Leben, Tod, Karma – 05.2004 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 15. – 23. Mai 2004
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

Samstag, 15. Mai 2004, 7.30 Uhr
Konzentriert euch von Beginn des Zazen an auf die wichtigen Punkte eurer Haltung. Bei jedem
Zazen so, als ob es das erste mal wäre, auch nach 20 Jahren Zazen, nach 30 Jahren. Die Praxis
muss immer frisch und neu sein. Zazen praktizieren heißt, ständig zum hier und jetzt unseres
Lebens zurückzukehren. Dazu ist es wesentlich, in Einheit mit seinem Körper zu sein, indem
man gut das Becken nach vorne neigt und mit den Knien fest in den Boden drückt, ohne eine
willentliche Anstrengung zu machen, nur dank der richtigen Höhe des Zafus.
Wenn ihr eine muskuläre Anstrengung in der Nierengegend machen müsst, müsst ihr das Zafu
erhöhen. Dann entspannt gut den Bauch und lasst euer Körpergewicht auf das Zafu drücken.
Setzt euch so hinsetzt, als ob ihr wolltet, dass der Anus das Zafu nicht berührt. Ausgehend von
dieser stabilen Basis des Sitzens streckt man gut die Wirbelsäule, indem man alle Spannungen
des Rückens loslässt.
Das Kinn ist zurückgezogen, und man streckt den Nacken, so als wolle man mit dem
Scheitelpunkt des Kopfes in den Himmel drücken. Die Schultern sind entspannt. Man muss den
richtigen Tonus finden, weder zuviel Anspannung noch zuviel Entspannung. Das Gesicht ist gut
entspannt, der Blick ist direkt vor einem auf den Boden gerichtet. Vermeidet es, die Augen zu
schließen, weil man dann ganz schnell einschläft. Man darf aber auch nicht durch die visuellen
Reize um einen herum gestört sein. Man sieht nur das, was vor einem ist, ohne sich daran zu
klammern. Genauso sieht man Gedanken, Empfindungen, Gefühle auftauchen, ohne sich ihnen
zu verhaften. Man wird sich ihrer für einen Augenblick bewusst und lässt sie vorbeiziehen.
Schließlich richtet man seine Aufmerksamkeit auf die Haltung der Hände. Die linke Hand liegt
in der rechten Hand, die Daumen sind waagerecht, die Handkanten in Kontakt mit dem
Unterbauch. In dieser Haltung fabrizieren die Hände nichts, ergreifen nichts. Auch wenn sie
konzentriert sind, miteinander in Kontakt, bleiben sie dennoch geöffnet. Diese Haltung heißt
Hokaijoin. Hokai bedeutet ‚Ozean des Dharma’. Das heißt, das ganze Universum, alle
Erscheinungen drücken das Dharma Buddhas aus – und umgekehrt. Join ist das Siegel.
Wenn man sich so auf die Hände konzentriert, beruhigt sich der dualistische Geist. Man folgt
nicht seinen Gedanken, man haftet nicht an ihnen. Man gibt sogar alle Absichten auf. Man ist nur
in Haltung und Atmung gegenwärtig. Letztlich denkt man nicht einmal mehr an Haltung und
Atmung. Man wird nur noch Körper-Geist, der in Zazen sitzt. Es gibt einen Körper und einen
Geist in Zazen, aber ohne Ego, ohne Absicht, ohne Anhaftung an den Gedanken „Nun mache ich
Zazen“, ohne die Absicht irgend etwas besonderes durch Zazen zu erlangen, ohne Leere in
seinem Geist herstellen oder nicht mehr denken zu wollen.
In diesem Moment gibt es keine Trennung mehr zwischen sich selbst und Zazen, zwischen sich
selbst in Zazen und dem gesamten Universum. Der Geist der Trennung ist aufgegeben. So wird
der Geist friedlich, ohne etwas zu ergreifen oder zurückzuweisen. Wenn man so praktiziert, wird
die Praxis selbst die Verwirklichung des Weges. Sie ist keine Übung.
Diese Art und Weise, in Einheit mit unserer augenblicklichen Wirklichkeit zu sein, kann
während des ganzen Sesshin andauern, während jedem Moment unseres täglichen Lebens. Das
ist der Sinn unserer Praxis. Wenn man dies durch Denken verwirklichen möchte, ist das nicht
möglich. Doch indem man einfach mit seiner Haltung und seiner Atmung vertraut wird,
verwirklicht es sich unbewusst und natürlich. Jeder Augenblick der Praxis wird zur
vollkommenen Verwirklichung, es gibt nichts darüber hinaus zu erwarten. Die Praxis wird in
sich selbst vollständig. Es gibt nichts außerhalb der Praxis, alles wird zur Praxis. So kann man
selbst die Praxis vergessen. Wenn alles zur Praxis wird, gibt es keine Praxis mehr. Nur das
Leben in Harmonie mit unserer Wirklichkeit jeden Augenblicks.

Samstag, 15. Mai 2004, 16.30 Uhr
Mondo
F: Im Atelier über das Thema ‚Leben und Tod’ haben wir über einen Text von Dogen
gesprochen. Er warnt uns davor, in die Falle von Leben und Tod zu gehen. Wir dachten, nicht
in den Dualismus zu fallen bedeutet, Leben und Tod nicht einander gegenüber zu stellen,
sondern vielmehr, Leben und Tod als etwas zu betrachten, das ein Ganzes bildet.
RR: Ja, das ist richtig. Leben impliziert Tod. Das Kanji Sho von Shoji bedeutet zugleich Leben,
aber auch Geburt. Geboren zu werden hat als automatische Konsequenz, dass man eines
Tages sterben muss. Alle Wesen, die eine Geburt haben, haben einen Tod. In diesem Sinne
ergänzen sich beide, so wie es keinen Tag ohne Nacht gibt, keine Nacht ohne Tag. Wenn
man akzeptiert, geboren zu werden – und vom buddhistischen Standpunkt aus gesehen sind
wir normalerweise für unsere Geburt verantwortlich -, impliziert das, zu akzeptieren, dass
man stirbt, denn man kann nicht nur geboren werden wollen – leben und nicht sterben -,
denn beide sind völlig miteinander verbunden.
Der Weg Buddhas bestand in der Suche danach, nicht zu sterben, d.h. nicht geboren zu
werden, um das Leiden zu vermeiden. Die einzige Lösung dafür, nicht Unbeständigkeit
Alter und Tod erdulden zu müssen, ist nicht geboren zu werden. Wenn man geboren wird,
ist es sicher, dass man altern wird, krank werden und sterben wird.
In seinem Erwachen hat Buddha das verwirklicht, was man später die Nicht-Geburt genannt
hat, die Erfahrung der Nicht-Geburt. Diese Erfahrung der Nicht-Geburt ist die Erfahrung der
Tatsache, dass es in Wirklichkeit kein Ego gibt, das geboren wird, kein substantielles Ego,
auch wenn es Elemente gibt, Aggregatzustände, die sich vereinigen und ein Neugeborenes
bilden. Wenn es ein relatives Ego gibt, d.h. man sich mit der Zeit bestimmte Verhaltensweisen
aneignet, eine bestimmten Identitätsauffassung entwickelt, so liegt das bereits in der
Sprache: Man gewöhnt sich an, ‚ich’, ‚mir’ zu sagen und glaubt schließlich, dass dies einem
speziellen Wesen entspricht.
Die Praxis von Zazen bedeutet zu realisieren, dass es im Grunde, in Wirklichkeit, kein Ego
gibt, d.h. den Zustand der Nicht-Geburt, der Nicht-Getrenntheit zu realisieren. Diesen
Zustand der Nicht-Geburt, den man in Zazen erfahren kann, wenn man sich nicht mit seinen
Gedanken identifiziert, mit den Ideen, die man sich über sich selbst macht, nennt Buddha
Nirvana.
Das zentrale Thema des Kapitels Shoji des Shobogenzo ist nicht die Dualität von Leben und
Tod, es ist die Dualität zwischen Leben und Tod, d.h. dem Samsara, einerseits und dem
Nirvana andererseits, der Prozess von Samsara und von Nirvana.
Natürlich könnt ihr euch in dem Atelier Fragen über Leben und Tod stellen. Aber das
zentrale Thema ist LebenundTod bezogen auf die Befreiung, das Erwachen, das Nirvana.
Sich von beidem zu befreien, sowohl von Geburt als auch von Tod, über Geburt und Tod
hinauszugehen.
F: Wir haben uns gefragt, ob die Antwort darauf nicht wäre, dass, wenn man im Leben ist, man
ausschließlich im Leben ist, wenn man im Tod ist, man ausschließlich im Tod ist, dass man
nichts anderes tun muss, als sich dem Tod zu stellen, ihn zu nehmen, wenn er kommt, ihn
akzeptieren.
RR: Ja, das ist die Art, jenseits aller Dualität zu praktizieren, eins mit der Wirklichkeit jeden
Augenblicks zu werden. Das Leiden des Samsara liegt darin, dass man auf eine dualistische
Funktionsweise des Geistes zentriert ist: Man hat etwas und hat Angst, es zu verlieren. Man
hat etwas nicht und will es erhalten. Man lebt, aber man denkt an den Tod, hat Angst zu
sterben. Man ist immer in Sorge, etwas zu verlieren, weil man zu stark anhaftet und nicht
realisiert hat, dass es im Grunde nichts gibt, das man ergreifen kann, nichts, das man
verlieren kann.
Das ist die absolute Wirklichkeit. Man muss gut verstehen, dass es immer zwei Ebenen des
Verstehens gibt: Auf der relativen Ebene kann man natürlich etwas verlieren, jeder macht
die Erfahrung von Verlust. Aber auf einer absolute Ebene gibt es keinen wirklichen Besitz,
also ist auch kein Verlust möglich.
Die Unterweisung Dogens in Bezug auf den Verlust des Lebens, die wichtigste Sorge des
Menschen – und das war bereits die Unterweisung Buddhas -, ist, nicht so sehr an den Tod
zu denken, sondern sich vielmehr, indem man sich bewusst wird, dass man sterblich ist, auf
das Leben in jedem Augenblick zu konzentrieren, jeden Augenblick des Lebens absolut zu
machen.
Sich ab und zu daran zu erinnern, dass man sterblich ist, dass man sterben wird, ist
stimulierend. Das ist ein bisschen wie der Kyosaku im Zazen. Das bedeutet, nicht zu sehr an
das zu klammern, was unbeständig ist, sondern im Gegenteil das zu praktizieren, was
wichtig ist, d.h. ganz jeden Augenblick in einer vollkommenen Einheit zu leben, ohne an
davor, an danach, an woanders zu denken.
F: Aber ist das nicht eine Dualität?
RR: Nein. Aber wenn man es erklärt, wird alles dualistisch durch die Erklärungen,
zwangsläufig, weil man Worte benutzt. In der Praxis ist es kein Dualismus, es ist eine
Erfahrung. Alle Zen-Meister – und Dogen ganz besonders – stellen nicht so sehr Theorien
auf, sie laden dazu ein, Erfahrungen zu machen. Dogens Unterweisung ist sehr einfach:
„Wenn ihr lebt, lebt vollständig. Wenn der Moment des Sterbens kommt, sterbt.“ Punkt.
In der Erfahrung gibt es keine Dualität. Aber wenn man anfängt darüber nachzudenken, wie
du es machst, ist das Denken zwangsläufig dualistisch. Deshalb ist die Befreiung ausgehend
vom Mentalen nicht möglich. Erklärungen zeigen lediglich eine Richtung für die Praxis.

Sonntag, 16. Mai 2004, 7.30 Uhr
Statt seinen Gedanken zu folgen, folgt man während Zazen seiner Atmung. Beobachtet, wie ihr
atmet, und folgt aufmerksam dem Fluß der Luft, die durch die Nasenlöcher ein- und ausströmt.
Meister Deshimaru hat eine besondere Art unterwiesen, sich auf die Atmung zu konzentrieren,
die darin besteht, bis ans Ende jeder Ausatmung zu gehen, indem man gut auf die Eingeweide
nach unten drückt, ohne den Bauch einzuziehen. Das erlaubt es, die Energie im Hara zu
konzentrieren und schnell die geistige Aktivität zu stabilisieren, die Gefühle zu befrieden, die
Gedanken zu beruhigen.
Manchmal ist es schwierig, auf diese Weise zu atmen, wenn man Blockaden hat. In diesem Fall
ist man einfach aufmerksam auf die Wahrnehmung der Luft, die durch die Nasenlöcher strömt.
So entspannen sich Körper und Geist ganz natürlich und schließlich vertieft sich die Atmung auf
natürliche Weise. Das ist weniger schnell, als wenn man sich willentlich auf die Ausatmung
konzentriert. Aber man ist nicht gezwungen, die Kraft seines Willens zu benutzen.
In Zazen ist es wichtig, letztlich alle Absichten aufzugeben, alle Gegenstände. Wenn ihr euch für
einen kurzen Augenblick auf die Ausatmung konzentriert, indem ihr gut auf die Eingeweide
nach unten drückt, um die Empfindung der Stabilität zu finden, dann gebt anschließend selbst
diese Bemühung auf. Gebt euch einfach damit zufrieden, zu beobachten, was natürlicherweise
während der Atmung passiert, und gebt dann auch diese Beobachtung auf und seid einfach dieser
Körper und dieser Geist, der atmet, ohne Trennungen zu schaffen, indem ihr euer eigenes Ego in
der Atmung aufgebt, das heißt, den Willen aufgebt, ein bestimmtes Ergebnis erzielen zu wollen,
einfach gegenwärtig seid in dem, was jeden Augenblick passiert.
Wie dem auch sei, weder ergreift man seine Gedanken, noch widersetzt man sich ihnen. Das ist
die grundlegende Haltung von Zazen: die Befreiung von allem Ergreifen und von allem
Zurückweisen. Das ist genau das, was der Buddha als Nirvana bezeichnet hat – der Friede des
Geistes. Von Gier und Hass befreit zu sein, ermöglicht es, dieses Nirvana, diesen inneren
Frieden inmitten von Shoji, von Leben und Tod, zu realisieren, inmitten der Welt der
Phänomene, in der Geburt und Tod ohne Unterlass aufeinander folgen. Ohne sich an das
Erscheinen zu klammern, ohne das Verschwinden zu bedauern. Selbst wenn eine Anhaftung oder
ein Bedauern auftauchen, sieht man dies einfach nur und akzeptiert es als das, was es ist, ohne
sich daran zu haften, und ohne es zu bedauern. So kann sich unsere Sicht klären. Man kann
aufnahmefähig für die Wahrheit werden, die sich überall manifestiert.
Das veranlasste Meister Wanshi zu sagen, dass die vollkommene Sicht keine Trennung schafft.
Dann kann man realisieren, dass die Berge, die Prärien, die Wälder schon immer die Wahrheit
dargelegt haben. Indem man für diese Unterweisung, die sich überall manifestiert,
aufnahmebereit ist, kann man verstehen, dass sie wie die Stimme Buddhas ist, die niemals
schweigt, die sich überall ausdrückt: in der Bewegung der Bäume, die sich im Wind wiegen, in
den Blüten der Bäume des Frühlings. Alles drückt die Wirklichkeit aus, so wie sie ist.
Das ist es, womit uns die Praxis von Zazen ganz vertraut in Kontakt bringt.

Sonntag, 16. Mai 2004, 16.30 Uhr
Laßt während Zazen die Augen gut geöffnet. Der Blick einfach ruht vor einem auf dem Boden.
Man versucht nicht, die visuellen Gegenstände um sich herum zu unterdrücken. Man
konzentriert sich einfach darauf zu sehen, was ist, ohne dabei von den Objekten gestört zu
werden, aber auch ohne von ihnen angezogen zu sein. Das gleiche gilt für die Geräusche: Man
verhaftet sich nicht dem Gesang der Vögel, man läßt sich auch nicht von den Geräuschen seiner
Nachbarn stören. Man schaut natürlich auch nicht aus dem Fenster, um die Landschaft zu
bewundern.
Das bedeutet, die Funktionsweise unseres persönlichen Bewusstseins, unseres egoistischen
Bewusstseins aufzugeben. Man unterhält sie nicht. So wird keinerlei Trennung geschaffen. Der
Geist in Zazen ist ohne Dualität. Das ist wie das, was ich über die Haltung gesagt habe: Es bin
nicht ich, der sich auf die Haltung konzentriert, und die Haltung ist nicht der Gegenstand meiner
Konzentration. In Zazen wird man vollständig dieser Körper und Geist in Einheit in der Haltung.
Man atmet tief ein und aus. Man kann sagen, dass man eingeatmet und ausgeatmet wird: Es gibt
kein Ego, das einatmet und ausatmet. Das Ego ist in der Praxis aufgegeben, es ist von der Praxis
aufgesaugt, absorbiert. So kann die Welt ohne Trennung, ohne Dualität entstehen, ganz natürlich.
Das ist nichts Abstraktes, keine Idee. Es ist genau die Erfahrung der Praxis hier und jetzt.
Wanshi sagt: “Die Sinne und die Gegenstände verschmelzen. Prinzip und Weisheit sind Einheit.“
Wenn dieser Geist im täglichen Leben genauso funktioniert, wenn man etwas anschaut, zum
Beispiel eine Blume oder einen Baum, kann man diese Blume oder dieser Baum werden. Vor
allem, wenn man einer Person begegnet, kann man diese Person werden. Das geschieht, wenn
der Geist, der sich trennt, der sich entgegensetzt, aufgegeben wird.
Jeder hat bereits diese Erfahrung bei der Geburt gemacht: In den ersten Tagen, den ersten
Wochen unseres Lebens schaffen wir keine Trennung zwischen uns selbst und den anderen.
Dann hat man gelernt, man selbst zu werden, getrennt zu sein und man hat den Aspekt der Nicht-
Getrenntheit, der Einheit vergessen. Indem man Zazen praktiziert, kann man diese Dimension
der Nicht-Getrenntheit wiederfinden, ohne dabei seine eigene Identität zu verlieren. Man kann
sie einfach frei aufgeben. So sind Weisheit und Prinzip Einheit.
Das Prinzip ist das, was unser Leben begründet: In Wirklichkeit sind wir von nichts getrennt.
Wir leben in wechselseitiger Abhängigkeit mit allen Wesen. Das ist das grundlegende Prinzip
des Buddhismus und unseres Lebens. Weisheit besteht darin, sich ganz konkret, sich wirklich
damit zu harmonisieren, nicht nur ein Prinzip daraus zu machen. Dann wird es zur gelebten
Realität unserer Existenz. So wie Wanshi sagt: „Man selbst und die anderen sind ähnlich. Geist
und Dharmas werden eins.“ Das bedeutet, der grundlegenden Erfahrung unseres Lebens zu
begegnen. Das ist etwas, das wir seit langem vermieden haben, weil wir zu sehr damit
beschäftigt waren, unser kleines Ego zu stärken.
Zazen konfrontiert uns mit dem, was wir lange vermieden, was wir zurückgewiesen haben. Weil
es unsere vertraute tiefe Wirklichkeit ist, ist es, wenn wir sie akzeptieren, wirklich so, wie nach
Hause zu kommen.

Mondo
F: Man sagt dass während der Nonnen- und Mönchsordination das Karma abgeschnitten wird.
Was bedeutet das, und wie kann ich das im täglichen Leben erkennen?
RR: Das heißt, dass ausgehend von der Mönchs- oder Nonnenordination die Praxis des Weges
das Motiv unserer Handlungen, die Wurzel unseres Lebens sein wird. Das ist die Bedeutung
des Gelübdes, Nonne zu sein. Es sind nicht mehr die Wünsche unseres Egos, die das Karma
schaffen, sondern es ist Bodaishin, der Geist des Weg, der zum Steuer wird. Das ist es, was
das Karma abschneidet, dieses Gelübde, diese Entscheidung.
Unglücklicherweise funktioniert das nicht hundertprozentig: Selbst wenn man die
Ordination empfangen und dieses Gelübde abgelegt hat, behält man trotzdem einen Rest
von Anhaftungen und Konditionierungen; unser Ego erwartet, fordert weiterhin
Belohnungen und Befriedigungen. Also kann man, selbst wenn man Mönch oder Nonne ist,
neues Karma schaffen. Das stellt man jeden Tag fest. Aber das ist normalerweise nicht mehr
das, was unser Leben in erster Linie lenkt.
Darüber hinaus ist es Teil unserer Praxis, selbst wenn man weiterhin Wünsche und
Aversionen hat und dies neues Karma schafft, sich dessen bewusst zu werden und das, was
geschieht, umzuwandeln. So können sogar Illusionen und Fehler zur Gelegenheit werden zu
erwachen. Aber man muss sich natürlich daran erinnern, dass es unser Gelübde ist, unser
Leben zur Praxis des Weges zu machen. Man lebt weiterhin in dieser Welt des Egos, in
dieser Welt des Karmas, aber man erhellt sie. Es gibt immer dieses Bewusstsein, das das
erhellt, was passiert. Das verhindert normalerweise, dass man zu sehr von den Phänomenen
angetrieben wird. Normalerweise… Aber das ist nicht immer so. Das ist keine
hundertprozentige Versicherung.
Doch selbst wenn man sich täuscht, hat man trotzdem einen Orientierungspunkt, um sich
dessen bewusst zu werden, dass man sich getäuscht hat. Wohingegen es in den meisten
Fällen für gewöhnliche Leute diese Orientierung nicht gibt. Für sie ist die Täuschung die
Wahrheit. Es gibt keinen Irrtum, da ihre einzige Perspektive darin besteht, ihre egoistischen
Wünsche zu befriedigen. Das ist die Normalität der meisten Leute. Es gibt also für die
gewöhnlichen Leute keine Irrtümer. Sie sind sich dessen nicht bewusst, dass sie sich irren.
Es sind nur die Folgen des Karmas – das Leiden, das entsteht – die sie bewusst werden
lassen, dass sie vielleicht einen Fehler gemacht haben.
Aber wenn man Mönch oder Nonne ist, muss man nicht auf die Leiden warten, um sich
dessen bewusst zu werden, dass man einen falschen Weg gegangen ist. – Normalerweise.
Das ist natürlich das Ideal, in der Praxis sieht das sicherlich anders aus. Das funktioniert
nicht immer so wunderbar. Aber das ist die Richtung.
F: Das betrifft das zukünftige Karma, aber was ist mit dem alten Karma?
RR: An dem vergangenen Karma kann man nichts machen. Man kann das vergangene Karma
nicht ändern. Was man machen kann, ist, die Konsequenzen dieses Karmas zu verändern.
Das, was man die Ergebnisse oder die Früchte des Karmas nennt, kann man verändern.
Aber das alte Karma an sich, das, was passiert ist, kann man nicht mehr verändern. In der
Unterweisung Buddhas sind die Wirkungen des Karmas nichts Unausweichliches. Sie
können durch die Praxis verändert werden. Das ist kein Automatismus. Wenn man sich auf
die Praxis des Weges, die Gebote, die Paramita konzentriert, sind die schlechten Effekte
des schlechten vergangenen Karmas vermindert.
F: Es ist zwei Jahre her, dass ich das erste Sesshin gemacht habe. Neun Tage danach habe ich
bemerkt, dass sich etwas verändert hatte. Ich habe bemerkt, dass es einen Pfad zurück in
meine Vergangenheit, in meine Jugend gab. Bis zu diesem Zeitpunkt war es für mich nicht
möglich zurückzugehen. Ich habe diesen Pfad gefunden und konnte wieder erleben, wie es
war. Das war positiv für mich. Aber gestern habe ich gehört, dass du gesagt hast, dass jeder
Mensch für alles verantwortlich ist, was in seinem Leben passiert, selbst für Dinge, die in der
Jugend geschehen sind. Es fällt mir schwer, das zu akzeptieren, weil ich zurückschauen kann
auf das, was passiert ist. Ich kann damit etwas Positives machen, aber ich bin nicht
verantwortlich dafür. Das geht mir einfach zu weit. Meine Frage ist: Habe ich das richtig
verstanden?
RR: Die Dinge, die einem Kind passiert sind, hat das Kind häufig nicht gewollt, hat sie nicht
wirklich bewusst ausgewählt. Aber auf dem Weg Buddhas denkt man, dass es nicht nur ein
Leben gibt. Da liegt das Problem. Das heißt, dass selbst der Ort unserer Geburt, die Familie,
in die man geboren wird, mit den Vorteilen dieser Geburt, aber auch mit ihren Nachteilen,
Frucht eines vorangegangenen Karmas ist. Aber es ist nicht das Kind selbst, das für seine
Geburt verantwortlich ist, sondern das Wesen, das dieser Geburt vorangegangen ist, dessen
Fortsetzung die Geburt ist.
Es ist so, dass man erst ab dem Alter, wo man den Verstand entwickelt hat, entsprechend die
Verantwortung für seine Handlungen und ihre Wirkungen übernehmen und damit
entscheiden kann, etwas zu verändern oder sich etwas zu widersetzen. Vom Standpunkt der
Unterweisung Buddhas aus muss man sich seiner selbst und der Konsequenzen seiner
Handlungen bewusst sein, um verantwortlich zu sein.
Ein kleines Kind, ein Säugling, besitzt dieses Bewusstsein nicht. Darüber hinaus kann ein
Kind auch Handlungen von Erwachsenen erleiden, ohne etwas gegen sie machen zu können,
weil es zu schwach ist. Natürlich ist es nicht für die Handlungen der Erwachsenen ihm
gegenüber verantwortlich.
Wenn ich also von der Verantwortung für unser Leben gesprochen habe, dann wollte ich
einfach sagen, dass unser Leben nicht mit unserer Geburt beginnt und dass diese Geburt das
Resultat eines vergangenen Karmas ist. Unsere Verantwortung in diesem Leben besteht
darin, diese Situation umzuwandeln; gegebenenfalls, indem wir in eine Praxis wie die des
Zen eintreten.
F: Hat Buddha selbst schon von Karma gesprochen, oder kam das erst später dazu?
RR: Nein, er hat nicht nur davon gesprochen, sondern es ist sogar Teil seines eigenen
Erwachens. Er hat viele Male davon gesprochen, wie die Nacht verlaufen ist, in der er das
Erwachen erlebt hat.
F: Für mich ist die Idee des Karma neu und schwer zu akzeptieren und auch zu verstehen.
RR: Das stimmt, es ist schwer. Aber diese Idee nicht zu akzeptieren, macht die Dinge noch
schwieriger!
F: Danke.

Montag, 17. Mai 2004, 7.00 Uhr
Vergeudet während Zazen nicht eure Zeit damit, eure Gedanken wiederzukäuen. Meister
Deshimaru sagte uns immer: „Ihr müsst Zazen so praktizieren, als ob ihr euch in euren Sarg
legen würdet.“ Wenn man in diesem Bewusstsein praktiziert, wird man sicherlich keine Zeit
damit verlieren, Anhaftungen zu unterhalten, die man auf jeden Fall bald aufgeben muss. Bevor
man stirbt, konzentriert man sich darauf, das zu realisieren, was zu realisieren wichtig ist.
Einige Monate bevor er starb, sprach Meister Deshimaru sehr viel von der Nicht-Angst. Als ich
ihn 1972 das erste Mal traf, sprach er von der Angst. Er sagte: „Ihr müsst Angst vor der
kosmischen Ordnung haben, Angst davor, ihr nicht zu folgen, euch nicht mit der Realität zu
harmonisieren.“ Aber bevor er starb, sprach er vor allem von der Nicht-Angst. Da das Thema der
Workshops in diesem Frühjahrslager den Tod betrifft, möchte ich gerne über die Unterweisung
von Shakyamuni über den Tod sprechen. Die erste betrifft das Thema der Angst. Bestimmt ist
das ein Thema, das jeden betrifft.
Eines Tages suchte ein Brahmane den Buddha auf. Er sagte zu ihm: „Unter den Menschen, die
dem Tod verfallen sind, gibt es niemanden, der keine Angst hätte, wenn er an den Tod denkt.“ –
Der Buddha antwortete ihm: „Ich stimme Ihnen nicht zu. Das ist nicht wahr. Unter den
Sterblichen gibt es Wesen, die keine Angst vor dem Tod haben. – Aber lasst uns zunächst
betrachten, wer diejenigen sind, die Angst vor dem Tod haben.“
Er spricht von vier Gruppen von Menschen, die Angst vor dem Tod haben. Zunächst gibt es
diejenigen, die nicht von ihren Leidenschaften und Wünschen befreit sind. Wenn sie eine
schwere Krankheit bekommen, denken diese Personen: ‚Meine Leidenschaften, die ich so geliebt
habe, werden sich von mir trennen. Die Wünsche, die ich hatte, kann ich nicht mehr unterhalten,
nicht mehr verwirklichen.’ Indem sie so an ihre Leidenschaften und Wünsche denken, werden
sie traurig, beklagen sich und bekommen Angst.
Das Gleiche gilt für diejenigen, die nicht frei von Wünschen bezüglich ihres Körpers sind. Wenn
sie eine schwere Krankheit bekommen, beklagen sie sich und bekommen Angst. Sie denken:
‚Dieser Körper, den ich derart geliebt habe, wird sich bald von mir trennen.’ Außerdem leiden
diese Menschen bereits aufgrund ihrer Krankheit an ihrem Körper. Also trauern sie der Zeit
nach, in der ihr Körper sich guter Gesundheit erfreute. Sie können die gegenwärtige Situation
nicht akzeptieren, weil sie ihrem eigenen Körper stark verhaftet sind.
Dann gibt Menschen, die nicht die rechten Handlungen begannen haben. Sie haben z.B. nicht
den Personen geholfen, denen sie hätten helfen können. Sie haben nicht die Handlungen
begannen, die sie hätten begehen sollen. Sie haben ihre Zeit damit verloren, unnütze Handlungen
zu begehen, z.B. Reichtum, Ehre, unnützes Wissen anzuhäufen. Sie haben sogar grausame Taten
begangen, die andere Leute haben leiden lassen. Kurz, sie haben das gemacht, was sie nicht
hätten machen sollen, und nicht das gemacht, was sie hätten machen sollen. Wenn diese Leute
glauben, dass sie bald sterben werden, sind sie natürlich voller Bedauern und Ängste.
Letztlich gibt es die Menschen, die im Zweifel sind, denen es nicht gelungen ist, das Erwachen
zu realisieren, zur Wirklichkeit, so wie sie ist, zu erwachen. Wenn sie spüren, dass sie bald
sterben werden, sind auch sie voller Bedauern, dass sie nicht die Wahrheit in ihrem Leben
realisiert haben, dass sie mit all ihren Zweifeln werden sterben müssen.
Das sind die Menschen, die eine sehr große Angst vor dem Tod haben.
Das heißt aber umgekehrt, dass es andere Menschen gibt, die keine Angst vor dem Tod haben.
Das sind offensichtlich diejenigen, die die entgegengesetzte Haltung realisiert haben. Diesen
Punkt unterstreicht Buddha: Diejenigen, die sich von ihren Bonnos, von ihren Leidenschaften
und Wünschen befreit haben, beklagen sich nicht, wenn sie sehr krank werden und spüren, dass
sie sterben müssen. Sie haben keine Angst davor, den Gegenstand ihrer Leidenschaften und
Wünsche zu verlieren.
Ebenso werden die, die frei von der Anhaftung an ihren eigenen Körper sind, nicht von der Idee
geängstigt, den Körper, den sie so sehr geliebt haben, zu verlieren.
Genauso ergeht es denen, die immer die rechten Handlungen begannen haben, die den anderen
geholfen haben, die kein Leiden um sich herum geschaffen haben. Diese Personen können ohne
Bedauern und ohne Angst sterben.
Auch diejenigen, die das Erwachen realisiert haben und zur Wahrheit erwacht sind, die all ihre
Zweifel aufgegeben und ein tiefes Vertrauen realisiert haben, das auf ihren Erfahrungen beruht,
haben keine Angst vor dem Tod.
All diese Personen können dem Tod mit Vertrauen entgegentreten, mit großem Frieden des
Geistes, weil sie sich nicht sagen: ‚Es ist zu früh. Ich habe noch zu viele Wünsche zu
verwirklichen, zu viele Dinge zu verstehen, muss noch falsche Handlungen korrigieren.’ Diese
Personen sind bereit, sich sofort in ihren Sarg zu legen. Ohne Angst, ohne Bedauern.
Selbstverständlich ist es besser, nicht auf den Moment des Sterbens zu warten, um diesen
Zustand zu realisieren. Deshalb hat uns Meister Deshimaru sehr oft daran erinnert, Zazen so zu
praktizieren, als ob wir uns in unseren Sarg legen würden. Und Kodo Sawaki empfahl, so zu
leben, als wenn man sterben würde, sodass man, wenn man stirbt, nicht bedauern muss, nicht das
praktiziert zu haben, was man hätte praktizieren sollen, und nicht das vermieden zu haben, was
man hätte vermeiden sollen.
In der Unterweisung Buddhas, in der Unterweisung des Zen gründet die Nicht-Angst vor dem
Tod nicht auf einem Glauben an etwas, was nach dem Tod kommt, sondern sie basiert darauf,
jeden Tag ein rechtes Leben zu führen., So wird der Gedanke an den Tod – statt Ursache von
Angst zu sein – zur Stimulation für eine rechte Praxis, ein rechtes Leben, wird zur Quelle des
Lebens.

Montag, 17. Mai 2004, 16.30 Uhr
Während Zazen ist unser Geist häufig wie der eines Insektes, das herumfliegt und sich
schließlich auf etwas setzt, statt kehrt zu machen und direkt durch die große, offene Tür nach
draußen zu fliegen, die in die Natur führt. Für das Insekt wäre das seine Befreiung. Deshalb muß
es aufhören, sich ständig auf etwas niederlassen zu wollen.
Einige erhoffen durch Zazen einen besonderen Geisteszustand erlangen zu können, die
Erinnerungen an ihre Kindheit wieder zu finden, besser ihre Wünsche, ihre Motivation zu
erkennen, besser ihr Ego zu erkennen, das Mittel zu finden, um es im Leben besser zu
befriedigen. Andere suchen besondere spirituelle Zustände in der Hoffnung, sich auf etwas
ausruhen zu können. Demgegenüber ist der wahre Geist, der in Zazen zu verwirklichen ist, ein
Geist, der auf nichts stehen bleibt, der nichts erwartet und der nichts zurückweist. Das ist vor
allem ein Geist, der wirklich von den Sorgen unseres Ego befreit ist. Das bedeutet, Zazen nicht
für dessen Befriedigung zu benutzen, sondern den Zustand zu entdecken, der frei von diesem
Ego ist.
So hat Buddha Shakyamuni einem Laienschüler empfohlen, einen anderen Schüler zu begleiten,
der krank war und kurz vor dem Tod stand. Der Laienschüler war gekommen, um Buddha um
Rat zu fragen. Buddha sagte ihm zunächst, dass es vier Arten von Trost gibt, mit denen er helfen
kann:
 Zunächst das heitere Vertrauen in Buddha zu bewahren. – Im Zen würde man nicht nur
sagen, in Buddha Shakyamuni, sondern in unsere wahre Buddhanatur.
 Weiterhin Vertrauen in das Dharma zu bewahren. Das erlaubt es, sich augenblicklich von
allen Leiden zu befreien.
 Ebenso das Vertrauen in die Sangha zu bewahren, in die Gemeinschaft.
 Und da es sich um einen Laienschüler handelte, auch das Vertrauen in die Gebote zu
bewahren, die er bis zu diesem Augenblick beschützt hat.
Das erlaubt es, den Geist in Frieden zu halten und die rechte Konzentration zu finden.
„Wenn dieser Laienschüler sich Sorgen um seine Angehörigen, seine Frau, seine Kinder, seine
Eltern macht, müsst Ihr ihm sagen, dass seine Sorgen nichts nützen, dass sie weder seiner
Familie helfen, noch ihn daran hindern wird zu sterben. Also soll er so gut wie möglich
versuchen, alle Sorgen aufzugeben.“
All diese Empfehlungen richten sich natürlich nicht nur an Sterbende. Das bedeutet
beispielsweise, sich nicht unnötig Sorgen zu machen. Es gibt Leute die sind ständig wegen allem
möglichen beunruhigt. Richtig ist es, sich nur um das Sorgen zu machen, was zu verändern in
unserer Macht steht, und sich wahrhaft darauf zu konzentrieren, aber sich nicht unnötig
beunruhigen.
„Wenn Ihr dann bemerkt,“ fährt Buddha fort, „dass dieser Schüler immer noch an seinen
Wünschen haftet, an den Sinnesfreuden, müsst Ihr ihm sagen, dass das Glück der himmlischen
Zustände unendlich viel höher ist als all diese Sinnesfreuden. So konzentriert sich der Schüler
darauf, diese verschiedenen Zustände der Glückseligkeit, die verschiedenen himmlischen
Zustände zu realisieren. Wenn er sie schließlich erreicht, müßt Ihr ihm sagen, dass diese
Zustände selbst völlig unbeständig sind.“
Natürlich sind sie den einfachen Sinnesfreuden vorzuziehen, aber sie sind ebenfalls unbeständig.
Man kann sich nicht auf diese Zuständen stützen, nicht in ihnen verweilen. Das gleiche gilt für
alle Zustände von Glückseligkeit, die manche in der Meditation realisieren.
Buddha schließt damit zu empfehlen, den Wunsch aufzugeben, diese Zustände zu erlangen, und
sich einfach nur darauf zu konzentrieren, das Ego aufzugeben. Nur dies. Das ist letztlich die
wichtigste Empfehlung Buddhas für die Begleitung dieses Sterbenden, die Anhaftung an seine
Individualität aufzugeben.
„Wenn er das realisiert,“ sagt der Buddha „unterscheidet sich dieser Laienschüler nicht mehr von
einem Mönch, der die große Befreiung verwirklicht hat.“
Diese Unterweisung Buddhas zur Begleitung eines Sterbenden zu verstehen, ist die beste
Begleitung für alle Lebenden, um das wahre Leben zu realisieren, das Leben jenseits der
Grenzen unseres kleinen Egos. Das ist es, was uns in unserem gesamten Leben, in unserer
ganzen Praxis begleiten soll und was es uns ermöglicht, die anderen wirklich zu begleiten, ihnen
wirklich zu helfen, nicht nur bestimmte Befriedigungen zu erlangen, sondern die große
Befreiung, die selbst über Glück und Unglück hinausgeht – jenseits aller unbeständigen
Zustände.

