede Absicht vergisst und
die dualistische Funktionsweise des Egos aufgibt. Meister Deshimaru betonte auch immer die
Mushotoku-Praxis, ohne Ziel, ohne Zweck.
Dann kann man eine wahre Befreiung, eine wahre innere Revolution erfahren. Die Praxis eines
jeden Augenblick wird absolut und hängt von nichts anderem als von der Praxis hier und jetzt ab,
jenseits von vorher und nachher. ‚Vorher‘, das sind all unsere Konditionierungen, unsere geistigen
Gewohnheiten, die uns dazu bringen, in gewisser Weise zu handeln. ‚Jenseits von nachher‘
bedeutet, jenseits von all unseren Zielsetzungen, unseren Absichten und Wünschen. Hier und jetzt
völlig eins zu sein mit der Praxis eines jeden Augenblicks ist die Verwirklichung des Weges, die
wir suchten und die wir in der Zukunft suchten als erhofftes Ergebnis der Praxis. In Zazen erhofft
man nichts mehr, da alles hier und jetzt verwirklicht ist.
Bedeutet dies, dass die Praxis keinen Sinn hat? Nein, denn was hier und jetzt verwirklicht und
umgesetzt wird, ist unsere völlige wechselseitige Abhängigkeit mit allen Wesen. Dabei
verschwindet unsere Ichbezogenheit, zumindest verringert sie sich sehr, und wir empfinden eine
große Sympathie für alle Wesen. Ausgehend davon erscheint ein neuer Wunsch: der Wunsch diesen
Weg der Befreiung mit allen Wesen zu teilen. Einfach mit allen Wesen sitzen. Dies geschieht
ohnehin unbewusst und natürlich, wenn man sich von der Praxis hier und jetzt absorbieren lässt,
weil jede Trennung zwischen einem selbst und den anderen abgeschafft ist.
Die Bedingungen für die Zazen-Praxis in einem Dojo sind besonders. Wie kann man aber diesen
Weg im täglichen Leben weiter praktizieren? Natürlich indem man sich weiter auf jede Praxis, jede
Handlung und jeden Augenblick konzentriert, wobei man alle Wesen nicht außer Acht lässt. Das
heißt, man spricht das Gelübde der Bodhisattvas aus: „So zahlreich die Wesen auch sein mögen, ich
gelobe, ihnen zu helfen, sich zu befreien.“ Dieses Gelübde auszusprechen heißt, den Geist des
Erwachens, Bodaishin, zu verwirklichen.
Selbst wenn dies zu einem neuen Wunsch wird, ein neues Ziel in unserer Praxis ist, ist dieses Ziel
absolut nicht egoistisch. Es ist völlig in Einklang mit unserer Buddha-Natur und stört überhaupt
nicht die Verwirklichung des Erwachens, es wird eher der Ausdruck dafür. So gibt es keinen
Widerspruch zwischen Bodaishin, dem Geist, der das Erwachen für alle Wesen und mit allen
Wesen sucht, und Mushotoku, der Praxis ohne Zweck, ohne persönliche Ziele. Diese Praxis ist die
Praxis Buddhas, der verwirklichte Weg.

Samstag, 11.5.2013, 11 Uhr
Von Augenblick zu Augenblick tauchen während Zazen Gedanken auf und verschwinden wieder.
In unserem Körper zeigen sich auch unablässig Empfindungen, sie verändern sich und verschwinden.
Manchmal ist man in einem entspannten, angenehmen Zustand, manchmal erscheinen Schmerzen.
Diese Schmerzen können ein Bedauern auslösen, man bedauert, dass man nicht in einem wohligen,
perfekten Zustand ist. Manchmal erscheinen Erinnerungen, manchmal Wünsche oder Projektionen.
Dieses unaufhörliche Auftauchen und Verschwinden von Phänomenen in unserem Geist während
Zazen gehört zu dem, was man Shoji nennt, Geburt und Tod, Auftauchen und Verschwinden. Alle
Phänomene, nicht nur die unseres Lebens, sondern alle Phänomene des Kosmos, erscheinen und
verschwinden. Wenn die Phänomene unseres Lebens von unserem Karma konditioniert sind, wenn
sie aufgrund unserer Illusionen, unserer Bonnos erscheinen, sprechen wir von Samsara, der
Wiedergeburt in verschiedene Welten, die konditioniert ist durch Wünsche und Abneigungen, an
denen wir aufgrund unserer Unwissenheit haften.