Mondo
F: In meiner Praxis habe ich eine Zeit lang den Eindruck gehabt, auf dem Weg zu sein, ohne
wirklich darauf zu sein, weil ich auf der Suche nach Verantwortlichkeiten war, nach
Anerkennung, nach Aufwertung. Es bedurfte dem Auftreten der Krankheit in meinem Leben,
dass ich mit der Zeit und mit deiner Hilfe das Leben sowohl in der Sangha wie auch das
gesellschaftliche Leben auf eine andere Art und Weise sehen konnte. Wir haben während des
Workshops die These aufgestellt, dass vielleicht Krisen, Krankheiten, Trennungen, Trauer,
Verluste eine offene Tür zum Leben hin sein können, zum Erwachen. Heute würde ich mein
Leben nicht gegen das Leben von vor einigen Jahren eintauschen. Ich möchte einfach wissen,
was du darüber denkst.
RR: Ich denke, dass das sehr gut ist. Das kann man eine gute Verwendung von Krisen nennen.
Ich denke, dass das für alle eine gute Lektion ist. Ich hoffe aber, dass nicht alle darauf
warten, eine schwere Krankheit zu bekommen, um dahin zu gelangen. Aber das ist ein sehr
schöner Beweis.
F: Kann man Verluste in allen Bereichen wirklich mit den Toden in seinem Leben gleichsetzten?
RR: Ja natürlich, es ist der Tod von etwas. Man hat an etwas gehaftet und verliert es, also kann
der Teil des Egos, der in das investiert hat, an dem man gehaftet hat, nicht mehr
funktionieren, kann nicht mehr existieren.
F: Kann das wirklich andauernd die offene Tür zu etwas anderem hin sein?
RR: Nein, nicht zwangsläufig. Es gibt Leute, die eine schwere Depressionen durchmachen und
sich umbringen. Es ist nicht unbedingt das Tor zur Befreiung. Deshalb ist es gut, dass so
etwas von einer Praxis des Weges begleitet wird und von der Hilfe eines Meisters oder von
jemandem, der dieser Person hilft.
Die meisten Leute sind deprimiert, wenn sie etwas verlieren, ihre Gesundheit, ihre Arbeit,
ihre Ehre, jemanden, den sie lieben, durch Tod oder Trennung. Die erste Reaktion ist häufig
eine Depression. Damit diese in eine Quelle des Erwachens umgewandelt werden kann,
muss es eine Praxis der Verwandlung geben, die es erlaubt, die Dinge anders zu sehen; eine
Praxis, die uns bewusst werden lässt, dass das, was wir verloren haben, dem wir nachtrauern
und von dem wir glauben, dass es die Bedingung für unser Wohlbefinden ist, etwas
sehr Unbeständiges, etwas sehr Relatives, sehr Unzuverlässiges war und nicht die wirkliche
Lösung, um den Frieden des Geistes zu finden. Nur ein Glück, das von nichts abhängt, ein
Glück, das nicht vom Haben abhängt, kann ein wahrhaft stabiles Glück sein. Häufig wird
man sich dessen erst bewusst, wenn man es verliert. Anfangs hat man kein Gefühl dafür,
dass es sich um etwas handelt, dem man nicht anhaften kann. Oft ist es der Verlust, der es
uns bewusst macht.
Wenn man beispielsweise dem Weg Buddhas folgt, sagt man sich anlässlich eines
Verlustes: „Ach, dann ist die Unterweisung Buddhas wirklich richtig!“ Das führt dazu, dass
man die Unterweisung des Loslassens vertieft und selbst loslassen möchte. Aber wenn
jemand sich nicht auf die Unterweisung Buddhas beziehen kann, wenn sein einziger Bezug
sein kleines Ego ist, das etwas behalten will, gibt es für ihn, wenn er etwas verliert, nichts
mehr und er ist deprimiert. Damit eine Krise Nutzen bringt – und das ist etwas sehr Tiefes,
sehr Wahres – ist es daher erforderlich, dass sie von einer Unterweisung, einer Praxis und,
wenn möglich, von einem Lehrer begleitet wird.
F: Vor zwei Tagen hast du von zwei Wirklichkeiten gesprochen, der einen, die relativ ist, und
der anderen, die absolut ist. In der relativen Wirklichkeit kann man erfahren, dass man sich an
etwas klammert und dass man jemanden verlieren kann. In der absoluten Wirklichkeit gibt es
keine Trennung. Wenn ich es richtig verstanden habe, ist die relative Wirklichkeit das, was wir
im Alltag erfahren. Aber ist die absolute Wirklichkeit dann eine Theorie?
RR: Nein, ganz und gar nicht. Man kann auch sie erfahren, aber von einem anderen Standpunkt,
dem Standpunkt der Leerheit aus. Das ist der Standpunkt, die Wirklichkeit so zu sehen, wie
sie im Grunde ist.
Zum Beispiel habe ich, seit ich klein bin, einen bestimmten Charakter entwickelt, bin eine
Person mit einer Geschichte. Also habe ich ein Ego. Das ist die relative Wirklichkeit und
tatsächlich hat in diesem Sinne jeder ein Ego, das er zu befriedigen, zu verteidigen, zu
bestätigen sucht. Man möchte als jemand Gutes anerkannt zu werde, zum Beispiel befördert
werden. Das ist der Narzissmus des Ego.
Aber wenn man auf den Grund schaut, sieht man, dass all das, was man “Ich“, “mein Ego“
nennt, nur geistige Konstrukte sind, Gedanken, die man unterhält, Ideen, die man sich über
sich selbst macht. Man versucht etwas zu erschaffen, das einigermaßen stabil scheint. Aber
wenn man die Wirklichkeit betrachtet, sieht man, dass es keine Substanz gibt. Das ist die
absolute Wirklichkeit, die tiefe, reale Wirklichkeit, die man intuitiv während der Praxis von
Zazen wahrnehmen kann.
Wenn ich mich in Zazen anschaue, kann ich kein Ego finden, kann ich keine Essenz meines
Egos finden. Es existiert nicht. Das ist die Unterweisung des Hannya Shingyo.
Natürlich gibt es den Körper, man hat Empfindungen, manchmal fühlt man sich wohl,
manchmal hat man Schmerzen in den Knien oder woanders, manchmal ist es still,
manchmal hört man ein Geräusch, ein Insekt, den Godo, der spricht, alle möglichen
Wahrnehmungen, Gedanken, Erinnerungen, Wünschen sind da. Alle diese Erscheinungen
tauchen auf und verschwinden ohne Unterlass. Man ist sich dessen bewusst und versucht, all
das zu vereinen, und sagt: „Das ist mein Ego. Ich bin jemand, der Empfindungen hat, der
dieses mag und jenes nicht, der so oder so denkt.“ – Relativ gesehen ist das richtig. Das ist
die Konstruktion unserer Persönlichkeit. Man konstruiert sich. Psychotherapien z.B. helfen
Menschen, sich zu konstruieren, eine möglichst genaue Vorstellung von sich zu bekommen,
in der Lage zu sein, ihre Wünsche zu erkennen und dahin zu kommen, sie mehr oder
weniger zu befriedigen.
Aber im Grunde hat all das keine Substanz. All das ist Leerheit. Und Leerheit ist keine
Theorie. Sie ist die Wirklichkeit. Wenn man ganz tief schaut, stellt man die Abwesenheit
von Substanz fest. Also sind relative und absolute Dimension der Wirklichkeit wie die
Handfläche und der Handrücken. Das gehört immer zusammen. Shiki, die Form, die
Phänomene, und Ku, die Leerheit. Ku ist die wahre Natur von Shiki. Die absolute
Dimension ist die wahre Natur der relativen Dimension. Sie sind niemals getrennt von
einander, es ist lediglich eine Frage der Sichtweise. Die Art und Weise, wie man schaut,
lässt einen die Dinge anders sehen.
Man könnte also sagen – um die westlichen Kategorien wieder aufzunehmen – dass es auf
der einen Seite die Erscheinungen gibt und auf der anderen Seite die Wirklichkeit. Das ist
recht einfach zu verstehen. Zum Beispiel sieht man Farben, einen Baum, der rot ist, einen
anderen, der grün ist, Formen. Aber in Wirklichkeit sind es nur Schwingungen, die die
Netzhaut berühren, die etwas im Gehirn bewirken. Man nimmt Formen wahr und sagt: „Ah,
dieser Baum ist rot. Er ist schön.“ Aber das ist nur eine Konstruktion unseres Geistes. In
Wirklichkeit gibt es nur Schwingungen.
Beide sind wahr: Ja, ein Baum ist schön. Man kann ihn malen. Man kann Gedichte über die
Schönheit der Bäume verfassen. Aber hinter dieser Form, dieser Erscheinung, gibt es nur
Schwingungen, nichts Substantielles. Beide sind wahr. Aber wenn man nur eine Seite sieht,
wenn man nur die Erscheinung, die Phänomene, sieht, neigt man dazu, sich daran zu
klammern, weil man glaubt, dass das, was man sieht, wirklich ist und andauern wird,
Substanz hat und man es besitzen kann. Das gleiche gilt für die eigene Persönlichkeit, das
eigene Ego.
Nur die Erscheinung zu sehen, ermutigt zur Anhaftung. Die Wirklichkeit zu sehen, so wie
sie ist, erlaubt es, von dieser Anhaftung geheilt zu werden. Das ist die Unterweisung
Buddhas, die Unterweisung des Dharmas. Buddha hat nie bestritten, dass es ein Ego gibt,
eine Persönlichkeit. – Es gibt Leute, die glauben, dass Buddha das Ego, die Persönlichkeit,
verneint hat. Das stimmt nicht. Er hat nur gesagt, dass das Ego sehr relativ ist, dass es keine
Substanz hat. Deshalb kann man sich davon lösen, selbst wenn es relativ gesehen existiert.
Aber wenn man an das Ego als etwas Absolutes, etwas Festes glaubt, das immer weiter
bestehen wird, kann man sich nicht befreien, kann man sich nicht loslösen. Es ist die
Unterweisung der absoluten Wahrheit, die Unterweisung der Leerheit, die hilft, sich zu
befreien.
Aber das ist nur eine Arznei. Letztlich darf man sich auch nicht an die Leerheit klammern.
Man darf sich auch nicht der absoluten Dimension verhaften, sonst kann man in das Extrem
des Nihilismus fallen: „Ach, nichts existiert, nur Schwingungen!“ Auch das ist falsch.
Immer beide zusammen, mit beiden Augen sehen.
F: Was ist eigentlich der Geist?
RR: Der Geist hat viele Dimensionen. Am Ende ist der Geist nicht fassbar. Man kann nicht
sagen: Das ist der Geist! Man kann den Geist nicht begrenzen.
Aber der Geist funktioniert auf verschiedene Weise. Der Geist ist zum Beispiel das
Bewusstsein. Das Bewusstsein ist eine Manifestation des Geistes, die es erlaubt, sich einer
Sache bewusst zu werden, bewusst Formen und Farben sehen, bewusst Töne hören. Das ist
eine Form des Geistes. Es gibt andere Formen des Geistes: Ein Geist, der sich nicht einfach
damit zufrieden gibt, die Gegenstände, die Gedanken, die Wahrnehmungen zu erkennen.
Das ist der Geist, der die Dinge intuitiv wahrnimmt, der Geist der Weisheit. Immer noch der
gleiche Geist, der aber auf eine andere Art und Weise funktioniert. Wie zum Beispiel ein
Klavier: Auf einem Klavier kann man einen Militärmarsch spielen, aber auch einen Walzer
von Chopin, man kann Jazz machen, man kann aber auch einfach nur Krach, indem man auf
die Tasten haut. Der Geist ist wie ein Musikinstrument, das viele Saiten hat, viele
Möglichkeiten, unterschiedlich zu funktionieren.
Es gibt beispielsweise den dualistischen Geist, der nach dem, was die Neurologen sagen,
ausgehend von der linken Gehirnhälfte funktioniert, der von der Sprache konditioniert ist.
Entsprechend hat er die Gewohnheit angenommen, zu definieren. Die Sprache funktioniert
über Worte, die die Wirklichkeit in kleine Stücke zerschneiden. Worte bauen auf
Gegensätzen auf, sind dualistisch: Man lernt, das Gute und das Böse, das, was wahr ist, und
das, was falsch ist, das Licht und die Dunkelheit, ich und du, usw. zu unterscheiden. Das ist
die Funktionsweise des Geistes, die die Unterschiede erkennt.
Der Geist gibt in Zazen diese Funktionsweise auf und schafft keine Trennungen mehr. Er
nimmt die andere Seite der Realität wahr, die Nicht-Dualität.
Das ist ein sehr weites Thema, man könnte einen Vortrag über den Geist halten. Es ist zum
Beispiel interessant, dass im Chinesischen und im Japanischen das Wort für Geist Shin ist.
Aber das Kanji Shin schließt viele Bedeutungen ein. Es begrenzt nicht. Es schließt all die
Bedeutungen ein, von denen ich schon gesprochen habe, den gewöhnlichen Geist, den
dualistischen Geist, das Bewusstsein. Man spricht auch vom Geist Buddhas, vom Geist der
Erweckung und auch von dem Geist, der dem Unbewussten entspricht, d.h. dem Geist, der
alle Erinnerung der Vergangenheit speichert. Das ist auch eine Form des Geistes, die
Erinnerung an die Vergangenheit seit unserer Geburt, und sogar davor. Dann heißt Shin
auch Energie. Nicht nur Geist, wie wir ihn begreifen, sondern auch Energie. Letztlich ist
alles Energie, alles Geist, all diese Schwingungen, von denen ich gesprochen habe, alles das
ist der Geist.
F: Aber gibt es einen universellen Geist, oder hat jeder seinen eigenen Geist?
RR: Beides. Aber im allgemeinen sieht man nur seinen eigenen Geist. Aber unser eigener Geist
ist ein bisschen wie die Spiegelung des Mondes auf einem Tautropfen. Man kann den
kleinen Tropfen mit der Widerspiegelung des Mondes betrachten, das ist der individuelle
Aspekt, aber wenn man zum Himmel aufschaut, kann man das beobachten, was sich in
jedem widerspiegelt.
Eine Praxis wie Zazen hilft uns, mit dem Universellen in uns in Kontakt zu treten, mit
unserem universellen Geist, und die Grenzen unseres kleinen Egos zu überschreiten, unserer
geistigen Kategorien, unseres engen Geistes. Das ist der universelle Geist, der sich in jedem
von uns widerspiegelt.

Dienstag, 18. Mai 2004, 7 Uhr
Zur Zeit Buddhas war eines Tages Ananda, sein Sekretär, weg gegangen, um Nahrung zu
erbetteln, und an das Haus einer Frau gekommen, die ihm folgende Frage stellte: „Wie kommt
es, dass der Buddha sagte, dass jemand, der ein reines Leben geführt hat, nach seinem Tod die
gleiche Bestimmung haben kann, wie ein jemand, der kein reines Leben geführt hat? Mein Vater
beispielsweise,“ sagte sie „ist einer reinen Lebensführung gefolgt. Er hat darauf verzichtet,
Schlechtes zu tun, er hat sogar auf sexuelle Beziehungen verzichtet. Nach seinem Tod hat
Buddha gesagt, dass er den Zustand eines Sakadâgâmin erreichet hat,“ was im Theravada die
zweite Stufe auf dem Weg der Befreiung ist. „Demgegenüber hat der Bruder meines Vaters
überhaupt kein reines Leben geführt. Nach seinem Tod hat der Buddha gesagt, dass er die
gleiche Stufe erreicht hat, den gleichen Zustand der Befreiung. Sie sind also beide in den
gleichen Himmeln wiedergeboren worden.“ Ananda antwortete ihr: „Ihr müsst genau verstehen,
was der Buddha sagen wollte.“
Anschließend befragte Ananda selbst den Buddha. Buddha sagt zu ihm: „Diese Frau hat
überhaupt nichts verstanden. Was die Wiedergeburt nach dem Tod betrifft, so gibt es zehn Arten
von Menschen. Zum Beispiel gibt es einen Menschen, der unmoralisch ist, der nicht die
Befreiung von den Gedanken durch Weisheit versteht, so dass seine Unmoral nicht gelöst
werden kann. Selbst wenn dieser Mensch die Unterweisung Buddhas gehört hat, hat er den
rechten Standpunkt nicht verstanden. Dieser Mensch kann nach seinem Tod nur in einen
niederen Zustand zurückfallen. Ein anderer Mensch, der ebenfalls unmoralisch ist, der ebenfalls
nicht die Befreiung durch Weisheit erlangt hat, der aber die Unterweisung Buddhas gehört und
den rechten Standpunkt verstanden hat, hat, selbst wenn er das gleiche Leben wie der andere
geführt hat, durch sein Verständnis der Unterweisung eine provisorische Befreiung erlangt. Nach
seinem Tod erreicht er einen höheren Zustand. Selbst wenn beide vergleichbare Eigenschaften
hatten, das gleiche Verhalten während ihres Lebens, gibt es letztlich einen, der vorangekommen
ist, und einen anderen, der zurückgefallen ist, weil einer von ihnen letztlich die Unterweisung
verstanden hat. Dank dieses Verständnisses hat er eine gewisse Befreiung erlangt.“
Buddha sagt auch, dass die Schüler andere weder beurteilen noch vergleichen dürfen. Er sagt zu
Ananda: „Ihr sollt Menschen nicht einschätzen.“ Das ist ein sehr wichtiger Punkt für die Sangha.
Buddha sagt: „Diejenigen, die andere einschätzen, verlieren sich. Denn nur ein Buddha ist in der
Lage, die anderen zu bemessen.“
Das ist der Punkt, den ich heute morgen unterstreichen möchte. In der Sangha gibt es viele
Urteile, viele Vergleiche, viel Kritik. Sehr häufig beurteilt man andere nach sehr begrenzten
Kriterien, z.B. nur nach der Moral oder nur nach der Konzentration. Jedoch gibt es Menschen,
die sehr moralisch sind, aber überhaupt keine Weisheit und kein Mitgefühl haben. Es gibt auch
Menschen, die sehr konzentriert sind, die sich aber in eine falsche Richtung konzentrieren. Dann
gibt es Menschen, die eine große Weisheit haben, aber mangels Konzentration nicht in der Lage
sind, sie in die Praxis umzusetzen. Es ist sehr heikel, die spirituelle Entwicklung von jemandem
einschätzen zu wollen. Nur Buddha kann das tun.
In der Sangha ist es das Beste, wenn sich jeder vollkommen darauf konzentriert, selbst so gut
wie möglich zu praktizieren, ohne spirituellen Hochmut zu entwickeln, Überlegenheit anderen
gegenüber und ohne andere zu beurteilen. Selbst jemand, der sich offensichtlich sein ganzes
Leben lang getäuscht hat, kann, wenn er im letzten Moment seines Lebens die Wahrheit der
Unterweisung Buddhas versteht, in einem einzigen Augenblick befreit werden. – Aber wer kann
das beurteilen?

Dienstag, 18.5.2004, 16.30 Uhr
Teisho
Das Thema dieses Vortrages ist das Karma. Dieses Thema interessiert viele Leute, aber weil es
etwas kompliziert ist, ist es schwierig, während des Kusen darüber zu sprechen. Ich glaube, dass
es gut ist, besser zu verstehen, was Karma ist. Einfach schon deshalb, weil wir hier und jetzt
aufgrund eines vergangenen Karmas existieren. Wir sind Frucht des Karma, also ist es gut zu
wissen, durch welchen Prozess wir die Frucht eines vergangenen Karmas werden. Darüber
hinaus hat Dogen die Überlegung angestellt, dass man nicht wirklich bereit ist, in die Praxis des
Weges einzutreten, wenn man die karmische Kausalität nicht versteht. Wenn man glaubt, dass
die Dinge zufällig geschehen, ist es schwierig, die Motivation zu finden, in eine Praxis der
Veränderung, der Umwandlung einzutreten. Aber wenn man glaubt, dass unser gegenwärtiges
Leben die Wirkung eines vergangenen Karmas ist, kann man darauf vertrauen, dass unsere
gegenwärtige Handlung, unsere gegenwärtige Praxis ein anderes, besseres Leben für die Zukunft
bewirken kann. Aber es kann auch das Phänomen der Wiedergeburten beseitigen, denn dies ist
an das Karma gebunden.
Ich werde das etwas präzisieren: Jede willentliche Handlung, die einen moralischen Wert hat,
trägt einen karmischen Effekt. Aber nicht alles ist Karma. Es gibt Leute, die glauben, dass alles
eine Wirkung des Karmas sei. Das stimmt nicht. Buddha war nicht mit dieser Vorstellung
einverstanden. Karma ist eine bestimmte Art von Ursache, die eine bestimmte Art von Wirkung
hervorruft. Aber es gibt auch andere Kausalitäten im Leben. Buddha zählte vier Arten von
Kausalität auf, die unseren aktuellen Zustand bedingen und vom Karma zu unterscheiden sind.
Aus der Sicht Buddhas betrachtet gibt es zum Beispiel die atmosphärischen Ursachen. Man kann
sich schlecht fühlen, weil es ein Gewitter geben wird. Das ist nicht die Wirkung unseres Karmas.
Darüber hinaus gibt es auch biologische und physiologische Ursachen. Die vierte Art nichtkarmischer
Kausalität sind die psychologische Ursachen.
Das ist interessant, denn man hat die Tendenz, alles zu vermischen. Wenn man z.B. während
seiner Kindheit psychische Verletzungen erlitten hat, hat das wahrscheinlich das Leben lang
Konsequenzen, tiefe Wirkungen. Aber diese psychologische Kausalität ist keine karmische
Kausalität. Nehmen wir z.B. an, dass ein Kind Opfer sexueller Gewalt wurde. Das Kind trägt
nicht die Verantwortung dafür. Es handelt sich nicht um eine Handlung des Kindes. Also sind
die daraus entstehenden Konsequenzen für das Kind keine karmischen Konsequenzen. Es sind
psychologische Konsequenzen. Das Kind kann nichts für den sexuellen Missbrauch. Das ist
nicht sein Karma. – Man kann sich natürlich sagen, dass diese schlechte Kindheit, vielleicht von
einem vergangenen Karma bedingt ist. – Aber es bedeutet auf jeden Fall, dass nicht alles
karmisch ist. Es ist wichtig, die Dinge gut zu unterscheiden, insbesondere auf der
psychologischen Ebene.
Was ist nun, im Gegensatz dazu, karmisch? Das sind die Handlungen, die in vollem Bewusstsein
begangen werden, willentlich, und die von Absichten gefärbt sind, von Absichten motiviert sind.
Absichten, die gut sein können, beispielsweise die Absicht, ein Fuse zu machen, jemandem zu
helfen. Das ist ein Karma. Es erzeugt günstige Effekte für denjenigen, der diese Handlungen
begeht.
Aber Karma ist nicht erst die Handlung, bereits der Gedanke ist Karma. Gedanke, Rede und
physische Handlung können Karma sein.
Zum Beispiel ein Blick: Wenn ich jetzt meine Armbanduhr betrachte, – es ist 5 Uhr 20 -, ist das
eine willentliche, aber keine karmische Handlung. Die Handlung erzeugt kein Karma. Oder
wenn man sich eine Tasse Tee zubereitet, ist das eine ganz und gar willentliche Handlung, aber
sie erzeugt keinerlei karmischen Effekt, weil sie nicht mit einer moralischen Motivation
begangen wurde. Wenn ich aber die Uhr der Person neben mir anschaue und mir dabei sage:
„Das ist wirklich eine schöne Uhr. Ich würde sie gerne stehlen. Wie kann ich das am besten
anstellen?“, wenn ich diese Uhr voller Begehren betrachte und Pläne schmiede, sie zu stehlen, ist
dies selbst dann Karma, wenn es mir nicht gelingt. Der gierige Blick und der Gedanke, die Uhr
zu stehlen, bewirkt, dass das Hinsehen Karma wird.
Karma ist etwas Komplexes. Z.B. denkt man, dass Menschen, die eine negative Handlung
begehen, automatisch eine schlechte Wiedergeburt haben werden. Aber es ist nicht so, dass eine
schlechte Handlung zwangsläufig eine Wirkung hat. Töten, Stehlen, Lügen sind Handlungen, die
ein sehr schlechtes Karma erzeugen, die anderen leiden lassen. Aber es gibt Menschen, die ihr
Leben lang getötet, gestohlen oder gelogen haben, die damit fortfahren, kriminelle Handlungen
zu begehen und dennoch augenscheinlich ein vollkommen glückliches Leben führen. – Auf jeden
Fall passiert ihnen kein Unglück, sie entkommen der Polizei und leben bequem. – Aber das heißt
nicht, dass ihre schlechten Handlungen keine Auswirkungen haben werden. Diese Wirkungen
können sich in einem kommenden Leben zeigen, in der nächsten Wiedergeburt. Bestimmtes
Karma erzeugt keine sofortigen Wirkungen, hat verspätete Wirkungen. Aber auch das ist nicht
automatisch, weil es alle möglich Arten anderer Ursachen gibt, die eine Rolle spielen. Z.B.
verringert Reue den karmischen Effekt, selbst wenn man erst einen Moment vor oder im
Augenblick des Sterbens bereut.
Das ist auch der Grund, warum Karma nichts Schicksalhaftes ist. Das Gesetz des Karma ist nicht
fatalistisch. Es ist eine bestimmte Art von Kausalität, die durch andere Ursachen verändert
werden kann. Beispielsweise verringert es die Wirkungen eines vergangenen schlechten Karmas,
sich seinen Fehler einzugestehen. Man kann auch das schlechte Karma wieder gut machen,
indem man z.B. die sechs Paramita praktiziert. Sie sind wie ein Heilmittel, ein Gegengift gegen
das schlechte Karma.
Ich möchte an ein Sutra Buddhas erinnern, in dem er auf die Frage antwortete, warum die
Menschen nicht alle gleich, sondern unterschiedlich sind. – Heute würde man natürlich sagen,
dass wir nicht alle die gleichen Gene haben. Die genetische Lotterie ist natürlich eine biologische
Kausalität. Darüber hinaus gibt es auch den Einfluss der Erziehung, des Milieus. Das ist eine
andere Kausalität. Noch einmal: Buddha sagte nicht, dass alles karmisch ist. Nicht alles lässt sich
durch das Karma erklären. – Buddha sagte, dass die Lebewesen ihr Karma aufgrund von
Erbschaft haben. Er sagte, ihr Karma sei wie Eltern. Wir sind die Erben unseres Karmas, wir
sind die Kinder unseres Karmas. D.h., die Eltern sind nicht eine Erklärung für alles im Leben.
Das Karma ebenso wenig, aber es hat einen Einfluss.
Ein Beispiel: Warum gibt es Lebewesen mit einem kurzen Leben, und andere, die lange leben? –
Für Buddha war das zu einem großen Teil mit bestimmten Handlungen verbunden, wie töten,
grausam sein, die Absicht haben, Schlechtes zu tun, dem Mangel an Mitgefühl für die
Lebewesen. Diese Art von negativen Handlungen führt entweder zu einer Wiedergeburt in einer
Welt großen Leidens, einer Art Höllenwelt, oder, wenn man in menschlicher Gestalt
wiedergeboren wird, hat es mit Sicherheit ein kurzes Leben zur Konsequenz. Umgekehrt bewirkt
es ein langes Leben, mit dem Töten aufzuhören, mitfühlend und wohlwollend gegenüber allen
Wesen zu sein.
Krankheiten sind nicht die Auswirkungen davon, dass man getötet hat, sondern die Wirkung
davon, dass man grausam zu Lebewesen gewesen ist. – Das soll nicht heißen, dass man jedes
mal, wenn man krank ist, grausam zu einem Lebewesen war. Es gibt viele Gründe dafür, krank
zu sein. Aber bei jemandem, der grundsätzlich grausam ist, ist die Wahrscheinlichkeit groß, oft
in seinem Leben krank zu sein. Umgekehrt bewirkt die Praxis des Wohlwollens für alle
Lebewesen karmisch eine gute Gesundheit.
Die karmische Ursächlichkeit zu sehen, weist bereits auf das Heilmittel hin. Für jede Art
unglücklichen Schicksals gibt es ein Heilmittel. Es gibt eine Haltung, eine Praxis im Leben, die
die negativen Ursachen, deren Erbe man ist, ausgleichen kann. Zum Beispiel gibt es Menschen,
die ein angenehmes Aussehen haben, die schön sind, und andere, die nicht sehr schön sind, die
sogar hässlich sind. Buddha sagte, dass auch das Ergebnis eines vergangenen Karma ist und
schrieb die Ursache der Wut zu.
Das ist interessant. Denn jemandem, der sein ganzes Leben über vom Gefühl der Wut bestimmt
ist, der sich über Nichtigkeiten aufregt, der ständig wegen irgendetwas beleidigt ist, der ständig
Unzufriedenheit, Hass oder Feindseligkeit ausstrahlt, prägt sich all dies in sein Gesicht ein, so
dass man das am Ende seines Lebens gut von seinem Gesicht ablesen kann. Entsprechend
begünstigt die Praxis des Gegenteils, d.h. niemals wütend zu werden, sich nicht unnötig
aufzuregen etc., ein angenehmen Aussehen.
Es gibt noch zwei oder drei weitere Aspekte karmischer Wirkungen. Beispielsweise gibt es
Menschen, die mit ganz wenigen Mitteln geboren werden. Das ist Buddha gemäß damit
verbunden, eifersüchtig und neidisch gewesen zu sein, z.B. traurig gewesen zu sein, wenn
jemand anderem etwas Gutes widerfahren ist. In Armut geboren zu werden, hängt mit einem
Mangel an Großzügigkeit gegenüber den Menschen zusammen, die ein religiöses Leben führen.
– Ich denke, das war als Ermutigung gedacht, den Mönchen und Nonnen gegenüber großzügiger
zu sein.
Im selben Sutra sagt Buddha auch, dass, wenn man in eine Familie mit niedrigem sozialen Stand
geboren wird, dies die Wirkung von Hochmut ist, von der Verachtung anderer. Nicht sehr
intelligent geboren zu werden, ist das Ergebnis davon, den Mönchen nicht die richtigen Fragen
gestellt zu haben. – Das erscheint kurios, ist aber sehr interessant: Was ist wahre Intelligenz? –
Den richtigen Leuten die richtigen Fragen zu stellen. Die Fragen, die wichtig für unser Leben
sind, den Personen zu stellen, die fähig sind, darauf zu antworten. Wenn man also wiederholt
vernachlässigt, sich und den Vertretern der Religionen, die darauf antworten können, die
richtigen Fragen zu stellen, läuft man große Gefahr, eine Wiedergeburt zu haben, die von
Dummheit verdunkelt wird.
Das ist also das Sutra, mit dem der Buddha die Frage eines jungen Brahmanen beantwortet hat,
warum es unterschiedliche Menschen gibt. – Man sollte nicht glauben, dass das Karma etwas
Automatisches ist, aber hat es einen gewissen Einfluss, es spielt eine bestimmte Rolle.
Jetzt möchte ich von Dingen sprechen, über die viel Verwirrung besteht. Zum Beispiel spricht
man im Buddhismus nicht von Reinkarnation, weil es keinen Glauben an eine Seele oder einen
beständigen Atman gibt, die sich reinkarnieren. Man spricht von Wiedergeburt. Das ist ein
besseres Wort, aber es gibt nicht wirklich jemanden, kein Ego, das wiedergeboren wird. Die viel
tiefere Sicht besteht darin, die Wiedergeburt als Fortbestehen eines Karmas anzusehen, noch
genauer als die Fortführung der Kette der zwölf wechselseitig abhängigen Ursachen, die durch
das erste Kettenglied in Gang gesetzt wird, durch die Unwissenheit.
Was ist die größte Unwissenheit? – Die wichtigste Unwissenheit, auf die Buddha in seiner
Unterweisung abzielt, ist die Täuschung, die dazu führt, dass man sich etwas aneignet. Dabei
handelt es sich um die Aneignung der fünf Aggregatzustände durch die Täuschung, die uns
glauben macht, dass diese fünf Zustände ein Ego sind, um die Vorstellung, dass dieser Körper
mein Körper ist, mein Ego, dass seine Empfindungen meine Empfindungen, mein Ego sind, dass
seine Wahrnehmungen meine Wahrnehmungen, mein Ego sind. Das Gleiche gilt für die
Wünsche, den Willen und alle geistigen Erzeugnisse und das Bewusstsein. Wenn man denkt,
dass das Bewusstsein, das man von den Dingen hat, unser Bewusstsein ist, dass es Ausdruck,
Manifestation unseres Egos ist, heißt das, dass es diese Aneignung gibt. D.h. man sieht nicht,
dass diese fünf Zustände Leerheit sind, Früchte der wechselseitigen Abhängigkeit. – Das
bedeutet nicht, dass sie nicht existieren, sondern einfach, dass sie Frucht der wechselseitigen
Abhängigkeit und nicht Frucht meines Egos sind.
Solange es diese Aneignung durch die Täuschung eines Egos gibt, bleibt die Serie der
wechselseitig abhängigen Ursachen bestehen: Ausgehend von der Unwissenheit werden
Handlungen begangen, die das Bewusstsein beeinflussen, die das Erschaffen dessen
beeinflussen, was man Nama-Rupa nennt – Körper und Geist –, die den Sinnesorganen ihren
Platz geben, die ihrerseits den Kontakt mit den Gegenständen der Sinneswahrnehmung fördern,
und auch Wünsche und Abneigungen, was Anhaftung schafft, was wiederum den Willen zu
leben verstärkt, den Willen in der Existenz eines Seins fortzufahren und das führt nach Verfall
und Tod zu einer erneute Geburt. Das ist ein Prozess, der sich selbst verkettet.
Man muss gut aufpassen, dass man sich nicht sagt: „Das ist mein Karma“, so als ob man der
Urheber dieses Karmas sei. Nicht wir sind die Urheber unseres Karmas, sondern die Ich-Illusion.
Es gibt kein Selbst, keine Seele, kein Atman, das das Karma erzeugt. Noch weniger transmigriert
es. Der einzige Urheber all dessen ist das Gesetz der Kausalität. Wenn man das versteht, ist man
erwacht und von der Verkettung von Ursache und Wirkung befreit.
Ein anderer Fehler, der häufig begangen wird, besteht darin, sehr viele Schuldgefühle um das
Karma herum zu schaffen und die Früchte des Karmas, die Ergebnisse des Karmas, entweder als
Belohnung oder als Bestrafung zu betrachten. Das würde ein höheres Wesen voraussetzen, das
urteilt – wie das Jüngste Gericht in der Bibel -, um die Schlechten zu bestrafen und die Guten zu
belohnen. Das ist ganz und gar nicht die Unterweisung Buddhas. Im Buddhismus gibt es
niemanden, der jemanden bestraft, und niemanden, der jemanden belohnt. Aber es gibt die
natürlichen Wirkungen, das Gesetz der Kausalität, das dazu führt, dass gute Taten gute
Wirkungen nach sich ziehen und schlechte Taten schlechte Wirkungen. Es gibt also keinen
Grund, sich schuldig zu fühlen. Manchmal sagen Leute: „Ihr habt euer Leiden selbst zu
verantworten.“ Es gibt Menschen, die meinen: „Es ist es notwendig zu verstehen, warum ich
jetzt wegen meines vergangenen Karmas leide,“ und sie versuchen, ihre vorangegangenen Leben
zu erforschen. Dies entspricht überhaupt nicht der Unterweisung Buddhas. Denn das Leiden
entsteht durch die Täuschung, durch Irrtümer, durch das Nicht-Erwachen. Das bedeutet, dass,
wenn diese Illusion zerstört ist, die Wurzel des Leidens durchtrennt ist.
Nicht nur das Zen lehrt, man solle sich hier und jetzt konzentrieren. Auch Buddha und der
ursprüngliche Buddhismus betrachteten es als vollkommen unnütz und verlorene Zeit, sich
seinem vergangenen Karma zu verhaften, zu versuchen, es zu entdecken, sich daran zu erinnern,
Das kann sogar eine Bremse sein: Es ist so, als ob man sein Auto steuern wollte, indem man
immer in den Rückspiegel guckt. Das ist gefährlich. Also haben Buddha und ebenso alle Zen-
Meister empfohlen, sich hier und jetzt zu konzentrieren. Hier und jetzt kann man durch rechtes
Handeln alle vergangenen Fehler korrigieren und die Voraussetzung für eine bessere Zukunft
schaffen.
Ein anderer, oft begangener Fehler besteht darin, sich zu sagen, das Karma sei im Grunde ein
indischer Glaube und Buddha habe vielleicht an das Karma geglaubt, weil er Inder war und zu
seiner Zeit alle an Karma glaubten. Aber tatsächlich war es Bestandteil seines eigenen
Erwachens, und er hatte eine klare Sicht davon. – Es ist kein Glaube. Es ist eine Erfahrung. – Die
Mönche, die mit Buddha praktizierten, machten sehr oft diese Erfahrung, entweder als intuitive,
ausreichend klare Sicht ihres vorherigen Lebens oder durch Wahrnehmung des Schicksals
anderer, das heißt, sie hatten, wenn jemand starb, die Vision, wie diese Person wiedergeboren
wird. – Das ist Teil der übernatürlichen Kräfte, die durch die Praxis der Konzentration entwickelt
werden. Das ist etwas Natürliches. Das Prinzip der Praxis intensiver Konzentration kann zu
dieser Art Vision führen. Aber in der Unterweisung Buddhas darf man daran nicht haften, nicht
einmal danach streben, diese Art von Vision zu erlangen. Wenn es aber geschieht, besteht der
Vorteil darin, dass es die Unterweisung Buddhas bestätigt. Das gibt ein größeres Vertrauen. Es
bestätigt die großen Wahrheiten der Unterweisungen Buddhas, nämlich der Unbeständigkeit, des
Leidens und des Nicht-Ichs, des Nicht-Selbst.
Auch wenn zu Buddhas Zeit viele Mönche darauf konzentriert waren, Wiedergeburten zu
vermeiden und so die Wirkungen des Karmas zu beenden, hat es immer Bodhisattvas gegeben.
Sie sind keine Erfindung des Mahayana. Zum Beispiel war Shakyamuni selbst ein Bodhisattva.
Die Jataka, eine Sammlung von Geschichten über die früheren Leben Buddha Shakyamunis,
erzählen, wie er all diese Leben als Bodhisattva geführt hat. Für einen Bodhisattva ist es kein
vordringliches Ziel, die Wiedergeburten zu beenden. Er fährt fort zu handeln, aber nicht
getrieben von den Illusionen seines Egos. Er handelt ausgehend von seinem Erwachen, und das
Ziel seines Handelns ist es nicht, seine egoistischen Wünsche zu befriedigen, sondern allen
leidenden Wesen zu helfen.
Durch diese Art der Handlungen, besonders durch die Praxis der sechs Paramita, erzeugt der
Bodhisattva viel Karma. Aber es ist gutes Karma, es sind Verdienste, die gute Wirkungen haben.
Aber er benötigt sie nicht für sich selbst. Er widmet die Verdienste seiner Taten, die guten
Wirkungen des Karmas, der Hilfe für andere.
Habt ihr Fragen? Gewöhnlich ist das ein Thema, was viele Fragen aufwirft!

Mondo:
F: Ist Buddha dem Gesetz von Ursache und Wirkung entkommen?
RR: Ja, bei seiner letzten Geburt. – Vielleicht werde ich für diese Antwort als Fuchs
wiedergeboren! – Die Frage wurde einmal einem Meister gestellt, der darauf antwortete,
dass ein erwachtes Wesen tatsächlich dem Gesetz der Kausalität entkommt. Es heißt, dass er
wegen dieser Antwort während fünfhundert Leben als Fuchs wiedergeboren wurde. Eines
Tages nahm der Geist dieses alten Mönches, der in einen Fuchs verwandelt war, an einem
Vortrag von Meister Hyakujo teil und erzählte diesem seine Geschichte. Er fragte Hyakujo:
„Könnte Ihr mir helfen, mich aus diesem Zyklus der Wiedergeburten als Fuchs zu erlösen?“.
Hyakujo antwortete: „Ja. Du musst mir nur erneut die Frage stellen, die Dir gestellt wurde.“
Da stellte der alte Mönch die Frage erneut: „Entkommt ein erwachtes Wesen dem Gesetz
der Kausalität?“ Und Hyakujo antwortete ihm: „Es ignoriert es nicht.“ Der alte Mönch
erwachte augenblicklich und verließ seine Transmigration als Fuchs.
Man kann denken, Hyakujos Antwort bedeute, dass selbst ein erwachtes Wesen dem Karma
unterworfen ist. So wird Hyakujos Antwort im allgemeinen interpretiert, als Bestätigung,
dass die karmische Kausalität universell ist. Aber seine Antwort ist viel subtiler, weder ja
noch nein: „Es ignoriert es nicht.“ Das heißt, das erwachte Wesen ist vollständig zur
Erscheinung der karmischen Kausalität erwacht. So kann er sie frei gebrauchen, um die
anderen zu erwecken.
Man kann also sagen, dass er nicht der karmischen Kausalität unterworfen ist. Er ist aber
auch nicht außerhalb von ihr.
F: Ich frage mich, warum ich mich mit dem Karma beschäftigen soll. Die Motivation zum
Handeln besteht nicht zwangsläufig darin, gutes oder schlechtes Karma zu erzeugen. Wenn
ich eine Handlung mushotoku begehe, ist sie dann außerhalb von Karma?
RR: Man kann karmische Handlungen begehen, auch wenn man nicht an Karma glaubt oder
daran denkt. Es reicht aus, dass die Handlung bewusst und willentlich ist und einen
positiven oder negativen Wert hat. Das ist alles. Ob du daran glaubst oder nicht, ob du daran
denkst oder nicht, ändert überhaupt nichts. Das Gesetz funktioniert. Aber wenn du dieses
Gesetz nicht ignorierst – was die Erwachten charakterisiert -, kannst du damit spielen, kannst
du es nutzen, um die Befreiung aller Wesen zu unterstützen.
Das Schlimmste ist, es zu ignorieren. Dann sieht man die Wirklichkeit nicht und befindet
sich in der Täuschung, was der Hauptgrund für das Fortbestehen dieses Zyklus’ ist.
Du hast jedoch ein sehr wichtiges Wort gebraucht: Mushotoku. In unserer Praxis des Weges
konzentriert man sich nicht darauf, das Richtige zu praktizieren, weil man darauf hofft, gute
karmische Wirkungen zu erhalten. Das ist nicht das Ziel. Normalerweise macht man einfach
das, was richtig ist, weil man ausreichend erwacht ist, um in Kontakt mit seiner wahren
Natur zu sein. Das bewirkt, dass man nichts Unrechtes tun kann. So kann man auf rechte Art
handeln ohne zu denken: „Ich werde das und das tun, um ein schlechtes Karma zu
vermeiden oder um ein gutes Karma zu erzeugen. Man kann sagen, dass Mushotoku, d.h.
die Handlung ohne persönliches Ziel, das Heilmittel für die drei Gifte ist, für Gier, Hass und
Verblendung, die die Ursache aller Leiden sind. So ist die Mushotoku-Handlung die
wahrhaft erwachte Handlung.
F: Kann man etwas für das Karma bereits Verstorbener tun?
RR: Ja. Das ist die Bedeutung aller Zeremonien, die für die Toten gemacht werden. Man kann
sagen, das auf dem Glauben an die Übertragung der Verdienste beruhen. Den gibt es schon
seit sehr langer Zeit, nicht nur im Mahayana. Seit dem Beginn der Unterweisung Buddhas
gibt es die Vorstellung, dass die Verdienste anderen übertragen werden können. Wenn man
z.B. ein Sesshin macht, ist das ein gutes Karma, eine gute Praxis, und man kann es als
Gelegenheit nehmen, eine Zeremonie zu machen und sie den Toten widmen, als eine Art
Gebet, dass die positiven Wirkungen dieser Praxis zu denen gelangen, die Hilfe benötigen,
um ihr Karma umzuwandeln. Das ist auch ein wesentlicher Aspekt des Bodhisattvas.
Letztlich kann die Übertragung der Verdienste andere aber nicht erwecken: Man kann nicht
jemand anderen erwecken. Man kann nur selbst erwachen. Man kann das Erwachen nicht
weitergeben. Jedoch kann die Übertragung der Verdienste Menschen die besten
Bedingungen ermöglichen, um selbst zu erwachen.

Mittwoch, 19. Mai 2004, 7 Uhr
Kehrt immer wieder zur Konzentration auf eure Haltung zurück. Streckt gut die Wirbelsäule und
den Nacken, indem ihr das Becken gut nach vorne neigt, und drückt gut mit dem Scheitelpunkt
des Kopfes in den Himmel. Entspannt Schultern und Bauch. Atmet tief ein und aus.
Weil es schwierig ist, sich gleichzeitig auf verschiedene Dinge zu konzentrieren, ist es das Beste,
sich einfach auf den Kontakt der Daumen zu konzentrieren. Wenn man sich auf den Kontakt der
Daumen konzentriert, liegt all unsere Aufmerksamkeit nur auf diesem Kontakt, d.h., dass man an
nichts anderes denkt und Gedanken, selbst wenn sie auftauchen, schnell vorbei ziehen – wie
Wolken am Himmel.
Man kann sich auch auf die Atmung konzentrieren, zum Beispiel auf die Empfindung, wie die
Luft durch die Nasenlöcher ein- und ausströmt. In diesem Moment konzentriert man sich nur auf
diese Atmung. Wenn man sitzt, ist man nur ein sitzender Körper und Geist, völlig in Einheit mit
der sitzenden Haltung. In diesem Moment beruhigen sich alle Kompliziertheiten des Geistes, alle
Gefühle. Alle Schwierigkeiten kommen aus der Geteiltheit des Geistes. Wenn man zu einem
Geisteszustand zurückfinden kann, der in Einheit mit der Wirklichkeit des Augenblicks steht,
kann man frei von all seinem vergangenen Karma sein. Auch wenn sich hier und jetzt karmische
Wirkungen zeigen, kann man sie empfangen, ohne erschüttert zu sein, ohne kompliziert zu
werden, denn wir sind in der Wirklichkeit dieses Augenblicks verwurzelt. Das ist die essentielle
Unterweisung dessen, was man Shikantaza nennt. Manchmal denkt man, dass diese
Unterweisung eine Spezialität des Zen ist, insbesondere des Soto-Zen. Aber in Wirklichkeit ist es
das ursprüngliche Dharma Buddhas.
Zur Zeit Buddhas gab es einen Hindu, der Askese praktizierte. Er hieß Bahya. Er war ein Mann,
der sich der Dringlichkeit der spirituellen Verwirklichung bewusst war. Eines Tages wurde er
gewahr, dass seine Praxis nicht stimmte. Man empfahl ihm, den Buddha aufzusuchen. Er brach
auf und nach einigen Tagen kam er in den Ort, in dem Buddha sich befand. Buddha war jedoch
auf dem Bettelgang. Da Bahya es sehr eilig hatte, suchte er ihn in den Straßen der Stadt
Schließlich traf er ihn beim Betteln. Buddha sagte zu ihm: Es ist jetzt nicht der richtige Moment,
um Fragen zu stellen. Wir sind dabei, unseren Bettelgang zu machen. Komm später wieder.“
Aber Bahya gab nicht nach. Er sagte: „Man weiß nie, was uns im Leben passieren kann. Also
unterweist mich bitte schnell in eurer Lehre.“ Nachdem er dreimal darum gebeten hatte,
akzeptierte Buddha schließlich. Er gab ihm eine sehr einfache Unterweisung. Er sagte: „Ihr
müsst auf diese Weise praktizieren: Die Handlung des Sehens soll nur die Handlung des Sehens
sein, die Handlung des Hörens soll nur die Handlung des Hörens sein, die Handlung des
Empfindens soll nur die Handlung des Empfindens seins, die Handlung des Erkennens nur die
Handlung des Erkennens. Wenn ihr auf diese Weise praktiziert, seid ihr nicht mehr von all den
Erscheinungen konditioniert. Das ist das Ende von Dukkha, des Leidens.“ Da Bahya ein Mensch
mit einem sehr schnellen Geist war, verstand er schnell und praktiziert es. Kurz darauf starb er
durch einen Unfall. – Er hatte also gute Gründe, es eilig zu haben. – Als Buddha seinen Leichnam
sah, den man verbrennen wollte, bat er seine Schüler, eine Zeremonie für ihn zu machen, und
sagte zu ihnen: „Bahya war einer eurer Brüder, der die Realisation vollständig erlangt hat.“
Diese Geschichte ist sehr interessant, denn sie zeigt, dass Buddha genauso die Laien oder die
Gläubigen anderer Schulen unterwies und dass, egal wer, auch Nicht-Mönche, auch diejenigen,
die nicht von Buddha ordiniert waren, mit Hilfe seiner Unterweisung vollständig erwachen
konnten. Für Buddha war natürlich die beste Voraussetzung, um den Weg zu praktizieren,
Mönch oder Nonne zu werden. Aber alle Wesen konnten, auch ohne Mönch oder Nonne zu sein,
durch seine Unterweisung erwachen; und nicht immer nur in der Folge einer sehr langen Praxis.
Bestimmte Leute, so wie Bahya, der einen schnellen Geist hatte, konnten in einem einzigen
Augenblick verstehen und erwachen. In seinem Fall war es einige Minuten, bevor er starb.
Auch wenn Buddha vieles unterwiesen hat, war die Essenz seiner Unterweisung sehr einfach,
das, was er Bahya unterwiesen hat. Es unterscheidet sich nicht sehr von der Unterweisung von
Shikantaza:
Wenn ihr sitzt, dann sitzt nur.
Wenn ihr esst, dann begnügt euch damit, nur zu essen.
Wenn ihr geht, dann begnügt euch damit, nur zu gehen.
Wenn ihr zuhört, dann konzentriert euch einfach auf das Zuhören.
Wenn ihr etwas betrachtet, seid vollständig in der Handlung, etwas zu betrachten.
Wenn ihr an etwas denkt, konzentriert euch einfach auf die Handlung des Denkens.
Was auch immer, seid ständig eins mit dem, was ihr gerade tut.
Das ist die Praxis des Sesshins, die Essenz der Praxis während eines Sesshins: den Geist von
Nicht-Zwei, den ungeteilten Geist zu verwirklichen. In dieser Praxis ist das Ego vollständig
aufgegeben, durch die Praxis selbst aufgesogen. Das ist das Ende von Dukkha, der
Unzufriedenheit und des Leidens, die Verwirklichung der Essenz unseres Leben, eines Lebens
ohne Trennungen, ein Leben in Einheit mit dem gesamten Universum, ausgehend von der
Einheit mit der einfachen Handlung dieses Augenblicks.