Aber die Phänomene unseres Lebens können auch durch unsere Bodhisattva-Gelübde ausgelöst
werden. Es ist nicht nur die Kraft des Karmas, die die Transmigration in Gang hält. Die Energie der
Gelübde und des Geists des Erwachens ist auch eine Ursache von Wiedergeburt. Aber das Leben,
das von den Bodhisattva-Gelübden motiviert wird, ist ganz anders als das Leben, das vom Karma
verursacht wird. Selbst wenn wir anscheinend in derselben Welt leben, in der wir mit den gleichen
Phänomenen konfrontiert werden, erleben wir sie nicht auf dieselbe Weise. Für einen Bodhisattva
sind alle Phänomene des Lebens Ausdruck des Buddha-Dharmas. Alle Phänomene sind Homon,
Pforten des Dharmas, Manifestationen der Buddha-Natur. Dementsprechend bieten sie alle
Gelegenheiten zu erwachen.
Die Phänomene, die sich während Zazen zeigen, sind lauter Koans, sie manifestieren die höchste
Wirklichkeit. Ein Gedanke erscheint und verschwindet. Ein anderer Gedanke erscheint und
verschwindet. Der vorherige Gedanke wird nicht zum folgenden Gedanken. Eine Empfindung wird
nicht zu einer anderen Empfindung. Ein Augenblick wird nicht zum nächsten Augenblick, jeder
existiert absolut, mit seinen eigenen Merkmalen. Genauso wenig wird der Winter zum Frühling.
Die Wirklichkeit des Winters mit Kälte, Eis, den kahlen Bäumen ist eine andere als die des
Frühlings. Im Frühling öffnen sich die Blüten, die Bäume blühen, die Vögel singen, die Tage
werden länger, die Luft wird wärmer. Der Frühling hat eine andere Wirklichkeit als der Winter. Die
Ursachen und Bedingungen des Frühlings sind anders als die des Winters. Genauso ist unser Leben
als Erwachsener anders als unser Leben als Säugling oder als Kind.
Wenn man Zazen praktiziert, lernt man, sich auf jeden Augenblick zu konzentrieren. Zum Beispiel
ist man völlig eins mit der Einatmung, wenn man einatmet, und eins mit der Ausatmung, wenn man
ausatmet, ohne die folgende Einatmung zu erwarten. Man wartet auch nicht auf das Ende des
Zazen. Man erlebt jeden Augenblick absolut, so wie er ist, ohne dem vergangenen Augenblick
nachzutrauern oder den folgenden Augenblick zu erwarten. Diese Lebensweise ist die Lebensweise
der ewigen Gegenwart. Sie geht über vorher und nachher hinaus, über Erwartung und Bedauern
hinaus. Dies ist der Frieden des Nirvana, der hier und jetzt verwirklicht wird.
Einige haben Schmerzen in den Beinen. Wenn ihr hier und jetzt diese Schmerzen völlig akzeptiert,
ohne darauf zu warten, die Beine auseinander falten zu können, oder ohne dem Anfang von Zazen
nachzutrauern, bei dem ihr schmerzfrei wart, dann bleibt euer Geist selbst mit Schmerzen friedlich.
Nirvana bedeutet nicht das Verlöschen der Phänomene, es ist nicht die Abschaffung des
Erscheinens und Verschwindens aller Phänomene, sondern die Art und Weise, sie ohne Anhaftung
oder Ablehnung zu leben.
Mit dieser Lebensweise ist man in Harmonie mit dem Dharma. Es ist die beste Art und Weise, um
glücklich zu leben, jeden Augenblick so zu nehmen, wie er ist. Das heißt auch, ihn mit allen Wesen
zu leben.
Der gegenwärtige Augenblick ist das Ergebnis von unserem vergangenen Leben und gleichzeitig
die Quelle von unserem ganzen zukünftigen Leben. So beinhaltet dieser gegenwärtige Augenblick
alle Zeiten. Er ist gleichzeitig extrem flüchtig und gleichzeitig unendlich weit, wie unsere Existenz.
Mondo
Ich habe eine Frage zum Gebot ‚nicht töten‘. Ist damit auch ‚töten durch Unterlassung‘ gemeint?
Zum Beispiel wenn ich es unterlasse, Menschen zu helfen, die von einem Aggressor bedroht und
getötet werden. Sollte ich es befürworten, dass ein Diktator wie Hitler oder jetzt aktuell in Syrien
Assad getötet wird?
Das ist möglich. Aber nur ein Bodhisattva kann so etwas tun. Es ist genau der Fall, bei dem es
erlaubt ist zu töten. Einem Bodhisattva ist es erlaubt, jemanden zu töten, wenn diese Person andere
Menschen mit dem Tod bedroht. Wenn du dich zum Beispiel in einem Flugzeug befindest, das von
einem Terroristen entführt wird, der es zum Explodieren bringen will, ist es möglich ihn zu töten,
um damit zu vermeiden, dass er viele andere Menschen tötet. Das gilt noch mehr für einen
Tyrannen, der sehr viele Menschen töten lässt. Natürlich ist das ein heikler Punkt, aber es ist der
einzige Fall, in dem man bei dem Prinzip ‚nicht töten‘ eine Ausnahme machen kann.
Wenn ein Bodhisattva einen derartigen Akt ausführt, hat das dann karmische Folgen für ihn?
Eine derartige Tat hat immer zwei Auswirkungen für den Ausführenden: eine negative Auswirkung,
weil er getötet hat, aber auch eine positive Auswirkung, weil er viele Menschen gerettet hat. Wenn
eine Handlung einen negativen und einen positiven Effekt hat, kommt in der karmischen Kausalität
am Ende Null heraus. Es gibt viele ähnliche Fälle. Zum Beispiel ist es verboten zu stehlen, aber
wenn während einer Hungersnot reiche Menschen Nahrung horten und arme Menschen vor Hunger
sterben, kann man durchaus die Reichen, die nichts abgeben wollen, bestehlen. Diese Tat führt auch
zu zwei karmischen Auswirkungen, einer negativen, weil die Person gestohlen hat, und eine
positive, weil sie gegeben hat. Es gleicht sich etwas aus.
Auf jeden Fall darf man nicht an sein eigenes Karma denken, wenn man sich in so einer Situation
befindet. Man muss aus Mitgefühl handeln. Selbst wenn das Ergebnis für einen selbst letzten Endes
schlecht ist, wenn die negative karmische Auswirkung überwiegt, sollte dies einen nicht daran
hindern, alles zu tun, um diejenigen zu retten, die vom Tod oder vom Hunger bedroht sind.
Diese Frage wurde oft angesprochen. Auch Dogens Schüler haben ihn bei informellen Gesprächen
oft darauf angesprochen. Er hatte auch in diesem Sinn geantwortet.
In dieser Richtung hat der Buddhismus keine starre Moral. Die buddhistische Ethik berücksichtigt
die Auswirkungen, die Ergebnisse. Es geht nicht nur um Gebote oder Prinzipien, sondern um das
Ergebnis. Ein bekanntes Beispiel handelt von jemand, der während des letzten Krieges Juden bei
sich untergebracht und beschützt hat. Wenn die Gestapo gekommen wäre und ihn gefragt hätte:
„Beherbergen Sie Juden hier?“, hätte er nicht erst überlegen können, ob er lügen darf. Hätte er ja
gesagt, wäre dies einem Todesurteil gleichgekommen. Nicht nur im Buddhismus, auch in der
westlichen Ethik betrachtet man diese Art Aspekte. Man nennt sie die ‚Ethik, in der die Folgen
bedacht werden‘.
So weit ich weiß, hat alles eine Ursache und eine Wirkung, und man nennt es eine Kausalitätskette.
Ist diese Kette geschlossen oder geht sie in zwei verschiedene Richtungen?
Es ist komplexer: Es handelt sich nicht um eine Kette, jedenfalls nicht um eine einzige Kette. In der
Kausalität, so wie sie in Buddhas Unterweisung dargestellt wird, gibt es nicht nur eine Ursache, die
eine Auswirkung hat. Eine Ursache erzeugt eine Auswirkung in einem Kontext, in dem weitere
Ursachen und Bedingungen zusammenkommen. Es ist sehr selten, dass eine Ursache nur eine
Auswirkung hat. Die Kausalität ist eine Art Netzwerk von Ursachen, das recht komplex ist.