Mittwoch, 19. Mai 2004, 16.30 Uhr
Von dem Moment an, in dem man ins Dojo eintritt, konzentriert man sich völlig auf die Praxis
mit dem Körper. Man tritt mit dem linken Fuß ein, man macht Gassho, man geht zu seinem Platz
und nimmt die Zazen-Haltung ein. In Zazen wird man völlig Einheit mit der Haltung und mit der
Atmung. Während der Zeremonie ist man völlig in Einheit mit Sampai, Gassho, dem Gesang der
Sutras und mit seiner eigenen Funktion während der Zeremonie, wenn man eine bestimmte
Funktion hat.
Diese Weise völlig eins zu sein mit dem, was man tut, völlig darauf konzentriert zu sein, d.h. im
Zentrum unseres Lebens hier und jetzt zu sein, ist die Praxis, die es ermöglicht, die
Transmigration anzuhalten. Wie ich heute morgen gesagt habe, glaubt man häufig, dass dies eine
Besonderheit des Zen ist, doch wie ihr selbst aus dem Mund Buddhas gehört habt, ist es die
Essenz seiner Unterweisung.
Eins zu sein, ist eine praktische Erfahrung und kein philosophisches Konzept. Es ist die beste Art
das Leiden zu heilen, das, was man Dukkha nennt, d.h. die Unzufriedenheit, den Teufelskreis, in
den man eintritt, wenn man immer etwas anderes wünscht als das, was gegenwärtig ist, weil man
seine gegenwärtige Situation, seine gegenwärtige Handlung nicht akzeptieren kann.
Es ist nicht so, dass das ein Fehler oder dass es schlecht wäre, etwas, das man kritisieren müsste.
Aber es ist das, was unser Leiden und das Leiden der Welt verursacht. Immer etwas anderes zu
wollen und so niemals in Frieden, niemals in Kontakt mit dem wahren Leben des Augenblicks
zu sein, unterhält die Unzufriedenheit. Wenn man nicht gegenwärtig ist in dem, was man tut, lebt
man wie ein Gespenst und wird vom Wind seiner Gefühle, seiner Wünsche, seiner Abneigungen
vorwärts getrieben.
Ich habe gestern während des Vortrages lange über das Karma gesprochen. Karma ist das, was
unsere Transmigration verursacht, d.h. der Sachverhalt, immer etwas anderes zu wollen. Das
bedeutet, dass die Energie immer in die Zukunft gerichtet ist: ‚Später wird es besser sein.’ ‚Wenn
ich nur dies oder das erhalten könnte, wäre ich schließlich glücklich.’ Manchmal beeinflusst das
sogar die spirituelle Praxis: ‚Ach, wenn ich nur das Satori erhalten könnte, dann ginge es besser.’
‚Wenn ich unter günstigeren Bedingungen wiedergeboren werden könnte, wäre es besser.’ Man
praktiziert mit diesem Ziel. Das scheint logisch, aber es ist eine Sackgasse in der Praxis.
Natürlich schafft man, wenn man die Gebote respektiert, wenn man gut handelt, Verdienste und
erlaubt eine bessere Transmigration. Aber die meisten Buddhisten wünschen nicht wirklich die
Befreiung. Sie hoffen einfach nur auf eine gute Wiedergeburt und legen mit diesem Ziel einen
Vorrat an Verdiensten an. Natürlich ist das möglich. Es ist ein Aspekt in der Unterweisung
Shakyamunis. Aber der tiefste Aspekte seiner Unterweisung ist natürlich, die Transmigration
anzuhalten und Dukkha, dem Leiden, hier und jetzt ein Ende zu setzen. Wenn man mit einem
Ziel praktiziert, indem man darauf hofft das Nirvana zu erlangen, die Befreiung in der Zukunft,
fährt man in Wirklichkeit damit fort, das Rad der Wünsche und der Transmigration
weiterzudrehen. Auch die Anhaftung an das Nirvana ist eine Anhaftung. Der Wunsch nach dem
Satori ist ebenfalls eine Anhaftung. Aber es ist möglich. Viele Schüler praktizieren auf diese
Weise.
Natürlich gibt es die Bodhisattvas, die von Mitgefühl motiviert und ohne Angst vor dem
Samsara, vor den Wiedergeburten, mit dem Gelübde praktizieren, allen Wesen zu helfen. Wenn
wir wirklich den Wesen helfen wollen, sich zu befreien, können wir es nicht nur mit der Kraft
unserer Gelübde tun, sondern nur mit der Kraft der Realisation selbst, das heißt, indem wir
sofort, augenblicklich von allen Absichten, von allen Hintergedanken befreit sind, auch davon,
die anderen zu retten. Letztlich kann jeder nur durch seine eigene Realisation gerettet werden,
dadurch dass er realisiert, dass es nichts zu realisieren gibt. Erst in diesem Moment können wir
frei praktizieren und das sein, was wir schon immer waren, nicht verschieden von Buddha. Nur
so kann man wirklich in Frieden mit sich selbst und den anderen sein. Es gibt nichts zu erlangen.
Alles ist da, hier und jetzt, bereits gegenwärtig und seit jeher.
Mondo
F: Ich habe eine Frage zum Gassho, wenn man das Dojo betritt. Das wird nach meiner
Wahrnehmung unterschiedlich gemacht: mit gesenktem Blick oder mit ganz klarem Blick zum
Buddha. Wenn man den Kopf oben lässt und den Buddha anguckt, was ist es eigentlich, was
man da beim Gassho anguckt?
RR: Normalerweise ist man das selbst. Wenn man beim Betreten des Dojos die Buddhastatue
grüßt, respektiert man die Buddha-Natur, die in jedem, die in uns selbst ist. Die Geste von
Gassho bedeutet, Einheit mit Buddha zu werden, mehr noch: Buddha zu werden, Zazen
selbst. Wirklich eins mit Zazen zu sein heißt, Buddha zu sein. Wirklich eins mit Gassho zu
sein, heißt Buddha sein. Unsere innere Einheit wieder finden und auch unsere Einheit mit
den anderen, dem Dojo, der Umgebung. Das enthält die Geste, ihre Ausführung.
Sie bedeutet nicht, sich zu sagen: ‚Ich grüße den Buddha auf dem Altar’, oder die anderen,
die Buddha sind, oder ‚Ich respektiere meinen inneren Buddha’. Natürlich stimmt das. Aber
das ist nicht der wichtigste Punkt. Der wichtigste Punkt ist, einfach in Gassho zu sein, ohne
an Buddha zu denken. Es ist nicht nötig, Buddha anzuschauen. Konzentriert in Gassho zu
sein, ist Buddha sein.
Natürlich muß man den Blick irgendwo hin wenden, also macht es, wie ihr wollt: Ihr könnt
die Buddhastatue anschauen. Das ist nicht schlecht. Ihr könnt auch einfach vor euch hin
schauen. Für mich ist es das Gleiche. Wichtig ist, vollkommen eins mit der Geste sein, ohne
an Buddha zu denken. Denn sobald man denkt, schafft man eine Trennung: Buddha, der
dort ist, und ich, der ich hier bin. Oder man denkt an die Tatsache, dass jeder von uns die
Buddha-Natur in sich hat und man die Buddhanatur in sich selbst grüßt. Das ist alles richtig,
aber es ist nicht die Weise, es zu realisieren. Realisieren heißt, wirklich Eins zu werden,
konkret Körper und Geist.
F: Hat Gassho für dich auch etwas mit Demut zu tun?
RR: Ja, natürlich. Aber Demut ist eher Sampai. Das Wort humilité (dt. Demut) stammt
etymologisch vom lateinischen „Humus“, Erde. Sampai bedeutet, das zu erniedrigen, was
unser Ego symbolisiert; das Vorderhirn, das etwas ergreifen will, bis zur Erde neigen. Also
ist Sampai wirklich Demut, zurückweisen, Körper und Geist aufgeben.
Gassho ist eher ‚eins werden mit’. Es geht sogar über Demut hinaus, denn Demut impliziert
verschiedene Ebenen: Es gibt unten und oben. Man will sich niederwerfen. Das ist gut. Es
ist eine gute Praxis, demütig zu werden. Aber Zen geht über Demut hinaus. Zen bedeutet zu
realisieren, dass es im Grunde nichts zu erniedrigen gibt, dass es kein darüber, kein darunter
gibt.
Sampai zu praktizieren hilft, unsere schlechten geistigen Gewohnheiten umzuwandeln.
Deshalb machen die Tibeter diese Praxis von Sampai zu einer Vorbereitung, sie müssen
10.000 Niederwerfungen praktizieren. Das ist wirklich eine gute Praxis, um die schlechten
Gewohnheiten der Konditionierungen unseres Ego umzuwandeln.
Wir haben in den letzten Tagen vom relativen und vom absoluten Verständnis gesprochen.
Aus dem Blickwinkel des relativen Verständnisses muss man so üben, denn vom relativen
Standpunkt aus beeinflusst unser Ego unser Verhalten und man muss es umwandeln. Aber
die höchste Unterweisung Buddhas ist zu erwachen. Das ist die Wurzel. Das bedeutet zu
verstehen, dass es kein Ego gibt, also auch kein Ego, das man erniedrigen kann. Es gibt kein
oben und unten, nicht all diese Unterscheidungen der Dualität, es gibt nicht Buddha
einerseits und ich andererseits. Ich glaube, die beste Art, das zu realisieren besteht darin,
nicht auf eine philosophische Art zu meditieren, sondern richtig zu praktizieren.
F: Du hast gerade von Realisation gesprochen. Kannst du mir sagen, ob die Erfahrung, die man
in anderen Religionen macht, auch so ist. Wie war es mit deiner Erfahrung? Kannst du auch
etwas dazu erzählen, da bin ich ein bisschen neugierig.
RR: Je länger ich Zazen praktiziere und je länger ich die Unterweisung Buddhas studiere, um so
mehr bemerke ich, dass sie einer anderen Religion nahe ist, die ich ein wenig kenne, dem
Christentum, der Unterweisung Christi. Ich spreche nicht von der Kirche und ihrem System,
sondern von der Essenz der Unterweisung Christi, nicht von dem, was man daraus gemacht
hat. Die anderen Religionen kenne ich weniger gut. Aber wenn ich in Kontakten mit
religiösen Moslems oder Juden meine Erfahrung des Zen zum Ausdruck brachte, haben
diese häufig gesagt, dass meine Erfahrung gut etwas Grundlegendem in ihrer eigenen
Religion entspricht. Das hat mir den Eindruck vermittelt, dass es im Grunde eine spirituelle
Gemeinschaft all der Menschen gibt, die ihre Religion praktizieren. Kompliziert wird es,
wenn man versucht, die Dinge mit Konzepten zu erklären, Kategorien schafft und jeder sich
an seine Kategorien klammert. Theologische Diskussionen werden bezogen auf bestimmte
Kategorien geführt. Aber für Menschen, die wirklich in einer tiefen Praxis ihrer Religion
engagiert sind, zählen nicht die Kategorien, sondern nur die Quelle selbst, und ich glaube,
dass sie für alle die gleiche ist.
Was meine eigene Erfahrung angeht: Für mich ist die Erfahrung meiner Anfänge in Zazen
wesentlich, das erste Zazen, in dem ich diese Wahrnehmung hatte. All das, was ich jetzt
unterweise, 32 Jahre später, ist die Entfaltung dessen, was ich während des ersten Zazen
empfunden habe. Alles, was ich eben im Kusen gesagt habe, ist selbstverständlich die
Unterweisung Buddhas. Aber das war wirklich auch mein Schock, meine starke Erfahrung
in meinem ersten Zazen. Ich fühle keinen Unterschied zwischen beiden. Je mehr ich die
Unterweisung Shakyamunis, die Unterweisung Dogens studiere und das sehe, was ich gelebt
habe, desto stärker habe ich den Eindruck, dass es genau das Gleiche ist. Es ist die
Erfahrung, völligen Einsseins. Aber ich kann nicht einmal “Einssein“ sagen, denn ich habe
nicht “Einssein“ gedacht. Das heißt, man braucht wirklich nichts anderes, nur sitzen. Alles
ist da.
Ich war jemand, der verzweifelt auf der Suche war, immer wieder andere Erfahrungen
suchte, andere Dinge, den Sinn des Lebens. Es war fast wie eine Karikatur: Mein Leben war
jeden Tag angespannt, immer wieder woanders hin. Über ein Jahr lang nahm ich jeden
Morgen meinen Rucksack und ging los, um etwas anderes zu sehen. Es ist ein bisschen so,
als ob ich die Illusion, dass es woanders als hier und jetzt etwas gibt, das besser ist, und das
dem Leben einen Sinn geben kann, bis zum Extrem getrieben hätte. Ich habe das während
vierzehn Monaten intensiv gelebt. Es hat mich zum Schluss in einen Zustand der totalen
Hoffnungslosigkeit geführt, beinahe zu einem Verrücktwerden aufgrund dieses Leidens.
Die Erfahrung, mich in Zazen zu setzen, war eine völlige Umwälzung, eine Revolution. Ich
glaube, dass ich seit dieser Zeit ein großes Vertrauen in die Praxis habe. Meine
anschließende Begegnung mit Meister Deshimaru, mein Studium von Dogen, der Sutren
und all das ist ein bisschen wie ein Kommentar zu meiner eigenen Erfahrungen, Kommentar
und Entfaltung selbstverständlich. Denn in dem Moment, in dem ich das erlebt habe, habe
ich nicht an all die Konsequenzen gedacht, die eine solche Erfahrungen für das Leben haben
kann. Die Unterweisungen der Meister helfen mir, die Reichweite dieser spirituellen
Revolution – der Praxis von Shikantaza – besser zu verstehen. Das konnte ich mir damals
nicht vorstellen.
Was ich gesagt habe, scheint ein wenig idealistisch. Ich möchte also eine Korrektur
anbringen: Ich denke nicht, dass alle die gleichen Erfahrungen machen müssen wie ich. Es
war mein Karma, wenn man das sagen kann, meine Bedingtheit in jenem Augenblick. Nicht
jeder erreicht dieses Stadium der Hoffnungslosigkeit. In der Geschichte des Zen sind
Schüler von ihrem eigenen Meister in diese Hoffnungslosigkeit getrieben worden.
Besonders im Rinzai-Zen hat man sie unter Druck gesetzt, den Kopf unter Wasser gedrückt,
um an diesen Punkt zu gelangen, um plötzlich diese Revolution zu durchleben. Das ist vor
allem die Praxis der Koans. Sie bedeutet wirklich auf den Grund des Grundes zu gehen,
dorthin, wo man nichts erfassen, nichts verstehen kann. Der Meister schafft eine künstliche
Hoffnungslosigkeit, er provoziert diese Situation. In meinem Fall war es das Leben selbst,
das sie provoziert hat, das Genjo Koan, das Koan des Lebens selbst. Das war keine
Erziehung.
Ich spreche nicht gerne darüber, außer, wenn man mich direkt dazu befragt, weil die Gefahr
besteht, dass es anschließend ein Modell für die Schüler wird: ‚Ich habe nie das gleiche
erlebt. Vielleicht ist meine Praxis nicht richtig, weil sie nicht dem ähnelt, was Roland von
seiner Erfahrung erzählt hat.’ Die Wege sind sehr unterschiedlich. Die psychologischen
Bedingungen, das Karma eines jeden, ist unterschiedlich, also werden nicht alle die gleichen
Erfahrungen durchlaufen. Man darf das nicht als ein Modell ansehen. Man darf nicht betrübt
sein, wenn man nicht die gleichen Erfahrungen macht. Die Form, der emotionale Charakter,
die Umstände, die Kraft der Erfahrung kann für jeden unterschiedlich sein. Aber der Grund,
der Kern, ist wirklich gleich, nicht nur im Zen, sondern für alle Religionen.

Freitag, 21. Mai 2004, 7 Uhr
Um Zazen zu praktizieren, beginnt man damit, sich auf Haltung und Atmung zu konzentrieren.
Man achtet darauf, das Becken gut nach vorne zu neigen und die Knie fest auf den Boden zu
drücken. Von der Taille aus streckt man die Wirbelsäule. Man lässt die Spannungen des Rückens
los und streckt den Nacken. Das Kinn ist zurückgezogen, die Schultern sind völlig entspannt. Die
Augen sind halb geöffnet, und der Blick ist auf den Boden gerichtet. Die linke Hand ruht in der
rechten, die Handkanten berühren den Unterbauch, die Daumen sind waagerecht. Man atmet tief
ein und aus und bemüht sich, dabei bis zum Ende jeder Ausatmung zu gehen.
Man muss sich auf viele Dinge konzentrieren. So hat man keine Zeit mehr, sich um seine
Gedanken zu kümmern. Unsere ganze Aufmerksamkeit ruht auf unserer Wirklichkeit hier und
jetzt, darauf, hier in diesem Dojo in Zazen zu sitzen. Der Rest ist unwichtig. So kann man sich
von seinen geistigen Machenschaften lösen. Die Gedanken werden leicht. Man gibt ihnen keine
Energie, keine Bedeutung. Dennoch ist man weiterhin mit der Konzentration auf Haltung und
Atmung beschäftigt. Aber auch dies muss letztlich aufgegeben werden.
Wenn man in diese Konzentration eingetreten ist, gibt es kein Ego mehr, das sich konzentriert,
und keine Gegenstände mehr, auf die man sich konzentriert. Es gibt nicht mehr „Ich und meine
Haltung“, „Ich und meine Atmung“. Das Ich ist von der Haltung und von der Atmung
aufgesogen. Es bleibt nur noch ein KörperGeist ohne Trennung, ohne das Bewusstsein, etwas
Besonderes zu praktizieren. Am Ende macht man gar nichts mehr. Jede Absicht, jede Erwartung,
jeder Zweck wird aufgegeben. So kann die geistige Aktivität, die unseren Geist verdunkelt, sich
wieder beruhigen. Wir machen nichts, wir erwarten nichts und nichts stört uns. Daher ist es auch
nicht nötig, während Zazen die Augen zu schließen, denn man trennt sich nicht von den
Gegenständen des Blicks und widersetzt sich ihnen nicht. Es gibt kein Ich mehr, das irgendetwas
sieht. Das gleiche gilt für Geräusche und für Gedanken. Man haftet nicht an dem, was auftaucht,
an den Erscheinungen. Deshalb braucht man sie auch nicht zurückweisen. So kann man die
wahre Leerheit verwirklichen.
Das hat nichts damit zu tun, über Leerheit nachzudenken. Es geht nicht darum, sich zu sagen:
„Alle Dinge sind ohne Substanz“ oder „Mein Ego wird nur durch die fünf Skandha gebildet“.
Diese Gedanken sind unnötig. Die wahre Leerheit zu verwirklichen bedeutet, selbst leer und frei
zu werden, ohne Absicht, ohne am Denken oder Nicht-Denken zu haften. Selbst wenn
Gedanken, Wünsche, Erinnerungen auftauchen, lässt man sich von diesem Gedankenwirbel nicht
mitreißen. Der Geist findet seine Reinheit wieder, seine Existenz ohne Trennung, ohne
Gegensätze. Nichts fehlt oder ist zu viel. Genau jetzt vollkommen in Frieden mit unserer
Seinsweise. Dieser Friede kann im Alltag, im täglichen Leben weiter bestehen und unser ganzes
Leben inspirieren. Das ist die Erfahrung des Sesshins.

Freitag, 21. Mai 2004, 11 Uhr
Wenn man während Zazen auf die Ausatmung, vor allem auf das Ende der Ausatmung
konzentriert ist, verschwindet jeder Gedanke und sehr schnell taucht ein neuer Gedanke, ein Bild
oder eine Wahrnehmung auf. – Woher kommen sie?
Man kann den Ort nicht erfassen, von dem die Erscheinungen kommen, die unseren Geist
beschäftigen. Genau auf diesen Ort, den man nicht erfassen kann, auf diese Quelle, aus der alles
auftaucht, konzentrieren wir uns, auf diesen Moment ohne Dimension, vor dem Erscheinen des
Gedankens. Während Zazen halten wir uns ganz nah an diesem Punkt ohne Dimension auf, von
dem aus alles erscheint und zu dem alles wieder zurückkehrt. Er ist gleichzeitig die Quelle und
die Mündung des Flusses. Zugleich erscheinen und verschwinden Phänomene unaufhörlich von
Augenblick zu Augenblick. Ohne Unterlass geschieht Shoji, Geburt und Tod, Erscheinen und
Verschwinden.
Oft klammert man sich an das, was erscheint, und trauert dem nach, was verschwindet. Aber in
Zazen lernt man, sich mit dieser Bewegung von Erscheinen und Verschwinden zu
harmonisieren. Man interessiert sich nicht so sehr für den Inhalt der Gedanken, sondern für die
Bewegung des Denkens aus der Tiefe des Nicht-Denkens heraus, das dann wieder zum Nicht-
Denken zurückkehrt. Das nannte Dogen Hishiryo. Wenn man so praktiziert, kann man eine
große Freiheit des Geistes realisieren. Das bedeutet, sich mit unserem Geist, so wie er ist, zu
harmonisieren. Meister Isan nannte es „den wahren Geisteszustand vor der Geburt unserer
Eltern“ oder auch „unser wahres Gesicht“.
Meister Wanshi riet uns, bei der Quelle des Erschaffens zu bleiben, ohne Trennungen zwischen
sich selbst und dem Erscheinen der Phänomene zu erzeugen, indem man völlig eins wird mit
dem, was erscheint, wenn es erscheint. Eins werden bedeutet nicht, daran zu haften, sondern
einfach in dem Moment in Kontakt zu bleiben. Genauso wie wenn man das Dojo betritt und die
Hände zum Gassho zusammenlegt. Man verbeugt sich, aber die Hände bleiben nicht in Gassho
stecken. Sie nehmen danach andere Haltungen ein, Shashu, Zazen oder Kaijoin. Wenn man
Gassho macht, macht man völlig Gassho, die Hände sind vollständig vereint. Wenn sie
beieinander bleiben würden, könnten sie nicht mehr als Hände funktionieren. Das Gleiche gilt
für den Geist: Wenn er an einem Gedanken festhält, erstarrt er. Dann verliert er den Kontakt mit
der Quelle des Erschaffens.
Zazen ist die Praxis, ständig zu diesem Zustand der Verfügbarkeit zurückzukehren, indem man
in jedem Augenblick loslässt. Im täglichen Leben kann man so in angemessener Weise den
Umständen mit einem stets gegenwärtigen Geist gegenübertreten. In jedem Augenblick mit dem,
was neu erscheint, in Berührung sein und nicht irgendetwas hinterher laufen, nicht zu spät sein.
Kodo Sawaki sagte: „Schaut euch nicht immer wieder den Kalender des letzten Jahres an.“ Wenn
der Geist sich bei den Kampfkünsten an einen vergangenen Augenblick klammert, ist man tot;
natürlich nicht wirklich tot, aber so gut wie tot. Ein Sesshin praktizieren heißt, ständig von
diesem Geist aus zu leben, der immer neu und in Berührung mit dem gegenwärtigen Augenblick
ist. Dieser Geist wird wie ein Edelstein mit Millionen kleiner Facetten, die ständig das, was
erscheint, widerspiegeln, unabhängig von der Richtung, aus der die Erscheinungen kommen. So
erhellt und erleuchtet er alle Dinge.

Freitag, 21. Mai 2004, 16.30 Uhr
Während Zazen sitzen fast alle der Wand gegenüber. Diejenigen, die nicht zur Wand hin sitzen,
schauen nach unten auf den Boden. Aber in Wirklichkeit ist der Blick nach innen gerichtet. Das
ist der wesentliche Punkt von Zazen: Umkehren, den Blick nach innen richten und von diesem
inneren Blick erhellt werden. Dieser Blick nimmt die Form von dem an, was betrachtet wird.
Deshalb ändert sich der Geist unaufhörlich. Geist und Blick sind dasselbe. Es handelt sich um
den Blick des Geistes, das Bewusstsein, das nach innen gerichtet wird. Manchmal taucht ein
Gedanke auf, und man wird sich dieses Gedankens bewusst. Manchmal ist es eine Erinnerung,
und man wird sich dieser Erinnerung bewusst; manchmal ein Wunsch, und man wird sich dieses
Wunsches bewusst.
Es gibt so viele Bewusstseinsformen wie Gegenstände. So wie es auch ebenso viele Arten von
Feuer gibt wie Brennstoffe: Holzfeuer, Kohlefeuer, Strohfeuer. Es gibt kein Feuer an sich,
sondern nur in Verbindung mit dem, was brennt. Das Gleiche gilt für den Geist und seine
Objekte. Der Geist ist ohne feste Form. Es ist wichtig, dies zu erkennen und sich dessen bewusst
zu werden, es völlig zu akzeptieren und sich damit in Einklang zu bringen. Nicht versuchen,
seinen Geist in eine feste Form, in Definitionen oder Unterteilungen zu pressen. Daher benutzt
man oft das Bild des Spiegels, der ebenfalls alles widerspiegelt, weil er keinen festen Inhalt hat.
Er zeigt genau die Dinge, die sich vor ihm befinden.
Meister Wanshi vergleicht dies mit einem Echo im Tal. Das Tal ist leer, und es schickt die Töne
zurück, wie der Spiegel die Formen zurückschickt. Wenn wir Zazen praktizieren, finden wir
diesen Geist wieder, der nicht an Töne oder Formen gebunden ist. So ähneln wir einem Spiegel
oder einem Tal und können daher die wahre Freiheit wieder finden. Wanshi nennt das „im
Samadhi spielen“, ohne Hindernisse in völliger Freiheit. Selbst wenn es eine Form in unserer
Praxis gibt, eine Form der Haltung, eine Art und Weise sich zu konzentrieren, so gibt es im
Grunde keine feste Form, und wir müssen darauf achten, dass unser Geist nicht einer bestimmten
Form ähneln soll. Das heißt, ohne eine vorgefertigte Idee der Realisation zu praktizieren. Ohne
feste Form zu werden, ist genau diese Realisation. Deshalb kann man nicht von den anderen und
auch nicht von sich selbst ausgenutzt werden.

Mondo
F: Warum ist die Kiefernadel, die wir auf unserem Rakusu tragen, ein Symbol für das Soto-Zen?
RR: Weil die Kiefer gerade und senkrecht wächst, wie die Haltung in Zazen. Sie ist ein Baum,
der in den Bergen wächst. Zazen praktizieren wird häufig damit verglichen, sich in den
Bergwald zurückzuziehen. Den Bergwald zu betreten bedeutet, die Welt des Egos zu
verlassen, die Welt der menschlichen Machenschaften, der menschlichen Sorgen, der
Anhaftungen.
Vielleicht auch, weil die Kiefer immer grün ist. Das erinnert an ständige Frische, so wie der
Geist in Zazen. – Man kann sicherlich allerlei Bedeutungen finden, aber das ist nicht so
wichtig. Im Zen sind Symbole nicht sehr wichtig. Wichtig ist die Praxis selbst und nicht das
Grübeln darüber, was die Symbole wohl bedeuten. Aber wenn man selbst im Zazen wie ein
Baum wird, wenn man Zazen so praktiziert, als würde man einen Bergwald betreten, dann
ändert man seinen Geist. Es ist etwas anderes als zum Beispiel in ein Café zu gehen mit
Menschen und Lärm. Das Betreten eines Bergwaldes ist ganz anders. Das gilt auch, wenn
man das Dojo betritt. Man betritt wirklich eine andere Welt, nicht nur symbolisch. D.h.
seine gewöhnlichen Sorgen wirklich aufgeben, um sich nur auf die Haltung zu
konzentrieren und wie eine Kiefer zu werden.
F: Der Buddhismus lehrt uns, dass das Ego ohne Substanz und unbeständig ist, dass wir keine
Seele haben, jedenfalls nichts Individuelles, das andauert. Meine Frage hat zwei Teile. Wenn
man das betrachtet, was ich eingehend sagte, wer verwirklicht dann die Realisierung?
RR: Niemand. Wenn es niemanden mehr gibt, dann ist die Realisation da.
F: Ich hatte diese Antwort ein bisschen erwartet. Deshalb hat meine Frage einen zweiten Teil.
Wenn die Verwirklichung einmal realisiert wurde, wer macht dann die Erfahrung?
RR: Es gibt kein Ego, das eine Erfahrung macht. Es gibt nur das Erfahren selbst. Wahre
Realisation ist eine Erfahrung ohne ein Ego, das sich ihrer bemächtigt. Wenn man sich sagt:
„Ah, ich habe Satori realisiert!“ – es gibt Leute die so denken -, dann ist es ein Beweis dafür,
dass man es nicht realisiert hat. Dann ist da noch jemand. Unsere Praxis geht über die
Realisation hinaus. Nicht bei den Illusionen, bei den Anhaftungen stehen bleiben, aber auch
nicht bei der Realisation. Es geht darum, über diese geistige Haltung, die etwas erhalten
möchte, hinaus zu gehen.
Du musst das selbst erfahren. Du bist hier mit deinen Fragen, deinen Schubladen, und willst
unbedingt etwas in diese Schubladen stecken.
F: Was bringt uns dazu, etwas zu verwirklichen, das niemand verwirklicht oder erfährt?
RR: Die Unzufriedenheit, in diesem Ego eingesperrt zu sein, das immer etwas erfassen möchte.
Es fühlt sich eingeengt, in Dualität mit allem und ist unzufrieden. Diese Unzufriedenheit
kann man durch Aufgeben lösen. Das ist aber nicht möglich, wenn man mit der gleichen
Mentalität, mit der Mentalität des Egos, das etwas ergreifen will, weiter praktiziert. Das ist
so, als würde man versuchen, Feuer mit Feuer zu löschen. Das ist nicht möglich.
Deine Fragen sehr tief und eindringlich, aber du kannst sie mit dem Geist, den du jetzt hast,
nicht lösen. Denn der Geist, der diese Fragen stellt, und der Geist, der diese Antworten
realisieren kann, sind ganz unterschiedlich. Du hast zwar einen Geist, der dich zu diesen
Fragen geführt hat. – Das ist ein wirklicher Geist, es sind keine schlechten Fragen. – Aber
die Antwort kann nur von einer Realisation her kommen, die jenseits des Geistes ist, der
diese Fragen stellt. Es muss eine Umkehr stattfinden. Manche Menschen beharren fest auf
solche Fragen. Ein fester Stockschlag ist die einzige Lösung, um ihnen zu helfen.
F: Vor einigen Tagen haben wir etwas über Karma gehört, dass schlechte Taten schlechte
Wirkungen nach sich ziehen. Ich habe an viele Menschen gedacht, die ihr Leben lang
schlechte Taten vollbracht haben und dann sehr schnell und schmerzlos gestorben sind. Am
Ende des Lebens stirbt der Körper und es gibt auch keine ewige Seele. Ich habe mich gefragt:
Wer erfährt die schlechten Wirkungen?
Nach deiner Antwort eben hab ich jetzt eine neue Frage: Es scheint mir so, dass es zwecklos
ist, gute Dinge zu tun, wenn man nicht gleichzeitig auf der Suche ist.
RR: Selbstverständlich. Das Karma ist die Welt des Egos. Es hat eine relative Existenz. Unsere
Taten haben gute oder schlechte Auswirkungen. Das hängt von ihrer Natur ab. Aber diese
Auswirkungen sind nur die Fortsetzung der Taten. So wie die Wiedergeburt die Fortsetzung
eines vorherigen Lebens ist, aber es ist nicht an eine Person gebunden. Es ist kein Ego, das
wiedergeboren wird.
Jedes Mal, wenn ihr solche Fragen stellt, denke ich immer, dass das die schlimmsten Fragen
sind, die ihr stellen könnt. Fragen über das Karma sind sehr schwierig. Was am Ende
transmigriert, was sich fortsetzt, ist das Karma selbst. Es ist der Prozess des Karmas. Aber
es gibt keine substanzielle Seele, die dieses Karma erschafft und die Auswirkungen
empfängt.
Es gibt viele Vergleiche mit der Landwirtschaft. Sie beginnen immer mit der Saat: Eine
ausgewachsene Eichel trägt Früchte, die Eicheln fallen auf den Boden, und ein neuer Baum
wird sich daraus entwickeln. Diese neue Eiche ist die Fortsetzung der Eiche, von der die
Eichel stammt. Sie ist nicht dieselbe Eiche, aber sie ist auch nicht ganz anders. Es ist wie die
Fortsetzung eines Prozesses. So ist das Karma. Wenn man die Schriften des Buddhismus zu
diesem Thema gut studiert, findet man interessante Erklärungen, aber keine kann wirklich
den Geist zufrieden stellen. Man kann sich nicht vorstellen, wie das konkret funktionieren
soll.
Man kann es auch als Mythos betrachten. Manchmal sage ich mir, Karma und Wiedergeburt
sind Mythen. Wenn man sie als Mythen betrachtet, das heißt, wenn man sie nicht
wissenschaftlich beweisen kann, sind die Auswirkungen, die durch den Mythos erzeugt
werden, das eigentlich Wichtige.
Ich finde, dass dieser Mythos sehr positive Auswirkungen hat, denn er hilft, einen tiefen
Sinn für die Verantwortlichkeit unserer Handlungen zu bekommen und zu akzeptieren, dass
das Leben kein Chaos ist, sondern dass es eine gewisse Ordnung gibt und damit eine
Möglichkeit der Änderung, der Verbesserung. Gerade weil es keine wirklich befriedigende
Erklärung und keinen substanziellen Geist gibt, wird es uns möglich, uns zu befreien und zu
erwachen. Wenn es einen substanziellen Geist gäbe, wäre keine Befreiung möglich. Dann
gäbe es etwas Festes, Starres, das die Umwandlung, die Befreiung verhindern würde. Die
Schwierigkeit ist genau das, was die Realisation ermöglicht. Die Tatsache, dass es kein Ego
gibt und dass man die Kontinuität nicht erklären kann, ist die Wirklichkeit selbst, die
wesentliche Wirklichkeit. Wenn man dies tief versteht, dann hält die Transmigration an. –
Was transmigriert am Ende? – Nur eine Illusion.

Samstag, 22. Mai 2004, 7 Uhr
(Die Erde bebt kurz.)
Nach dem Erdbeben ist die ganze Natur völlig ruhig geworden. Selbst die Hähne vergessen zu
krähen. Shiki, die Phänomene sind völlig Ku, Leerheit geworden. Genauso erscheint aus Ku
wieder erneut Shiki. Unsere Praxis ist genauso, Rückkehr zur Stille, zum Nichtdenken. Aus der
Stille heraus erscheinen neue Töne. Genauso tauchen aus dem Nicht-Denken neue Gedanken
auf. Dies geschieht während Zazen unzählige Male. Es ist nicht notwendig, viele Dinge zu
studieren. Man beobachtet ganz vertraut, wie Phänomene auftauchen und verschwinden, auch
ganz kleine Phänomene. So kann man verstehen, wie die ganze Welt funktioniert.
Dazu sagt Meister Wanshi: „Wenn ihr einen einzigen Faden vollständig würdigen könnt, könnt
ihr der ganzen Welt und all ihrer Veränderungen auf angemessener Weise begegnen.“
Unser Körper und die ganze Erde sind nicht getrennt, im Grunde sind sie nicht verschieden. Sie
bestehen aus den gleichen Elementen und sind der gleichen Unbeständigkeit unterworfen. In
jedem Augenblick existieren sie genau so, wie sie sind, absolut.
So konzentriert man sich im Zazen auf seinen eigenen Körper. Der eigene Körper in Zazen ist
der Mikrokosmos, der ganz genau den Makrokosmos widerspiegelt. In der Praxis während eines
Sesshin lernen wir uns selbst kennen und uns mit dem zu harmonisieren, was wir in Wirklichkeit
sind. Wenn wir so praktizieren, lernen wir das ganze Universum kennen und auch, wie wir uns
mit der kosmischen Ordnung harmonisieren. Das nennt man Weisheit. Die gleiche Weisheit, die
vom Orakel von Delphi und von Buddha unterwiesen wurde und die jeden Morgen durch den
Hahnenschrei bestätigt wird.
Wanshi fügt hinzu: „Wenn ihr klar seht, dann werdet ihr nicht getäuscht oder ausgenutzt
werden, nicht einmal von den 10.000 Situationen. Der Schein des Mondes ruht auf dem Wasser,
der Wind weht in den Kiefern, Schatten und Licht verwirren uns nicht, Stimmen und Töne
behindern uns nicht. Der Wind kann überall wehen ohne irgendetwas zu stören.“
Es handelt sich hier nicht nur um poetische Bilder, die die Natur beschreiben. Schatten und Licht
sind auch unsere Gedanken, die erscheinen und verschwinden. Der Windhauch in den Kiefern ist
wie unsere Gefühle, die erscheinen und verschwinden ohne irgendetwas zu stören, ohne uns in
Bewegung zu versetzen. Und selbst wenn wir uns kurz bewegen, ist dies nicht schlimm. Alles
kehrt rasch zur Stille zurück wie nach dem Erdbeben.