Ein klassisches Beispiel dazu ist die Unterweisung, die Buddha in einer landwirtschaftlichen
Gemeinde gehalten hat. Er sprach von einem Samenkorn. Man kann sagen, dass das Samenkorn die
Ursache des Baumes ist. Wenn man eine Eichel einpflanzt, ist diese Eichel die Ursache der Geburt
und der Erscheinung einer Eiche. Aber natürlich reicht es nicht aus, dass eine Eichel auf den Boden
fällt, damit ein Baum aus ihr entsteht. Der Boden muss geeignet sein, und Feuchtigkeit und
Temperatur müssen stimmen. Es gibt viele Bedingungen: Es darf z.B. kein Tier vorbeikommen und
die Eichel essen. Eine Menge günstiger Bedingungen sind nötig, damit das Fallen einer Eichel zu
einem Baum führt. Das Gleiche gilt für alle Ursachen. Zum Beispiel versucht man im
medizinischen Bereich, die Ursache von Krebs zu finden. Selbst wenn man nur eine Krebskategorie
betrachtet, sieht man, dass der Krebs eine Ursache hat, aber dass es eben nicht nur eine Ursache
gibt. Ansonsten würde bei all den Menschen, die diese Ursache hätten, Krebs entstehen, aber so ist
es nicht. Tabakrauchen ist zum Beispiel ist die Ursache für viele Tumore. Aber nicht alle Raucher
bekommen Krebs.
Freud hat von komplementären Folgen gesprochen. Damit zum Beispiel eine psychische Krankheit
ausbricht, müssen vorab eine Anzahl von Ursachen und Bedingungen zusammentreffen. Selbst
wenn man eine traumatische Kindheit hatte, heißt das nicht, dass man neurotisch oder psychotisch
werden muss. Einige werden es, andere nicht, weil noch andere Ursachen und Bedingungen
dazukommen müssen, um eine Neurose oder Psychose auszulösen.
Buddha hatte vor 2500 Jahren, das ist schon sehr lange her, eine sehr moderne Sichtweise, weil er
sich bereits der Komplexität dieses Spiels von Ursachen und Wirkungen bewusst war. Er war der
Auffassung, dass es nicht nur eine einzige kausale Kette gäbe, sondern die karmische Kausalität.
Das Karma ist eine kausale Kette. Aber es gibt noch andere Ursachen, die klimatische Kausalität
zum Beispiel oder die biologische Kausalität.
Die Mathematik, die Logik?
Nein, das ist etwas anderes. Mathematik ist keine Kausalität, sie ist ein Versuch die Phänomene zu
beschreiben.
Es gibt verschiedene Ursachen: biologische, psychologische, soziologische, die alle interagieren.
Daher ist das, was bei einem Individuum passiert, sehr komplex. Man kann sehr schwer
voraussagen, was aus einem Menschen wird, aufgrund der Komplexität der Ursachen, die auf seine
Entwicklung einwirken. Im Bereich der Physik kann man präzise Vorhersagen machen, aber es ist
praktisch unmöglich, vorherzusagen, was aus einem Menschen wird.
Ich denke, dank dieser Komplexität hat der Mensch eine gewisse Freiheit. Je komplexer die
Ursachen und Wirkungen sind, desto chaotischer wird die Situation und desto größer wird der
Rahmen der Freiheit. Der Determinismus hat weniger Macht.
Wenn ich es richtig verstanden habe, kann eine Ursache Auswirkungen in verschiedene Richtungen
haben.
Das hängt davon ab, ob andere Ursachen dazwischenfunken.
Wenn alles auf der Welt eine Ursache hat, konvergieren dann alle diese Ursachen irgendwann auf
ein Ziel hin?
Nein.
Zum Beispiel wie das Weltall, das mit dem Urknall angefangen hat und irgendwann wieder
kollabiert?
Die Astrophysiker sind sich untereinander nicht einig. Es gibt Theorien, die sagen, dass es nach
dem Urknall den Big Crunch gibt: Nach der Ausdehnung zieht sich alles wieder zusammen. Andere
sagen, dass sich das Weltall ins Unendliche ausdehnt. Vom buddhistischen Standpunkt aus gibt es
keine allerletzte Ursache. Die Dinge sind nicht dazu bestimmt, ein Ende zu erreichen.