Samstag, 22. Mai 2004, 11 Uhr
Während Zazen lässt man seinen Geist auf nichts verweilen. Der Geist fließt unabhängig von den
Gedanken oder den geistigen Fabrikationen, die auftauchen. Man ergreift sie nicht, man verwirft
sie nicht. Man macht nichts Besonderes, man will nichts Bestimmtes. Nichts stört uns. Wir
können im Gleichklang mit den Erscheinungen leben, die von Augenblick zu Augenblick
auftreten. Selbst wenn wir stets die geistigen Beschmutzungen, die erscheinen, aufgeben, sind
wir, wie Meister Wanshi sagt, noch nicht in unserem Zuhause, in unserer ursprünglichen Bleibe
angelangt. Denn wir müssen noch die Reste unserer alten Konditionierungen beruhigen. Dazu
müssen wir aufmerksam und sehr schnell sein. Unsere geistigen Gewohnheiten zeigen sich
rasch. In unserer Zazen-Praxis ist es wichtig, sich über das, was geschieht, schnell bewusst zu
werden, und ebenso das, was erscheint, schnell fallen zu lassen. Sonst wird man wieder von
seinen alten Konditionierungen mitgerissen.
So kann man sitzen, ohne von den Ängsten des täglichen Lebens gestört zu werden. Unsere
Sorgen beruhigen sich. Nichts ist wirklich wichtig. Einfach gegenwärtig und in jedem
Augenblick in Berührung mit unserem Leben sein. Mit einem klaren und leuchtenden Geist.
Still. Selbst wenn unser Geist sich aus Gewohnheit während Zazen schon mal davon macht und
auf der Suche nach etwas anderem ist, bringt man ihn schnell zurück zum Kontakt mit der
Haltung und der Atmung. Man lernt das Einfach-Sitzen-Können schätzen und sieht es als das
Wichtigste an. Dies geschieht natürlich in dem Moment, in dem wir in Zazen sitzen. Das
bedeutet, sich augenblicklich mit seinem Leben zu versöhnen. Nichts ist wichtiger als völlig hier
und jetzt zu sitzen. So kann man alle Leiden aufgeben und wahrhaft zufrieden sein. In Frieden.
Diese Zufriedenheit, dieser Frieden, setzt sich in allen Handlungen des täglichen Lebens fort,
indem man in jedem Moment jede Handlung so lebt, als wenn sie am wichtigsten wäre. Dann ist
es wahrhaftig so, als wäre man nach Hause zurückgekehrt. Nicht nur mit uns selbst vertraut
werden, sondern auch mit all unseren Vorgängern, unseren Vorfahren auf dem Weg, deren
Namen wir heute Morgen gesungen haben. In diesem Moment, in dem man am vertrautesten mit
sich selbst wird, kann man die universelle Wahrheit verwirklichen, in der es nicht mehr ich und
die anderen, in der es keine Trennungen mehr gibt. Eine große Vertrautheit, eine große
Vereinigung aller Wesen, mit denen wir die Bedingungen teilen.
Meister Wanshi sagt: „Wenn wir unser wahres Gesicht, unsere wahre Form kontemplieren,
kontemplieren wir Buddha.“

Samstag, 22. Mai 2004, 16.30 Uhr
Mondo
F: Wie funktioniert die Beziehung von Meister zu Schüler und warum funktioniert sie manchmal
nicht?
RR: Auch wenn sie nicht funktioniert, funktioniert sie. Die Meister-Schüler-Beziehung ist keine
Beziehung, die immer ohne Hindernisse und ohne Schwierigkeiten ablaufen muss. Wenn es
eine Schwierigkeit, ein Hindernis oder eine Konfrontation, z.B. eine Uneinigkeit gibt, ist es
Teil der Meister-Schüler-Beziehung, diese zu lösen. Es ist wichtig, in dem Moment darüber
zu reden und sich zu öffnen. Zweifel, Unverständnis, Missverständnisse oder gar Konflikte
kommen vor. Meister Dogen nannte dies Katto, Verwicklungen des Lebens, ähnlich wie
Bonno. Aber dadurch festigt sich auch eine Beziehung. Meister Dogen verglich es mit
Glyzinien, Schlingpflanzen. Durch Schwierigkeiten in einer Beziehung, durch Konflikte,
Zweifel oder Missverständnisse festigt sich die Verbindung. Es ist jedes Mal eine
Gelegenheit, seinen Geist zu klären.
Wenn man das nicht versteht und glaubt, die Meister-Schüler-Beziehung bedeute nur blauer
Himmel ohne Probleme, ohne Schwierigkeiten, hat man, sobald eine Schwierigkeit
auftaucht, den Eindruck, dass nichts mehr funktioniert. So wie wenn man verliebt ist und bei
dem ersten Problem denkt, dass die Beziehung doch nicht so perfekt ist. Aber gerade in
schwierigen Situationen kann man eine Beziehung vertiefen. Wenn du ein Problem mit mir
hast, musst du es sagen. Worüber sprichst du? Über uns, über dich, über mich oder
allgemein?
F: Es gibt manchmal Leute, die sich nicht gut verstehen, wie im Leben.
RR: In Zen-Beziehungen gibt es natürlich auch Affinitäten und andererseits Personen, die nicht
übereinstimmen. Aber gerade in Zen-Beziehungen sollte man über persönliche Eigenschaften
hinausgehen. Doch im Allgemeinen richtet man sich nach Affinitäten wie im
normalen Leben. Die Menschen wählen z.B. einen Godo danach aus, ob sie ihn sympathisch
finden. Selten wählt jemand einen Godo gerade deswegen, weil er ihn stört. Das ist
eigentlich schade. Derjenige, der den Geist des Weges, Doshin, hat, sollte eher den Godo
wählen, mit dem er die meisten Probleme hat. Man wählt keinen Meister, damit er das, was
man sagt oder tut, immer bestätigt. Wenn man sich einer Beziehung mit Gegensätzen und
Streitigkeiten aussetzt, hat man Gelegenheiten, sich in Frage zu stellen.
Ich bin in der Regel recht freundlich und gehe mit Menschen freundlich um – nicht immer,
aber meistens. Aber wenn ich damit aufhöre, wenn ich mich aus gutem Grund und im
Interesse des anderen aufrege, fällt mir auf, dass die Leute mit Verständnislosigkeit
reagieren und denken: „Er versteht mich nicht mehr. Es ist nicht mehr so wie vorher. Etwas
hat sich geändert.“ In diesem Moment wird eine Beziehung jedoch wahrer und müsste sich
vertiefen.
Ich hoffe, du kannst damit etwas anfangen.
F: Für wie wichtig hält du es, dass man während eines Sesshin die Kusen in der jeweiligen
Sprache versteht?
RR: So weit möglich schon, weil Kusen dazu da sind, um kommuniziert und empfangen zu
werden. Aber manchmal versteht man sie nicht sofort. Das ist nicht so schlimm. Man kann
sie einfach vergessen. Später denkt man wieder daran und versteht plötzlich Dinge, die man
beim ersten Mal nicht verstanden hat. Kusen wiederholen sich oft. Das erste Mal hat man
sie vielleicht nicht verstanden, aber irgendwann hört man etwas Ähnliches. Wenn man einen
Nagel einschlagen will, ist man beim ersten Schlag erschrocken, beim zweiten Schlag geht
es etwas besser und beim dritten Schlag ist der Nagel drin.
Was hast du nicht verstanden?
F: Ich verstehe sehr gut, was du sagst, weil es übersetzt wird. Aber in Zukunft möchte ich mehr
Sesshins von dir besuchen, und da ich zurzeit nur sehr wenig französisch spreche, könnte es
vielleicht zu einem Hindernis für mich werden.
RR: Dann kannst du dich mit den Leuten, die die Notizen aufnehmen, in Verbindung setzen und
jemanden bitten, die Texte zu übersetzen. Aber es ist schon nicht schlecht, wenn du alle
Sesshins besuchst, die auf Deutsch übersetzt werden. Wenn ihr mehrere Deutsche seid, z. B.
in Belgien, wo die Kusen ins Flämische übersetzt werden, kann jemand nachmittags die
Kusen noch einmal zusammenfassen. Aber auf einem Sesshin gibt es nicht nur Kusen,
sondern die Zazen-Praxis, Mondo, Dokusan. Man kann auch bei einem Dokusan um eine
Übersetzung bitten. Ich kann auch ein bisschen Deutsch sprechen.
F: Wir haben in den Workshops über Leben und Tod gesprochen. Das Leben ist das ganze
Leben, der Tod ist der ganze Tod. Du hast im Kusen einmal von den sechs Welten gesprochen,
von unterschiedlichen Ebenen, die auch vergänglich sind. Was ist mit den Devas, Geistern.
Wozu gehören sie?
RR: Im Zen-Weg sind dies vor allem Geisteszustände. Aber in der buddhistischen Tradition sind
es auch Orte der Wiedergeburt, Bedingungen für die Wiedergeburt. Es ist zum Beispiel sehr
konkret, wenn man als Tier wiedergeboren wird. Man wird ein Tier wie derjenige, der als
Fuchs wiedergeboren wurde. Ein Fuchs ist ein Fuchs.
Aber im Zen sieht man die Wiedergeburt eher so: Was wird den Geisteszustand in einem
Leben dominieren? Manche Leute werden in ihrem Leben von Aggressivität, Hass und
Konflikten dominiert. Das gibt ihrem Leben eine bestimmte Färbung, eine bestimmte
Prägung. Diese Leute haben eine Art Wiedergeburt als aggressive Geister. Andere Leute
werden in ihrem Leben eher von Tierinstinkten beherrscht. Andere werden eher von Sorgen
um die Arbeit, um die Familie beherrscht.
Aber jeder durchläuft all diese Zustände nicht nur in seinem Leben, sondern an einem Tag
oder sogar bei einem einzigen Zazen. Das entspricht eher der Sichtweise der Zen-
Unterweisung. Man kümmert sich nicht so um die Wiedergeburt, man kümmert sich um das
Hier und Jetzt. Wie wird man von einem Augenblick zum anderen wiedergeboren, abhängig
von seinem Geisteszustand? Dies ist sehr wichtig. Dies ist Shoji, die Unbeständigkeit,
Geburt und Tod, nicht nur nach dem Tod, sondern im Leben selbst, jeden Tag, in jedem
Augenblick. Es wird Nirvana, dem Erlöschen, entgegen gesetzt.
Der wichtige Punkt von Shoji im Shobogenzo ist es, dieses Gegenüberstellen zu beenden.
Sehen, dass es selbst in der Mitte der Erscheinungen und der Transmigration in den sechs
Welten die Möglichkeit gibt, das Erwachen zu erlangen und sofort die Welt des Shoji, das
Samsara, in Nirvana umzuwandeln. Einfach indem wir unser Bewusstsein ändern.
Ich möchte noch etwas hinzufügen, um es für diejenigen etwas klarer zu machen, die nicht
bei den Workshops dabei waren und das Shobogenzo Shoji nicht kennen. Es handelt sich um
einen Teil von Meister Dogens Unterweisung. Der Schlüssel, mit dem Samsara, diese Welt
der Transmigration, sofort zum Nirvana werden kann, ist, einfach aufzuhören, etwas
anderes zu wünschen, aufzuhören das Samsara zu hassen und das Nirvana zu begehren.
Genau diese Haltung von Liebe und Hass, der Gier etwas haben zu wollen oder im
Gegenteil etwas abzulehnen, provoziert das Samsara, die ständige Wiedergeburt von
Augenblick zu Augenblick, von einem Leben zum anderen. Das kann sofort ein Ende
haben. Der wahre Zen-Geist akzeptiert, was von Augenblick zu Augenblick auftaucht, ohne
Anhaftung und ohne Ablehnung. Das ist die Essenz selbst der Zazen-Praxis. Meister Sosan
lehrt es im Shinjinmei vom ersten Satz an: „Es ist nicht schwierig, den Weg zu
durchdringen, indem man einfach ohne Liebe, ohne Hass, ohne Auswahl und ohne
Ablehnung ist.“
Man kann sagen, dies ist die Grundlage unserer Praxis. Es ist genau die Antwort auf die
Frage von Shoji. Gerade jetzt, im Dojo, in der Praxis, nicht für irgendwann nach dem Tod
oder jenseits von irgendetwas.
F: Der vierjährige Sohn eines befreundeten Paares erzählte, dass er während seiner Geburt den
Kreißsaal von oben herab sehen konnte, die Ärzte, seinen Vater. Seine größte Angst war, nicht
zu wissen, wie man atmet, wenn man auf die Welt kommt. Ab welchem Moment hat man eine
Seele? Schon im Bauch der Mutter oder im Moment der Geburt?
RR: Es handelt sich da nicht um Seele. Seele ist ein metaphysischer Begriff. Man kann an eine
ewige Seele glauben oder nicht, das hat aber nichts mit dem Thema zu tun, von dem du
sprichst. Es hat etwas damit zu tun, dass ein Kind nach ungefähr dem 6. Monat bereits ein
ausreichend entwickeltes Gehirn und Nervensystem hat, um Empfindungen wahrzunehmen
und Erfahrungen zu machen. Es betrachtet natürlich nicht den Tag wie wir, aber es sieht
schon Dinge. Im Moment der Geburt sind Nervensystem und Gehirn gründlich ausgebildet.
Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen dem Moment vor der Geburt und nach der
Geburt. Kurz nach der Geburt sind die Augen geöffnet und die Nabelschnur ist durchtrennt,
aber der Geist entsteht nicht plötzlich. Die Fähigkeit zu fühlen und wahrzunehmen ist nach
und nach entstanden und funktioniert schon Monate vor der Geburt.
Es ist heutzutage bekannt, dass der Geisteszustand der Eltern, die Beziehung zwischen den
Eltern und der Kontakt mit dem Kind im Bauch sehr wichtig sind. Es handelt sich nicht um
einen unempfindlichen Gegenstand. Diese Geschichte ist außergewöhnlich, aber nicht
unverständlich.
F: Heute ist das Kind 10 Jahre alt, und es erinnert sich nicht mehr daran, was es seinen Eltern
erzählt hat.
RR: Es gibt einen amerikanischen Psychiater, der Tausende von Menschen, darunter auch
Kinder, zehn Jahre lang befragt hat. Nur sehr junge Kinder erinnerten sich oft nicht nur an
ihre Geburt, sondern auch an vorherige Leben. Diese Erinnerungen verschwinden sehr
schnell. Normalerweise befragt man Kinder nicht dazu. Nicht alle erinnern sich daran, aber
es ist nichts Außergewöhnliches. Es kommt öfter vor.
F: Die kürzeste Antwort wäre sicherlich ein Schlag mit dem Stock. Aber ich stelle die Frage
trotzdem: Was ist der Körper?
RR: Weißt du nicht was dein Körper ist, fühlst du ihn nicht?
F: Schon, aber ich möchte wissen, wie man die Sachen interpretiert, die er uns sagt, zum Beispiel
Schmerzen.
RR: Welche Frage hast du? Welche Frage stellst du dir wirklich? Was ist der Körper? Ich glaube
nicht, dass das deine Frage ist.
F: Wie soll ich mit Schmerzen umgehen?
RR: In der Zazen-Praxis verspüren alle Leute Schmerzen, vor allem während eines Sesshins. Das
scheint ein Widerspruch zu sein, weil man sagt, dass der Buddhaweg der Weg zur Lösung
des Leidens ist. Dann sagt man sich: „Vielleicht muss man leiden, um nicht mehr zu
leiden.“ Das scheint paradox.
Eigentlich ist es nicht so paradox. Denn wir suchen nicht das Leiden und unterwerfen uns
nicht einer schmerzhaften Praxis als einer Art Reinigung. Wir praktizieren Zazen, weil es
die beste und stabilste Haltung ist. Für die Menschen aus der westlichen Welt, die nicht
daran gewöhnt sind, auf dem Boden zu sitzen, ist die Haltung manchmal schmerzhaft, vor
allem, wenn man länger sitzt. Auch wenn wir diesen Schmerz nicht suchen und er nicht Ziel
unserer Praxis ist, kann man in gewisser Weise sagen, dass er sich während Zazen als
Chance bietet.
Sinn unserer Praxis ist es, das Leid zu lösen, wenn es da ist. Wie verhält sich unser Geist
dem Schmerz gegenüber? Wie gehen wir damit um? Wenn wir zum Beispiel im Alltag jede
Menge moralische und körperliche Leiden erleben, uns dann in Zazen setzen würden und
alles liefe prima, wenn wir in Zazen sitzend nichts mehr spüren würden und in einem
Zustand ohne Schmerzen, ohne Empfindung, ohne Wahrnehmung wären, dann würde uns
Zazen überhaupt nichts lehren. Es wäre nur eine bequeme, angenehme Angelegenheit; man
würde regelmäßig zur Zazen-Praxis zurückkehren, weil wenigstens in diesem Moment kein
Leiden mehr da wäre. Es wäre sicherlich so ähnlich, als würde man eine Droge wie
Morphium einnehmen. Man hätte etwas gefunden, das ganz plötzlich Leiden und
Schmerzen auslöscht. Aber es löscht nicht den Grund des Leidens. In unserer Praxis geht es
nicht nur darum, das Leiden zu lösen, sondern den Grund des Leidens.
Man kann natürlich den Schmerz an sich nicht abschaffen, aber das Leiden. Das ist ein
Unterschied. Schmerz ist unausweichlich, sobald man einen Körper hat. Der Körper hat
Nerven und manchmal verspürt man Schmerzen. Das gehört dazu, nicht nur in Zazen,
sondern auch, wenn man müde oder krank ist, wenn man sich zu sehr anstrengt. Einfach
durch die Tatsache, dass man einen Körper und Empfindungen hat, ist man Schmerzen
ausgesetzt.
Der Zweck des Buddha-Wegs ist nicht, Schmerzen abzuschaffen, sondern das Leiden in
Bezug auf Schmerzen zu lösen. Leiden ist unsere Reaktion auf Schmerz. Genau diese
Reaktion der Ablehnung, der Feindseligkeit, der Verspannung, diese ablehnende, feindliche
Haltung dem Schmerz gegenüber, dieser Hass auf den Schmerz führt dazu, dass ein
einfacher Schmerz im Knie oder im Rücken sich zu etwas Dramatischem entwickelt, zum
Leiden. Es kann auch dazu kommen, dass man Zazen ablehnt oder den Godo der einen dazu
bringt, sitzen zu bleiben. Es gibt alle möglichen Reaktionen. Aber gerade diese Momente
können dazu führen, dass man sein eigenes Ego besser versteht, besser versteht, wie es
funktioniert, wie es etwas Angenehmes möchte oder etwas ablehnt, was nicht angenehm ist.
Deswegen transmigriert das Karma. Dem hinterherzulaufen, was man liebt, und vor dem zu
fliehen, was man nicht liebt, nimmt kein Ende. Die Praxis von Zazen heißt zu lernen,
zentriert und heiter zu sein, ob man sich nun gut und glücklich fühlt oder aber Schmerzen,
Verspannungen oder Müdigkeit empfindet. All diese Zustände einfach durchqueren, indem
man am besten auf die Atmung konzentriert bleibt, mit dem atmet, was geschieht, und die
Funktionsweise des Geistes beobacht. Sehen wie mentale Spannungen auftauchen und
Aggressivität, Depressionen und Entmutigung entstehen. Es einfach betrachten und vorbei
ziehen lassen. Sich mit diesen negativen Emotionen nicht identifizieren, sie aber auch nicht
ablehnen, sonst wird alles noch komplizierter. Wenn man bereits einen körperlichen
Schmerz hat, revoltiert man dagegen und fühlt sich anschließend schuldig, weil man
revoltiert. Dann gibt es keine Ende mehr, das häuft sich an.
Zazen dagegen baut diese Spirale von Prozessen ab. Nicht etwas hinzufügen, sondern etwas
davon wegnehmen. Und plötzlich wird es eine große Unterweisung für das Leben. Meister
Deshimaru nannte es „das Entdramatisieren des Schmerzes“. Das ist die grundlegende
Unterweisung Buddhas: entdramatisieren. Unser Ego dramatisiert gern und fügt etwas
hinzu. Im Zazen lernt man, dass an einer kleinen Sache überhaupt nichts ist. Man geht einen
Schritt zurück.
F: Gibt es im Leben einen Unterschied zwischen einem Bodhisattva und einem Mönch?
RR: Im Grunde nicht. In der Tatsache, dass man Zazen praktiziert, gibt es keinen Unterschied.
Mönche, Bodhisattvas, Nicht-Ordinierte praktizieren normalerweise auf die gleiche Weise.
Aber der Platz, den Zazen im Leben einnimmt, ist anders. Der Bodhisattva legt das Gelübde
ab, seine Zeit, sein Leben zu widmen, um den anderen zu helfen. Von diesem Gelübde aus
ist ein Mönch noch mehr verfügbar, um die Praxis zu fördern und mit anderen zu teilen. Er
gibt seine egoistischen Anhaftungen auf, um verfügbar zu sein und seine Bodhisattva-
Gelübde wirklich erfüllen zu können. Es ist eine Wahl der Lebensweise. Was die meisten
Menschen beschäftigt, wird aufgegeben oder zumindest reduziert, um der Sangha, der
Gemeinschaft der Praktizierenden, und allen Wesen zu helfen, die Hilfe brauchen.
Heutzutage sind die Dinge komplizierter, weil die Mönche sich weder von der Familie noch
von der Arbeit trennen. Sie befinden sich im Großen und Ganzen in der gleichen Situation
wie die Bodhisattvas. Morgen werden zwei Bodhisattvas zu Mönchen ordiniert. Sie werden
nach Hause zurückkehren, ohne dass sich ihre Lage geändert hat. – Es sei denn, dass ihre
Frauen ihnen eine kleine Mitteilung unter die Tür schieben, auf der steht, dass sie nicht mit
einem Mönch zusammen leben möchten. Aber ich denke, dass das nicht der Fall sein wird. –
Nach außen hin wird es nicht so aussehen, als hätte eine Änderung stattgefunden. Eine
Änderung kann sich aber im Geisteszustand vollziehen.
Während der Ordination macht man Sampai in Richtung seiner Familie. Früher bedeutete
das einen wirklichen Abschied, eine wirkliche Trennung. So wie es auch bei anderen
Mönchen, z.B. den Benediktinern, geschieht, wenn sie in ein Kloster eintreten: Sie verlassen
ihre Familie. Seit einem Jahrhundert ist das für die Zen-Mönche nicht mehr notwendig.
Aber es ist wichtig, in diesem Moment die Beziehung zu seiner Familie noch einmal zu
betrachten und zu ändern und die Familie als Teil von Shujo, von allen fühlenden Wesen zu
sehen, denen man helfen möchte. Dann wird die Familie zu einem Ort der Praxis, des
Weges und des Mitgefühls und kein Knoten der Anhaftung. Vor allem im Geisteszustand
muss eine Änderung stattfinden.
Es ist nicht notwendig sich von etwas zu trennen. Das gilt auch für die Arbeit. Der
Arbeitsplatz kann durchaus ein Ort der Praxis des Weges sein. Manchmal ist das nicht
einfach, aber es gibt immer Mittel. Wenn man Mönch wird, sucht man keine berufliche
Karriere mehr. Man hat keine Ambition mehr, Chef oder Direktor der Firma zu werden.
Wenn dies zufällig geschieht, dann nicht als Ergebnis einer persönlichen Ambition, sondern
weil man den anderen Dienste erwiesen hat.
Im Bereich der Wirtschaft befinden wir uns in einem Netzwerk wechselseitiger
Abhängigkeit. Es gibt Kollegen, Chefs, Kunden, Lieferanten, jede Menge Beziehungen
werden in einem Berufsleben geknüpft. Diese Beziehungen können Gelegenheit werden, die
Paramita, die Praktiken des Bodhisattvas, zu praktizieren. – Das ist nicht unbedingt
idealistisch oder unrealistisch. Es kann die Möglichkeit bieten, seinen Beruf besser
auszuüben.
Das sind die hauptsächlichen Änderungen.
Welches Problem stellt sich für dich? Überlegst du, eines Tages Mönch zu werden? – Wenn
man sich als Bodhisattva diese Frage stellt, muss man überlegen, zu welchem zusätzlichen
Engagement man auf dem Weg bereit ist. Ist man bereit, persönliche Anhaftungen
aufzugeben, um den Mönchsweg zu beschreiten, um innerlich verfügbarer zu sein, für die
Praxis mit den anderen? Wenn man wirklich fühlt, dass dies die einzig wichtige Sache in
seinem Leben ist und dass der Rest nicht so wichtig ist, hat man bereits den Geist des
Mönches. In diesem Fall ist die Ordination nur eine Bestätigung, dass man bereits diesen
Geisteszustand hat. Dazu kommt, dass man durch die Ordination Schüler des Godos wird,
der einem die Ordination gibt. In der Vergangenheit hat man dies zu wenig erwähnt. Noch
heute vergesse ich manchmal darüber zu sprechen. Man muss darüber sprechen, man muss
es wissen. Das gibt der Praxis eine andere Dimension.
F: Eben wurde die Frage nach dem Körper gestellt. Was ist mit dem Geist?
RR: Der Geist ist unfassbar. – Während der Vorbereitung gab es bereits eine derartige Frage. Ich
habe schon über die zahlreichen Aspekte des Geistes gesprochen. Der Geist funktioniert
nicht immer gleich. Was man am Ende wahrnehmen kann, sind Funktionsweisen des
Geistes. Den Geist selbst kann man niemals fassen. Manchmal hat man Gedanken. Man
denkt nach, der Geist manifestiert sich. In anderen Momenten empfindet man Gefühle, eine
andere Funktionsweise des Geistes. In diesem Fall ist der Geist eher das Herz. In wieder
anderen Momenten praktiziert man Zazen und realisiert einen Geist, der sich mit nichts
identifiziert.
Man kann immer das Wirken des Geistes spüren, aber nicht die Quelle. Den Geist selber
kann man nicht erfassen. Aber man kann sehen, wie er funktioniert. Die Quelle ist nicht
fassbar. Daher sagt man, dass die Quelle rein ist. Zur reinen Quelle zurückkehren heißt, zu
diesem Geist zurückzukehren, den man nicht greifen und nicht definieren kann. In der
Zazen-Praxis ist dies sehr wichtig. Aus diesem Grund kann deine Frage nicht beantwortet
werden. Würde man sagen, der Geist ist dies oder das, wäre es eine sehr schlechte Antwort.
Ich hoffe, du erwartest nicht eine derartige Antwort.
F: Ich glaube zu verstehen, dass eine Antwort mit Worten nicht gegeben werden kann.
Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass trotzdem aufgrund der Praxis eine Ahnung besteht, dass
es etwas gibt, was man so nicht beschreiben kann und was man den Geist nennt. Aber dennoch
besteht die Sehnsucht zu beschreiben, um zu dem Zustand der reinen Quelle zurückzukehren.
RR: Meister Wanshi und Meister Dogen haben viele Jahre damit verbracht, über diesen reinen
und unfassbaren Geist zu sprechen. Sie haben ihn aber nie beschreiben können. Es gibt
Bilder, die eine Vorstellung davon geben, worum es sich handelt. Aber vor allem haben sie
die Weise gelehrt, wie man praktiziert, die Möglichkeit, selbst einen Geist zu erfahren, der
von allen Identifikationen befreit ist, einen offenen, freien, nicht starrem Geist.
F: Ist Zen nicht eher eine Praxis als eine Beschreibung eines kosmischen Systems?
RR: Ja, Zen ist sicherlich eher eine Praxis. Aber das heißt nicht, dass es in dieser Praxis keine
Realisierung eines kosmischen Prinzips gibt. Aber es ist sehr schwierig, dieses kosmische
Prinzip mit Worten zu beschreiben, weil es zu umfassend ist. Man kann es daher besser
durch die Praxis mit dem Körper und mit der Atmung erfahren, indem man die mentale
Funktionsweise aufgibt, die immer etwas beschreiben und in Kategorien fassen will. Dann
funktioniert der Geist auf eine andere Art, ein intuitiver Geist, der direkt die Wirklichkeit so
empfindet, wie sie ist, und der nicht mehr die Notwendigkeit spürt, alles mit Wörtern zu
beschreiben oder Etiketten aufzukleben.
Das Wichtigste ist doch: Wie funktioniert man eigentlich? – Im Zen geht es nicht darum,
sich eine Idee von der Wirklichkeit zu machen, so wie sie ist, keine Art Philosophie oder
Konzeption, sondern um die Frage: „Wie lebt man wirklich in jedem Augenblick?“, „Wie
funktioniert man?“, „Wie benutzen wir unseren Geist?“, „Wie funktionieren wir mit
unserem Körper und unserem Geist in jedem Augenblick?“ – Das ist am Wichtigsten.

Sonntag, 23. Mai 2004, 7 Uhr
Während Zazen konzentriert man sich fortwährend auf die Haltung. Das Becken ist nach vorne
geneigt, Wirbelsäule und Nacken sind gestreckt. Man drückt mit dem höchsten Punkt des Kopfes
in den Himmel. Immer wieder kehrt man zu dieser Haltung zurück, denn wenn der menschliche
Körper die Form der Zazen-Haltung einnimmt, findet er seine wahre Form wieder.
Wanshi sagt: „Wenn wir unsere wahre Form kontemplieren, kontemplieren wir Buddha.“
Obwohl die Form der Zazen-Haltung präzise beschrieben wird, verwirklichen wir, wenn wir
unsere ganze Aufmerksamkeit auf diese Form, diese Haltung richten, letztlich die Nicht-Form.
Das heißt, wir verwirklichen einen Geist, der nicht mehr an Formen haftet, der keine
Trennungen, keine Gegensätze zwischen einer Form und einer anderen Form schafft.
Oft haben die Leute Probleme damit, einer bestimmten Form zu folgen, besonders in Europa. Als
z.B. das Oryoki-Ritual beim Essen eingeführt wurde, haben sich einige widersetzt und es
Formalismus genannt. Egal was man tut, welche Handlung man ausübt, welche Haltung man
einnimmt – wir existieren in einer Welt der Formen. Wir können uns nicht von den Formen
lossagen. Wenn wir uns vollständig auf die Form konzentrieren, die unterwiesen wurde, handelt
es sich nicht um eine Form, die von unserem Ego erschaffen wurde, sondern um eine
empfangene und anerkannte Form. Man kann sich selbst in dieser Form vergessen und sein
eigenes Ego aufgeben. Dieses Aufgeben ist die wahre Befreiung, die es uns ermöglicht wirklich
jenseits aller Formen zu sein, jenseits von Anhaftung an Formen, die wir erschaffen. Es ist das
Gleiche, wenn man ein Kesa näht und sich darauf konzentriert. Würden wir unseren Ideen
folgend eine Art Patchwork erzeugen, wäre dies nur Ausdruck unseres eigenen Egos. Aber wenn
man der wahren übermittelten Form folgt, gibt man seine persönlichen Besonderheiten auf und
verwirklicht einen Geist ohne Form, Muso, der die Pforte zum wahren Glück ist, das nicht von
unseren egoistischen Kategorien eingeschränkt wird.
Gestern hat jemand beim Mondo eine Frage nach der wahren Natur des Körpers gestellt. Genau
sie kann man intuitiv in der Zazen-Haltung verwirklichen. Durch die Konzentration auf die Form
der Haltung realisiert man die Nicht-Form. Durch die Konzentration auf den Körper realisiert
man die wahre Natur des Körpers, die eine Nicht-Natur ist. Sie ist nicht etwas, das man
definieren oder begrenzen kann. Der Körper wird in Zazen der Körper Buddhas, der Körper des
Dharma, ein Körper in Einheit mit dem ganzen Universum. Das kann nicht definiert oder erklärt
werden, aber man kann es vertraut erfahren, jenseits des Denkens.
Wanshi bringt dies zum Ausdruck, indem er sagt: „Wenn ihr selber diese Erfahrung ohne
Zerstreutheit machen könnt, das heißt voller Konzentration, seid ihr jenseits von
Voreingenommenheit, von Auswahl, von Bevorzugung und geht über jede Begriffsbildung
hinaus. So wird man allen Erwachten, allen Buddhas ähnlich, die das Wesentliche ohne
Dualismus verwirklichten.“
Auf diese Weise können wir einen vollständig ruhigen Geist wiederfinden und in die
Wirklichkeit unseres Lebens vertraut eindringen, jenseits von all unseren Gedanken, ohne von
unseren Gedanken eingeschränkt zu werden. Dann haben wir es nicht mehr nötig, von anderen
abhängig zu sein. Wir können unsere eigenen Erfahrungen machen und völliges Vertrauen in
unsere Praxis haben. Das ermöglicht uns, unsere Energien zu befreien und alle Hindernisse zu
überwinden. Von dieser Erfahrung aus werden wir in die Welt des Alltags zurückkehren und
Situationen, die auftreten werden, ganz natürlich und ohne Anstrengung begegnen.
Wanshi sagt: „Genauso wie Wolken, die ruhig vorbeiziehen und ihren Regen fallenlassen. Sie
ziehen über alle Hindernisse hinweg“. So wie Zen-Nonnen und -Mönche, Unsui, die diese
Freiheit der Wolken haben und dieses Wassers, das überall frei entlang fließt.

Sonntag, 23. Mai 2004, 11 Uhr
Während dieses Frühlingslagers haben wir uns auf die Praxis von Zazen und Gyoji konzentriert,
ohne uns an irgendeinen Gegenstand zu haften, indem wir uns einfach auf die Haltung selbst
konzentriert haben, vollständig frei von jedem Hintergedanken und jeder Absicht. So haben wir
die Praxis erfahren können, die selber Befreiung ist, die Rückkehr zu einem einfachen freien
Geist, entblößt von unseren geistigen Erzeugnissen. Wir haben in unserem Geist Raum finden
können.
Jetzt werden wir in unser gewohntes Leben zurückkehren. In diesem Leben kann man natürlich
nicht ständig ohne Zielsetzung sein. Man hat Verantwortlichkeiten, man muss Aufgaben
erfüllen. Aber ausgehend von der Erfahrung des Sesshins kann man sich so gut wie möglich auf
das konzentrieren, was man zu tun hat, ohne egoistisches Ziel, indem man seine Zeit und seine
Energie in den Dienst für andere stellt. Auf diese Art und Weise aktualisiert man die Praxis des
Weges im Alltag, indem man auch darauf achtet, nicht zu viele Gegensätze und Unterschiede
zwischen der Praxis im Dojo und dem Rest unseres Lebens zu schaffen. Das heißt, aus unserem
Leben eine Gesamtheit schaffen, ohne Trennungen, zurückkehren zum religiösen Geist selbst,
mit seinem wahren Geist verbunden sein, so dass er sich in allen Aspekten unseres Lebens
ausdrücken kann.

Leerheit – 05.2013 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 4.-12. Mai 2013 während
des Frühjahrslagers in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche übersetzt.

Samstag, 4.5.2013, 7 Uhr
Konzentriert euch ab Beginn des Zazen völlig auf eure Haltung. Neigt gut das Becken nach vorne
und drückt gut mit den Knien auf den Boden. Entspannt den Bauch. Lasst das Körpergewicht auf
das Zafu und die Knie drücken, sodass ihr euch gut in eurer Haltung verwurzelt fühlt, stabil. Streckt
ausgehend von der Taille die Wirbelsäule und den Nacken, so als wolltet ihr den Himmel mit der
Schädeldecke drücken. Entspannt zugleich die Schultern. Zieht das Kinn zurück. Entspannt gut alle
Anspannungen des Rückens und des Nackens. Auch das Gesicht ist entspannt, insbesondere die
Kiefer. Der Mund ist geschlossen und die Zunge liegt am oberen Gaumenrand hinter den
Schneidezähnen.
Der Blick ruht vor einem auf dem Boden. Vermeidet es, die Augen zu schließen. Es ist nicht nötig,
die Augen zu schließen, um sich zu konzentrieren. Die sichtbaren Objekte um uns herum stören
nicht die Konzentration. Dass man sich an sie klammert, stört die Konzentration.
Deshalb gibt es keinen Grund, dass wir uns von der uns umgebenden Welt zu isolieren. Es ist nicht
nötig, die Augen zu schließen oder sich die Ohren zu verstopfen. Auch die Geräusche stören die
Konzentration nicht. Wenn man zum Beispiel das Geräusch eines LKW auf der Straße hört, so fährt
der LKW nur vorbei. Es gibt ein Geräusch und dann wieder Stille. Aber wenn man beginnt, sich
dem Geräusch zu widersetzen und sich sagt: „Das ist nicht normal, auf dem Land muss es völlig
still sein.“, ist es dieser Kommentar des Mentalen, der die Konzentration stört.
Wenn ihr das Kusen des Godos hört und es gewohnt seid, allein zu Hause in Stille zu praktizieren,
stört vielleicht die Stimme des Godos eure Konzentration. Aber in Wirklichkeit liegt das daran, dass
ihr euch gegen das Kusen stellt oder euch an es klammert und versucht, euch die Worte zu merken.
Sich an die Worte oder an die Stille zu klammern, sind Verhaltensweisen, die die Konzentration
stören. Wenn man sich ihrer bewusst wird und dann mit seiner Praxis unzufrieden ist, dann ist es
dieser Kommentar des Mentalen, der die Praxis stört.
Man kann die Phänomene nicht unterdrücken. Die Gedanken tauchen von selbst auf, selbst dann,
wenn es keine Phänomene im Außen gibt. Die richtige Haltung in Zazen ist, sich der Phänomene
bewusst zu werden und sie unmittelbar vorüber ziehen zu lassen, ob es sich um Phänomene im
Außen handelt oder um Empfindungen und Wahrnehmungen im Inneren. Letztlich gibt es keine
Trennung zwischen Innen und Außen. Denn wir nehmen alle Phänomene durch unseren Geist wahr,
und die Welt, in der wir leben, hängt von unserem Geisteszustand ab.
In Zazen ist man sehr achtsam auf den Geisteszustand, aber man kann ihn nicht wirklich
kontrollieren, nicht durch das Mentale. Aber wann man regelmäßig zur Konzentration auf die
Körperhaltung zurückkehrt, wenn man achtsam auf seine Atmung bleibt, statt seinen Gedanken zu
folgen, kann man völlig frei bleiben, welche Phänomene auch immer auftauchen. Der Geist ist
völlig bewusst, aber er verweilt auf nichts. Er kann immer bewusst bleiben, denn nichts verdunkelt
ihn, nichts hält ihn fest.
„Wenn der Geist auf nichts verweilt, erscheint der wirkliche Geist.“ ist der berühmte Satz aus dem
Diamant-Sutra, der den sechsten Patriarchen zum Erwachen führte. Jeder in diesem Dojo kann das
gleiche Erwachen realisieren, denn es ist die Essenz der Praxis, nicht ihr Ergebnis. Es ist die Weise
des Praktizierens selbst, die eine Praxis des Erwachens ist.
In der Rückkehr zur Konzentration auf die Haltung ist es wichtig, sich auf die Haltung der Hände zu
konzentrieren. Die linken Hand liegt in der rechten, die Daumen sind horizontal, die Handkanten
haben Kontakt mit dem Unterleib. In dieser Position ergreifen die Hände nichts. Das beeinflusst
unseren Geist, der ebenfalls nichts ergreift. Die Hände machen nichts, erzeugen nichts – wie der
Geist in Zazen. Sie bilden ein weites Oval, das Mudra von Hokai join, das Mudra des Siegels des
Samadhis des Ozeans des Dharmas.
In diesem Samadhi, in dieser großen Konzentration, ist das Ego aufgegeben. Die Geisteshaltung,
die eine Trennung zwischen außerhalb von einem und innerhalb von einem, zwischen der
Außenwelt und der Innenwelt schafft, verschwindet, und unsere völlige Einheit mit dem ganzen
Universum realisiert sich.
Wenn man sich auf die Atmung konzentriert, sieht man, dass es unablässig einen Austausch
zwischen dem Innen und dem Außen unseres Körpers gibt.
Zu diesem Leben ohne Trennung zu erwachen, ist die Essenz des Erwachen von Shakyamuni, das
was er weitergegeben hat, das, was wir als Essenz unseres Lebens praktizieren. Das ist nichts
Besonderes, sondern einfach zu unserem ursprünglichen Zustand zurückzukehren, normal, nicht
besonders.
Besonders ist die egoistische Haltung. Während des Sesshins hat man Gelegenheit, diese Haltung
aufzugeben und wieder zu lernen, im Einklang mit unserer wahren Natur zu leben, die sich nicht
von der Natur aller Wesen im ganzen Universum unterscheidet. Sinn des Sesshins ist es, vertraut zu
werden mit diesem wirklichen Geist.

Samstag, 4.5.2013, 16.30 Uhr
Wenn man Zazen praktiziert, wird man völlig mit sich selbst vertraut. Man sitzt der Wand
gegenüber, in Wirklichkeit sind aber der Blick und die Aufmerksamkeit nach innen gewandt. Von
Augenblick zu Augenblick sieht man alle mögliche Phänomen erscheinen. Wir haben Empfindungen,
Wahrnehmungen, Gedanken. Wir werden vertraut mit dem, was in uns wohnt. Dies ist eine
Weise sich selbst als ein Individuum kennen zu lernen, das sich von anderen unterscheidet.
In diesem Dojo hat jede, jeder in diesem Augenblick unterschiedliche Gedanken. Selbst wenn man
die gleiche Empfindung hat, ist es nicht genau die gleiche Empfindung. Jeder reagiert auf seine
Empfindungen aufgrund seines vergangenen Karmas. Das, was sich in jedem von uns in jedem
Augenblick manifestiert, hängt in Wirklichkeit von allen möglichen Bedingungen ab, von unserer
Geschichte, die sehr, sehr weit in die Vergangenheit zurückreicht, selbst vor unsere Geburt. Es
hängt auch von unserer Stellung in der Welt ab, von unserer Familie, von unserer sozialen
Funktion, von dem Land, in dem wir wohnen, von der Sprache, die wir sprechen. All diese
Bedingungen kombinieren sich für jeden in unterschiedlicher Weise. So ist jede, jeder von uns
einzigartig. In der Praxis von Zazen wird man mit dem vertraut, was uns persönlich charakterisiert.
Aber diese Weise sich selbst zu beobachten, sich selbst zu verstehen, zeigt nur die Oberfläche von
einem selbst, das, was erscheint, das, was sich manifestiert. Manchmal nennt man das die dharmische
Position.
Aber wenn wir mit unserer Beobachtung unser selbst fortfahren, können wir klar sehen, dass all
das, was uns ausmacht, sich unablässig ändert, wie die Bilder eines Films. Alles ist unablässig in
Bewegung. Alles taucht auf und verschwindet, Augenblick für Augenblick, wie die Bilder vor dem
Objektiv eines Vorführgeräts. Wenn man das erfassen möchte, was die Essenz von einem selbst ist,
um sich zu sagen: „Das bin ich. Das ist die Substanz meines Lebens, mein Ego.“, so ist das nicht
auffindbar. Selbst wenn man in Zazen mit sich vertraut wird, ist das, was man ‚man selbst’ nennt,
nicht fassbar. Das ist das Koan unseres Lebens.
Es ist auch das, was uns den anderen näher bringt. Denn selbst wenn jede, jeder während Zazen
unterschiedliche Erfahrungen macht, erfahren wir alle die Unbeständigkeit dessen, was uns
ausmacht, den nicht fassbaren Charakter unseres Egos. Da sind wir alle in der gleichen Erfahrung
vereint.
Das ist der Grund, weshalb man in einer Sangha miteinander vertraut wird. Im gewöhnlichen Leben
hat jeder die Tendenz, sich in seiner Individualität aufzuhalten und diese zu verstärken. Besonders
im Abendland sind wir alle sehr individualistisch und daher zwangsläufig auch egozentrisch. Zazen
zeigt uns, dass dieses Ego nicht das Zentrum der Welt und darüber hinaus völlig in Bewegung und
völlig unfassbar ist. Diese Erfahrung machen wir alle, denn das ist die universelle Dimension
unseres Lebens. Wir sind zugleich völlig einzigartig, völlig von den anderen unterschieden – von
den unterschiedlichen Phänomen ausgesehen, die uns beleben. Man könnte sagen von der
Sichtweise von Shiki aus. Aber in der Tiefe sind wir, weil all das ohne Substanz und völlig
unbeständig ist, alle ähnlich. In der Tiefe sind wir alle identisch. Wir machen die gleiche Erfahrung
von Ku, von der Leerheit. Das ist es, was uns einander näher bringt. Das ist die Dimension unseres
Lebens jenseits unserer Individualität, die universelle Dimension. Deshalb sagt man, dass wir in
Zazen die Erfahrung unserer völligen Einheit mit dem Universum machen.
Wie kann man in Einheit mit der Sonne sein? – Wie wir ist sie in dieser Welt erschienen, hat sich als
ein immer leuchtenderer Stern entwickelt. Aber eines Tages wird sie erlöschen, wie wir, wie die
Blüten, die sich in Frühjahr öffnen und schnell fallen, sobald der Wind zu wehen beginnt. Aber statt
darüber traurig zu sein, kann man lernen, sich damit zu harmonisieren, indem man vermeidet, auf
seiner Position, in seinem Ego zu verweilen, indem man seine Fähigkeit entwickelt, sich an die
Stelle der anderen zu versetzen.
Das ist möglich, denn der andere ist nicht grundlegend von einem selbst unterschieden, unser Leben
ist nicht grundlegend anders als das einer Blume, eines Sterns. So können wir in Kommunion mit
dem ganzen Universum sein und die Täuschung eines völlig getrennten Egos aufgeben, diese
Illusion, die uns häufig zur Einsamkeit verdammt, wohingegen wir in Wirklichkeit in Beziehung
mit allen Wesen sind, nicht nur mit den fühlenden Wesen, sondern mit allen Wesen und daher
niemals allein.
Die, diese Erfahrung teilen, bilden die Sangha. Sie ist eine Kostbarkeit. Sie ist die Gemeinschaft, in
der alle sich bemühen, sich mit dieser Wirklichkeit zu harmonisieren, indem sie ihre egozentrischen
Sichtweisen fallen lassen, nicht weil diese schlecht sind, sondern weil sie täuschend sind. Wir sind
hierher gekommen, um uns zu bemühen, in Wahrheit zu leben, auf authentischerer Weise, indem
wir das Koan unseres Lebens realisieren, zugleich ein getrenntes Individuum und Teil des gleichen
Kosmos zu sein, allen Wesen dieses Universums ähnlich.
Das zu verstehen, ist Weisheit, daraus im Alltag alle praktischen Konsequenzen zu ziehen, ist
Mitgefühl.

Sonntag, 5.5.2013, 7 Uhr
Wenn man mit der Praxis von Zazen fortfährt, wenn man sein Leben vom Gesichtspunkt von Zazen
aus betrachtet, hat man die Möglichkeit zur Wirklichkeit unseres Lebens zu erwachen, wie Buddha
Shakyamuni es in Zazen gemacht hat. Die gleiche Erfahrung wie Shakyamuni zu machen, bedeutet
das Dharma zu realisieren.
Es gibt viele Unterweisungen im Dharma Buddhas, aber die Grundlage dieser Unterweisungen, das,
was seine Unterweisung charakterisiert, ist das, was man die ‚vier Siegel des Dharmas’ nennt. Sie
kann man in Zazen erfahren:
– In Zazen erfährt man, dass sich alles, was die Wirklichkeit unseres Leben ausmacht,
unablässig ändert. Von Augenblick zu Augenblick ändern sich unsere Gedanken. Bilder,
Gefühle, Erinnerungen, Wünsche, Schmerzen erscheinen. Aber nichts dauert an. Alles
vergeht. Das nennt man ‚Unbeständigkeit’.
– Daher gibt es in einem selbst nichts Substantielles. Was man als sein Selbst bezeichnet, ist
nie dasselbe. So ist man selbst nicht fassbar. Denn man selbst ist nicht vom ganzen
Universum getrennt. Man selbst ist sehr weit. Aber man macht daraus etwas Kleines, um
sich die Illusion einer Identität zu schaffen. Und dann gibt man sich viel Mühe, dieses
geistige Konstrukt zu verstärken und zu schützen, um jemand Wichtiges zu werden, um sich
gegen die Unbeständigkeit zu schützen.
Selbst wenn man damit Erfolg hat, wenn man das Glück findet, so weiß man im Inneren
doch, dass dieses Glück von einer Anzahl von günstigen Faktoren abhängt. In der Tiefe
seiner selbst weiß man, dass es nicht andauert. Denn alle diese Bedingungen sind jenseits
unserer Kontrolle. Sie hängen vom ganzen Universum ab.
– Also gibt es im Inneren eines Jeden eine gewisse Unruhe. Sie nannte Shakyamuni ‚Dukkha’,
den schmerzhaften oder nicht zufrieden stellenden Charakter der Existenz. Aufgrund ihrer
Unbeständigkeit sind selbst Glück und Freude Teil dieses nicht zufrieden stellenden
Charakters der Existenz.
Wenn man sich gegen diese Situation, gegen diese Bedingungen auflehnt, wenn man nicht
dahin kommt, sie als etwas Normales zu akzeptieren, wird unser Leben Samsara,
unablässige Transmigration. Manchmal ist man in der Hölle, leidet enorm, z.B. wenn man
eine schwere Depression hat. Man möchte vielleicht sogar sterben. In anderen Zeiten ist
man aufgrund seiner gesellschaftlichen Situation, seiner Arbeit oder seiner Familie besorgt.
Zu anderen Zeit praktiziert man in Meditation.
– Wenn diese Meditation so praktiziert wird, wie wir Zazen praktizieren, betrachtet man diese
ganze Landschaft unseres Lebens, man erkennt sie und akzeptiert sie, wie sie ist. Das ist
Nirvana, der Friede des Geistes. Er inspiriert uns in einer Weise zu leben, die im Einklang
mit der Wirklichkeit steht.
Wenn man diese Lebensweise mit dem Geist, der in Frieden ist, erfährt, öffnet sich das Herz. Man
verspürt nicht mehr die Notwendigkeit, sich gegen die anderen zu verteidigen oder mit ihnen in
Wettbewerb zu treten. Man fühlt sich mit allen Wesen solidarisch und wünscht, diesen Frieden des
Nirvanas mit den anderen zu teilen, nicht als ein weit entferntes Ziel der Existenz, sondern als eine
Lebenskunst hier und jetzt, in jedem Augenblick. Das lässt uns die Gelübde der Bodhisattvas
aussprechen.
Unsere Praxis des Weges besteht darin, dies unablässig zu vertiefen. Das kann man hier und jetzt
während dieses Sesshins erfahren. Es geht nicht um einen Glauben, sondern um ein tiefes
Vertrauen, das von unserer Erfahrung bestätigt wird. Meister Dogen nannte das ‚Praxis und
Verwirklichung sind Einheit’.