Gehe ich richtig in die Annahme, dass ein Bodhisattva, der dem Gebot ‚nicht töten‘ folgen sollte,
kein Fleisch essen darf?
Es ist auf jeden Fall besser, Fleischkonsum zu vermeiden. Aber auch hier gibt es im Buddhismus
kein absolutes Verbot. Aus gesundheitlichen Gründen kann jemandem empfohlen werden, Fleisch
zu essen, zumindest für eine gewisse Zeit. Oder in manchen geografischen Regionen wie in Tibet
ist es schwierig, die Erde zu bearbeiten. Dort kann man nur Tiere aufziehen, also wird dort eher
Fleisch gegessen. Es gibt kein absolutes Verbot, aber es wird empfohlen, so wenig Fleisch wie
möglich und am besten gar kein Fleisch zu essen. Die Gründe kennen wir alle: Der Genuss von
Fleisch bedeutet, dass Tiere getötet werden, auch wenn wir es nicht sehen, weil wir diesen Vorgang
nicht mitbekommen, da wir unser Fleisch heutzutage im Supermarkt fertig abgepackt kaufen.
Heute Morgen hast du im Kusen gesagt, das Nirvana sei kein besonderer Zustand. Man nimmt im
Nirvana die Dinge einfach so, wie sie sind, ohne etwas hinzuzufügen. Habe ich das richtig
verstanden?
Ich habe es nicht genau so gesagt, aber es geht in diese Richtung. Buddha hat das Nirvana nie
wirklich beschrieben. Er hat oft gesagt, dass das Nirvana die Auflösung der drei Gifte sei. Die drei
Gifte sind Gier, Hass und Unwissenheit.
Von diesem Zusammenhang habe ich heute Morgen gesprochen, um den Geisteszustand von Zazen
auszudrücken. Der wichtige Punkt bei Zazen ist nicht, ohne Gedanken oder ohne körperliche
Empfindungen zu sein, wie z.B. Schmerzen im Bein. Anders gesagt, ein Nirvana-Zazen ist kein
Zazen, bei man nie Schmerzen oder Gedanken hat. Es ist ein Zazen, bei dem man weder mit
Anhaftung oder mit Ablehnung auf egal welches Ereignis reagiert. Sobald man in Zazen für oder
gegen etwas ist, ist man nicht im Nirvana. Wenn man sich an einen Zustand klammert, wenn man
sich sagt: „Ach, jetzt bin ich im Nirvana!“, handelt es sich nicht um das Nirvana. Das Gleiche gilt
für Hass oder Abweisung, sie sind auch nicht das Nirvana. In beiden Fällen werden Anhaftung und
Abweisung von Unwissenheit verursacht, weil man die Leerheit der Phänomene nicht versteht und
das Ego auf diese Phänomene reagiert.
Aus diesem Grund hat Buddha das Nirvana als die Auflösung der drei Gifte beschrieben. Wenn die
Unwissenheit verschwindet, verschwinden mit ihr die Gier, Anhaftungen und auf der anderen Seite
der Hass, Wut und Ablehnung. In unserem Vokabular ist der Zustand des Hishiryo-Bewusstseins
das Nirvana.
Als wir klein waren, hat man uns beigebracht, nachzudenken, bevor wir handeln. Aber was ist,
wenn Herz oder Körper schneller sind als der Verstand?
Das hängt davon ab, ob das Herz geläutert ist oder nicht. Was du ‚Herz‘ nennst, ist die spontane
Handlung, die Handlung, über die man nicht nachdenkt. Aber man kann spontan jemanden aus Wut
oder Eifersucht töten. Spontan zu handeln ist nicht zwangsläufig gut. Die spontane Handlung ist nur
günstig, wenn das Herz durch eine lange Praxis gereinigt wurde. Dann kann es ganz spontan
Mitgefühl und Wohlwollen für alle Wesen ausdrücken. Für ein erwachtes Wesen, das von den drei
Giften befreit ist, ist die spontane Aktion durchaus günstig. Solange wir noch vom Karma, von
Bonnos oder einfach von unseren Instinkten konditioniert sind, denken wir besser nach, bevor wir
handeln.