Sonntag, 5.5.2013, 16.30 Uhr
Mondo
Du hast wiederholt Meister Deshimaru zitiert, der gesagt hat „Ihr musst Angst haben, nicht der
kosmischen Ordnung zu folgen“. Meine Frage ist: Können wir überhaupt der kosmischen Ordnung
nicht folgen? Sind wir nicht, so wie wir sind, Teil der kosmischen Ordnung ?
Natürlich sind wir Teil der kosmischen Ordnung, so wie wir sind. Das stimmt. Wir sind ein Teil des
Kosmos. Wenn man aber von ‚kosmischer Ordnung’ spricht, spricht man von der Wirklichkeit, die
unserem Leben zugrunde liegt. Was ist die Wirklichkeit, die das Gesetz des ganzen Universums
formt? – Dieses Gesetz des Universums ist das Gesetz der Wechselbeziehung.
Wenn ein Mensch sich egozentrisch verhält, geht das gegen die kosmische Ordnung, es geht gegen
die Wechselbeziehung. Es bedeutet, sich so zu verhalten, als würde man allein existieren,
unabhängig von allem anderen; z.B. dass man die Natur verschmutzen kann, ohne dass das
Konsequenzen für einen selbst oder für andere hat. Einfach weil man aus egoistischen Gründen die
Reichtümer der Natur für sich selbst verwenden möchte, weil man sie ausbeuten möchte. Dann
vernachlässigt man völlig das Gesetz der Wechselbeziehung, das Gesetz der kosmischen Ordnung.
Die Konsequenzen dieses Handelns werden zwingenderweise schmerzhaft sein, für andere oder für
einen selbst.
Natürlich kannst du sagen, dass das Leiden auch Teil der kosmischen Ordnung ist, aber Buddha war
kein Wissenschaftler, er war ein religiöser, ein spiritueller Mensch, und seine Hauptsorge galt dem
Heilen der Leiden der Menschen und aller fühlenden Wesen. Alle Meister der Weitergabe, auch
Meister Deshimaru, hatten diese gleiche Sorge.
Wenn man sich nicht tief der Wechselbeziehung, der Substanzlosigkeit und der Unbeständigkeit
aller Phänomene bewusst ist und sie akzeptiert, verhält man sich auf einer Weise, die dem Dharma,
der kosmischen Ordnung, widerspricht. Die Konsequenz davon ist Leiden. Das ist das wirklich
Wichtige. Also selbst wenn Leiden Teil der kosmischen Ordnung ist, selbst wenn das Zerstören der
Natur Teil der kosmischen Ordnung ist, was man meinen könnte, glaube ich nicht, dass man als
Schüler Buddhas so denken sollte. Denn das bedeutet, dass man die ethische Dimension missachtet,
die Dimension, die nicht auf der Vernunft gründet, sondern auf dem Herzen. Das Herz spürt
Empathie für alle fühlenden Wesen und kann nicht Leiden schaffen wollen. Selbst wenn man,
abstrakt oder intellektuell gesehen, sagen kann, dass Leiden ein Teil des Kosmos ist.
Die Unterweisung, der kosmischen Ordnung zu folgen, zielt darauf ab, das Augenmerk auf die
Bedingungen des Glücks zu richten. Dabei geht es vor allem um ethischen Fragen und den Wert,
den man dem Wohlbefinden aller Wesen beimisst. Das ist keine rein wissenschaftliche oder
objektive Sichtweise. Das geht darüber hinaus.
Du bist Arzt und könntest natürlich sagen: „Krankheiten sind Teil der kosmischen Ordnung, auch
Viren sind Teil der kosmischen Ordnung.“ und einen Patienten, der einen Virus eingefangen hat,
der zum Tod führt, sterben lassen, weil das Teil der kosmischen Ordnung ist.
Gandhi hat das mit seiner Tochter so gemacht. Seine Tochter war krank, und er hat gesagt: „Sie
darf keine Antibiotika bekommen. Wenn sie stirbt, ist das Gottes Wille.“
Gandhi war kein Buddhist. Er hatte mit Sicherheit viele Qualitäten, aber er hatte nicht das
Verständnis eines Buddhas. Manchmal führt auch Gewaltfreiheit zur Gewalt.
Du hast davon gesprochen, keine Leiden zu schaffen. Niemand schafft freiwillig Böses, außer
Verrückte. Die Industriellen, die die Natur schädigen, glauben, dies geschehe zum Wohl der
Menschheit.
Es geht ihnen vor allem darum, ihr Bankkonto aufzufüllen.
Man schafft das Leiden nicht willentlich, sondern unfreiwillig. Wie kann man das vermeiden?
Indem man Weisheit entwickelt, wie Buddha es unterwiesen hat, d.h. indem man die Verknüpfungen
von Ursache und Wirkung all unserer Aktionen untersucht und darüber nachdenkt, bevor man
handelt. Das heißt, dass man die Weisheit hat, die Konsequenzen dessen zu sehen, was man sagen
oder tun möchte. Wenn man vorhersieht, das Resultat Leiden für einen selbst oder für andere wäre,
muss man einfach diese Handlung unterlassen.
Die Konsequenz sind manchmal so weit weg.
Es stimmt, die Konsequenzen innerhalb der Kausalität sind unendlich. Aus etwas Schlechtem kann
etwas Gutes werden. Deshalb sagt man manchmal: „Lassen wir es geschehen.“ Jemand ist krank:
„Lassen wir ihn sterben. Wenn er jetzt nicht stirbt, wird er vielleicht im nächsten Jahr ein
Krimineller.“ oder „Wenn er jetzt stirbt, wird er vielleicht unter besseren Bedingungen wiedergeboren
werden.“ – Aber das ist ein hinduistische Denkweise.
Buddha hatte eine sehr ethische Sichtweise der Existenz. Buddhas Unterweisung war: Vermeide das
Schlechte! Tue das Gute! Tue es für das Glück der anderen! – Wie auch schon große Philosophen
und Weise bemerkt haben, ist das sehr einfach, aber nicht sehr einfach zu realisieren. Selbst wenn
man weiß, was gut ist, macht man oft etwas, was schlecht ist, einfach deshalb, weil Gutes tun uns
dazu zwingt, Bemühungen zu unternehmen oder auf bestimmte Dinge zu verzichten. Man weiß,
was gut ist, aber man macht es nicht, weil der Egoismus stärker ist.
Auch kennt man nicht alle Konsequenzen. Aber das ist kein Grund, nichts zu tun, z.B. jemanden
sterben zu lassen. Sterben ist unmittelbar Leid. Für kein Lebewesen ist das Sterben angenehm und
auch nicht für die Menschen in seinem Umfeld, für seine Familie zum Beispiel. Also muss man,
selbst wenn man die Konsequenzen nicht kennt, die sich auf Dauer zeigen werden, wenn man
jemand heilt, ihn trotzdem heilen, muss man trotzdem machen, was gut ist. Nur ein allwissender
Buddha oder ein Gott, der die Geschichte des Universum bis zu seinem Ende kennt, kann wirklich
entscheiden, was gut und was schlecht ist.
Ich glaube, man muss auf der rein menschlichen Stufe bleiben und nicht nur hier und jetzt sein,
sondern die Fähigkeit der Antizipation nutzen, um das zu tun, was gut ist – in dem Bewusstsein,
dass man nicht allwissend ist und sich täuschen kann. Wenn man lebt, geht man das Risiko ein,
Fehler zu machen, aber so weit möglich vermeidet man die Fehler, die man vermeiden kann.

Montag, 6.5.2013, 7 Uhr
Während Zazen sitzt man nur. Alle möglichen Phänomene manifestieren sich. Gedanken tauchen
auf, Erinnerungen, manchmal Wünsche, Gefühle. Man neigt dazu, sie unterdrücken zu wollen.
Denn man stellt sich vor, dass die Meditation, dass Zazen darin besteht, alle täuschenden Phänomene
zurückzuweisen und in der Leerheit zu verweilen.
Aber wenn man so praktiziert, gibt es immer eine Anspannung, immer ein Ego, das sich
manifestiert, das die Gedanken zurückweisen möchte und den Wunsch hat, im Nichtdenken zu
verweilen, dass das Samsara zurückweist und das Nirvana ersehnt. In diesem Fall ist die Praxis ein
unablässiger Kampf. – Es gibt sogar Menschen, die die Bodhisattvas als Krieger bezeichnen.
Aber Zen ist jeden Kampf aufhören und klar sehen, dass alle Phänomene das Dharma Buddhas
sind. Es ist nicht nötig, sie zu bekämpfen, einfach ihre wirkliche Natur sehen. Alle Phänomene, die
in Zazen erscheinen, sind unbeständig. Alle Phänomene, die in Zazen erscheinen, sind ohne
Substanz. Selbst unser eigenes Ego ist nicht fassbar. Das zu sehen bedeutet, die Unterweisung der
Phänomene zu empfangen.
Alle Phänomene unterweisen uns das Buddha-Dharma. Das einzige, was man tun muss, ist sie klar
zu sehen. Dass heißt nicht, dass man den Phänomenen folgen und sich an sie klammern sollte.
Sondern einfach ihre wirkliche Natur sehen. Die wirkliche Natur unseres eigenen Egos sehen. Das
ist Satori, rechtes Verstehen, rechte Sicht.
Es ist nicht nötig, die Phänomene zurückzuweisen, um die Leerheit zu erlangen. Phänomene und
Leerheit sind eine einzige Sache. Es gibt keine Leerheit ohne Phänomene. Denn das, was man
Leerheit nennt, ist die Abwesenheit jeder festen Substanz aller Phänomene. Anders gesagt, es ist
ihre wirkliche Natur. Was der Bodhisattva realisieren muss, ist also lediglich Shoken, die rechte
Sicht. Aber nicht nur bezüglich der fünf Aggregate, die unsere Existenz ausmachen, sondern für alle
Phänomene des Universums.
Deshalb sind, wenn man Shoken, die rechte Sicht, praktiziert, die Blumen, die Bäume, Himmel und
Erde, Sonne, Mond und Sterne, Berge und Flüsse, Menschen und die Tiere, sind alle Existenzen das
Dharma Buddhas und unterweisen es uns unablässig. Man muss einfach nur Augen und Ohren
öffnen und die Unterweisung der Phänomene sehen und hören.
Deshalb ist es in Zazen nicht erforderlich, die Augen zu schließen, um sich von den Phänomenen zu
trennen. Ganz im Gegenteil: Zazen entwickelt unsere Aufnahmefähigkeit für die Unterweisung aller
Phänomene. Die Welt, die man Samsara nennt, die Welt der Phänomene, ist die Welt, in der wir
das Nirvana realisieren. So ist es nicht erforderlich, das Samsara zu verachten und das Nirvana
herbeizusehnen. Wir müssen einfach nur die wirkliche Natur des Samsara sehen und es verwandelt
sich unmittelbar in Nirvana, wie auch unsere Bonnos unmittelbar in Satori verwandelt werden.
Shiki soku ze ku. Soku ist die Umwandlung. Die Phänomene d.h. die Leerheit. Bonno soku bodai.
Die Täuschung d.h. das Erwachen. Das trifft unter einer Voraussetzung zu: unter der
Voraussetzung, dass man die wirkliche Natur von shiki, die wirkliche Natur der Bonnos sieht, sie
fallen lässt und sich nicht mehr an sie klammert.
Aber selbst wenn wir dies klar verstehen, sind wir so daran gewöhnt und so konditioniert, uns an
die Phänomene zu klammern, dass wir die Leerheit vergessen. Daher müssen wir die Praxis des
Loslassens unablässig fortsetzen und klar sehen: Was ist das? Das ist das Koan unseres Lebens.
Sehen, dass alles die Buddha-Natur manifestiert. Und es nicht nur sehen, sondern sich auch damit
harmonisieren, damit im Einklang leben, das ist der Buddha-Weg.
Montag, 6.5.2013, 16.30
Zur Zeit blühen die Bäume. Viele duften sehr gut. Wir mögen es, wenn die Bäume blühen. Bald
wird der Wind wehen, und die Blüten werden davon getragen werden und zur Erde fallen. Wir
werden das bedauern. Die, die einen Garten, insbesondere einen Gemüsegarten, haben, sind
unzufrieden, wenn im Frühling das Unkraut wächst, denn es ist viel Arbeit, das Unkraut
herauszureißen. Wenn der Garten sehr groß ist, hat, wenn man mit dem Ausreißen des Unkrauts am
Ende des Garten angekommen ist, es am Anfang des Gartens bereits wieder zu wachsen begonnen.
Anders gesagt, man hört nie auf, Unkraut herauszuziehen, und beginnt, das Unkraut wirklich zu
hassen.
Genauso verhält es sich mit unseren Täuschungen, mit unseren Bonnos. Man möchte, dass sie
verschwinden. Manchmal bemüht man sich, sie zu unterdrücken, aber sehr oft tauchen sie wieder
auf. Je mehr man sich bemüht hat, sie zu unterdrücken, um so unzufriedener ist man, dass sie
wieder auftauchen. Am Schluss fühlt man sich schuldig.
In unserem Leben ist es oft so. Wir leben in einer Welt, die wir unterteilen in die Dinge, die wir
mögen, und die Dinge, die wir nicht mögen. In unserem Geist sind Gedanken, Geisteszustände, die
wir mögen, positive Gefühle wie Freude und Glück, und negative Gefühle wie Wut und Eifersucht,
die wir nicht mögen. Wir bemühen uns, die einen zu kultivieren und die anderen zu unterdrücken.
Aber die Freude dauert nicht an. Trauer, Wut, Eifersucht, Bedauern, all das, was unser Leben
vergiftet, kommt zurück.
Wenn man beginnt, den Buddha-Weg zu praktizieren, lehrt man uns, dass die Phänomene in
Wirklichkeit Leerheit sind. Das hilft uns, uns nicht an sie zu klammern. Es ist noch besser, wenn
wir selbst realisieren, dass alle diese Phänomene tatsächlich unbeständig und substanzlos sind.
Denn das hilft uns wirklich, sie vorüber ziehen zu lassen und sie so zu sehen, wie sie sind: Gräser
sind nicht gut oder schlecht. Sie sind einfach Gräser. Man findet sie gut, wenn es einem gelingt, aus
ihnen eine Suppe oder einen Tee zu machen. Man findet sie schlecht, wenn sie den Garten
überschwemmen und den Platz der Salate einnehmen. Aber Gräser sind Gräser, aus sich selbst
heraus weder gut noch schlecht.
Es ist recht leicht, das zu verstehen, aber das wirklich zu leben ist schwieriger. Man kann
intellektuell verstehen, dass alle Phänomene Leerheit sind und daher einander ähneln. Aber das
hindert uns nicht daran, dass wir Vorlieben haben
Meister Sozan sagt: „Den Weg zu durchdringen ist nicht schwer. Man darf weder Liebe noch Hass
haben, weder auswählen noch zurückweisen.“ Denn Liebe und Hass, Auswählen und Zurückweisen
erzeugen Anhaftungen, negative Gefühle. Sie hindern uns daran, eins zu sein mit der Wirklichkeit,
so wie sie ist, eins mit dem Unkraut, so wie es ist, eins mit den Blumen, so wie sie sind, jenseits
unserer Vorlieben.
Wenn wir mit dieser Sichtweise der Dinge praktizieren, wird das dazu zu führen, dass wir unsere
negativen Gefühle verachten und uns an unsere positive Gefühle klammern. Oder wir klammern uns
daran, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist, was man für das Satori hält. Das bedeutet
einfach, dass wir noch immer Gefangene unserer Urteile sind.
Wenn wir unsere Praxis vertiefen, sehen wir klar, dass unsere Täuschungen Teil der Wirklichkeit
sind, so wie sie ist. Das vermeidet, dass wir das Auftauchen unserer Täuschungen zu sehr
dramatisieren. Täuschungen sind einfach Täuschungen. Dass wir sie in manchen Augenblicken
nicht mögen, ist auch die Wirklichkeit im gegenwärtigen Augenblick, so wie sie ist, Inmo, einfach
dies. Es gibt nichts außerhalb der Wirklichkeit, so wie sie ist.
Das zu realisieren, bedeutet den weiten Geist zu realisieren. Die Phänomene sind nicht einmal
Leerheit. Phänomene sind einfach Phänomene. Das zu sehen, bedeutet, zur Wirklichkeit, so wie sie
ist, nicht noch unsere Gedanken hinzuzufügen. Und wenn Gedanken auftauchen, sind es einfach nur
Gedanken.
Natürlich kann man sich sagen, dass sie unbeständig sind, dass sie Leerheit sind, dass sie
substanzlos sind. Aber es ist viel einfacher zu sehen, dass sie einfach nur Gedanken sind, ohne dem
das Konzept der Leerheit, der Unbeständigkeit hinzuzufügen. Jedes Phänomen, das wir leben, ist
einfach so, wie es ist, jenseits unserer Gedanken. Und selbst wenn sich unsere Gedanken
einmischen, sind unsere Gedanken einfach nur Gedanken. Einfach nur dies.
Das zu realisieren, bedeutet, einen einfachen Geist wieder zu finden, im Einklang mit der Erfahrung
des gegenwärtigen Augenblicks, ohne das Bedürfnis zu empfinden, dem etwas hinzuzufügen oder
dem etwas wegzunehmen.

Dienstag, 7.5.2013, 7 Uhr
Folgt während Zazen nicht euren Gedanken. Lasst euch nicht von ihnen verführen. Bringt eure
Achtsamkeit unablässig zur Körperhaltung zurück. Drückt den Himmel mit der Schädeldecke, die
Erde mit den Knien. Entspannt gut den Rücken, die Schultern und den Bauch. Atmet ruhig durch
die Nase ein und aus, und lasst alle geistigen Erzeugnisse vorüberziehen. Seht sie so wie sie sind,
als unbeständige Phänomene, als Wellen an der Oberfläche des Wassers.
Wenn man so praktiziert, nimmt man Augenblick für Augenblick die Leerheit unserer geistigen
Erzeugnisse wahr. Von was sind sie leer? Von etwas Festen, Dauerhaften. Sie formen sich ohne
Unterlass um – wie alle Phänomene, die wir wahrnehmen. Damit harmonisiert man sich, indem man
einen Geist hat, der auf nichts verweilt, indem man all seine geistigen Verstopfungen sich auflösen
lässt und es auf diese Weise dem Geist erlaubt, seine natürliche Freiheit wieder zu finden. Jenseits
der Grenzen, in den wir ihn einfassen, oder besser gesagt, jenseits der Grenzen, in denen er sich
selbst einschließt.
Die Dinge so zu sehen bedeutet Prajna Paramita zu realisieren. Prajna: die Weisheit; Paramita:
die es erlaubt, darüber hinaus zu gehen. Über unsere begrenzte Sichtweise hinaus, über unseres Ego
hinaus, das von der Wirklichkeit getrennt ist.
Wir neigen dazu zu denken, Weisheit sei etwas, was uns gehört, was wir dank der Praxis realisieren,
die rechte Sicht. Die rechte Sicht der Unbeständigkeit und der Leerheit aller Phänomene, die es
erlaubt sich von seinen Anhaftungen zu befreien, die die Ursache all unseres Leidens sind. Das ist
in der Tiefe die Essenz der Unterweisungen Buddhas, die wir zelebrieren, wenn wir das Hannya
Shingyo rezitieren, das Sutra der großen Weisheit, die es erlaubt, über das Darüberhinaus hinaus zu
gehen.
Wir neigen dazu anzunehmen, dass die Weisheit in diesem Sutra, in dieser Unterweisung, liegt und
letztlich in unseren Gedanken, in unserer Sichtweise. Aber in Wirklichkeit unterweisen alle
Phänomene, die in sich unbeständig und substanzlos sind, die Weisheit, zeigen uns die
Wirklichkeit, wie sie ist, jenseits der Worte. Die Blume, die sich im Frühling öffnet, sagt nicht: „Ich
bin leer, unbeständig.“ Sie ist einfach nur die Blume selbst. Sie ist selbst Prajna Paramita, jenseits
erklärender Worte. Sie begnügt sich, es zu zeigen. So wie sie ist. Alle Phänomene sind Prajna
Paramita, geben die Unterweisungen der großen Weisheit, jenseits erklärender Worte.
Um diese Prajna Paramita wahrzunehmen, diese Unterweisung der Natur aller Phänomene, müssen
wir selbst der Natur ähnlich werden. Aber wir sind bereits diese Natur. Also müssen wir einfach nur
das aufgeben, was uns von ihr trennt, unsere geistigen Erzeugnisse. Die Blume, die sich im Frühjahr
öffnet, ist nicht Leerheit. Was Leerheit ist, sind unsere Gedanken. Unsere Gedanken sind
substanzlos, wohingegen wir sie für die Wirklichkeit halten.
Zweifellos hat Shakyamuni deshalb einfach eine Blume genommen und sie zwischen seinen
Fingern gedreht, um die Essenz seiner spirituellen Erfahrung weiterzugeben, die Essenz seines
Erwachens. Er hat die Blume gezeigt, so wie sie ist. Sie gibt eine schweigende Unterweisung. Sie
spricht nicht von Phänomenen, nicht von Leerheit, nicht von Unbeständigkeit, von Wechselbeziehung,
von Substanz oder Nicht-Substanz. Sie ist jenseits all unserer Konzepte, jenseits all der
Dinge, die wir erzeugen, um die Wirklichkeit zu erfassen. Sie ist einfach so wie sie ist.
Wenn wir auf die Zazen-Haltung konzentriert sind, wenn wir auf die Atmung achten und alle
geistigen Erzeugnisse, alle Gedanken vorüberziehen lassen, werden wir selbst so. Dieser Körper
und Geist in der Haltung Buddhas. So. Oder besser gesagt, in der sitzenden Haltung, die jenseits
Buddhas ist, jenseits jedes Gedankens, jenseits jeder Idee bezüglich Buddhas. Die Haltung von
Zazen selbst ist die Wirklichkeit: So. Und wir empfangen ihre Unterweisung jenseits von Worten.
Das ist der Grund warum man, wenn man sich in Zazen setzt, spürt, dass man wirklich wie
Nachhause zurückgekehrt ist. In Berührung mit der Wirklichkeit unseres Lebens. Jenseits all
dessen, was wir uns im Geist vorstellen. Befreit von den Fallen und Netzen der Gedanken des
Mentalen.
Und selbst wenn man im Alltag nach Zazen dieses Mentale benutzen muss, nutzt man es einfach
nur so, wie es ist, als ein nützliches Mittel, um sich im Leben zu orientieren, um auszuwählen und
Entscheidungen zu treffen. Aber das Mentale überflutet nicht das ganze Feld unseres Bewusstseins.
Wir können in Berührung mit dem Bewusstsein bleiben, das jenseits des Mentalen liegt, das sich
nicht mehr von ihm in die Falle locken lässt, sondern es frei benutzen kann.

Dienstag, 7.5.2013, 16.30 Uhr
Während Zazen, besonders während eines Sesshins, wird man völlig mit sich selbst vertraut. Außen
sind nicht so viele Phänomene, die uns ablenken. Unser Bewusstsein verinnerlicht sich. Wenn man
mit sich selbst vertraut wird, entdeckt man vor allen Dingen die Breite der eigenen Anhaftungen,
insbesondere bis zu welchem Punkt man egozentrisch sein kann.
Oft haben die Leute, die bereits seit einiger Zeit praktizieren, den Eindruck, dass sie Rückschritte in
ihrer Praxis machen und sich immer mehr in Täuschungen befinden. Aber es ist so, dass sie eher
hellsichtiger bezüglich ihrer Täuschungen werden. Es ist nicht notwendig, das zu bedauern. Denn
seine Täuschungen zu erhellen, ist das Satori. Unter der Voraussetzung natürlich, dass man sich
nicht daran klammert, seine Täuschungen fortzusetzen. Diesbezüglich sagte Meister Dogen:
„Gewöhnliche Menschen sind die, die sich über das Erwachen täuschen. Buddhas sind die, die ihre
Täuschungen erhellen“. Seine Täuschungen klar zu sehen, sich seiner Egozentrik bewusste zu
werden, bedeutet das Erwachen zu realisieren. Auf jeden Fall besteht ein bedeutender Aspekt des
Erwachens darin, sich aus seinen Täuschungen zu erwecken.
Aber wenn man aus seinen Täuschungen erwacht, dann deshalb weil man zugleich zur Wirklichkeit
erwacht. Sich einer Täuschung bewusst zu werden bedeutet, sich bewusst zu werden, dass man sich
von der Wirklichkeit entfernt hat. Es bedeutet also zugleich, zur Wirklichkeit zu erwachen. Aber
natürlich ist es schmerzhaft, sich der Kluft bewusst zu werden zwischen dem, was man lebt, d.h.
einer täuschenden Weise zu denken oder sich zu verhalten, und der Wirklichkeit, die man gesehen
hat. Man weiß, was gut ist, tut aber das Schlechte. Man hat die Wirklichkeit wahrgenommen,
verfolgt aber die Täuschung.
Um das daraus resultierende Missfallen zu beenden, hören manche mit der Praxis auf. Aber das
Einzige, was in dieser Situation zu tun ist, ist Reue zu praktizieren: seinen Irrtum, seine
Täuschungen bereuen und sich selbst versprechen, diesen Täuschungen nicht weiter zu folgen.
Anders gesagt, es bedeutet seinen Geist zu bekehren, die Richtung zu wechseln. Bisher ist man
einer falschen Richtung gefolgt, hat sich getäuscht. Aber man ist sich dessen bewusst geworden und
hat sich entschieden umzukehren, in die andere Richtung zu gehen.
Bereuen ist Erwachen. Seine Täuschung zu erhellen und sie fallen zu lassen, ist das Satori. Wie
Meister Kodo Sawaki sagte: „Die Dunkelheit des Schattens der Pinie hängt von der Helligkeit des
Lichtes des Mondes ab.“ Je hellsichtiger unsere Praxis wird, desto mehr entdecken wir die Schatten
unseres Geistes. Davor braucht man keine Angst zu haben. Man muss einfach nur ihre Leerheit
bemerken. Die Täuschung ist substanzlos, beruht auf nichts. Wenn man aufhört sie zu unterhalten,
verschwindet sie unmittelbar.
Ein Sesshin zu praktizieren bedeutet, sich die Gelegenheit zu dieser Verwandlung zu geben. Nicht
nur der Sicht, sondern auch der Handlung, unserer Art und Weise zu handeln und zu denken. Das
heißt den Einklang mit unserer wirklichen Natur wieder zu finden. Wir sind ihr untreu geworden,
wir kehren nach Hause zurück.

Mittwoch, 8.5.2013, 7 Uhr
Während Zazen lernt man, einfach nur zu sitzen. Man spricht oft davon Zazen zu machen. Aber in
Wirklichkeit ist Zazen, aufzuhören irgendetwas zu machen. Wie die Hände in der Haltung von
Hokai join, die nichts mehr machen, nichts mehr erzeugen. Man sitzt vor der Wand, bleibt
unbeweglich. Es gibt nichts zu ergreifen und nirgendwohin zu gehen. Man kann sich selbst
betrachten und realisiert sehr schnell, dass man selbst kein fassbares Objekt ist. Man selbst ist Teil
des ganzen Universums, viel zu groß, um mit unserem Mentalen erfasst zu werden.
Dieser Körper und Geist, die Zazen praktizieren, existierte vor unserer Geburt, bereits bevor das
Mentale begonnen hat, eine Trennung zwischen dem Selbst und dem Universum zu schaffen, indem
es begonnen hat, sich mit bestimmten Gedanken zu identifizieren und eine Art persönliche Identität
zu schaffen. ‚Ich’ getrennt von ‚dir’, unterschieden von ‚dir’. Aber dieses Ich war nie vom ganzen
Universum getrennt.
Dieses Leben ohne Trennung nennt man die wirkliche Natur, die Buddha-Natur. Wir können sie
vergessen, aber wir können von ihr nicht wirklich getrennt sein. Doch wenn wir sie ergreifen
wollen, ist das nicht wirklich möglich, obwohl sie die Wirklichkeit unseres Lebens ist: Sie ist zu
weit. – Wie das Kind, das mit seinem Eimerchen das ganze Wasser des Ozeans schöpfen wollte.
Sankt Augustin, der vorbeikam, hat dem Kind empfohlen, das Eimerchen in das Wasser zu werfen.
Unser Mentales ist zu klein, um die Wirklichkeit zu enthalten, so geben wir es in Zazen auf, weisen
es zurück. Wir hören auf, irgendetwas ergreifen oder behalten zu wollen. Wir bemühen uns nicht
einmal, uns selbst zu betrachten. Wir lassen alle unsere gedanklichen Erzeugnisse fallen. Alle
Fallen und Netze, mit denen wir versuchen, die Wirklichkeit einzufangen. Selbst unsere Gedanken
bezüglich Buddhas oder der Buddha-Natur sind noch weit von der Wirklichkeit entfernt. In Zazen
geben wir sie auf.
Zazen ist Hishiryo, jenseits jeden Gedankens. Wir sind Teil der Buddha-Natur, wir können sie nicht
verlassen, um sie zu kontemplieren. Wir sind wir selbst. Man kann nicht aus sich selbst
heraustreten, um sich selbst wie ein Objekt zu betrachten. Man kann einfach nur völlig vertraut mit
sich selbst werden, ohne dies zu benennen, ohne sich zu bemühen, es darzustellen.
Manche wollen ihr eigenes Erwachen erfassen. Manche haben sogar die Täuschung, das Erwachen
realisiert zu haben: „Als ich damals das Satori realisiert habe, …“ Des wirklichen Satoris kann man
sich nicht bewusst sein. Es ist die Erfahrung, jenseits unseres Bewusstseins zu sein. Es ist völlig
sich selbst vergessen und eins mit dem ganzen Universum werden, ohne zu denken. Dann
manifestieren sich die Auswirkungen. Das Satori selbst ist nicht fassbar, aber seine Realisation
entfaltet ihre Wirkung in unserem Leben. Der Geist wird völlig friedlich, befreit von den
Empfindungen von Mangel und Überfluss. Man sucht nichts, man weist nichts zurück. Man ist
einfach damit zufrieden zu sein, so. Jetzt z.B. einfach sitzend, ruhig ein- und ausatmend und alle
Gedanken vorüberziehen lassend, ohne zu versuchen irgendetwas zu ergreifen. In Einklang mit der
Wirklichkeit.

Mittwoch, 8.5.2013, 16.30
Mondo
Ist das, was man als europäischen Zen-Buddhismus bezeichnet, der Anfang des Zen-Buddhismus in
Europa, ist das schon eine eigenständige Entwicklung oder geht es darum, dass sich der
europäischen Zen-Buddhismus zum japanischen Zen-Buddhismus hin entwickelt. Wie wird die
Entscheidung getroffen ?
Das ist eine sehr weite und sehr komplizierte Frage, aber ich werde sie sehr vereinfachen: Ich gebe
keinen japanischen Buddhismus weiter, ich gebe die Praxis des Soto-Zen weiter, die ihren Ursprung
in China hat und davor noch in Indien bei Buddha Shakyamuni, die mit Meister Deshimaru nach
Europa gekommen ist, die im wesentlichen auf der Praxis der Meditation, auf Zazen beruht. Um die
Praxis von Zazen herum gibt es natürlich bestimmte Formen, zum Beispiel Dojo-Regeln und
Regeln, wie man bestimmte Zeremonien macht.
Meister Deshimaru hat Zeremonien eingeführt, ungefähr die gleichen, die wir machen. Er hat sich
bemüht, wirklich das zu nehmen, was die Quintessenz der Zeremonien ist. Nach seinem Tod haben
wir das fortgesetzt. Nachdem wir in Japan waren und Angos gemacht haben, haben wir bestimmte
Dinge gesehen, die uns in der Weise, wie sie gemacht wurden, klarer erschienen, insbesondere was
die Ekos betrifft, die Widmung der Zeremonien.
Im Großen und Ganzen handelt es sich um die Tradition des japanischen Soto-Zen und nicht um die
des japanischen Buddhismus. Der japanische Buddhismus ist sehr weit. Es gibt mindestens zehn
verschiedene japanische buddhistische Schulen. Ich halte das Soto-Zen nicht für besonders
japanisch. Das Herz dieser Praxis ist Zazen, und Zazen ist universell Es ist keine Antwort auf
historische oder kulturelle Kriterien. Natürlich stützen wir uns auf Unterweisungen von Meistern
wie Dogen oder Keizan, die Japaner waren. Aber ich finde nicht, dass die Unterweisung des Soto-
Zen sehr von der japanischen Kultur beeinflusst ist. Ich bemühe mich, das weiterzugeben, was
völlig jenseits der Unterschiede ist, die man zwischen Japan und Europa machen kann.
Natürlich kann man sagen: „Ihr tragt einen Kolomo.“ Aber der Kolomo ist ursprünglich chinesisch.
Das Kesa ist auch nicht japanisch, es stammt aus Indien. Der Kimono ist japanisch. Slip und T-Shirt
sind aus Frankreich, aber bestimmt in China oder in Indonesien produziert worden.
Ich glaube, man sollte sich nicht mit dieser Art von Fragen auseinandersetzen. Was wichtig ist, ist
zur Essenz der Praxis zurückzukehren und die Unterweisungen zu benutzen, ob sie nun aus Indien,
China oder aus Europa kommt, um den Sinn der Praxis zu vertiefen und vor allen Dingen zu lernen,
sie in unserem Alltag zu entwickeln. Es geht nicht allein um das soziologische Phänomen der
Akulturation einer japanische Tradition in Europa. Diese Dinge interessieren mich nicht. Mich
interessiert den Weg des Erwachens Buddhas im Alltag zu aktualisieren, hier und jetzt, wo wir sind,
in Deutschland, Frankreich, Italien, ausgehend von Zazen. Und Zazen ist jenseits der Unterschiede
zwischen Japan, Frankreich, Deutschland. Das Hishiryo-Bewusstsein in Zazen geht darüber hinaus,
über alle Trennungen und Grenzen, über die kulturellen Gegensätze. Es ist die Praxis, die uns
erlaubt, das zu berühren, was am universellsten im Menschen ist. Und es geht sogar über den
Menschen hinaus. Es ist das, was uns in Einheit mit der Natur und mit dem ganzen Kosmos bringt.
Wie ich es verstanden habe, ist alles von Leerheit gekennzeichnet, auch der Kosmos und alles, was
in ihm vorkommt. Es muss aber etwas gegeben haben, was den Kosmos aus der Leerheit heraus
geschaffen hat: Zuerst war die Leerheit und dann war der Kosmos. Ich möchte gern wissen, was
vor der Leerheit war.
Niemand weiß das. Auf jedem Fall weiß man, dass die Leerheit nicht leer war. Sie war Energie. In
der Quantenphysik, spricht man von Leerheit und das ist Energie. In Europa gibt es immer
Verwirrung. Bei ‚Leerheit’, ‚Leere’ denkt man immer an das Nichts. Aber das ist nicht der buddhistische
Sinn des Leeren: Buddha sprach von der Leerheit unserer Täuschungen.
Die Leerheit ist einfach ein Heilmittel gegen unsere Täuschungen. Wir glauben ein Ego zu haben,
das eine Substanz hat, das immer andauert. Das ist eine Täuschung. Das ist nur ein geistiges
Erzeugnis. Es existiert, aber in völliger Abhängigkeit vom Rest, und ist unbeständig. Also sagt man:
„Das Ego ist leer.“ Aber es ist leer von etwas, das niemals außerhalb unserer Vorstellungen existiert
hat. Es ist unsere Vorstellung eines substanziellen Egos, die leer ist. Ein substanzielles Ego existiert
nicht. Von der Substanz des Egos zu sprechen, sind leere Worte, nur geistige Erzeugnisse, Begriffe,
denen nichts entspricht.
Das bedeutet nicht, dass der Mensch keine Persönlichkeit hat, kein Ego. Jeder hat ein Ego, aber
nicht so, wie man es sich vorstellt. Das ist nur ein geistiges Erzeugnis, eine Identität, die man nach
und nach aufbaut, die sich unablässig verändert, die man den anderen gegenüber bestätigen möchte,
an die man sich klammert, die jede Menge Konflikte und Spannungen erzeugt. Die Unterweisung
Buddhas hilft uns, uns davon zu lösen, indem sie ihm den richtigen Platz zuweist, einen völlig
relativen Platz.
Was deine Frage in Bezug auf den Kosmos angeht, so kann man nur sagen, dass der Kosmos aus
buddhistischer Sicht in unablässiger Veränderung begriffen ist. Man kann den Ursprung des
Kosmos nicht denken. Wenn man sagt, dass etwas am Ursprung war, Gott oder die Energie, kann
man fragen: „Wer hat Gott geschaffen? Wer hat die Energie geschaffen?“ Es gibt keinen wahrnehmbaren
Anfang, weil alles, was existiert, von etwas verursacht ist. Man stellt fest, dass alles
aufgrund von Ursachen und Wirkungen existiert. Das ist die grundlegende Unterweisung Buddhas.
Leerheit nennt man die Tatsache, dass das Leben von einer Vielzahl von Phänomen verursacht ist.
Aber wovon ist es leer? – Von etwas Absolutem, das unabhängig von jeder Ursache ist. Das heißt
aber nicht, dass es nicht existiert. Das Leben existiert, aber verursacht von etwas, also nicht aus sich
selbst heraus, unabhängig. Und wenn die Ursachen und die Bedingungen sich ändern, wenn sie das
Leben nicht mehr erlauben, verschwindet das leben. Das ist alles.
Was muss ich als praktizierender Zen-Buddhist über das Sterben und den Tod wissen ?
Du muss wissen, dass du sterben wirst. Das ist sicher. Fast sicher: Man weiß nie, vielleicht gibt es
für dich ein Wunder. Aber möglicherweise wirst du sterben. Daraus musst du Konsequenzen
ziehen. Die Konsequenz ist, dass all das, von dem du denkst, dass du es bist, unbeständig und
sterblich ist. Es verdient also nicht, dass du dich daran klammert, aber zugleich kann dieses Leben,
das dir gegeben wurde, bestimmte Auswirkungen erzeugen: Es kann anderen und dir Glück bringen
oder für dich oder für andere Leiden schaffen. Das Leben kann harmonisch gelebt werden oder als
ein Chaos.
Die Frage ist: Wie dieses Leben bis zum letzten Atemzug leben? Bis zum letzten Augenblick ist es
möglich zu erwachen und sich mit der wahrer Natur unserer Existenz zu harmonisieren. Ich glaube,
dass es am wichtigsten ist zu versuchen, auf eine Weise zu leben, dass man beim Sterben kein
Bedauern empfindet, indem man sich auf die wichtigen Dinge konzentriert, indem man vermeidet,
seine Zeit zu vergeuden. Aus buddhistischer Sicht, bedeutet seine Zeit nicht zu vergeuden, den Weg
zu praktizieren und anderen zu helfen, ihn zu praktizieren.
Wenn du Sterbende begleitest, die keine Buddhisten sind, musst du versuchen, dass sie sich mit
dem verbinden, was für ihr Leben das wichtigste war. Wenn es sich um religiöse Menschen handelt,
kann das z.B. heißen, dass sie sich mit ihrer Religion verbinden.
Warum stellst du diese Frage? Begleitest du jemanden, der sterben wird?
Ja.
Ich glaube, dass zwei Aspekte bei der Sterbebegleitung wichtig sind. Der erste ist der der Tröstung.
Die Person, die sterben wird, wird Beziehungen verlieren, an die sie sich klammert. Sie bedarf also
menschlicher Wärme, sie bedarf des Trost. Es ist auch wichtig, sie an die guten Dinge, die sie im
Leben getan hat, zu erinnern und daran, dass sich deren positive Auswirkungen weiter entwickeln
werden.
Wenn man sterben wird, kann man den Eindruck haben, dass das das Ende von allem ist und dass
alles, was man im Leben getan hat, nutzlos war. Das stimmt nicht. Jemand, der stirbt, hinterlässt
Spuren, Erinnerungen, Einflüsse. Selbst die Weise, wie man stirbt, kann ein Geschenk für die
Lebenden sein. Die Geisteshaltung einer Person, die krank ist und sterben wird, kann sehr positive
Einflüsse ausüben.
Wenn es sich um eine Person handelt, die sich nie mit spirituellen Themen befasst hat, kann das
auch ein Augenblick sein, möglicherweise Fragen zu stellen in Bezug auf die spirituelle Dimension
des Lebens und am Ende des Lebens eine Dimension zu realisieren, die man bisher vernachlässigt
hat. Die Todesnähe ist keine verlorene Zeit oder nur Leiden. Es kann auch Zeit des Erwachens sein.
Als Bodhisattva oder Mönch sollte man in der Begleitung auf diese zwei Aspekte hinzielen, zum
einen auf die Tröstung, zum anderen auf das spirituelle Erwachen.
Wenn ich eine Handlung begehe, bin ich in einem juristischen und karmischen Sinn verantwortlich,
weil ich die Konsequenzen einigermaßen abschätzen kann und meine Impulse kontrollieren kann.
Es gibt aber Menschen, die können das nicht. Sie sind juristisch nicht verantwortlich. Sind sie
karmisch verantwortlich?
Im Allgemeinen nein. Es gilt das gleich Prinzip. Die karmische Verantwortung hängt davon ab,
dass die Person in der Lage ist, den Wert der eigenen Handlung einzuschätzen, und mit einer
gewissen Freiheit handelt.
Der Begriff der karmischen Verantwortung ist sehr subtil, ein bisschen wie die juristische
Verantwortung. Zum Beispiel wird jemand, der unabsichtlich einen Unfall herbeiführt, nicht ins
Gefängnis geschickt: Jemand hat Blumentöpfe auf der Fensterbank stehen, und es kommt ein Böe.
Ein Blumentopf fällt und tötet jemanden. Diese Person wird nicht ins Gefängnis geschickt, was sie
würde, hätte sie den Blumentopf gezielt geworfen. Aber man kann ihr vorwerfen, fahrlässig
gewesen zu sein. Sie hätte den Blumentopf besser sichern müssen, damit er nicht fallen kann.
Im Buddhismus gilt das Gleiche: Es gibt ein Karma, das mit der Nachlässigkeit verbunden ist.
Selbst wenn man nicht bewusst eine schlechte Handlung herbeiführt, kann eine Nachlässigkeit eine
Folge. In diesem Augenblick ist das Karma weniger schwer, aber es ist ein Karma, das Karma der
Nachlässigkeit.