Du sagst, dass man dies den Kindern gelehrt hat, als du jung warst. Ich hoffe, dass dies auch heute
noch der Fall ist. Das ist die Basis der Ethik. Auch Buddha hat dies seinem eigenen Sohn gelehrt. In
einem Sutra spricht Buddha zu Rahula und sagt: „Bevor du handelst, denke über die Konsequenzen
deines Handelns nach. Ob es sich um Worte oder Taten handelt, denke über die Auswirkungen
nach. Wenn die Auswirkungen positiv sind, das heißt, wenn sie zum Wohlergehen, zum Glück oder
zur Befreiung der anderen oder für dich selbst führen, kannst du mit der Sprache oder mit dem
Körper handeln. Wenn du aber nachdenkst und siehst, dass deine Handlung ungünstige
Auswirkungen haben oder Leiden erzeugen kann, dann darfst du diese Handlung nicht ausführen.“
Ich finde das überaus offensichtlich und hoffe, dass es weiterhin gelehrt wird. Es ist eines der
weltweiten großen Prinzipien der Ethik.
Das bedeutet, dass der Verstand alles leitet?
Es ist nicht so, dass er alles leitet, aber man muss ihn auf die richtige Art und Weise benutzen. Man
darf nicht glauben, dass Zen gegen den Verstand ist. Es heißt immer, man darf nicht unterscheiden.
Aber Dogen und auch Buddha haben gesagt, dass es wichtig ist zu unterscheiden. Man muss
unterscheiden, was gut und was schlecht ist.
Beim Zazen gibt man die Unterscheidungen auf, in Zazen befindet man sich in einem Zustand, in
dem man keine Entscheidungen treffen muss. Die Bedingungen der Zen-Praxis sind so, dass man
keine Entscheidungen treffen muss. Da braucht man sich um nichts kümmern und muss sich keine
Gedanken über Entscheidungen machen. Außer manchmal: Wenn man z.B. einen Hustenreiz
verspürt, muss man unterscheiden: Es wird mich stören, wenn ich den Husten unterdrücke, dann
läuft meine Nase und die Augen tränen. Aber wenn ich huste, wird es alle stören, daher entscheide
ich mich dafür, nicht zu husten. Selbst während Zazen gibt es Momente, in den man unterscheiden
muss.
Im Kapitel über Bodaishin von Meister Dogen steht, dass es der unterscheidende Geist ist, der
Bodaishin auslöst. Der Buddha-Geist, der Geist des Erwachens, ist der Geist, der die Ursachen der
Leiden erkennt, und dann entscheidet, das Erwachen zu suchen, um sich vom Leiden zu befreien.
Das ist eine gute Unterscheidung, in derartigen Fällen muss man unterscheiden.
Es ist wichtig, dass man vermeidet, nur einen Punkt der Unterweisung zu verstehen und sich an
diesen Punkt zu klammern, als wäre er die absolute Wahrheit. Buddhas Unterweisung
berücksichtigt die Komplexität. Man darf nicht eine einseitige Haltung annehmen und sagen:
„Diese Wahrheit gibt es! Jetzt richte ich mich immer danach.“ In manchen Situationen muss man
unterscheiden, in anderen nicht. Aber genau das ist Weisheit: verstehen, wie ich meinen Geist am
besten benutze. Welchen Aspekt des Geistes benutze ich je nach Situation? Man kann nicht immer
im Zustand des Hishiryo-Bewusstseins sein, auch wenn man es sich wünscht. Man kann nicht
immer in derselben Position blockiert bleiben. Das ist Weisheit. Dummheit ist im Gegenteil dazu,
auf einer Position verharren zu wollen. Wenn du ein strenges Verhaltensprinzip hast, kannst du dich
dem Leben nicht anpassen.
Ich habe den Ausdruck ‚mit Händen und Füßen an Buddha gefesselt‘ nicht verstanden.
‚Mit Händen und Füßen gefesselt sein‘ist eine französische Redewendung, die die völlige Anhaftung
an jemanden beschreibt. Wenn nur die Füße gefesselt sind, kann man sie mit den Händen
befreien, wenn nur die Hände gefesselt sind, kann man davonlaufen. Aber wenn Füße und Hände
gefesselt sind, kann man nichts mehr unternehmen.