Freitag, 10.5.2013, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von den Gedanken ablenken. Kehrt immer wieder zur Konzentration
auf eure Körperhaltung zurück, besonders auf die wichtigen Punkte der Haltung. Neigt das
Becken gut nach vorne, drückt die Knie fest auf den Boden, entspannt den Bauch und lasst das
Körpergewicht auf das Zafu drücken. Von dem geneigten Becken aus streckt ihr gut die
Wirbelsäule und den Nacken. Drückt den Kopf in den Himmel und lockert die Spannungen im
Rücken und in den Schultern. Zieht das Kinn zurück, und lasst den Kopf nicht nach vorne fallen.
Der Blick ruht auf dem Boden. Man braucht nicht die Augen schließen, um sich zu konzentrieren.
Was die Konzentration stört, ist, dass man den Objekten der Wahrnehmung anhaftet.
In Zazen wird man völlig mit sich selbst vertraut. Das ist der Sinn des Sesshins: völlig vertraut
werden mit seinem Körper und seinem Geist. Vertraut werden heißt, völlig eins mit Körper und
Geist zu werden, ohne Trennungen. Der Körper ist nicht der Gegenstand unserer Konzentration und
auch nicht der Gegenstand unserer Praxis, genauso wenig wie der Geist. Man praktiziert mit der
Ganzheit von Körper und Geist. Es ist diese Ganzheit von Körper und Geist, die praktiziert, ohne
einen einzigen Augenblick lang von der Praxis getrennt zu sein. Körper, Geist und Praxis bilden
eine Einheit. Das ist völlige Vertrautheit, das Nicht-Getrenntsein.
Zazen praktizieren heißt, sich selbst zu studieren. Dieses Selbst ist nicht etwas, kein Objekt. Es ist
nichts, das man ergreifen kann, weil man sich nicht von sich selbst trennen kann. Man kann sich
Vorstellungen über sich selbst machen, aber diese Vorstellungen sind eben nur Vorstellungen,
geistige Konstrukte. Man selbst ist jenseits aller Gedanken. Man selbst ist das Leben des ganzes
Universums, das sich hier und jetzt vergegenwärtigt. Dies kann man erleben, aber nicht erfassen,
denn es ist grenzenlos, unendlich. Diese Vertrautheit mit sich selbst, die nicht vom Universum
getrennt ist, ist die Erfahrung von Zazen, die Erfahrung des Sesshins. Diese Vertrautheit ist die
Erfahrung Buddhas, weil es die gleiche Erfahrung ist, die Buddha Shakyamuni machte: das
Erwachen zur Wirklichkeit unserer Existenz.
Dies zelebrieren wir nach dem Zazen bei der Zeremonie. Wir drücken unsere Dankbarkeit allen
Buddhas und Patriarchen gegenüber aus, die uns diese Praxis weitergegeben haben, um es uns zu
ermöglichen, diese Erfahrung zu machen.

Freitag, 10.5.2013, 11 Uhr
Während Zazen begnügt man sich damit, einfach nur zu sitzen. Anfangs konzentriert man sich auf
die Haltung, um seine Aufmerksamkeit zum Hier und Jetzt der Praxis zu bringen. Man achtet auf
seine Atmung, so dass man leichter die Gedanken vorbeiziehen lassen kann, aber letztendlich macht
man gar nichts mehr. Die Haltung ist kein Konzentrationsobjekt, wir sind völlig diese sitzende
Haltung. Es gibt keine Trennung zwischen uns und der sitzenden Haltung. Wir sind ein Körper und
Geist, der in Zazen sitzt und ruhig durch die Nase ein- und ausatmet. Wir beobachten die Gedanken,
aber wir greifen sie nicht auf. Wir kategorisieren sie nicht in gut oder schlecht und versuchen auch
nicht, sie zu verdrängen. Das Erscheinen der Gedanken in Zazen ist wie das Erscheinen der
Einatmung nach der Ausatmung. Die Gedanken kommen und gehen wie die Atmung. Man lässt den
Geist auf nichts verweilen.
Mit sich selbst vertraut werden heißt, auf diese Weise zu praktizieren. Man selbst ist völlig die
Praxis, man ist ein Körper und Geist, der in Zazen sitzt. Es gibt kein Ich oder jemand, der von der
Praxis hier und jetzt getrennt ist. Wenn man geht, zum Beispiel beim Kinhin, gilt das Gleiche. Es
gibt keinen Gehenden, der vom Gehen getrennt ist. Wenn der Gehende vom Gehen getrennt wäre,
würde er nicht gehen. Und wenn er nicht geht, ist er kein Gehender. Es gibt also keine Trennung
zwischen einem selbst und der Praxis.
In dieser Praxis gibt man jeden Gedanken über sich selbst auf, weil man genau sieht, dass diese
Gedanken völlig unbeständig sind. Diese Gedanken bilden kein Selbst. Wir können den Ursprung
unserer Gedanken nicht ergreifen, und wenn ein Gedanke verschwindet, können wir den Ort, an
dem er verschwunden ist, nicht erfassen. Wir selbst haben keine Grenzen. Selbst unsere Haut bildet
keine Grenze. Unsere Haut atmet genauso wie unser Körper und das ganze Universum.
Wenn wir in Zazen sitzen, sitzen wir mit dem ganzen Universum. Da gibt es nichts, das fehlt oder
zu viel wäre. Diese Praxis, einfach zu sitzen, heilt uns von Gier und Hass.
Wenn wir in den Grenzen unseres kleinen Egos eingeschlossen sind, sind wir unzufrieden, weil wir
nicht in Einklang mit unserer wahren Natur sind. Dann haben wir ständig das Gefühl, dass etwas
fehlt. Wir suchen unablässig Objekte der Befriedigung. Wir versuchen ständig, das zu vermeiden,
was uns missfällt oder was uns daran hindert, unser Objekt der Befriedigung zu erlangen. Das ist es,
was man Samsara nennt: Weil wir nicht wissen, dass wir eins mit dem ganzen Universum sind,
werden wir von den Giften Gier und Hass konditioniert.
Zazen offenbart uns diese Einheit, nicht als Vorstellung oder Theorie, sondern weil wir all das
fallenlassen, was ein Hindernis zur Verwirklichung dieser Einheit darstellt. Dann können wir sie
voll und ganz erleben und damit zufrieden sein, einfach zu sitzen.
Dies ist das Verlöschen der Ursachen unserer Unzufriedenheit und unserer Leiden. Dieses
Verlöschen nennt man Nirvana oder Geistesfrieden, der Frieden des Geistes, der endlich in
Harmonie mit seiner wahren Natur lebt. Diese Erfahrung hat Buddha Shakyamuni unter dem Baum
des Erwachens in Zazen gemacht. Was er weitergegeben hat, ist die Praxis, die wir empfangen
haben und hier gemeinsam in diesem Dojo ausüben.
Wenn man weiter auf diese Weise praktiziert, hat man nicht mehr den Eindruck, etwas Besonderes
zu praktizieren. Es ist eine Seinsweise in Harmonie mit einem selbst und allen Wesen, ohne
Trennungen zu schaffen. Diejenigen, die dies gemeinsam erleben, bilden die Sangha, die
harmonische Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist dazu berufen, sich zu verbreiten, denn alle
Wesen sind die Buddha-Natur, und alle Wesen sind dazu berufen, sie zu aktualisieren.

Freitag, 10.5.2013, 16.30 Uhr
Konzentriert euch während Zazen gut auf die Haltung der Hände. Die linke Hand ruht in der
rechten, die Daumen sind waagerecht und bilden mit den Zeigefingern ein weites Oval. Die
Handkanten berühren den Unterbauch. In dieser Haltung ergreifen die Hände nichts und fabrizieren
nichts.
In Zazen macht man nichts, man greift nach nichts. Man gibt einfach seine ganze Energie und
Aufmerksamkeit in die Praxis des Augenblicks, in die Praxis einfach nur zu sitzen. Alles andere
lässt man los, selbst gute Absichten wie, Zazen zu praktizieren, um das Erwachen zu verwirklichen
oder um seine Illusionen zu beseitigen. Selbst solche guten Absichten gibt man in der Praxis auf.
Shikantaza, einfach nur sitzen, bedeutet, sich völlig der Praxis eines jeden Augenblicks zu widmen,
indem man jede Anhaftung an Körper und Geist aufgibt. Dies ist das Herz, die Essenz der Praxis
des Weges.
Auf einem Sesshin gibt es alle Arten von Tätigkeiten. Man praktiziert Zazen, Kinhin, Zeremonien,
Samu. Aber der Kern all dieser Praktiken ist, einfach nur zu sitzen, Körper und Geist aufgegeben in
der Praxis eines jeden Augenblicks. Es ist die Praxis des völligen Loslassens. Man kann sich dabei
völlig entspannen. Es ist die Mushotoku-Praxis, in der wir jedes Zielobjekt aufgeben und wir uns
nicht mehr in irgendeine Richtung bewegen. Wir können uns einfach in Frieden hinsetzen. Dabei
verwirklicht sich unbewusst und natürlich der Sinn des Weges. Wir brauchen nicht mehr all unsere
Wunschobjekte zu verfolgen.
Sobald man im Alltag mit etwas Angenehmen in Berührung kommt, möchte man es ergreifen und
für sich behalten. Umgekehrt, wenn man etwas Unangenehmen begegnet, will man ihm entfliehen
oder es verwerfen. Wie ich es heute Morgen bereits gesagt habe, ist dies der Mechanismus des
Samsara, in dem man niemals Frieden findet.
In Zazen wird diese Haltung unbewusst und natürlich aufgegeben. Es ist nicht so, dass wir uns
bemühen, gegen unsere Bonnos anzukämpfen, um sie loszuwerden. Sie stören uns einfach nicht
mehr. Die Quelle aller Bonnos ist unsere Unwissenheit, aber in Zazen wird diese Unwissenheit
durch das Hishiryo-Bewusstsein erhellt. Man sieht ganz klar die Leerheit all der Objekte, die man
erlangen will, und verspürt nicht mehr die Notwendigkeit, sie zu verfolgen, weil in der Praxis eines
jeden Augenblicks nichts fehlt. Es ist die Praxis, die uns mit uns selbst versöhnt, die uns mit der
wahren Natur unserer Existenz harmonisiert. Sie macht es uns möglich, einfach nur in Frieden zu
sitzen.
Mondo
Ich bin sehr verbunden mit dir und der Sangha, ich fühle mich auch als deine Schülerin, obwohl ich
keine Nonne bin. Ich habe aber gehört, dass man Nonne sein muss, um Schülerin zu sein. Siehst du
das auch so?
Nein, es ist so völlig in Ordnung. Wenn jemand Mönch oder Nonne werden will, muss er einen
Meister wählen. Dies ist nötig, weil ein Mönch oder eine Nonne einen Meister braucht. Natürlich
kann auch ein Bodhisattva einen Meister haben.
Für mich sind die Gelübde der Bodhisattvas das Allerhöchste. Mönch oder Nonne zu werden,
bedeutet nichts anderes, als sein Leben noch mehr der Erfüllung der Bodhisattva-Gelübde zu
widmen. Und die Beziehung zwischen Meister und Schüler ist nichts anderes, als gemeinsam in die
Richtung der Verwirklichung dieser Gelübde zu gehen. Das ist die Bedeutung unserer Praxis.
Jemand, der die Bodhisattva-Gelübde abgelegt hat und mit mir in der Sangha praktiziert, ist ganz
und gar mein Schüler. Was ein Schüler definiert, ist nicht in die Anhaftung zwischen Meister und
Schüler oder Schüler und Meister, sondern die Tatsache, dass der Schüler sich bemüht, die
Unterweisung des Meisters zu praktizieren. Der Schüler setzt die Unterweisung, die er vom Meister
empfängt, um.
Dies löst auch das Problem der geografischen Distanz. Manche Leute fragen sich, ob sie nicht nach
Nizza ziehen müssten, wenn sie mein Schüler sein wollen, um jeden Tag mit mir zu praktizieren.
Ich denke nicht, dass dies nötig ist. Wenn ihr kommen möchtet, seid ihr natürlich willkommen, aber
es ist nicht absolut notwendig. Man kann sich geografisch nah sein, aber wenn der Schüler nicht die
Entschlossenheit hat, den Unterweisungen seines Meisters zu folgen, ist er kein richtiger Schüler,
selbst wenn er in der Nähe wohnt. Wenn er weit weg wohnt und die Unterweisungen, die er
bekommen hat, praktiziert, ist er ein wahrer Schüler.
Ich würde gerne wissen, ob die Angst vor dem Tod eine Hilfe oder ein Hindernis auf dem Weg ist.
Ich denke, dass sie eine Hilfe sein kann, aber das hängt davon ab, wie man auf diese Angst reagiert.
Wenn man Angst vor dem Sterben hat und sich sagt: „Das Leben ist wichtig, man darf keine Zeit
verlieren“, damit man im Augenblick des Sterbens nicht die verlorene Zeit bedauert, kann die Angst
vor dem Tod ein guter Anreiz sein. Sie kann ein noch besserer Anreiz sein, wenn man diese Angst
vertieft und näher betrachtet und sich fragt: „Wer hat letztlich Angst vor dem Sterben? Was ist
dieses Ego, das Angst vor dem Sterben hat?“ Wenn man dann realisiert, dass dieses Ego keine
Substanz hat, das heißt, kein Anfang und kein Ende, und dass es nie vom ganzen Universum
getrennt war, begreift man, dass dieses Ego nicht geboren wurde und nicht sterben wird. In diesem
Moment verwirklicht man das, was man Nirvana nennt, das Erlöschen der Angst vor dem Sterben.
Die Angst vor dem Sterben kann der Ausgangspunkt der Praxis sein, aber ihr Verschwinden kann
auch das Ende der Praxis bedeuten.
Es hängt davon ab, was man aus dieser Angst macht. Wenn man Angst vor dem Sterben hat und
sich sagt: „Ich muss jeden Tag von allen Freuden des Lebens profitieren!“, und allen möglichen
Wunschobjekten hinterherläuft, dann schickt uns diese Antwort auf die Todesangst in eine ganz
falsche Richtung, in die entgegengesetzte Richtung des Weges. Ich glaube, dass dieses Phänomen in
der aktuellen Gesellschaft sehr oft vorkommt. Die meisten Menschen finden sich damit ab, dass sie
den Sinn ihres Daseins nicht verstehen. Sie ignorieren die grundlegende Frage, warum wir leben,
warum wir sterben, und werfen sie sich in ein zügelloses Konsumverhalten, das in eine Sackgasse
führt.
Alle Emotionen, die man erlebt, nicht nur die Angst vor dem Tod, können ein Anreiz sein und gute
Auswirkungen oder im Gegenteil völlig negative Auswirkungen haben. Es hängt davon ab, wie man
auf diese Emotionen reagiert. Dafür braucht man, glaube ich, eine Praxis wie Zazen. Egal welche
Emotion während Zazen hochkommt, auch eine Emotion wie die Angst vor dem Tod: Man kann
sich nicht bewegen, man kann nichts machen. Man kann sie also nur betrachten und schauen, was
da ist. Worum handelt es sich? Und sich gedulden, ohne zu reagieren. Und die Tatsache zu
betrachten ohne zu reagieren, gibt einem die Zeit, tiefer zu verstehen. Im gewöhnlichen Leben ist
man immer in der Reaktion. Man reagiert, ohne sich genug Zeit zu geben zu verstehen, was einem
eigentlich geschieht. Ein Sesshin ist demnach eine gute Gelegenheit, sich Zeit zu geben und zu
beobachten, was gerade passiert.
Ich habe versucht, mich mit meinem Tod zu konfrontieren, aber ich schaffe es nicht. Ich verstehe
die Angst vor dem Tod als Antrieb zur Praxis, aber die Konfrontation mit meinem Verschwinden
erzeugt in mir Panik. Meinst du, man soll sich damit konfrontieren?
Ich denke, man darf es nicht übertreiben.
Das erinnert mich an eine Geschichte aus der Zeit von Buddha Shakyamuni, in der er seinen
Mönchen geraten hat, sich mit der Vorstellung des Todes zu konfrontieren. Um sich ganz konkret
damit zu konfrontieren, schlug er ihnen vor, auf Friedhöfen zu praktizieren. Zu dieser Zeit hat man
die Toten nicht systematisch vergraben, so dass die Mönche auf Leichname in verschiedenen
Zersetzungszuständen trafen. Einige haben diesen Anblick nicht ertragen, und manche wurden
dadurch dermaßen deprimiert, dass sie sich umbrachten. Daraufhin verbot Buddha diese Art von
Praxis. Sie war zu extrem.
Es gibt die Unbeständigkeit und den Tod, aber es ist nicht nötig, sich von ihnen beherrschen zu
lassen, vor allem weil man seinen eigenen Tod letztlich nicht betrachten kann. Das ist unmöglich,
selbst wenn man es wirklich will. Solange man an den Tod denkt, lebt man. Daher kann man nie
seinen eigenen Tod sehen. Es ist sogar schwierig, ihn sich vorzustellen, weil alles, was man sich
vorstellen kann, das Produkt eines lebenden Wesens ist. Man kann vielleicht den Tod von jemand
anderem sehen, aber nicht seinen eigenen Tod. Selbst im Moment des Sterbens, solange man noch
denkt: „Ich werde sterben!“, lebt man noch. Erst im Augenblick des Todes denkt man nicht mehr.
Man kann es sich nicht vorstellen, man kann es nicht denken. Man kann nur daran denken, dass
man eines Tages sterben wird, aber die Wirklichkeit des Todes selbst, kann man nicht denken.
Ich sage mir, dass es wirklich das Unbekannte ist. Und weil ich das Unbekannte mag – schon als
Kind hatte ich immer Entdeckergeist -, sage ich mir: „Der Tod ist interessant.“ Ins Unbekannte
eintauchen. Was wird passieren? Ein neues Abenteuer. – Das ist eine Sichtweise. Aber ich denke
nicht so oft daran und versuche, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Das ist wichtiger.
Du hast in der Vorbereitungszeit gesagt, man könne bei einer Blume nicht von Leerheit sprechen.
Für mich ist Leerheit leer von etwas, Abwesenheit von Substanz. Ich bin etwas verwirrt, weil es
doch nichts gibt, das feste Substanz hat. Warum hat eine Blume Substanz?
Nein, die Wesen und alle Daseinsformen sind letztlich jenseits von Begriffen wie ‚Substanz‘ oder
‚Leerheit‘. Selbst der Begriff ‚Leerheit‘ ist eine Erfindung des Menschen, um der Illusion einer
Substanz entgegenzutreten. Deshalb haben die Buddhisten und insbesondere Buddha Nachdruck auf
die Leerheit gelegt. Aber genauso wie die Vorstellung von etwas Dauerhaftem oder einem Wesen,
das dauernd weiterlebt, ist der Begriff ‚Substanz‘ ein geistiges Konstrukt, das es nicht gibt, das man
noch nie gesehen hat. Deswegen sagen wir: Es ist Leerheit. Aber auch die Leerheit ist ein Konzept,
die Antwort auf den Begriff ‚Substanz‘. Im wirklichen Leben sind ein Baum, ein Tier, du, ich, ein
Wesen, das hier und jetzt existiert, jenseits jeden Begriffs. Der menschliche Geist versucht, all dies
zu beschreiben und in Kategorien einzuordnen. Aber dein Wesen hier und jetzt kann nicht in
dauerhaft oder nicht dauerhaft, in Substanz oder Leerheit eingeschlossen werden, es geht darüber
hinaus. Das wollte ich damit sagen. Und ich denke, das ist die Bedeutung der Geste Shakyamunis,
als er die Blume drehte. Man kann stundenlang über die Unbeständigkeit, die wechselseitige
Abhängigkeit, die Nichtsubstanz reden, aber letztlich gibt es etwas, das über all das hinausgeht: die
einfache Gegenwart der Existenz hier und jetzt, die jenseits von all unserer geistigen Kategorien ist.
Das ist das Wertvollste, was wir in Zazen erfahren können: Es geht über unsere geistigen
Kategorien hinaus. Deshalb rät man in Zazen, sich einfach hinzusetzen, um für diese Gegenwart
verfügbar zu sein, jenseits von allen Gedanken. Man nennt dies Hishiryo, das Hishiryo-Bewusstsein
von Zazen. Hi bedeutet darüber hinaus und shiryo ist das Denken, das kategorisiert, misst,
vergleicht, unterscheidet, das zum Beispiel zwischen Substanz und Leerheit unterscheidet, zwischen
Leben und Tod, ich und die anderen, und so weiter.

Samstag, 11.5.2013, 7.00 Uhr
Wir sind hier auf diesem Frühlingslager vereint, weil wir den Weg, das Dharma suchen. Im Alltag
verfolgen wir alle Arten von Objekte der Befriedigung, und letztendlich stellen wir fest, dass sie
nicht zufriedenstellend sind. Kein Objekt kann unseren tiefen Wunsch wirklich befriedigen. Man
beginnt, etwas anderes zu suchen als die Befriedigung in Objekten oder in gesellschaftlichem
Ehrgeiz, und man begegnet dem spirituellen Weg. In unserem Fall handelt es sich um den Weg
Buddhas, der sich als Befreiung von den Leidensursachen darstellt, insbesondere von dem Leiden,
dass es die Unbeständigkeit gibt, dass nichts tatsächlich andauert und dass wir eines Tages sterben
müssen. Einige spüren Angst, die sie dazu bringt, den Weg zu suchen, den Weg zur Auflösung
dieser existenziellen Krise. Aus diesem Grund fängt man an, die Zen-Praxis zu üben.
Aber das angestrebte Ziel wird seinerseits zu einem Hindernis auf dem Weg zur wahren Befreiung,
denn im Grunde hat die Funktionsweise des Geistes sich nicht wirklich geändert. Anstelle von
gewöhnlichen Befriedigungen des Alltags sucht man die spirituelle Befriedigung, und man benutzt
die Praxis und die Unterweisungen, um dieses Ziel zu erreichen. Dabei funktioniert man weiterhin
in der Dualität. Es gibt immer noch ein Ich, ein Ego, das etwas sucht, und dieses Etwas wird uns
immer entgehen.
Im Zen gibt es den Ausdruck „mit Händen und Füßen an Buddha gefesselt sein“. Meister Rinzai
sagte: „Wenn dir Buddha begegnet, töte ihn.“ Das heißt: „Gib die Absicht deiner Praxis auf.“
Darum empfahl Meister Dogen, einfach zu sitzen, Shikantaza, wobei man jede Absicht vergisst und
die dualistische Funktionsweise des Egos aufgibt. Meister Deshimaru betonte auch immer die
Mushotoku-Praxis, ohne Ziel, ohne Zweck.
Dann kann man eine wahre Befreiung, eine wahre innere Revolution erfahren. Die Praxis eines
jeden Augenblick wird absolut und hängt von nichts anderem als von der Praxis hier und jetzt ab,
jenseits von vorher und nachher. ‚Vorher‘, das sind all unsere Konditionierungen, unsere geistigen
Gewohnheiten, die uns dazu bringen, in gewisser Weise zu handeln. ‚Jenseits von nachher‘
bedeutet, jenseits von all unseren Zielsetzungen, unseren Absichten und Wünschen. Hier und jetzt
völlig eins zu sein mit der Praxis eines jeden Augenblicks ist die Verwirklichung des Weges, die
wir suchten und die wir in der Zukunft suchten als erhofftes Ergebnis der Praxis. In Zazen erhofft
man nichts mehr, da alles hier und jetzt verwirklicht ist.
Bedeutet dies, dass die Praxis keinen Sinn hat? Nein, denn was hier und jetzt verwirklicht und
umgesetzt wird, ist unsere völlige wechselseitige Abhängigkeit mit allen Wesen. Dabei
verschwindet unsere Ichbezogenheit, zumindest verringert sie sich sehr, und wir empfinden eine
große Sympathie für alle Wesen. Ausgehend davon erscheint ein neuer Wunsch: der Wunsch diesen
Weg der Befreiung mit allen Wesen zu teilen. Einfach mit allen Wesen sitzen. Dies geschieht
ohnehin unbewusst und natürlich, wenn man sich von der Praxis hier und jetzt absorbieren lässt,
weil jede Trennung zwischen einem selbst und den anderen abgeschafft ist.
Die Bedingungen für die Zazen-Praxis in einem Dojo sind besonders. Wie kann man aber diesen
Weg im täglichen Leben weiter praktizieren? Natürlich indem man sich weiter auf jede Praxis, jede
Handlung und jeden Augenblick konzentriert, wobei man alle Wesen nicht außer Acht lässt. Das
heißt, man spricht das Gelübde der Bodhisattvas aus: „So zahlreich die Wesen auch sein mögen, ich
gelobe, ihnen zu helfen, sich zu befreien.“ Dieses Gelübde auszusprechen heißt, den Geist des
Erwachens, Bodaishin, zu verwirklichen.
Selbst wenn dies zu einem neuen Wunsch wird, ein neues Ziel in unserer Praxis ist, ist dieses Ziel
absolut nicht egoistisch. Es ist völlig in Einklang mit unserer Buddha-Natur und stört überhaupt
nicht die Verwirklichung des Erwachens, es wird eher der Ausdruck dafür. So gibt es keinen
Widerspruch zwischen Bodaishin, dem Geist, der das Erwachen für alle Wesen und mit allen
Wesen sucht, und Mushotoku, der Praxis ohne Zweck, ohne persönliche Ziele. Diese Praxis ist die
Praxis Buddhas, der verwirklichte Weg.

Samstag, 11.5.2013, 11 Uhr
Von Augenblick zu Augenblick tauchen während Zazen Gedanken auf und verschwinden wieder.
In unserem Körper zeigen sich auch unablässig Empfindungen, sie verändern sich und verschwinden.
Manchmal ist man in einem entspannten, angenehmen Zustand, manchmal erscheinen Schmerzen.
Diese Schmerzen können ein Bedauern auslösen, man bedauert, dass man nicht in einem wohligen,
perfekten Zustand ist. Manchmal erscheinen Erinnerungen, manchmal Wünsche oder Projektionen.
Dieses unaufhörliche Auftauchen und Verschwinden von Phänomenen in unserem Geist während
Zazen gehört zu dem, was man Shoji nennt, Geburt und Tod, Auftauchen und Verschwinden. Alle
Phänomene, nicht nur die unseres Lebens, sondern alle Phänomene des Kosmos, erscheinen und
verschwinden. Wenn die Phänomene unseres Lebens von unserem Karma konditioniert sind, wenn
sie aufgrund unserer Illusionen, unserer Bonnos erscheinen, sprechen wir von Samsara, der
Wiedergeburt in verschiedene Welten, die konditioniert ist durch Wünsche und Abneigungen, an
denen wir aufgrund unserer Unwissenheit haften.
Aber die Phänomene unseres Lebens können auch durch unsere Bodhisattva-Gelübde ausgelöst
werden. Es ist nicht nur die Kraft des Karmas, die die Transmigration in Gang hält. Die Energie der
Gelübde und des Geists des Erwachens ist auch eine Ursache von Wiedergeburt. Aber das Leben,
das von den Bodhisattva-Gelübden motiviert wird, ist ganz anders als das Leben, das vom Karma
verursacht wird. Selbst wenn wir anscheinend in derselben Welt leben, in der wir mit den gleichen
Phänomenen konfrontiert werden, erleben wir sie nicht auf dieselbe Weise. Für einen Bodhisattva
sind alle Phänomene des Lebens Ausdruck des Buddha-Dharmas. Alle Phänomene sind Homon,
Pforten des Dharmas, Manifestationen der Buddha-Natur. Dementsprechend bieten sie alle
Gelegenheiten zu erwachen.
Die Phänomene, die sich während Zazen zeigen, sind lauter Koans, sie manifestieren die höchste
Wirklichkeit. Ein Gedanke erscheint und verschwindet. Ein anderer Gedanke erscheint und
verschwindet. Der vorherige Gedanke wird nicht zum folgenden Gedanken. Eine Empfindung wird
nicht zu einer anderen Empfindung. Ein Augenblick wird nicht zum nächsten Augenblick, jeder
existiert absolut, mit seinen eigenen Merkmalen. Genauso wenig wird der Winter zum Frühling.
Die Wirklichkeit des Winters mit Kälte, Eis, den kahlen Bäumen ist eine andere als die des
Frühlings. Im Frühling öffnen sich die Blüten, die Bäume blühen, die Vögel singen, die Tage
werden länger, die Luft wird wärmer. Der Frühling hat eine andere Wirklichkeit als der Winter. Die
Ursachen und Bedingungen des Frühlings sind anders als die des Winters. Genauso ist unser Leben
als Erwachsener anders als unser Leben als Säugling oder als Kind.
Wenn man Zazen praktiziert, lernt man, sich auf jeden Augenblick zu konzentrieren. Zum Beispiel
ist man völlig eins mit der Einatmung, wenn man einatmet, und eins mit der Ausatmung, wenn man
ausatmet, ohne die folgende Einatmung zu erwarten. Man wartet auch nicht auf das Ende des
Zazen. Man erlebt jeden Augenblick absolut, so wie er ist, ohne dem vergangenen Augenblick
nachzutrauern oder den folgenden Augenblick zu erwarten. Diese Lebensweise ist die Lebensweise
der ewigen Gegenwart. Sie geht über vorher und nachher hinaus, über Erwartung und Bedauern
hinaus. Dies ist der Frieden des Nirvana, der hier und jetzt verwirklicht wird.
Einige haben Schmerzen in den Beinen. Wenn ihr hier und jetzt diese Schmerzen völlig akzeptiert,
ohne darauf zu warten, die Beine auseinander falten zu können, oder ohne dem Anfang von Zazen
nachzutrauern, bei dem ihr schmerzfrei wart, dann bleibt euer Geist selbst mit Schmerzen friedlich.
Nirvana bedeutet nicht das Verlöschen der Phänomene, es ist nicht die Abschaffung des
Erscheinens und Verschwindens aller Phänomene, sondern die Art und Weise, sie ohne Anhaftung
oder Ablehnung zu leben.
Mit dieser Lebensweise ist man in Harmonie mit dem Dharma. Es ist die beste Art und Weise, um
glücklich zu leben, jeden Augenblick so zu nehmen, wie er ist. Das heißt auch, ihn mit allen Wesen
zu leben.
Der gegenwärtige Augenblick ist das Ergebnis von unserem vergangenen Leben und gleichzeitig
die Quelle von unserem ganzen zukünftigen Leben. So beinhaltet dieser gegenwärtige Augenblick
alle Zeiten. Er ist gleichzeitig extrem flüchtig und gleichzeitig unendlich weit, wie unsere Existenz.
Mondo
Ich habe eine Frage zum Gebot ‚nicht töten‘. Ist damit auch ‚töten durch Unterlassung‘ gemeint?
Zum Beispiel wenn ich es unterlasse, Menschen zu helfen, die von einem Aggressor bedroht und
getötet werden. Sollte ich es befürworten, dass ein Diktator wie Hitler oder jetzt aktuell in Syrien
Assad getötet wird?
Das ist möglich. Aber nur ein Bodhisattva kann so etwas tun. Es ist genau der Fall, bei dem es
erlaubt ist zu töten. Einem Bodhisattva ist es erlaubt, jemanden zu töten, wenn diese Person andere
Menschen mit dem Tod bedroht. Wenn du dich zum Beispiel in einem Flugzeug befindest, das von
einem Terroristen entführt wird, der es zum Explodieren bringen will, ist es möglich ihn zu töten,
um damit zu vermeiden, dass er viele andere Menschen tötet. Das gilt noch mehr für einen
Tyrannen, der sehr viele Menschen töten lässt. Natürlich ist das ein heikler Punkt, aber es ist der
einzige Fall, in dem man bei dem Prinzip ‚nicht töten‘ eine Ausnahme machen kann.
Wenn ein Bodhisattva einen derartigen Akt ausführt, hat das dann karmische Folgen für ihn?
Eine derartige Tat hat immer zwei Auswirkungen für den Ausführenden: eine negative Auswirkung,
weil er getötet hat, aber auch eine positive Auswirkung, weil er viele Menschen gerettet hat. Wenn
eine Handlung einen negativen und einen positiven Effekt hat, kommt in der karmischen Kausalität
am Ende Null heraus. Es gibt viele ähnliche Fälle. Zum Beispiel ist es verboten zu stehlen, aber
wenn während einer Hungersnot reiche Menschen Nahrung horten und arme Menschen vor Hunger
sterben, kann man durchaus die Reichen, die nichts abgeben wollen, bestehlen. Diese Tat führt auch
zu zwei karmischen Auswirkungen, einer negativen, weil die Person gestohlen hat, und eine
positive, weil sie gegeben hat. Es gleicht sich etwas aus.
Auf jeden Fall darf man nicht an sein eigenes Karma denken, wenn man sich in so einer Situation
befindet. Man muss aus Mitgefühl handeln. Selbst wenn das Ergebnis für einen selbst letzten Endes
schlecht ist, wenn die negative karmische Auswirkung überwiegt, sollte dies einen nicht daran
hindern, alles zu tun, um diejenigen zu retten, die vom Tod oder vom Hunger bedroht sind.
Diese Frage wurde oft angesprochen. Auch Dogens Schüler haben ihn bei informellen Gesprächen
oft darauf angesprochen. Er hatte auch in diesem Sinn geantwortet.
In dieser Richtung hat der Buddhismus keine starre Moral. Die buddhistische Ethik berücksichtigt
die Auswirkungen, die Ergebnisse. Es geht nicht nur um Gebote oder Prinzipien, sondern um das
Ergebnis. Ein bekanntes Beispiel handelt von jemand, der während des letzten Krieges Juden bei
sich untergebracht und beschützt hat. Wenn die Gestapo gekommen wäre und ihn gefragt hätte:
„Beherbergen Sie Juden hier?“, hätte er nicht erst überlegen können, ob er lügen darf. Hätte er ja
gesagt, wäre dies einem Todesurteil gleichgekommen. Nicht nur im Buddhismus, auch in der
westlichen Ethik betrachtet man diese Art Aspekte. Man nennt sie die ‚Ethik, in der die Folgen
bedacht werden‘.
So weit ich weiß, hat alles eine Ursache und eine Wirkung, und man nennt es eine Kausalitätskette.
Ist diese Kette geschlossen oder geht sie in zwei verschiedene Richtungen?
Es ist komplexer: Es handelt sich nicht um eine Kette, jedenfalls nicht um eine einzige Kette. In der
Kausalität, so wie sie in Buddhas Unterweisung dargestellt wird, gibt es nicht nur eine Ursache, die
eine Auswirkung hat. Eine Ursache erzeugt eine Auswirkung in einem Kontext, in dem weitere
Ursachen und Bedingungen zusammenkommen. Es ist sehr selten, dass eine Ursache nur eine
Auswirkung hat. Die Kausalität ist eine Art Netzwerk von Ursachen, das recht komplex ist.
Ein klassisches Beispiel dazu ist die Unterweisung, die Buddha in einer landwirtschaftlichen
Gemeinde gehalten hat. Er sprach von einem Samenkorn. Man kann sagen, dass das Samenkorn die
Ursache des Baumes ist. Wenn man eine Eichel einpflanzt, ist diese Eichel die Ursache der Geburt
und der Erscheinung einer Eiche. Aber natürlich reicht es nicht aus, dass eine Eichel auf den Boden
fällt, damit ein Baum aus ihr entsteht. Der Boden muss geeignet sein, und Feuchtigkeit und
Temperatur müssen stimmen. Es gibt viele Bedingungen: Es darf z.B. kein Tier vorbeikommen und
die Eichel essen. Eine Menge günstiger Bedingungen sind nötig, damit das Fallen einer Eichel zu
einem Baum führt. Das Gleiche gilt für alle Ursachen. Zum Beispiel versucht man im
medizinischen Bereich, die Ursache von Krebs zu finden. Selbst wenn man nur eine Krebskategorie
betrachtet, sieht man, dass der Krebs eine Ursache hat, aber dass es eben nicht nur eine Ursache
gibt. Ansonsten würde bei all den Menschen, die diese Ursache hätten, Krebs entstehen, aber so ist
es nicht. Tabakrauchen ist zum Beispiel ist die Ursache für viele Tumore. Aber nicht alle Raucher
bekommen Krebs.
Freud hat von komplementären Folgen gesprochen. Damit zum Beispiel eine psychische Krankheit
ausbricht, müssen vorab eine Anzahl von Ursachen und Bedingungen zusammentreffen. Selbst
wenn man eine traumatische Kindheit hatte, heißt das nicht, dass man neurotisch oder psychotisch
werden muss. Einige werden es, andere nicht, weil noch andere Ursachen und Bedingungen
dazukommen müssen, um eine Neurose oder Psychose auszulösen.
Buddha hatte vor 2500 Jahren, das ist schon sehr lange her, eine sehr moderne Sichtweise, weil er
sich bereits der Komplexität dieses Spiels von Ursachen und Wirkungen bewusst war. Er war der
Auffassung, dass es nicht nur eine einzige kausale Kette gäbe, sondern die karmische Kausalität.
Das Karma ist eine kausale Kette. Aber es gibt noch andere Ursachen, die klimatische Kausalität
zum Beispiel oder die biologische Kausalität.
Die Mathematik, die Logik?
Nein, das ist etwas anderes. Mathematik ist keine Kausalität, sie ist ein Versuch die Phänomene zu
beschreiben.
Es gibt verschiedene Ursachen: biologische, psychologische, soziologische, die alle interagieren.
Daher ist das, was bei einem Individuum passiert, sehr komplex. Man kann sehr schwer
voraussagen, was aus einem Menschen wird, aufgrund der Komplexität der Ursachen, die auf seine
Entwicklung einwirken. Im Bereich der Physik kann man präzise Vorhersagen machen, aber es ist
praktisch unmöglich, vorherzusagen, was aus einem Menschen wird.
Ich denke, dank dieser Komplexität hat der Mensch eine gewisse Freiheit. Je komplexer die
Ursachen und Wirkungen sind, desto chaotischer wird die Situation und desto größer wird der
Rahmen der Freiheit. Der Determinismus hat weniger Macht.
Wenn ich es richtig verstanden habe, kann eine Ursache Auswirkungen in verschiedene Richtungen
haben.
Das hängt davon ab, ob andere Ursachen dazwischenfunken.
Wenn alles auf der Welt eine Ursache hat, konvergieren dann alle diese Ursachen irgendwann auf
ein Ziel hin?
Nein.
Zum Beispiel wie das Weltall, das mit dem Urknall angefangen hat und irgendwann wieder
kollabiert?
Die Astrophysiker sind sich untereinander nicht einig. Es gibt Theorien, die sagen, dass es nach
dem Urknall den Big Crunch gibt: Nach der Ausdehnung zieht sich alles wieder zusammen. Andere
sagen, dass sich das Weltall ins Unendliche ausdehnt. Vom buddhistischen Standpunkt aus gibt es
keine allerletzte Ursache. Die Dinge sind nicht dazu bestimmt, ein Ende zu erreichen.
Gehe ich richtig in die Annahme, dass ein Bodhisattva, der dem Gebot ‚nicht töten‘ folgen sollte,
kein Fleisch essen darf?
Es ist auf jeden Fall besser, Fleischkonsum zu vermeiden. Aber auch hier gibt es im Buddhismus
kein absolutes Verbot. Aus gesundheitlichen Gründen kann jemandem empfohlen werden, Fleisch
zu essen, zumindest für eine gewisse Zeit. Oder in manchen geografischen Regionen wie in Tibet
ist es schwierig, die Erde zu bearbeiten. Dort kann man nur Tiere aufziehen, also wird dort eher
Fleisch gegessen. Es gibt kein absolutes Verbot, aber es wird empfohlen, so wenig Fleisch wie
möglich und am besten gar kein Fleisch zu essen. Die Gründe kennen wir alle: Der Genuss von
Fleisch bedeutet, dass Tiere getötet werden, auch wenn wir es nicht sehen, weil wir diesen Vorgang
nicht mitbekommen, da wir unser Fleisch heutzutage im Supermarkt fertig abgepackt kaufen.
Heute Morgen hast du im Kusen gesagt, das Nirvana sei kein besonderer Zustand. Man nimmt im
Nirvana die Dinge einfach so, wie sie sind, ohne etwas hinzuzufügen. Habe ich das richtig
verstanden?
Ich habe es nicht genau so gesagt, aber es geht in diese Richtung. Buddha hat das Nirvana nie
wirklich beschrieben. Er hat oft gesagt, dass das Nirvana die Auflösung der drei Gifte sei. Die drei
Gifte sind Gier, Hass und Unwissenheit.
Von diesem Zusammenhang habe ich heute Morgen gesprochen, um den Geisteszustand von Zazen
auszudrücken. Der wichtige Punkt bei Zazen ist nicht, ohne Gedanken oder ohne körperliche
Empfindungen zu sein, wie z.B. Schmerzen im Bein. Anders gesagt, ein Nirvana-Zazen ist kein
Zazen, bei man nie Schmerzen oder Gedanken hat. Es ist ein Zazen, bei dem man weder mit
Anhaftung oder mit Ablehnung auf egal welches Ereignis reagiert. Sobald man in Zazen für oder
gegen etwas ist, ist man nicht im Nirvana. Wenn man sich an einen Zustand klammert, wenn man
sich sagt: „Ach, jetzt bin ich im Nirvana!“, handelt es sich nicht um das Nirvana. Das Gleiche gilt
für Hass oder Abweisung, sie sind auch nicht das Nirvana. In beiden Fällen werden Anhaftung und
Abweisung von Unwissenheit verursacht, weil man die Leerheit der Phänomene nicht versteht und
das Ego auf diese Phänomene reagiert.
Aus diesem Grund hat Buddha das Nirvana als die Auflösung der drei Gifte beschrieben. Wenn die
Unwissenheit verschwindet, verschwinden mit ihr die Gier, Anhaftungen und auf der anderen Seite
der Hass, Wut und Ablehnung. In unserem Vokabular ist der Zustand des Hishiryo-Bewusstseins
das Nirvana.
Als wir klein waren, hat man uns beigebracht, nachzudenken, bevor wir handeln. Aber was ist,
wenn Herz oder Körper schneller sind als der Verstand?
Das hängt davon ab, ob das Herz geläutert ist oder nicht. Was du ‚Herz‘ nennst, ist die spontane
Handlung, die Handlung, über die man nicht nachdenkt. Aber man kann spontan jemanden aus Wut
oder Eifersucht töten. Spontan zu handeln ist nicht zwangsläufig gut. Die spontane Handlung ist nur
günstig, wenn das Herz durch eine lange Praxis gereinigt wurde. Dann kann es ganz spontan
Mitgefühl und Wohlwollen für alle Wesen ausdrücken. Für ein erwachtes Wesen, das von den drei
Giften befreit ist, ist die spontane Aktion durchaus günstig. Solange wir noch vom Karma, von
Bonnos oder einfach von unseren Instinkten konditioniert sind, denken wir besser nach, bevor wir
handeln.
Du sagst, dass man dies den Kindern gelehrt hat, als du jung warst. Ich hoffe, dass dies auch heute
noch der Fall ist. Das ist die Basis der Ethik. Auch Buddha hat dies seinem eigenen Sohn gelehrt. In
einem Sutra spricht Buddha zu Rahula und sagt: „Bevor du handelst, denke über die Konsequenzen
deines Handelns nach. Ob es sich um Worte oder Taten handelt, denke über die Auswirkungen
nach. Wenn die Auswirkungen positiv sind, das heißt, wenn sie zum Wohlergehen, zum Glück oder
zur Befreiung der anderen oder für dich selbst führen, kannst du mit der Sprache oder mit dem
Körper handeln. Wenn du aber nachdenkst und siehst, dass deine Handlung ungünstige
Auswirkungen haben oder Leiden erzeugen kann, dann darfst du diese Handlung nicht ausführen.“
Ich finde das überaus offensichtlich und hoffe, dass es weiterhin gelehrt wird. Es ist eines der
weltweiten großen Prinzipien der Ethik.
Das bedeutet, dass der Verstand alles leitet?
Es ist nicht so, dass er alles leitet, aber man muss ihn auf die richtige Art und Weise benutzen. Man
darf nicht glauben, dass Zen gegen den Verstand ist. Es heißt immer, man darf nicht unterscheiden.
Aber Dogen und auch Buddha haben gesagt, dass es wichtig ist zu unterscheiden. Man muss
unterscheiden, was gut und was schlecht ist.
Beim Zazen gibt man die Unterscheidungen auf, in Zazen befindet man sich in einem Zustand, in
dem man keine Entscheidungen treffen muss. Die Bedingungen der Zen-Praxis sind so, dass man
keine Entscheidungen treffen muss. Da braucht man sich um nichts kümmern und muss sich keine
Gedanken über Entscheidungen machen. Außer manchmal: Wenn man z.B. einen Hustenreiz
verspürt, muss man unterscheiden: Es wird mich stören, wenn ich den Husten unterdrücke, dann
läuft meine Nase und die Augen tränen. Aber wenn ich huste, wird es alle stören, daher entscheide
ich mich dafür, nicht zu husten. Selbst während Zazen gibt es Momente, in den man unterscheiden
muss.
Im Kapitel über Bodaishin von Meister Dogen steht, dass es der unterscheidende Geist ist, der
Bodaishin auslöst. Der Buddha-Geist, der Geist des Erwachens, ist der Geist, der die Ursachen der
Leiden erkennt, und dann entscheidet, das Erwachen zu suchen, um sich vom Leiden zu befreien.
Das ist eine gute Unterscheidung, in derartigen Fällen muss man unterscheiden.
Es ist wichtig, dass man vermeidet, nur einen Punkt der Unterweisung zu verstehen und sich an
diesen Punkt zu klammern, als wäre er die absolute Wahrheit. Buddhas Unterweisung
berücksichtigt die Komplexität. Man darf nicht eine einseitige Haltung annehmen und sagen:
„Diese Wahrheit gibt es! Jetzt richte ich mich immer danach.“ In manchen Situationen muss man
unterscheiden, in anderen nicht. Aber genau das ist Weisheit: verstehen, wie ich meinen Geist am
besten benutze. Welchen Aspekt des Geistes benutze ich je nach Situation? Man kann nicht immer
im Zustand des Hishiryo-Bewusstseins sein, auch wenn man es sich wünscht. Man kann nicht
immer in derselben Position blockiert bleiben. Das ist Weisheit. Dummheit ist im Gegenteil dazu,
auf einer Position verharren zu wollen. Wenn du ein strenges Verhaltensprinzip hast, kannst du dich
dem Leben nicht anpassen.
Ich habe den Ausdruck ‚mit Händen und Füßen an Buddha gefesselt‘ nicht verstanden.
‚Mit Händen und Füßen gefesselt sein‘ist eine französische Redewendung, die die völlige Anhaftung
an jemanden beschreibt. Wenn nur die Füße gefesselt sind, kann man sie mit den Händen
befreien, wenn nur die Hände gefesselt sind, kann man davonlaufen. Aber wenn Füße und Hände
gefesselt sind, kann man nichts mehr unternehmen.
‚Mit Händen und Füßen an Buddha gefesselt zu sein‘ meint die völlige Anhaftung an Buddha. Mit
einer völligen Anhaftung an Buddha kann man nicht das Erwachen realisieren. Deshalb spricht
Dogen vom ‚Erwachen jenseits von Buddha‘. Buddha ist das Ideal unserer Praxis. Wenn man zu
sehr an diesem Ideal festhält, ist man nicht frei, nicht wahrhaft befreit. Darüber hinaus zeigt es, dass
es eine Dualität zwischen einem selbst und Buddha gibt. Wenn man Buddha anhaftet, zeigt es, dass
Buddha eine Vorstellung in unserem Kopf ist. Immer wenn man einer Person oder einer Sache
anhaftet, ist es ein Zeichen von Dualität. Da sind zwei: man selbst und die andere Person. Die wahre
Zen-Praxis besteht darin, selber Buddha zu werden. Dann gibt es den Begriff ‚Buddha‘ nicht mehr.
Ohnehin ist Buddha kein Begriff, kein Objekt, keine Vorstellung. Aus diesem Grund kann man
nicht erwachen, wenn man Buddha anhaftet.
Im letzten Satz des Hokyo Zanmai steht: „Verberge die Praxis und stelle dich dumm.“ Was
bedeutet das?
Das bedeutet, dass man sich nicht als Weiser darstellen soll. Man sollte seine Praxis nicht so
darstellen, als wäre man stolz auf sie. Es ist eine Aufforderung zur Demut. Seine Praxis zu
verbergen heißt, nicht stolz auf seine Verwirklichung zu sein.
Manche Leute machen sehr viel Samu. Aber am Ende werden sie stolz auf ihre Arbeit und fangen
an, andere zu kritisieren, die weniger gut Samu machen. In diesem Moment wird Samu zu eine
Anhaftung, ein Gegenstand des Stolzes, was natürlich das Gegenteil der wahren Praxis ist. Oder
manche Menschen sind intelligent und studieren viele Sutras. Sie haben den Eindruck, gewisse
Dinge tief verstanden zu haben, und meinen, sie könnten sie den anderen erklären. Sie halten sich
für weise aufgrund ihres Wissens über den Buddhismus, aber das ist nicht die wahre Weisheit.
Es geht nicht darum, seine Weisheit und sein Erwachen zu verbergen. Aber man darf nicht daran
festhalten, sondern muss realisieren, dass das Dharma grenzenlos und unendlich ist. Selbst wenn
man glaubt, etwas verstanden oder erreicht zu haben, gibt es immer etwas, das darüber hinaus geht.
Der Weg ist immer viel weiträumiger, als man realisieren kann. Angesichts dieser grenzenlosen und
unendlichen Dimension des Weges und des Dharma kann man nur demutsvoll demgegenüber sein,
was man verwirklicht zu haben glaubt. Das ist die Schlussfolgerung des Hokyo Zanmai und auch
dieses Mondos.