‚Mit Händen und Füßen an Buddha gefesselt zu sein‘ meint die völlige Anhaftung an Buddha. Mit
einer völligen Anhaftung an Buddha kann man nicht das Erwachen realisieren. Deshalb spricht
Dogen vom ‚Erwachen jenseits von Buddha‘. Buddha ist das Ideal unserer Praxis. Wenn man zu
sehr an diesem Ideal festhält, ist man nicht frei, nicht wahrhaft befreit. Darüber hinaus zeigt es, dass
es eine Dualität zwischen einem selbst und Buddha gibt. Wenn man Buddha anhaftet, zeigt es, dass
Buddha eine Vorstellung in unserem Kopf ist. Immer wenn man einer Person oder einer Sache
anhaftet, ist es ein Zeichen von Dualität. Da sind zwei: man selbst und die andere Person. Die wahre
Zen-Praxis besteht darin, selber Buddha zu werden. Dann gibt es den Begriff ‚Buddha‘ nicht mehr.
Ohnehin ist Buddha kein Begriff, kein Objekt, keine Vorstellung. Aus diesem Grund kann man
nicht erwachen, wenn man Buddha anhaftet.
Im letzten Satz des Hokyo Zanmai steht: „Verberge die Praxis und stelle dich dumm.“ Was
bedeutet das?
Das bedeutet, dass man sich nicht als Weiser darstellen soll. Man sollte seine Praxis nicht so
darstellen, als wäre man stolz auf sie. Es ist eine Aufforderung zur Demut. Seine Praxis zu
verbergen heißt, nicht stolz auf seine Verwirklichung zu sein.
Manche Leute machen sehr viel Samu. Aber am Ende werden sie stolz auf ihre Arbeit und fangen
an, andere zu kritisieren, die weniger gut Samu machen. In diesem Moment wird Samu zu eine
Anhaftung, ein Gegenstand des Stolzes, was natürlich das Gegenteil der wahren Praxis ist. Oder
manche Menschen sind intelligent und studieren viele Sutras. Sie haben den Eindruck, gewisse
Dinge tief verstanden zu haben, und meinen, sie könnten sie den anderen erklären. Sie halten sich
für weise aufgrund ihres Wissens über den Buddhismus, aber das ist nicht die wahre Weisheit.
Es geht nicht darum, seine Weisheit und sein Erwachen zu verbergen. Aber man darf nicht daran
festhalten, sondern muss realisieren, dass das Dharma grenzenlos und unendlich ist. Selbst wenn
man glaubt, etwas verstanden oder erreicht zu haben, gibt es immer etwas, das darüber hinaus geht.
Der Weg ist immer viel weiträumiger, als man realisieren kann. Angesichts dieser grenzenlosen und
unendlichen Dimension des Weges und des Dharma kann man nur demutsvoll demgegenüber sein,
was man verwirklicht zu haben glaubt. Das ist die Schlussfolgerung des Hokyo Zanmai und auch
dieses Mondos.

Sonntag, 12.5.2013, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen weiter gut auf die Haltung eures Körpers. Lasst den Geist nicht
auf euren Gedanken stagnieren. Bei Zazen hält man keinen Gedanken fest, nicht einmal Gedanken,
die das Dharma betreffen.
Auf jedem Sesshin wird eine Unterweisung gegeben und empfangen. Manchmal hat man den
Eindruck, etwas verstanden zu haben. Dann neigt man dazu, sich zu sagen: „Dies ist das Dharma.“
oder „Das ist wirklich die Essenz der Unterweisung Buddhas.“, und man freut sich, etwas begriffen
zu haben. Aber das Dharma Buddhas ist jenseits von allem, was man erfassen kann. Es lässt sich in
keinen Gedanken einschließen. Es geht über alle Konzepte oder Worte hinaus, mit denen man
versucht, es zu beschreiben.
Zu diesem Thema nahm Meister Dogen eine Bootsfahrt als Beispiel: Wenn man auf hoher See
angelangt und keine Küste mehr zu sehen ist, denkt man, der Ozean sei ein weiter Wasserkreis.
Aber in Wirklichkeit lässt sich der Ozean nicht durch diesen Begriff beschreiben. Er ist weder ein
Kreis noch ein Viereck. Unter seiner Oberfläche gibt es allerhand Arten von verschiedenen
Lebensformen. Jenseits des Horizonts erstrecken sich alle möglichen Länder, und der Ozean nimmt
die Form aller Küsten an. Folglich ist er nicht einfach ein weiter Wasserkreis.
Am Anfang des Sesshin habe ich von den vier Siegeln des Buddha-Dharmas gesprochen, den vier
tiefen Wahrheiten der Buddha-Unterweisung:
– Alle Dinge sind unbeständig.
– Alle Dinge sind ohne Substanz.
– Wenn man dies nicht akzeptiert, wird das Leben leidvoll.
– Wenn man es akzeptiert, wird das Leben Nirvana.
Aber man kann nicht alle Phänomene des Lebens darauf reduzieren, einfach unbeständig oder ohne
Substanz zu sein. Die Unbeständigkeit und die Leerheit sind nur Sichtweisen auf die Existenz. Aus
diesem Grund hörte Buddha eines Tages auf zu sprechen und schwieg. Er drehte einfach eine
Blume zwischen seinen Fingern, ohne es zu kommentieren. Die Blume ist jenseits jeden
Kommentars. Sie ist jenseits dessen, dass sie unbeständig oder ohne Substanz ist. Sie ist viel mehr
als das: die Blume selbst. Sie lässt sich in kein Konzept einschließen.
Um dies zu realisieren, müssen wir unsere Praxis noch vertiefen, das heißt, noch mehr diesen
Wunsch loslassen, etwas erfassen zu wollen. Ihr sagt euch vielleicht: „Jetzt habe ich es verstanden!
Der Sinn des Dharmas Buddhas ist Loslassen.“ Ja, das stimmt. Aber es ist mehr als das. Was uns
noch zu entdecken bleibt, ist viel weiter als das, was wir glauben verstanden zu haben. Aus diesem
Grund ist der Weg unendlich, und unsere Praxis hat keine Grenzen.
Manchmal fragt jemand: „Wie lange dauert es, bis man das Satori erlangt?“ Er stellt sich vor, dass
Satori das Ziel der Zen-Praxis ist und man danach aufhören könnte zu praktizieren. Buddha
Shakyamuni hat noch lange nach seinem Erwachen Zazen praktiziert. Die letzte Empfehlung von
Meister Deshimaru war: „Macht ewig weiter Zazen, denn die Praxis selbst ist Verwirklichung.“ So
ist es uns möglich, jeden Tag über alle Grenzen unseres Verstandes weiter hinauszugehen. Dies ist
nicht auf das Sesshin begrenzt. Der Sinn unserer Praxis ist, in jedem Augenblick des täglichen
Lebens mit unserem wahren Geist vertraut zu werden. Der Weg ist unendlich, die Praxis ist
grenzenlos. Wenn wir dies realisieren, können wir unser ganzes Leben lang freudig weiter
praktizieren.

Sonntag, 12.5.2013, 11 Uhr
In der Danksagung während der Ordinationszeremonie heißt es: „Das Universum freut sich, weil es
neue Bodhisattvas gibt.“ Bodhisattva zu werden bedeutet, das Land der Freude zu betreten, die
Freude auf dem Weg zu sein, um ein vollkommener Buddha zu werden. Natürlich ist man beim
Zazen mit dem Hishiryo-Bewusstsein wie Buddha, aber eben nur während Zazen. Um im täglichen
Leben weiterhin ein Bodhisattva zu sein, das heißt, ein Wesen des Erwachens, muss man ständig
die Paramita praktizieren: die Gebote, die man während der Ordination empfangen hat, die Gabe,
die Geduld, die Energie, die Meditation, also Zazen, und die Weisheit. Man muss auch alle Arten
von geeigneten Hilfsmitteln entwickeln, um anderen Wesen zu helfen, selber zu erwachen.
Wenn ein Bodhisattva diese Qualitäten völlig entwickelt hat, wird er ein vollkommener,
vollständiger Buddha. Aber schon die einfache Tatsache, jeden Tag die vier Bodhisattva-Gelübde
auszusprechen, bedeutet, das Erwachen Buddhas völlig auszudrücken und zu realisieren.
Diejenigen, die sich diesem Weg ganz widmen möchten, bitten vielleicht darum, Mönch oder
Nonne zu werden. Aber Mönche, Nonnen und Bodhisattvas haben auf jeden Fall dasselbe Ideal,
dieselbe Praxis und ein Leben, das durch die Gelübde angeregt wird und in der Zazen-Praxis
verwurzelt ist. Ich wünsche jedem von uns, dass wir dies weiter praktizieren und verwirklichen.

Veröffentlicht in Roland.