Sonntag, 12.5.2013, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen weiter gut auf die Haltung eures Körpers. Lasst den Geist nicht
auf euren Gedanken stagnieren. Bei Zazen hält man keinen Gedanken fest, nicht einmal Gedanken,
die das Dharma betreffen.
Auf jedem Sesshin wird eine Unterweisung gegeben und empfangen. Manchmal hat man den
Eindruck, etwas verstanden zu haben. Dann neigt man dazu, sich zu sagen: „Dies ist das Dharma.“
oder „Das ist wirklich die Essenz der Unterweisung Buddhas.“, und man freut sich, etwas begriffen
zu haben. Aber das Dharma Buddhas ist jenseits von allem, was man erfassen kann. Es lässt sich in
keinen Gedanken einschließen. Es geht über alle Konzepte oder Worte hinaus, mit denen man
versucht, es zu beschreiben.
Zu diesem Thema nahm Meister Dogen eine Bootsfahrt als Beispiel: Wenn man auf hoher See
angelangt und keine Küste mehr zu sehen ist, denkt man, der Ozean sei ein weiter Wasserkreis.
Aber in Wirklichkeit lässt sich der Ozean nicht durch diesen Begriff beschreiben. Er ist weder ein
Kreis noch ein Viereck. Unter seiner Oberfläche gibt es allerhand Arten von verschiedenen
Lebensformen. Jenseits des Horizonts erstrecken sich alle möglichen Länder, und der Ozean nimmt
die Form aller Küsten an. Folglich ist er nicht einfach ein weiter Wasserkreis.
Am Anfang des Sesshin habe ich von den vier Siegeln des Buddha-Dharmas gesprochen, den vier
tiefen Wahrheiten der Buddha-Unterweisung:
– Alle Dinge sind unbeständig.
– Alle Dinge sind ohne Substanz.
– Wenn man dies nicht akzeptiert, wird das Leben leidvoll.
– Wenn man es akzeptiert, wird das Leben Nirvana.
Aber man kann nicht alle Phänomene des Lebens darauf reduzieren, einfach unbeständig oder ohne
Substanz zu sein. Die Unbeständigkeit und die Leerheit sind nur Sichtweisen auf die Existenz. Aus
diesem Grund hörte Buddha eines Tages auf zu sprechen und schwieg. Er drehte einfach eine
Blume zwischen seinen Fingern, ohne es zu kommentieren. Die Blume ist jenseits jeden
Kommentars. Sie ist jenseits dessen, dass sie unbeständig oder ohne Substanz ist. Sie ist viel mehr
als das: die Blume selbst. Sie lässt sich in kein Konzept einschließen.
Um dies zu realisieren, müssen wir unsere Praxis noch vertiefen, das heißt, noch mehr diesen
Wunsch loslassen, etwas erfassen zu wollen. Ihr sagt euch vielleicht: „Jetzt habe ich es verstanden!
Der Sinn des Dharmas Buddhas ist Loslassen.“ Ja, das stimmt. Aber es ist mehr als das. Was uns
noch zu entdecken bleibt, ist viel weiter als das, was wir glauben verstanden zu haben. Aus diesem
Grund ist der Weg unendlich, und unsere Praxis hat keine Grenzen.
Manchmal fragt jemand: „Wie lange dauert es, bis man das Satori erlangt?“ Er stellt sich vor, dass
Satori das Ziel der Zen-Praxis ist und man danach aufhören könnte zu praktizieren. Buddha
Shakyamuni hat noch lange nach seinem Erwachen Zazen praktiziert. Die letzte Empfehlung von
Meister Deshimaru war: „Macht ewig weiter Zazen, denn die Praxis selbst ist Verwirklichung.“ So
ist es uns möglich, jeden Tag über alle Grenzen unseres Verstandes weiter hinauszugehen. Dies ist
nicht auf das Sesshin begrenzt. Der Sinn unserer Praxis ist, in jedem Augenblick des täglichen
Lebens mit unserem wahren Geist vertraut zu werden. Der Weg ist unendlich, die Praxis ist
grenzenlos. Wenn wir dies realisieren, können wir unser ganzes Leben lang freudig weiter
praktizieren.

Sonntag, 12.5.2013, 11 Uhr
In der Danksagung während der Ordinationszeremonie heißt es: „Das Universum freut sich, weil es
neue Bodhisattvas gibt.“ Bodhisattva zu werden bedeutet, das Land der Freude zu betreten, die
Freude auf dem Weg zu sein, um ein vollkommener Buddha zu werden. Natürlich ist man beim
Zazen mit dem Hishiryo-Bewusstsein wie Buddha, aber eben nur während Zazen. Um im täglichen
Leben weiterhin ein Bodhisattva zu sein, das heißt, ein Wesen des Erwachens, muss man ständig
die Paramita praktizieren: die Gebote, die man während der Ordination empfangen hat, die Gabe,
die Geduld, die Energie, die Meditation, also Zazen, und die Weisheit. Man muss auch alle Arten
von geeigneten Hilfsmitteln entwickeln, um anderen Wesen zu helfen, selber zu erwachen.
Wenn ein Bodhisattva diese Qualitäten völlig entwickelt hat, wird er ein vollkommener,
vollständiger Buddha. Aber schon die einfache Tatsache, jeden Tag die vier Bodhisattva-Gelübde
auszusprechen, bedeutet, das Erwachen Buddhas völlig auszudrücken und zu realisieren.
Diejenigen, die sich diesem Weg ganz widmen möchten, bitten vielleicht darum, Mönch oder
Nonne zu werden. Aber Mönche, Nonnen und Bodhisattvas haben auf jeden Fall dasselbe Ideal,
dieselbe Praxis und ein Leben, das durch die Gelübde angeregt wird und in der Zazen-Praxis
verwurzelt ist. Ich wünsche jedem von uns, dass wir dies weiter praktizieren und verwirklichen.

Es geht um dich – 08.01.2023 – Dojo Wuppertal

Es geht um dich

Vera Thöne am 08.01.2023

Zu Beginn eines neuen Jahres neigen die Menschen dazu, innezuhalten, auf das alte Jahr zurückzublicken und sich zu fragen, was das Neue wohl bringen mag. Manchmal blicken wir freudig auf schöne Erlebnisse zurück, manchmal mit Bedauern auf verpasste persönliche Chancen oder den Verlust von uns nahestehenden Menschen. Manchmal ist auch beides miteinander verknüpft.

Wir alle hier wandeln nun schon einige Jahrzehnte durch unsere Leben. Aber haben WIR unser Leben WIRKLICH gelebt? Oder sind wir Ideen, Vorstellungen und Glaubenssätzen hinterhergelaufen, die nicht unsere eigenen waren und von außen gekommen sind? Haben wir vielleicht in Teilen das Leben anderer Menschen, die uns in irgendeiner Weise beeinflusst haben, gelebt? Haben wir auf unsere innere Stimme gehört? Woher kommt das Bedauern, das wir im Rückblick auf unser Leben manchmal empfinden? Sind wir manchmal zu verkopft? Füllen wir die Stille, die nötig ist, um in uns hineinzuhören, vielleicht mit ablenkendem Aktivismus oder Radio, Fernsehen, Informationskonsum?
Wem oder was jagen wir hinterher?

In Norwegen wird wohl auf runden Geburtstagen älterer Menschen häufig dieses Zitat benutzt:

„All die Tage, die kamen und gingen, wusste ich nicht, dass sie das Leben waren.“

Dieser Satz hat mich sehr berührt und an einen Spruch von Meister Kodo Sawaki, dem Lehrer von Meister Deshimaru, erinnert:

„He, was glotzt Du so?
Siehst Du nicht, es geht um Dich!?“

Ich vermute, dass diejenigen, die sich dem Zen-Weg zuwenden, diese Dringlichkeit schon jetzt spüren. Die Dringlichkeit, sich auf das Zafu zu setzen und einfach innezuhalten. Um dann dem Lärm im eigenen Kopf zu begegnen, unbeweglich zu bleiben und nicht vor ihm wegzulaufen. Sondern sitzen zu bleiben wir ein Fels in der Brandung. Sich einfach auf die Haltung und die Atmung zu konzentrieren und vielleicht, als Frucht und Geschenk von Zazen, einen Moment der Unbegrenztheit und Ewigkeit zu erleben.

Wozu also den ganzen Tag rennen? Wir können diese Achtsamkeit auch mit in den Alltag nehmen und alles, was wir tun, mit Konzentration und Aufmerksamkeit tun. Wenn möglich, Ablenkungen durch „Multitasking“ zu vermeiden. Es ist längst erwiesen, dass Menschen dazu gar nicht wirklich in der Lage sind. Ständige Ablenkungen bei einer Tätigkeit erschöpfen uns nur.

Ablenkung bedeutet, von uns selbst weggezogen zu werden. Wenn wir nicht den Weg gehen, den wir uns vorgenommen haben. Das kann durchaus bedeuten, das eigene Leben massiv zu vereinfachen und sich zu fragen, was wirklich wichtig ist.

Im Zen wird ja immer davon gesprochen, seine alten Konditionierungen, d.h. Gewohnheiten, aber auch Glaubenssätze und vermeintliche Gewissheiten und Wahrheiten, zu überprüfen und loszulassen.

Das Problem der Ablenkung haben Menschen nicht erst, seitdem das Internet und Smartphones erfunden wurden. Der Stoiker Seneca sagte schon vor 2000 Jahren:

„Das Leben ist lang genug, wenn es nur gut angewendet wird.“

Er war davon überzeugt, dass alle Menschen existieren, aber nur die wenigsten leben. Das Leben ist lang. Wir haben genug Zeit. Wenn wir jeden Augenblick ganz leben, verpassen wir nichts und müssen nichts bedauern.

Eine wunderbare Übung, die Zazenpraxis mit dem Alltag zu verknüpfen, ist ein Sesshin. Das nächste findet in drei Wochen auf der Grube Louise statt.

Mit seinem Geist vertraut werden – 05.2017 – Grube Louise

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 26.-28. Mai 2017 während
des Frühjahrslagers in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche übersetzt.

 

Freitag, 26.05.17, 1. Zazen
Konzentriert euch ab Beginn des Zazen vollständig auf eure Haltung, insbesondere auf die
wichtigen Punkte der Haltung.
Neigt gut das Becken nach vorne und drückt gut mit den Knien auf den Boden. Entspannt den
Unterleib und lasst das Körpergewicht auf das Zafu drücken. Streckt gut die Wirbelsäule von der
Taille aus und den Nacken. Entspannt gut die Schultern und den Unterleib. Zieht das Kinn zurück.
Drückt mit der Schädeldecke in den Himmel und mit den Knien in den Boden. Entspannt gut das
Gesicht.
Der Blick ruht vor einem auf dem Boden. Aber man klammert sich nicht an die Objekte des Sehens.
So ist es nicht erforderlich, die Augen zu schließen, um sich zu konzentrieren.
Man klammert sich nicht an die Gedanken. Man lässt sie vorüberziehen. So braucht man sie nicht
unterdrücken zu wollen. Das Hirn produziert ganz natürlicherweise Gedanken. Die Neuronen haben
das Bedürfnis, sich zu verbinden. Der wesentliche Punkt von Zazen ist nicht, Leere in seinem Geist
zu erzeugen.
Viele Menschen kämpfen gegen ihre Gedanken und steigern damit nur ihre geistige Aufgeregtheit.
Zazen bedeutet, den Kampf einzustellen, sich in Frieden zu setzen, indem man sich nicht bemüht,
einen besonderen Zustand zu erlangen. Man empfängt einfach Augenblick für Augenblick die
Wirklichkeit, so wie sie ist. Dazu muss man einen offenen, verfügbaren Geist haben. Nichts
ergreifen. Wie die Hände in Zazen.
Die linke in der rechten, die Daumen waagerecht, die Handkanten in Kontakt mit dem Unterleib.
Die Hände ergreifen nichts. Alles kann durch eine offene Hand hindurchgehen. Eine Faust kann
nichts empfangen. Für den Geist gilt das gleiche. Die Hände erzeugen nichts. Der Geist hört mit
seinen geistigen Erzeugnissen auf. Er begnügt sich damit, tief die Leerheit all unserer geistigen
Erzeugnisse zu sehen. Es ist nicht erforderlich, sie ausrotten zu wollen. Einfach nur vorüberziehen
lassen. Wie der Himmel die Wolkenvorüberziehen lässt. Dann wird der Geist weit. So weit, dass er
nicht fassbar ist.
Nicht nur ergreift der Geist nichts, wir bemühen uns auch nicht, den Geist zu ergreifen. Der Geist
kann sich nicht selbst ergreifen. Das, was man zu erfassen glaubt, sind Worte, Bilder,
Empfindungen. Aber der Geist selbst bleibt unfassbar. Er ist die Quelle. Aber die Quelle der Quelle
ist nicht fassbar. Das ist das ganze Universum. Also hört auf zu erfassen.
Das ist die große Freiheit, der Sinn, die Essenz von Zazen, die Praxis des Sesshins.
Freitag, 26.5.17, 2. Zazen
Zazen zu praktizieren bedeutet, völlig vertraut zu werden mit seinem Geist. Ein Sesshin machen
bedeutet, unablässig vertraut zu sein mit seinem Geist, nicht nur während Zazen, sondern auch in
unserem Alltag. Wenn man mit seinem Geist vertraut werden will, wenn man nach dieser
Vertrautheit sucht, nimmt man wahr, dass unser Geist nicht fassbar ist.
Buddha Shakyamuni sagt: „Der Geist der Vergangenheit kann nicht ergriffen werden, der Geist der
Gegenwart kann nicht ergriffen werden, der Geist der Zukunft kann nicht ergriffen werden.“
Es ist dieser nicht fassbare Geist, der seit Buddha Shakyamuni weitergegeben wurde.Während
Zazen konzentriert auf die Haltung und achtsam auf die Atmung, ergreift unser Geist nichts,
verweilt auf nichts. Das Hishiryo-Bewußtsein beginnt zu funktionieren, der Geist, der funktioniert,
ohne Unterscheidungen zu schaffen, der seine geistigen Erzeugnisse beendet. So harmonisiert sich
der Geist auf natürliche Weise mit dem Dharma, mit der kosmischen Ordnung, das heißt mit der
Unbeständigkeit aller Phänomene, nicht nur der Phänomene um uns herum, der Welt, sondern auch
der Phänomene, die unseren Geist und unseren Körper konstituieren.
In Zazen kann man unablässig das Auftauchen und Verschwinden der Gedanken, der
Empfindungen, der Erinnerungen, der Wünsche, der Gefühle sehen. Alle diese Phänomene sind
Erzeugnisse des nicht fassbaren Geistes. Der Geist selbst ist nicht Etwas, nichts Fassbares. Mit ihm
kann man sich harmonisieren, indem man unablässig auf die Körperhaltung und auf die Atmung
zurückkehrt. Jedes Mal wenn der Geist zur Körperhaltung zurückkehrt, lässt er auf natürliche Weise
unbewusst alle Gedanken los. Sobald man aufmerksam auf seine Atmung ist und der Atmung folgt,
und nicht seinen Gedanken, findet der Geist zu seiner natürlichen Flüssigkeit zurück.
Kodo Sawaki verglich den Geist, der sich mit einem Ego identifiziert mit einem Eisblock, und die
Welt, die von diesem Eisblock konditioniert ist, nannte er die ‚Welt von Null Grad‘. Zazen wirkt wie
die Sonne, die diesen Eisklotz schmelzen lässt. Ein Dichter sagte:“Im Frühling sind die
Unterschiede gelöst, Eis und Wasser sind erneut Freunde.“
Der Geist des Ego und Hishiryo sind keine Feinde, es sind einfach unterschiedliche
Funktionsweisen des nicht fassbaren Geistes, der alle möglichen Formen und Funktionsweisen
annehmen kann.
Im Allgemeinen funktionieren wir immer nach dem gleichen Modus, dem Modus, der
Unterscheidungen und Anhaftungen auslöst, der Gier auslöst und Hass auf all das, was unsere
Anhaftungen stört, und blind macht und uns daran hindert, die Wirklichkeit klar zu sehen.
Ein Sesshin zu machen bedeutet, sich die Gelegenheit zu geben, eine befreite Funktionsweise des
Geistes wieder zu finden. Befreit von allen geistigen Verstopfungen. Man schafft keine Trennungen
mehr. Dann können wir unsere tiefe Einheit mit allen Existenzen sehen. Diese Wahrnehmung war
die Essenz des Erwachen Buddha Shakyamunis.
Unsere wirkliche Natur, die Buddha Natur, ist diese Einheit aller Existenzen unser wirkliches
Gesicht vor der Geburt unserer Eltern. Dieses ursprüngliche Gesicht wiederzufinden, erlaubt es uns,
zu unserem wirklichen Normalzustand zurückzukehren, befreit von unseren Täuschungen, unseren
täuschenden Konditionierungen. Aber diese Konditionierungen sind sehr stark. Sie haben in unserer
geistigen Funktionsweise eine derart tiefe Einprägung hinterlassen, dass wir immer wieder zur
richtigen Praxis zurückkehren müssen.
Die Rückkehr zum Normalzustand bedarf einer gewissen Bemühung. Aber mit der Gewohnheit der
Praxis geschieht diese Rückkehr natürlich und schnell. Der Geist kann frei funktionieren in
Abhängigkeit der Situation, die sich zeigt. Manchmal muss man nachdenken, analysieren,
entscheiden. Dann macht man das. Es gibt eine Zeit dafür. Aber die meistens Leute verbringen ihre
ganze Zeit damit und lassen keinen Raum für eine andere Funktionsweise des Geistes.
Ein Sesshin zu machen bedeutet, sich diesen Raum zu geben und dann frei von einer
Funktionsweise in die andere gehen zu können, ohne in einer Funktionsweise gefangen zu sein. Das
geschieht natürlich und anstrengungslos. Aber es ist die Frucht einer langen Praxis. Deshalb darf
man nicht aufhören zu praktizieren. Das nennt man Gyoji, unablässige Praxis.
Freitag, 26.05.17, 3. Zazen
Wenn man während Zazen auf die Haltung und die Atmung konzentriert ist, funktioniert unser
Geist wie ein Spiegel. Man kann in ihm nicht nur unsere Gedanken sich spiegeln sehen, sondern
auch unsere Täuschungen, unsere Gefühle, unsere Anhaftungen. Das ist die Gelegenheit, sie zu
erhellen. Seine Täuschungen zu erhellen und ihnen nicht zu folgen, sondern sie fallen zu lassen, ist
eine Form von Satori.
Jedes Mal wenn man eine Täuschung aufgibt, ähnelt man Buddha. Meister Deshimaru verfügte über
die Kunst, uns zu helfen, unsere Täuschungen zu erhellen, nicht nur, indem er sie kritisierte,
sondern indem er selbst öffentlich seine Täuschungen erhellte. Er versucht nicht, wie ein
vollkommener Buddha zu erscheinen. Er erkannte ganz willentlich seine eigenen Bonnos. Wir
bewunderten ihn für seine Praxis und liebten ihn für seine menschliche Einfachheit.
Jemand hat mich gefragt, ob ich während dieses Sesshins über Meister Deshimaru sprechen könnte,
schließlich wäre es der 50. Jahrestag seiner Ankunft in Europa. Während 15 Jahren war er ein
hervorragendes Beispiel für uns. Er kam zu allen Zazen, selbst wenn er müde war, selbst als er
gegen Ende krank war. Sein Leben war Zazen geworden und Zazen, sein Leben. Er gab es durch
sein Beispiel weiter, durch die Energie, mit der er es praktizierte.
Bevor er nach Europa kam, hatten Intellektuelle die Bücher von Professor Suzuki gelesen, in denen
er von Zazen sprach. Aber Meister Deshimaru hat es uns von Anfang an gezeigt, mit seinem
eigenen Körper. Er hat kein Tempel-Zen unterwiesen. Er selbst hatte während Sesshins mit Kodo
Sawaki Zazen praktiziert. Er war zu keinem Zeitpunkt ein Tempel-Mönch gewesen. Bis er nach
Europa kam, hatte er gearbeitet und Kinder aufgezogen. Er hat unser Leben geteilt. Natürlich hat er
Regeln für das Dojo aufgestellt. Nach und nach hat er Zeremonien eingeführt und uns aufgefordert,
uns während der Zeremonien zu konzentrieren. Aber wenn wir zu konzentriert waren, machte er
den Clown. Er unterwies immer den Weg der Mitte. Er respektierte die Tradition. Zugleich schuf er
neue Formen, die an die europäische Kultur angepasst waren. Er hat die wichtigen und wesentlichen
Texte des Zen kommentiert und übersetzt. Und seine Kommentare waren immer auf die Praxis
bezogen. Nie handelte es sich um Spekulationen.
Er sagte, dass er nicht gekommen sei, um Europa eine neue Religion zu bringen, das Soto-Zen,
sondern die Praxis von Zazen, die es jedem ermöglicht, an die Quelle des religiösen Geistes
zurückzukehren, zum wirklichen religiösen Geist, der nicht in den Ritualen und Zeremonien wohnt,
sondern in der Fähigkeit, sich in der Einheit mit allen Wesen zu fühlen, und sie von da her zu
respektieren, zu lieben und ihnen zu helfen.
Als großer Bodhisattva, der er war, hatte er ein tiefes Vertrauen darin, dass Zazen helfen könnte, die
gegenwärtige Krise unserer Zivilisation zu lösen. Er konzentrierte sich nicht nur auf die Praxis im
Dojo, er traf gerne mit den einflussreichen Menschen der Gesellschaft zusammen. Er wünschte,
dass sie Zazen praktizieren.
Er war ein großer Erwecker. Er kritisierte die Irrtümer. Nicht nur die Irrtümer seiner Schüler,
sondern auch die Irrtümer der Gesellschaft: den Materialismus, den Nicht-Respekt vor der Natur. Er
war sehr ökologisch, bevor man viel von Ökologie sprach. Er sagte: „Ihr müsst Angst haben. Angst,
die Natur zu schädigen, Verschmutzungen zu schaffen.“
Er kritisierte auch das japanische Zen, das sich lediglich auf Totenzeremonien konzentrierte und
überhaupt nicht auf Zazen.
Selbst wenn er ein großer Meister war, blieb er seinen Schülern und Schülerinnen nah. Er zögerte
nicht, mit uns zu trinken. Selbst wenn er wegen der Irrtümer der Menschen manchmal traurig war,
zeigte er ganz ganz oft eine große Lebensfreude.
Mondo
Das Kusen hat mich sehr berührt. Ich habe vor, in ca. 4 Wochen auf den Gendronnière zu gehen,
um dort ein Jahr zu leben. In der Zeit, in der ich hier bin, wird mir bewusst, dass mein eigentliches
Ziel ist, den Weg jeden Tag in meinem Alltag zu realisieren, ich aber dafür Hilfe benötige.
Wie kannst du mir helfen, jeden Tag den Weg zu realisieren?
Du musst alle Phänomene, denen du begegnest, als Gelegenheiten ansehen, den Weg zu
praktizieren, selbst wenn es Phänomene sind, die dich stören. Beobachte, wie du bezogen auf diese
Phänomene reagierst. ob du mit Anhaftung, ob du mit Wut reagierst.
Im Alltag ist es wichtig, sich völlig bewusst zu sein, was in unseren Beziehungen, in unserer
Umgebung geschieht. Dafür bedarf es einer starken Zazen-Praxis. sodass der Geist meist wie ein
Spiegel funktioniert und man nicht so sehr andere als Spiegel braucht, dass man den Spiegel in sich
selbst trägt. Aber wenn du in Schwierigkeiten gerätst, die du selbst nicht lösen kannst, solltest du
nicht zögern, mich zu befragen. Wenn man einem Meister folgt, sollte man, nicht zögern, ihn
anzusprechen. Aber man sollte sich soweit wie möglich bemühen, seine Zweifel und
Schwierigkeiten selbst zu lösen.
Als ich mit Meister Deshimaru zusammen war, hat er mich manchmal angerufen und gesagt, er
wollte mich sehen. Ich wohnte nicht weit weg und während ich zu ihm ging, habe ich mir überlegt:
‚Das ist vielleicht eine Frage, die ich ihm stellen könnte.‘ Ich hatte immer Fragen. Aber meistens
war es so, das die Frage verschwunden war, wenn ich bei ihm ankam. Einfach durch seine
Gegenwart schien mir die Frage entweder nicht mehr wichtig oder sie war dadurch gelöst, dass ich
sie losgelassen hatte. Oder ich habe mir vorgestellt, was er mir sagen würde. Also brauchte ich ihm
die Frage nicht mehr zu stellen. Aber manchmal habe ich ihm dann doch Fragen gestellt, ganz
besonders am Anfang, da habe ich oft gefragt.
Seit elf Jahren komme ich und praktiziere mit dir und der Sangha. Ich habe das Gefühl, ich
erwache, um wieder zu schlafen.
Heißt das, du wachst manchmal auf und schläfst sofort wieder ein?
Nein, das heißt, dass mich das Zen sehr berührt, mich sensibilisiert und es auch ein Erwachen gibt,
ich aber, wenn ich wieder auf mich selbst gestellt bin, mit großer Energie in meine Bonnos gehe.
Ich merke mehr und mehr, dass ich meine Zeit vergeude. Es ist so, als ob ich weit hinaus schwimme
und immer darauf vertraue, dass ich die Kraft habe, zurückzukommen. Aber letztendlich weiß ich es
nicht. Deswegen habe ich Angst.
Manchmal kann man sich tatsächlich in seinen Bonnos verlieren. Also sollte man aufpassen, dass
man nicht in seine Bonnos eintritt. Man sollte nicht zu sehr darauf vertrauen, dass man da wieder
herauskommt. – Meister Deshimaru sagt immer: „Der wirklich Weise nähert sich nicht der Gefahr.“
Im Leben ist es auch wichtig, die Bonnos zu erleben, zu erleben, wie sehr sie Leiden verursachen,
denn sonst sieht man überhaupt nicht ein, warum man sie aufgeben sollte. Indem man sie wirklich
lebt, versteht man wirklich, dass Bonnos Leiden sind. Aber zu oft ist man mit sich selbst zu sehr
zufrieden. Selbst wenn man weiß, dass die Bonnos Leiden sind, sagt man sich oft, dass sie trotzdem
ganz gut sind, und bemüht sich nicht zu sehr, sie zu vermeiden. Da sind beide Aspekte.
Ich glaube mit der Erfahrung und auch mit dem Alter – ich glaube, das ist im Augenblick bei dir der
Fall – sieht man, dass man bereits zu viel Zeit verloren hat. Dann sollte man die Bonnos vermeiden,
statt sich zu verausgaben, um wieder zurück zum Ufer zu schwimmen.
Es ist gut, eine Erfahrung wie ein Retreat auf der Gendronnière für ein Jahr zu machen, das erlaubt
dir, dich völlig auf den Weg zu konzentrieren, rund um die Uhr, aber das heißt nicht, das nicht auch
dort Bonnos auftauchen können. Aber weil die Praxis des Gyoji sehr stark ist, ist es einfacher, sie zu
vermeiden, einen klaren Spiegelgeist zu haben und auch einen starken Willen zu entwickeln, die
Bonnos fallen zu lassen. Also einen guten Aufenthalt auf der Gendronnière!
Es ist auch eine große Hilfe für die Gendronnière. Wenn auch andere hingehen wollen, zögert nicht!
Auch wenn ihr nur eine Woche, einen Monat da hingeht, oder auch jetzt bald ins Sommerlager.
Ich fand es sehr schön, von dir über Meister Deshimaru zu hören. Eins hat mich überrascht: Du
hast gesagt, er hätte kritisiert. Das finde ich interessant, das ist e seit langem in spannendes Thema.
In der Ordination machen wir die Aussage, nicht zu kritisieren. Wie geht diese Gratwanderung,
Dinge zu äußern, die vielleicht mehr Leid verursachen, und trotzdem den anderen damit nicht
bloßzustellen?
Meister Deshimaru kritisierte, um zu erziehen. Das geschah immer aus der Haltung großen
Mitgefühls heraus. Er half uns, unserer Irrtümer bewusst zu werden. Seine Kritik war nie
herabwürdigend.
Ich glaube, dass es, wenn man vom Gebot des Nichtkritisierens spricht, darum geht, sich nicht dem
anderen als überlegen zu zeigen. Andere abzuwerten ist nicht gut. Man muss alle respektieren. Man
darf nicht die Menschen kritisieren, man muss ihre Irrtümer kritisieren. Und immer mit Mitgefühl.
nie mit Wut. Und soweit wie möglich, dem anderen gegenüber.
Meister Deshimaru kritisierte auch oft Leute, die nicht da waren, aber dabei ging es ihm darum, uns
zu lehren. Wenn er jemanden kritisierte, der einen Fehler begangen hatte, dachte jeder, der das
hörte, darüber nach: ‚Oh, ich mache den gleichen Fehler.‘ – Die Kritik, die auf jemand anderes
bezogen war, berührte uns selbst.
Manchmal wollte er jemanden nicht direkt kritisieren, also kritisierte er jemanden anderes. Aber die
Kritik betraf uns selbst, ganz direkt. Wir haben uns dann gesagt: ‚Er spricht von jemand anderem,
aber eigentlich meint er mich.‘
Zu dem Zeitpunkt, als der Terroranschlag in Nizza passierte, war ich in einem Soto-Zen-Kloster.
Der Meister berichtete von dem Anschlag und sagte: „Da nützt nur noch beten.“ Ich konnte diese
Vorstellung von Beten nicht in das Zen einordnen
Gibt es im Zen-Buddhismus einen metaphysischen Urgrund für das Beten?
Ja, den gibt es. Es bedeutet, dass alle Wesen in Wechselwirkung miteinander stehen, auch in
Wechselbeziehung bezogen auf den Geist. Es gibt eine Wechselbeziehung auf der unsichtbaren
Ebene, auf der ebene des Geistes. Der Geist kommuniziert. Einfach durch das Denken. Das ist der
Grund, weshalb man Kitos macht. Kito ist eine Form von Gebet. Man betet, dass die Menschen von
ihrer Krankheit heilen.
Dann kann man natürlich fragen: „Zu wem betet man?“ Im Kito verwendet man den Satz: „Maka
Hannya Haramita“. Man betet zur Großen Weisheit. „Dai Maka Hannya Haramita“ schreit man
während des Kitos. Man betet, dass die Große Weisheit, die in der Tiefe jedes Wesens existiert,
jedem hilft, aus seinen Irrtümern zu erwachen und von seinen Krankheiten zu genesen.
Kitos habe sehr oft einen positiven Einfluss, auch auf der Energieebene, z.B. bei Menschen, die
krank sind. Die Grundlage dafür zu erfassen, ist sehr schwierig. Aber ich glaube, dass die Energie,
mit der man für eine Person betet, einen Einfluss hat.
In den Vereinigten Staaten wurde eine Untersuchung bezüglich der Gebete durchgeführt. Zwei
Gruppen von Menschen hatten ungefähr die gleichen Krankheiten. Für eine Gruppe wurde gebetet,
für die andere nicht. Die Menschen, für die gebetet wurde, wussten nicht, dass für sie gebetet
wurde. Von dieser Gruppe sind viel mehr geheilt, als von der anderen Gruppe, für die nicht gebetet
wurde. Das war völlig unabhängig von dem, was gebetet wurden und was als metaphysische
Grundlage diente. Tausend Menschen haben für diese Gruppe gebetet. Die Energie der Gebete hat
positive Auswirkungen erzeugt.
Man kann nicht alles rational erklären. Wichtig ist, in der Erfahrung zu erleben, was geschieht. Das
ist wie Wunder. Das sind Dinge, die man nicht erklären kann. Deswegen sagt man, es seien
Wunder. Das geschieht. Und wenn es geschieht, muss man es glauben.
Samstag, 27.05.17, 1. Zazen
„Was seid ihr gekommen hier zu suchen?“ – Auf diese Frage antworteten Mönche häufig, wenn sie
zu einem Kloster kamen: „Ich suche Buddha.“, „Ich möchte Buddha finden,“ Sehr oft hatten sie
lange Pilgerreisen unternommen, bis sie auf der Suche nach Buddha im Kloster ankamen. Vielleicht
gilt das auch für euch. Andere suchen, Gott zu begegnen.
In der Tiefe suchen wir alle das, was uns übersteigt. Wir fühlen uns in uns selbst gefangen. Daher
suchen wir das, was jenseits unseres kleine Egos ist. Manchmal nennt man es Gott, manchmal
Buddha. Weil unsere Anhaftung an unser kleines Ego viel Leid bei uns verursacht, suchen wir
Buddha außen, außerhalb unserer selbst. Oder das Himmelreich nach dem Tod, das Nirvana nach
dem Tod, das Buddha Land, in dem man hofft wieder geboren zu werden. Wir suchen das, was
jenseits unseres Egos, jenseits unserer Selbst ist.
Aber auf diese Frage antwortet der wirkliche Meister: „Hör auf, herum zu irren. Du bist Buddha.“,
„Das Himmelreich liegt in deinem eigenen Körper.“, „Hör auf, außen zu suchen.“ Es ist der Sinn
des Sesshins, die Vertrautheit mit unserem Geist wiederzufinden, der Buddha ist, der erwacht ist. So
ist dies zu einer traditionellen Zen Unterweisung geworden. Es war insbesondere die Unterweisung
von Meister Basso, ze butsu, der Geist selbst ist Buddha.
Es gibt Menschen, die glauben, in uns existiere ein ewiger Geist, der Buddha ist, identisch bleibt
und wieder geboren wird. Wenn der Körper stirbt, glauben sie, dass dieser Geist, der Buddha ist,
identisch bleibt und woanders wieder geboren wird. Man macht aus dem Geist, der Buddha ist, ein
unabhängiges Etwas. Wie den Atman der Inder.
Buddha hat diese Täuschung unablässig zurück gewiesen. Alle Phänomene, auch der Geist, sind
ohne Substanz, existieren nicht aus sich selbst heraus, sondern nur in Wechselbeziehung zu den
anderen Phänomenen.
Ein anderer Irrtum besteht darin zu glauben, dass, weil unser Geist Buddha ist, es nicht erforderlich
ist zu praktizieren. Viele Gurus unterweisen das: „Ihr seid erwacht, nicht erforderlich zu
praktizieren, nicht nötig das Erwachen zu suchen.“ Sie machen glauben, dass unser gewöhnlicher
Geist, der ständig unterscheidet und sich an alles Mögliche heftet, erwacht ist.
Meister Dogen bezeichnete dies als die naturalistische Täuschung. Sie ist heute sehr verbreitet. Es
ist eine verführerische, aber falsche Theorie. Der wirkliche Geist der Buddha ist der Geist, der das
Erwachen anstrebt, der sich in der Praxis engagiert und der im Praktizieren das Erwachen realisiert.
Aber dieses Erwachen wird nur realisiert, wenn man auf rechte Weise praktiziert. Das heißt, ohne
etwas zu suchen oder irgendetwas zu erwarten. Wenn die Funktionsweise des dualistischen Geistes
aufhört, wenn der Geist sich an keinerlei Objekt mehr klammert, wenn der Geist sich für unsere
wirkliche Einheit mit dem ganzen Universum öffnet, wenn er sich mit der wirklichen Natur der
Existenz harmonisiert. Es ist dieser Geist, der nicht unterscheidet, der wirklich der Weg ist. Es ist
der Geist, dem wir während eines Sesshins begegnen können, in der Praxis.
Samstag, 27.05.17, 2. Zazen
Während dieses Sesshins können wir tiefe Freude empfinden darüber, dass wir uns
zusammengefunden haben, um den Weg zu teilen, der uns von den Grenzen unseres kleinen Egos
befreit, der uns von unseren Anhaftungen befreit, die Ursachen von Leid sind, und der uns zur
wirklichen Dimension unseres Lebens erweckt. Das ist das wichtigste in unserem Leben.
Selbst wenn wir in der Existenz alle möglichen Erfolge gehabt haben, selbst wenn wir das besitzen,
was wir uns zu besitzen wünschen, realisieren wir, dass das nicht das wirkliche Glück ist, dass
unser wirkliches Glück nicht von unserem Erfolg oder Besitz abhängt. Der wirkliche Erfolg eines
Lebens besteht darin, den Weg zu realisieren und zur höchsten Dimension unserer Existenz zu
erwachen. Wenn man das erfährt, wenn man in Zazen sitzt, empfindet man die gleiche Freude wie
jemand, der über viele Jahre hinweg auf verschiedenen Wegen herumgeirrt ist und sich dann
schließlich wirklich zuhause findet, dort wo er wirklich er selbst sein kann, dort, wo man nicht
vieler Dinge bedarf, um wirklich glücklich zu sein. Einfach nur das Wesentliche realisieren und
diese Verwirklichung mit den anderen teilen.
Es gibt kein wirkliches Erwachen alleine. Denn Erwachen bedeutet, unsere Existenz in Einheit mit
allen Wesen zu realisieren. Auch wenn man nur selbst praktizieren kann, erweckt uns die Praxis zu
dem Leben, das völlig mit dem Leben aller anderen verbunden ist. Das Erwachen muss geteilt
werden, um ein wirkliches Erwachen zu sein. Es ist wie mit Freude: Freude dehnt sich aus. Wenn
man voller Freude ist, möchte man alle anderen umarmen.
Im Dojo begnügen wir uns damit, Gassho zu machen. Aber in Gassho werden wir völlig eins mit
dem anderen.
Man unterweist immer, dass alle Wesen die Buddha-Natur haben. Gemeinsam ein Sesshin
praktizieren bedeutet, das aus der Tief seines Körpers und Geistes zu realisieren. Das ist kein
Glaube oder kein Dogma mehr, sondern eine wirkliche Verwirklichung. Diese Verwirklichung
nennt man Bodaishin, den Geist des Erwachens, der die Bodhisattvas beseelt, der sie dahin treibt,
die vier Großen Gelübde abzulegen, nicht als eine Verpflichtung, als etwas, das man verwirklichen
muss, sondern als natürlichen Ausdruck unserer Praxis.
Manchmal sagt man, dass die Bodhisattvas auf das eigene Erwachen verzichten und in der Welt des
Samsara, der Welt des Leidens bleiben, um den anderen zu helfen. Aber den Weg mit und für die
anderen zu praktizieren ist die Verwirklichung des Erwachens. Da gibt es keinerlei Opfer. Es ist
ganz im Gegenteil die wirkliche Verwirklichung des lebendigen Nirvanas, die wirkliche
Verwirklichung des Himmelreichs auf dieser Erde, die zur Erde Buddhas wird, wenn man auf diese
Weise praktiziert, wie an diesem Ort, hier und jetzt.
Samstag, 27.05.17 3. Zazen
Mondo
Ich habe eine Frage zur rechten Rede, und zwar zum den Umgang mit Sarkasmus. Ich möchte ein
Beispiel nennen: Ich habe dieses Gesicht, und ich habe einen Bart. Dieses Gesicht und dieser Bart
ist eine Garantie, dass ich in eine Polizeikontrolle komme. In meinem Alltag werde ich eigentlich
nahezu täglich auf meine Mitgliedschaft im islamischen Staat angesprochen. Im Alltag ist das o.k,
damit kann ich umgehen. Mich wundert allerdings, wenn ich in die Sangha komme, mit
Weggefährten zusammenlebe, und ich ebenfalls auf meine Mitgliedschaft im islamischen Staat
angesprochen werde.
(Lachen)
(Roland zeigt auf ein Sangha-Mitglied) Du hast auch einen Bart. Fragt man dich auch, ob du dem IS
angehörst?
Nein.
Mir geht es um rechte Rede und Sarkasmus: Ich spiegele das den Leuten auch: Wenn mich jemand
aus der Sangha fragt: „Gehörst du dem islamischen Staat an?“, sage ich zum Beispiel, wenn ich
keine Lust mehr darauf habe: „Du denkst, ich vergewaltige Frauen, bringe Kinder um?“ – „Nein,
das hbe ich nie gedacht.“ Mir geht es um dieses Wechselspiel. Wenn wir auf dem Weg sind, wenn
ich über Sarkasmus nachdenke, wann fängt es an, wann sollte man aufhören, wenn man andere
Leute damit verletzt?
Wenn man mit jemand anderes spricht, muss man sich immer an die Stelle dieser Person versetzen
und auf jeden Fall verletzende Worte vermeiden.
Ich bin sehr erstaunt, dass Mitglieder der Sangha so mit Dir sprechen. Mir ist diese Idee überhaupt
nicht gekommen. Ich finde das eine bizarre Idee für die Sangha. Das beweist, bis zu welchem Punkt
die Menschen im Augenblick in Angst leben. Es gibt viele Ereignisse, die in der Welt passieren,
und das stört den Geist.
Ich glaube, dass Menschen, die Zazen praktizieren, einen ruhigeren Geist haben sollen und nicht
ausgehend von geistigen Projektionen sprechen sollten. Wenn ich einem Islamisten begegne,
verachte ich ihn nicht und kritisiere ihn auch nicht. Ich möchte einfach verstehen, warum er Islamist
geworden ist. Es ist ein für mich völlig fremdes Phänomen, in einen solchen Zustand zu kommen.
Ich glaube gar nicht, dass es sich da um Sarkasmus handelt. Es ist einfach ein unangebrachtes
Reden, das damit verknüpft ist, dass es den Menschen an Empathie fehlt. Wenn man mit jemandem
spricht, muss man sich immer an die Stelle des anderen begeben und sehen, welche Auswirkungen
die eigenen Worten haben werden. Das ist eine Grundlage unserer Praxis.
Wenn man mit dir so spricht, kannst du es spiegeln und fragen: „Was geschieht eigentlich in
deinem Kopf, dass du so mit mir sprichst?§ Das gibt den Menschen die Möglichkeit nachzudenken.
Also jetzt wisst ihr alle: Er ist kein Islamist.
Ich bin Grundschullehrerin. Das heißt, ich unterrichte Kinder von 6 – 10 Jahren. Seit einigen
Jahren stellen meine Kolleginnen, dass, weil Schule immer ein Spiegel unserer gesellschaftlichen
Veränderungen ist, sowohl die Kinder, wie auch die Erwachsenen, die Eltern in diesem Fall, immer
größere Defizite im sozialen Umgang miteinander haben.
Was heißt das?
Im Schulalltag habe ich als Lehrerin sehr viel mit Respektlosigkeit und Grenzüberschreitungen im
Verhalten zu tun, das geht bis hin zu Beleidigungen. Ich möchte meine Aufgabe als Lehrerin
natürlich mit dem Bodhisattva-Geist leben, aber ich spüre, dass mein Reservoir an Gleichmut und
Mitgefühl immer häufiger an seine Grenzen kommt. Und ich verzweifle manchmal darüber. Wie
kann ich mich spirituell im Alltag auftanken?
Du musst versuchen zu verstehen, was da abläuft. Wenn ihr mehrere Kolleginnen seid, die das
Gleiche feststellen, dann müsst ihr ein Treffen mit den Eltern der Kinder machen, denen sagen:
„Das stellen wir fest.“ und ein Erziehungsprojekt für diese Kinder aufstellen, damit Eltern und
Lehrerinnen darin übereinstimmen, dass sie diese Verhaltensweisen korrigieren. Das scheint mir
sehr wichtig zu sein, wirklich sehr wichtig für die Zukunft der Gesellschaft.
Normalerweise sind die Lehrenden da, um zu lehren, und die Eltern, um zu erziehen. Bei den
Kleinen ist das so. Aber die Erziehung ist zum Problem geworden. Sie ist inzwischen wichtiger als
der Unterricht. Ich unterstelle, dass ihr Lehrerkonferenzen habt und auch Treffen mit den Eltern.
Sprecht ihr da nie über diese Probleme?
Das ist nicht das Problem. Das ist nicht der Inhalt meiner Frage. Ich fühle, dass mein Bodhisattva-
Geist wie eine Pflanze ist, die zwischen Pflastersteinen blühen muss. Ich brauche spirituelles
Wasser.
Das spirituelle Wasser ist in der Praxis von Zazen und auch das Verstehen, dass, wenn die Leute
sich falsch verhalten, dies das Ergebnis von bestimmten Ursachen und Bedingungen ist. Aufgabe
der Bodhisattvas ist es, das zu verstehen, um zu helfen, diese Probleme zu lösen. Deswegen habe
ich von den Versammlungen gesprochen.
Ich glaube nicht, dass die Menschen schlecht sind. Aber sie sind in einem schlechten Umfeld, also
muss man an diesen Bedingungen arbeiten. Und weil es sich um ein soziales Problem handelt,
beinhaltet das den Dialog mit verschiedenen Seiten.
Du solltest sehen, dass diese Vorkommnisse eine Gelegenheit zu praktizieren sind und kein
Hindernis für die Praxis.
Ich war sehr beeindruckt von der Unterweisung Vimalakirtis. Er sagte: „Wenn ein Bodhisattva von
jemand anderem schlecht behandelt wird, sollte er denjenigen, der ihn schlecht behandelt als großen
Bodhisattva ansehen, der ihn erzieht, der ihn dazu treibt, seine Praxis zu vertiefen, insbesondere die
Praxis der Geduld.“ Auch die Weisheit, um zu verstehen, was da geschieht, und um Mittel zu
finden, das Problem zu lösen.
Bodhisattva zu sein bedeutet, die richtige Weise zu finden, sich diesen Problemen zu stellen.
Würden wir in einer vollkommenen Welt leben, wo es derartige Probleme nicht gäbe, bedürfte es
der Bodhisattva-Gelübde nicht. Weil wir in einer Welt des Leidens leben, das durch die
Täuschungen und Irrtümer der Menschen hervorgerufen wird, müssen wir gegen die Bonnos
arbeiten, gegen die Leid schaffenden Ursachen, und Heilmittel gegen sie finden. In uns selbst, aber
auch für die anderen.
Alles ist eine Frage des Geistes. Erzieherinnen wie du haben eine ganz grundlegende Rolle, um den
Geist zu ändern, besonders bei Kindern. Statt also zu zweifeln, ist es gut zu sagen: „Das ist eine
gute Gelegenheit, meine Gelübde in die Praxis umzusetzen.“ – Ich weiß, dass das schwierig ist.
Aber ich glaube, dass es der einzig mögliche Weg ist. Das ist ein sehr positiver Weg.
Morgen werden wieder Ordinationen stattfinden. Ich überlege mir, ob ich mich nächstes Jahr
vielleicht auch ordinieren lasse. Was macht einen guten oder einen ernsthaften Bodhisattva aus?
Ein Bodhisattva ist ein Wesen das zunächst einmal völliges Vertrauen in die Zazen-Praxis hat und
das die vier Gelübde der Bodhisattvas ausgehend von seiner Zazen-Praxis zum Ausdruck bringt, als
den Sinn, den sie oder er dem Leben geben möchte. Dafür empfängt man während der Ordination
die Hilfe der Gebote, die Hinweise auf ein richtiges Verhalten sind. Also musst du diese Gebote
studieren und überlegen, ob du mit ihnen übereinstimmst, zumindest ob du sie als Leitlinien für
dein Leben akzeptieren möchtest, selbst wenn die Gelübde und die Bodhisattva-Gebote als sehr
ideal erscheinen und du nicht glaubst, auf der Höhe dieses Ideals zu sein.
Sehr oft sagen Menschen, insbesondere sehr ehrliche, ernsthafte Menschen, dass diese Gelübde viel
zu hoch seien und sie das nicht praktizieren könnten. Aber man muss wissen, dass man, wenn man
um die Bodhisattva-Ordination bittet, zeigt, dass man Vertrauen in diesen Weg hat. Man muss keine
vollkommene Bodhisattva sein, um um die Bodhisattva-Ordination zu bitten. Es genügt zu wissen,
dass das die Richtung ist, in der man leben möchte.
Das sind Werte, die uns ansprechen, unser Leben inspirieren und ihm einen tiefen Sinn geben.
Selbst wenn man schlechtes Karma hat, unter schlechten Einflüssen steht, in Schwierigkeiten ist.
Man muss einfach den festen Entschluss haben, auf dem Weg voranschreiten zu wollen, und
Vertrauen haben, dass Zazen uns helfen wird.
Der zweite Aspekt ist, dass die Bodhisattva den anderen zugewandt ist. Sie ist von Bodaishin
belebt, von dem Gefühl, das sie in der Praxis entdeckt hat, den Wunsch, als Bodhisattva allen
Wesen zu helfen, ihre Leiden zu lösen. Man selbst ist recht schwach, um den anderen zu helfen,
ihre Leiden zu lösen. Aber die Praxis von Zazen ist sehr kraftvoll, um den anderen zu helfen. Denn
sie bringt jeden in Kontakt mit seiner eigenen Buddha-Natur.
Eines der grundlegenden Gelübde der Bodhisattvas ist es also, andere zu ermutigen, Zazen zu
praktizieren, und die Praxis der anderen durch das eigene Beispiel zu stimulieren, das heißt im Dojo
sehr aktiv und gegenwärtig sein, der Funktionsweise des Dojos und der Praxis zu helfen.
Meine Frage betrifft die Zazen-Praxis und die Phänomene, denen man während Zazen begegnen
kann. Ich habe bei mir eine Tendenz zu kommentieren und zu bewerten festgestellt. Wenn ich zum
Beispiel in eine tiefe Konzentration komme, sage ich mir: „Oh, das ist wirklich gut.“ Die positive
Erfahrung, die ich habe, wird auf diese Weise ein Hindernis. Ich habe den Eindruck, dass es mir
schwerfällt, während Zazen mushotoku zu sein. Hast Du da Ratschläge?
Diese Bewertungen sind typische Funktionsweisen unseres Geistes, der unterscheidet und beurteilt.
Es ist also natürlich, dass das auftaucht. Man darf sich nur nicht daran klammern. All das ist Teil
der unbeständigen, substanzlosen Phänomene. Unsere Praxis besteht darin, sich nicht daran zu
klammern, diesen Phänomenen nicht zu erlauben, sich weiterzuentwickeln. Wenn du denkst: ‚Ah,
meine Praxis ist jetzt gut. Das ist bestimmt das Satori.‘ Einfach nur lächeln und vorbeiziehen lassen,
sich nicht an das klammern. Das nicht zu ernst nehmen, das nicht als wahr annehmen: ‚Das ist eine
Täuschung von vielen.‘ Das ist also einfach eine Gelegenheit dir dessen bewusst zu werden, was
gerade in dir los ist.
Wenn du aber diese Art von Urteilen ernst nimmst und dich an sie klammerst, dann musst du dir
sagen: ‚Das ist ein Irrtum.‘
Es ist natürlich, diese Art von Gedanken zu haben. Das ist genauso natürlich, wie zu denken: ‚Das
Zazen heute ist viel zu lange. Wann hört der endlich auf?‘ – Das ist Teil der natürlichen Gedanken,
die auftauchen. Unsere Praxis besteht nicht darin, gute Gedanken zu haben, sondern darin, sich
nicht an die Gedanken zu klammern, ob sie jetzt gut oder schlecht sind: Alles vorüber ziehen zu
lassen.
Ich habe eine Frage zu den drei Giften. Mir erscheint leicht verständlich, dass Gier und Hass
störend ist für den Frieden des Geistes. Aber die Unwissenheit zu verstehen fällt mir schwer, denn
Allwissenheit gibt es nicht.
Unwissenheit ist nicht das Gegenteil von Allwissenheit. Allwissenheit ist die Qualität eines
vollkommenen Buddhas. Das hat nichts mit dem Erwachen zu tun, das wir in Zazen verwirklichen.
Die Geschichte von einem vollkommenen Buddha ist etwas mystisch. Das ist ein Wesen, das
wirklich vollkommen in Einheit mit allen Wesen des Universums ist. Es ist also das Universum
selbst geworden. Und selbstverständlich hat es dann diese Allwissenheit über das, was im
Universum geschieht, weil es identisch mit dem ganzen Universum ist.
Man sollte diese Allwissenheit nicht als eine Entwicklung der Weisheit ansehen. Das ist ein etwas
metaphysisches Phänomen.
Die Weisheit, die von Zazen erzeugt wird, heilt uns von der Unwissenheit, nicht die Leerheit
unserer geistigen Fabrikation zu sehen. Unwissenheit bedeutet, diese Leerheit nicht zu sehen,
insbesondere die Leerheit unserer geistigen Konstrukte, die das Ego ausmachen.
Deshalb ist Unwissenheit die Ursache von Gier und Hass. Wir haben immer den Eindruck, dass uns
etwas fehlt. Also entwickelt man alle möglichen Arten von Wünschen, um diesen Mangel
auszugleichen. Aber das funktioniert nicht. Man wird immer von irgendetwas gestört, und man
hasst das, was unseren gierigen Wunsch stört, was verhindert, dass das eintritt, von dem wir
glauben, dass es uns ergänzt.
Meister Deshimaru sagte oft: „Unwissenheit ist sich nicht selbst verstehen.“
Aber als Bodhidharma vom Kaiser gefragt wurde: „Wer bist Du?“, hat er geantwortet: „Das weiß
ich nicht.“ „Fushiki.“ – Das scheint paradox, war aber ganz im Gegenteil der Ausdruck des großen
Erwachens Bodhidharmas, zu realisieren, dass unser Ego letztlich nicht fassbar ist, weil es ohne
Substanz ist. Es ist nicht etwas. Es ist nur das Ergebnis der Wechselbeziehung des ganzen
Universums. Also kann man sich selbst letztlich nicht kennen. Aber dieses Nicht-Wissen zu
akzeptieren, dieses Verstehen ‚Ich bin nicht etwas.‘, ‚Dieses Ich kann ich nicht erfassen.‘, ist
wirkliche Weisheit.
Verstehst du? – Wenn du das verstehst, bist du nicht zu unwissend.
Meine Frage ist ein bisschen philosophischer Natur. Im Hannya Shingyo heißt es: „Shiki fu i ku.
Ku fu i Shiki. – Die Erscheinungen, das, was da ist, werden zu Ku und aus dem, was verschwunden
ist, werden wieder Erscheinungen. Für mich ist das der Zugang zum Kreislauf des Lebens. Mir geht
es um die Natur von Ku. Was ist Ku? Könnte das einfach Erdsubstrat oder der Sternenstaub sein?
Ku ist die Wechselbeziehung. Weil kein Phänomen eine Existenz in sich selbst hat, sind alle
Phänomene leer. Das heißt nicht, die Phänomene existieren nicht. Aber sie existieren nicht aus sich
selbst heraus. Sie sind also frei von einer Eigennatur oder einer autonomen Existenz. Das heißt, dass
die Phänomene nie von der Leerheit getrennt sind. Denn die Leerheit von eigener Substanz ist die
Natur der Phänomene. Also ist jedes Phänomen Ku. Phänomene werden nicht Ku, sie sind Ku in
ihrer Essenz. Alle Phänomene sind unbeständig, daher werden sie ständig etwas anderes, in
Abhängigkeit von verschiedenen Einflussfaktoren. Das Klima zum Beispiel, ändert sich unablässig,
weil es viele Faktoren gibt, die es beeinflussen.
Also ist das Verständnis als Kreislauf nicht richtig? Dass etwas für eine Zeitlang lebt und daraus
später wieder entsteht, dass Ku sich wiederholt.
Aber das geschieht von einem Augenblick zum nächsten Augenblick. Die Menschen sind zum
Beispiel geboren, deswegen sterben sie auch wieder, glücklicherweise. Alles, was geboren wird,
muss sterben. Ganz einfach, weil die Geburt von bestimmten Faktoren bedingt ist. Wenn die
Faktoren, die das Leben hervorrufen, nicht mehr funktionieren, dann endet das Leben. Es ist die
Eigenart des Lebens, dass es sich permanent verändert.
Dogen sah es so, dass die Unbeständigkeit die Buddha-Natur ist. Alle Wesen, einschließlich der
Berge, der Flüsse, der Sterne, alle Wesen sind Buddha-Natur, weil sie alle in diesen
Wechselbeziehungen existieren.
Sie sind alle Ku, aber zur gleichen Zeit auch Shiki. Ku und Shiki sind wie Vorder- und Rückseite.
Es ist eine Frage, wie du dir das anschaust. Du kannst es von der einen Seite betrachten und sagen:
„Dieser Körper hier ist Ku, denn er ist unbeständig, er hängt von allem möglichen ab. Ich kann
morgen sterben oder sogar im nächsten Augenblick. Nichts, was diesen Körper ausmacht, diese
Haut, diese Fleisch, diese Knochen gehören mir nicht. Das ist Sternenstaub.“ – In diesem Sinne ist
es Ku.
Aber wenn man die andere Seite betrachtet: Dieser Körper existiert.
Aber die Natur seiner Existenz ist Ku zu sein. Ku ist nicht das Gegenteil von Existenz. Ku ist das
Gegenteil einer autonomen, permanenten Existenz. Anders gesagt ist es die Leerheit unserer
Täuschung, dass Dinge und Wesen aus sich selbst heraus existieren.
Man muss aufpassen, dass man sich nicht zu sehr an Ku, an die Leerheit, klammert. Nagarjuna hat
diese Herangehensweise an Ku und Shiki sehr weit entwickelt. Er sagt: „Alle Buddhas haben die
Leerheit unterwiesen. Aber wenn ihr euch an die Leerheit klammert, seid ihr verloren. Denn die
Leerheit ist ein Heilmittel gegen die Anhaftung. Doch wenn ihr euch an die Leerheit klammert,
dann funktioniert das Heilmittel nicht mehr. Dann ist das Heilmittel etwas Substanzielles geworden,
an das ihr euch klammert. Dann ruft es das Gegenteil hervor.“
Deshalb unterwies Buddha immer den Weg der Mitte. Das heißt: Alle Phänomene stehen in
Wechselbeziehung und die Leerheit existiert nicht ohne die Phänomene und umgekehrt auch nicht
die Phänomene ohne die Leerheit. Das sind einfach zwei Sichtweisen auf die gleiche Wirklichkeit.
Sonntag, 28.05.17 1. Zazen
Zu Beginn eines jeden Zazen konzentriert man sich immer wieder bewusst auf die Praxis. Man
erinnert sich an die wichtigen Punkte der Haltung. Man konzentriert sich darauf, sie zu praktizieren.
Man neigt gut das Becken nach vorne, drückt gut mit den Knien in den Boden, streckt sanft
Wirbelsäule und Nacken, entspannt gut die Schultern und auch den Bauch. Man atmet ruhig durch
die Nase ein und aus. Man folgt der Bewegung der Atmung, aber nicht der Bewegung seiner
Gedanken. Seiner Gedanken wird man sich einen Augenblick lang bewusst und lässt sie vorüber
ziehen. Das ist die richtige Weise Zazen zu praktizieren und man strengt sich an, dieser richtigen
Weise zu folgen.
Wenn man so praktiziert, praktiziert man aber immer noch mit seinem Ego. Das heißt, mit dem
Bewusstsein, dass unterscheidet zwischen, dem was richtig ist, und dem, was es nicht ist. Es gibt
die gute Haltung, die richtige Haltung, und die Haltung, die nicht richtig ist. Es gibt die richtige
Geisteshaltung und die falsche Geisteshaltung. Seinen Gedanken folgen ist die falsche Haltung. Sie
loslassen ist richtig.
Das bedeutet, dass man einer Unterweisung folgt. Das ist nötig, aber es reicht nicht. Es ist nötig, um
unsere schlechten Gewohnheiten zu korrigieren. Ohne Bemühungen hat man keinen Erfolg. Aber
solange man mit Bemühungen praktiziert, handelt es sich nicht um die wirkliche Befreiung.
Man muss also bis zu einem bestimmten Punkt bewusst praktizieren. Bis zu dem Punkt, wo man
auch die bewusste Konzentration vergisst, bis zu dem Punkt, wo man nichts mehr praktiziert, bis zu
dem Punkt, wo man nicht mehr Zazen macht, wo man Zazen Zazen machen lässt. Man begnügt sich
damit, einfach zu sitzen. Aber dafür muss man zufrieden sein, einfach zu sitzen. Und um zufrieden
zu sein, muss man die Erfahrung machen.
Das gleiche gilt für alle Unterweisungen Buddhas. Ausgehend von seinem Erwachen hat er uns sehr
viele Empfehlungen gegeben, wie man das praktiziert, was richtig ist, und das Schlechte vermeidet.
Das ist der Sinn aller Gebote.
Heute werden vier Personen die Gebote empfangen. Den Geboten zu folgen bedeutet, wie ein
Buddha zu leben. Anders gesagt zu vermeiden, Schlechtes zu tun, Leiden für andere oder für einen
selbst zu erzeugen und alles Gute zu praktizieren. Das Gute zu praktizieren macht glücklich,
zufrieden, erfüllt einen mit Freude. Wenn man den Geboten und allgemein gesprochen, den
Unterweisungen Buddhas folgt, wenn man lernt, wie ein Buddha zu leben, kann man die Richtigkeit
dieser Lebensweise spüren.
Aber Buddha nachmachen ist nicht Buddha sein. Da ist noch Dualismus, ist noch Unterscheidung,
noch Urteil. Man betrachtet seine Praxis. Manchmal sagt man sich: „Die Praxis ist gut.“ Dann läuft
man Gefahr sich, an diese Vorstellung des Guten zu klammern. Vielleicht wird man sogar arrogant:
„Ich hab es verstanden, meine Praxis ist gut!“, und sofort ist die Praxis durch diese Art von
Anhaftung pervertiert. Umgekehrt neigt man dazu, sich Schuldgefühle zu machen, wenn man seine
Praxis als schlecht beurteilt. Man zweifelt, entweder an der Praxis oder an sich selbst, und das wird
Quelle von Leiden.
Dieses Leiden zeigt uns, dass etwas falsch ist in unserer Weise zu praktizieren. Genauso wie die
Anhaftung an das Gute, die Arroganz des Egos, dass sich im Richtigen, im Wahren glaubt, auch
Quelle von Leiden ist.
Wenn man das erfährt und den Geist der Unterscheidung aufgibt, dann vertraut man Zazen, dann
vertraut man unserer wirklichen Buddha-Natur und erlaubt es dieser Natur, sich in der richtigen
Praxis zu verbreitern, ohne auf die Anstrengung des Willens zurückgreifen zu müssen.
Im Kapitel des Shobogenzo über Leben und Tod vergleicht Meister Dogen dies damit, in das Haus
Buddhas einzutreten, das heißt in sein wirkliches Zuhause und sich von Buddha lenken lassen, das
heißt sich von der Buddha-Natur leiten zu lassen.
Aber dafür muss man das Vertrauen haben, dass das möglich ist. Alle Unterweisungen zielen darauf
ab, uns dieses Vertrauen zu geben. Bis zu dem Punkt, wo wir nicht mehr der Unterweisung
bedürfen, weil sie sich ganz vertraut in uns selbst verwirklicht.
Das ist der Sinn unserer Praxis, des Gyoji, unserer unablässigen Praxis. Jenseits des Gedankens,
dass wir irgendetwas Besonderes praktizieren.
Die Ordination zu empfangen ist eine große Hilfe, um dieses Vertrauen zu stärken, um uns von
unserer wirklichen Buddha-Natur leiten zu lassen.
Sonntag, 28.05.17, 2. Zazen
Neun Tage lang haben wir das Glück empfinden können, die Praxis des Weges zu teilen. Die
Essenz des Weges ist das Teilen. Die Praxis des Weges lässt uns die wirkliche Einheit mit allen
Wesen realisieren. Wir sind grundlegend ähnlich. Die Essenz unseres Lebens ist unsere völlige
wechslseitige Abhängigkeit voneinander. Dazu zu erwachen erlaubt es, seinen Egozentrismus
aufzugeben. Es fällt uns dann viel leichter, uns an die Stelle der anderen zu versetzten, ihr Leiden zu
empfinden und zu wünschen, es ihnen zu erleichtern. Das ist Mitgefühl, das erste Gelübde der
Bodhisattvas.
Zugleich strebt jedes Wesen nach Glück. Durch die Praxis haben wir spüren können, dass Zazen die
Quelle wirklichen Glücks ist, das darin besteht, in Einklang mit dem leben zu können, was wir in
der Tiefe und wirklich sind. Dieses Glück wünschen wir mit anderen zu teilen. Dies machen zu
können, bringt viel Freude.
So wünsche ich uns allen, dass wir das Leben des Teilens fortsetzen können und daraus Freude
ziehen, die das größte Stimulanz ist, um die Praxis zu vertiefen. Jenseits der Bemühung, frei,
natürlich.

Rechtes Handeln – 01.2015 – Grube Louise

Rechtes Handeln
Kommentare von Roland Yuno Rech zum
SHOBOGENZO IPPYAKUHACHI-HOMYOMON
108 Pforten des Dharmas
von Meister Dogen

Die hier abgedruckten Kusen wurden von Roland Rech in der Zeit vom 23.-25. Januar 2015
während des Sesshins in Grube Louise auf französisch gehalten und direkt ins Deutsche
übersetzt.

Freitag, 23.1.15, 7 Uhr
Lasst euch während Zazen nicht von euren Gedanken ablenken. Bringt eure Aufmerksamkeit
immer wieder zur Körperhaltung zurück, indem ihr das Becken gut nach vorne neigt und mit
den Knien fest auf den Boden drückt. Entspannt den Bauch und lasst das Körpergewicht auf
dem Zafu ruhen. Das Becken ist so weit nach vorne geneigt, als wolle man nicht, dass der
After das Zafu berührt. Die Nierengegend darf dabei aber nicht zu angespannt werden. Die
richtige Beckenneigung erreicht man durch die optimale Höhe des Zafus. Es ist wichtig, dass
man so sitzt, als fühle man sich gut verwurzelt. Von der Taille aus streckt man gut die Wirbelsäule
und den Nacken und drückt den höchsten Punkt des Kopfs in den Himmel. Gleichzeitig
drückt man die Knie in den Boden.
So ist der Körper völlig zwischen Himmel und Erde ausgestreckt. Himmel und Erde sind
keine Gegensätze. Die Zazen-Haltung verbindet sie, so wie sie alle Pole und jede Dualität
verbindet. Sie ermöglicht uns, die Funktionsweise des Geistes aufzugeben, die Unterscheidungen,
Trennungen und Gegensätze schafft. Mit der Zazen-Praxis wird der Geist wendig wie
die Haltung des Körpers.
Das Gesicht ist gut entspannt, besonders die Stirn und die Kiefergelenke. Das Kinn ist
zurückgezogen, der Mund ist geschlossen und die Zunge liegt am Gaumen. Der Blick ruht auf
dem Boden. Es ist nicht nötig, die Augen zu schließen, um sich zu konzentrieren, denn die
Welt um uns herum ist nicht der Grund für unsere Zerstreuung. Was uns zerstreut, ist die
Tatsache, dass wir der Welt anhaften. Aufgrund unseres auswählenden und ablehnenden
Geistes haften wir den Gefühlen und den Wahrnehmungen an, die durch unsere Verbindung
mit der Umgebung entstehen. In Zazen aber begnügen wir uns damit, uns einfach auf die
Haltung zu konzentrieren. Einfach ruhig durch die Nase ein- und ausatmen, einfach zu sitzen
ohne etwas hinzuzufügen oder etwas wegzunehmen.
Selbst wenn man während Zazen zum Beispiel der Unterweisung zuhört, haftet man nicht an
ihr. Man empfängt sie und kehrt zur Konzentration auf die Haltung zurück. Fangt nicht an,
das Kusen für euch selbst zu kommentieren. In Zazen beendet man jede Diskussion mit den
andern und mit sich selbst. Dies wird erleichtert, wenn man sich auf den Punkt konzentriert,
an dem die Zungenspitze den Gaumen berührt.
Unser Denken ist rein verbal. Wir erzählen uns Geschichten, diskutieren mit uns selbst.
Dadurch verlieren wir den Kontakt mit der Wirklichkeit des gegenwärtigen Augenblicks. In
Zazen kehren wir zur Erfahrung des Hier und Jetzt zurück und haben dadurch das Gefühl,
nach Hause zurückgekehrt zu sein. Unser Zuhause, unsere wahre Bleibe ist kein besonderer
Ort irgendwo, sondern unser Leben in Einheit mit dem ganzen Universum in jedem Augenblick.
Und so sind wir immer und überall bei uns, denn wir sind nicht auf unser kleines Ego
beschränkt, auf dieses Ego, das Trennungen schafft. Unser wahres Selbst ist die Buddha-
Natur, unsere Existenz in völliger Einheit mit allen Wesen.
Dies drückt das Mudra hokkai join aus: Die linke Hand liegt in der rechten Hand, die Daumen
sind waagerecht und die Handkanten in Kontakt mit dem Unterbauch. Meister Nyojo empfahl,
den Geist in die Kuhle der linken Hand zu legen. Wenn man so praktiziert, verwirklicht
man das wahre Samadi, jo, und man harmonisiert sich mit dem Ozean des Dharma, hokkai.
Insbesondere ist der Sinn eines Sesshins, wieder mit unserem wahren Geist völlig vertraut zu
werden, mit unserer wahren Natur, die über die Trennung zwischen uns selbst und der Welt
hinausgeht.
Freitag, 23.1.15, 11 Uhr
Auf diesem Sesshin werde ich weiter über die ‚einhundertacht leuchtenden Dharma-
Unterweisungen’ sprechen. Die leuchtenden Dharma-Unterweisungen nennt man homyomon.
Mon ist die Pforte. Es heißt: Zazen ist die große Pforte des Dharma. Zazen ermöglicht es uns,
das Dharma tief zu durchdringen. – Dharma in der Bedeutung der letztendlichen Wirklichkeit
unseres Lebens, zu der Buddha erwachte und zu der jeder von uns erwachen kann, indem er
Zazen praktiziert. Wenn man diese Pforte durchschreitet und wirklich den Weg Buddhas
durchdringt, öffnen sich viele andere Pforten, die es uns ermöglichen, die Dharma-Praxis zu
vertiefen.
Im Herbst haben wir die vier ersten Pforten betrachtet, die fünfte ist das rechte Handeln.
Dogen sagt, dass es das Ergebnis der richtigen Aktion des Körpers, des Redens und des
Denkens ist. Oft sehen wir diese drei Aktionen als getrennt an, was unser Leben schwierig
und manchmal schmerzvoll macht. Zum Beispiel weiß man in manchen Situationen, was zu
tun richtig wäre, aber leider setzt man es nicht um und macht das Verkehrte. Wenn morgens
der Wecker klingelt, weiß man, dass es gut wäre, aufzustehen und sich vorzubereiten, um zum
Zazen zu gehen, aber manchmal bleibt man doch lieber im Bett. Oder man weiß, dass es nicht
gut ist, andere zu kritisieren, aber man kann sich nicht davon abhalten.
Bei vielen Gelegenheiten im Leben sind unsere Gedanken nicht in Einklang mit unseren
Handlungen, und manchmal sind unsere Worte nicht in Einklang mit unseren Gedanken. Man
weiß, was wahr ist, aber man sagt es nicht. Man lügt aus Angst oder um andere zu verführen
oder um sich selber gut darzustellen. Manchmal sind es die Worte und die Handlungen, die
nicht in Einklang sind. Man sagt etwas, handelt aber nicht danach. Die Praxis des Buddha-
Weges besteht darin, diese drei Karmas zu harmonisieren: das Karma des Denkens, des
Redens und des Handelns. Dazu müssen wir tief Konzentration und die Beobachtung praktizieren.
Wer nicht konzentriert ist, macht Fehler beim Handeln, selbst wenn die Gedanken richtig
sind. Zu Beginn eines Jahres zum Beispiel hat man oft gute Vorsätze. Man will jeden Morgen
ins Dojo gehen und an diesem oder jenen Sesshin teilnehmen, aber am Ende bleibt man zu
Hause. Oder man sagt sich: „Ich werde immer die Wahrheit sagen.“, doch letzten Endes
folgen die eigenen Worte nicht immer der Wahrheit. Durch Zazen kann man am besten
lernen, sich zu konzentrieren.
In Zazen konzentriert man sich völlig auf die richtige Haltung und auf die Atmung. Dabei
merkt man schnell, wenn man an etwas anderes denkt, weil man dann die Atmung vergisst
oder die Haltung vernachlässigt. Immer wieder muss man zur Konzentration auf den Körper
zurückkehren, zur Konzentration auf die rechte Handlung. Immer wieder den Rücken aufrichten,
den Nacken strecken und das Kinn zurückziehen und alle Gedanken fallenlassen, die
einen ablenken.
Für die rechte Handlung ist die rechte Beobachtung notwendig, die sich in der Zazen-Praxis
entwickelt. Während Zazen tauchen oft unser Bonnos, unsere Illusionen, unsere Wünsche,
unser Abneigungen, im Bewusstsein auf. Wir werden sehr vertraut mit unseren Gedanken und
können im Augenblick des Handelns diese Beobachtung nutzen, um unsere Motivation zu
beobachten. Manchmal wird unser Handeln durch eine schlechte Motivation bestimmt. Wir
handeln, um uns in den Vordergrund zu stellen, um einen persönlichen Gewinn zu erlangen
oder um jemanden zu schaden, den wir nicht mögen. Wenn wir diese Art von Motivation
erkennen, können wir augenblicklich die Handlung fallenlassen, so wie wir in Zazen unsere
Gedanken fallenlassen, um zur Haltung zurückzukehren.
Beim rechten Handeln muss man auch die Folgen der Handlung untersuchen. Wenn man
erkennt, dass die Folgen des eigenen Handelns schädlich sein und jemandem Leiden zufügen
werden, ist es besser, diese Handlung fallenzulassen. Oft ist es besser, nichts zu tun oder nur
zu handeln, wenn die Tat wohltuend für die anderen ist. Dann handelt man wie ein wahrer
Bodhisattva, wie ein Buddha. Wenn man in einer bestimmten Situation nicht weiß, was zu tun
ist, kann man sich fragen: „Was täte Buddha an meiner Stelle?“
Wie Buddha handeln ist rechtes Handeln, handeln aus einem vollkommen erwachten Geist
heraus, aus einem Geist, der nicht mehr von den Bonnos, von Gewohnheiten, von Moden oder
den Erwartungen anderer konditioniert ist. So entsteht eine wahrhaft freie Handlung in
Harmonie mit unserer wahren Buddha-Natur.
Diese Art von Handlungen kann man besonders auf einem Sesshin ausführen. So wird das
Leben auf einem Sesshin zur Vorlage für das tägliche Leben.
Freitag, 23.1.15, 16.30 Uhr
Wenn wir ein Sesshin praktizieren, werden wir immer vertrauter mit uns selbst. Das heißt
aber nicht, dass wir uns selbst kennen, denn wir sind nicht etwas. Wir sind nichts Begrenztes.
Wenn man geht, wird man ein Gehender. Wenn man lügt, wird man sofort ein Lügner. Wenn
man etwas nimmt, das einem nicht gehört, wird man sofort ein Dieb, augenblicklich. Wenn
man sich völlig auf die Zazen-Haltung konzentriert, seine Gedanken vorbeiziehen lässt und
nicht versucht, etwas Bestimmtes zu erlangen, harmonisiert man sich augenblicklich mit dem
Dharma, sogar jenseits der Gedanken. Dann wird man Buddha, das heißt, man erwacht zu
seiner wahren Natur, die aber auch nicht etwas ist. Sie ist das, was wir in Wirklichkeit sind,
wenn wir aufhören unseren Illusionen anzuhaften.
Zazen mit dem rechten Geisteszustand zu praktizieren ist rechtes Handeln, das Handeln
Buddhas. Wenn unser Geist auf nichts verweilt, harmonisiert er sich augenblicklich mit der
Unbeständigkeit. Wenn unser Geist nichts ergreift und nichts festhält, harmonisiert er sich
augenblicklich mit der Leerheit. Die grundlegende Leidensursache wird augenblicklich durchtrennt,
und die drei Siegel des Dharma werden verwirklicht. Unser Geist ist augenblicklich
friedlich und befreit von allen Leiden. In dem Augenblick gibt es nichts anderes als diesen
Augenblick.
Daher müssen wir uns immer wieder auf das Hier und Jetzt konzentrieren. In jedem
Augenblick sind wir das, was wir tun, was wir praktizieren. Es gibt kein Ego außerhalb der
Handlung. Genauso wie es außerhalb des Gehens keinen Gehenden gibt. Es gibt keinen
Buddha außerhalb des Loslassens der Anhaftungen und des sich Harmonisierens mit dem
Dharma. Man muss einen Geist verwirklichen, der auf nichts stagniert. Aus diesem Grund ist
es so wichtig, dass wir uns in jedem Augenblick völlig auf unser Leben konzentrieren.
Wir erschaffen unsere eigene Welt durch unser Denken und Handeln. Genauso können wir
durch unser Denken und Handeln unsere Welt verändern. Diese unsere Welt ist nicht getrennt
von der Welt außerhalb von uns. Wenn wir unsere Illusionen aufgeben, helfen wir unbewusst
allen Wesen, ihre eigenen Illusionen aufzugeben. Daher ist die Konzentration auf die rechte
Handlung, auf die rechte Praxis der beste Weg, um der Welt zu helfen sich zu entwickeln, der
weiten Welt genauso wie der Welt, die uns umgibt.
In einem Dojo zum Beispiel kann man am besten die Sangha voranbringen, wenn man sich
völlig auf seine eigene Praxis konzentriert, wenn man sich ganz darauf konzentriert, dem Weg
zu folgen, ohne den anderen etwas beibringen zu wollen. Denn die Leute brauchen keine
Ratschläge, sie brauchen Beispiele. Es sind die Beispiele, die Vertrauen schaffen, die Beispiele
des rechten Handelns und der rechten Praxis. Sie motivieren die anderen, sich ebenfalls
auf die rechte Praxis zu konzentrieren. Das ist eine stille Unterweisung.
Mondo
Heute Morgen hat mich sehr berührt, dass du von Meister Nyojo erzählt hast, der sagte, man
solle den Geist in die linke Hand legen. Das hat bei mir sofortige Wirkung gezeigt. Kannst du
darauf noch etwas ausführlicher eingehen?
In Zazen ist es wichtig, sich auf den Körper zu konzentrieren, aber der Körper ist groß.
Manchmal ist es besser, sich nur auf einen einzigen Punkt des Körpers zu konzentrieren.
Nyojo sprach zum Beispiel von der Kuhle der linken Hand, aber man kann sich auch auf den
Kontakt der waagerechten Daumen konzentrieren.
Sich konzentrieren heißt, völlig aufmerksam auf diesen Punkt zu sein. Seinen Geist in die
linken Hand legen oder auf den Kontakt der Daumen richten heißt, dass der Geist sich um
nichts anderes mehr kümmert als um die linke Hand oder den Kontakt der Daumen. Alles
andere lässt man in diesem Moment fallen, was augenblicklich eine Befreiung bewirkt.
Wie ich es vorhin im Kusen gesagt habe, hat das Ego keine Substanz. In jedem Augenblick
hängt alles davon ab, was wir praktizieren. Wir praktizieren die Konzentration auf den Körper
nicht mit dem Ziel, eine sportliche Leistung oder sonstige Ergebnisse zu erzielen, nicht
einmal, um die Befreiung oder das Satori zu erlangen. Wenn wir uns einfach nur konzentrieren,
ohne etwas zu erwarten oder zu suchen, ohne zu versuchen etwas abzulehnen oder zu
vermeiden, wenn wir einfach nur vollständig gegenwärtig sind auf diesen Punkt, auf diese
Berührung und dabei alles andere aufgegeben haben, dann entsteht als Auswirkung ein Gefühl
von Befreiung.
Es ist nicht nötig, willentlich zu versuchen, unseren Geist zu beherrschen oder unsere
Illusionen zu verjagen. Es reicht, sich einfach nur zu konzentrieren und den Rest zu vergessen.
Dieses Vergessen, dieses Aufgeben, geschieht ganz automatisch, wenn man wirklich
in der Lage ist, sich zu konzentrieren. Das Gleiche gilt auch beim Samu oder wenn man ein
Kesa näht.
Beim Nähen des Kesas konzentriert man sich auf jeden Punkt und vergisst alles andere. Dabei
gibt man das Ego ganz automatisch auf, außer wenn man sich mit dem Konkurrenzgeist
konzentriert. Man will schneller sein, man will besser nähen als die anderen und schaut um
sich herum, oder man ist Perfektionist und haftet an der Perfektion eines jeden Stichs, weil
man das schönste Kesa haben will. Das Ego neigt immer dazu, die Praxis zu verderben. Aber
wenn man wirklich konzentriert ist, wird einem eine derartige Illusion sofort bewusst, und
dann genügt es, wieder zur Praxis zurückzukehren und alle Hintergedanken aufzugeben.
So ist es Dogen gelungen, das zu verwirklichen, was man shin jin datsu raku nennt: jede
Anhaftung an Körper und Geist aufzugeben, das bedeutet jede Anhaftung an das Ego. Dies ist
der Sinn unserer Praxis. Die ganze Unterweisung Buddhas zielt nur darauf ab, jedem zu
ermöglichen, diese Erfahrung zu machen. Am Ende ist es gar nicht schwierig. Man braucht
nicht viel erklären. Wir haben ein Mondo. Du hast mich gebeten, etwas zu erklären, also rede
ich. Aber eigentlich bringt das nicht viel. Man muss es einfach tun.
Meine Frage geht um die Balance im Leben. Auf der einen Seite fordert der Beruf heute
immer Optimierung und Perfektionierung, auf der anderen Seite übe ich das, was wir im
Zazen immer lernen: Gedanken ziehen lassen, Dinge akzeptieren, wie sie sind. Wie kann ich
im Leben zwischen diesen beiden Facetten eine Balance finden?
Nein, nein. Im Zen machen wir nicht das Gegenteil. Wir müssen so gut wie möglich praktizieren,
das heißt, uns so gut wie möglich konzentrieren und unser Ego so oft wie möglich auf-
geben. Das ist eine beständige Praxis.
Ich weiß nicht, welchen Beruf du hast, aber wenn es eine Arbeit zu tun gibt, sollte man sie so
gut wie möglich erledigen. Wenn man Zazen macht, konzentriert man sich ganz auf Zazen,
und wenn man arbeitet, konzentriert man sich ganz auf die Arbeit, allerdings unter der
Bedingung, dass die Arbeit anderen nicht schadet, wie eine Tätigkeit, die Menschen oder die
Umwelt vergiftet, die Verschmutzung mit sich bringt oder bei der Alkohol oder Zigaretten
hergestellt werden. Mit einer derartigen Arbeit sollte man aufhören. Aber im Allgemeinen
haben alle Berufe einen Nutzen für die Gesellschaft, daher sollte man sie so gut wie möglich
ausführen. Was machst du?
Bankenaufsicht.
Diesen Beruf muss man besonders gut ausüben. Bist du in einer ehrlichen Bank oder in einer
Bank, die spekuliert?
Es gibt viele Banken. Manche spekulieren mehr, andere arbeiten solider.
Dann sollte man diese soliden Banken ermutigen.
Meine Frage hat mit den Attentaten zu tun, die vor kurzem in Paris verübt wurden, und auch
mit dem rechten Handeln. Über diese Ereignisse musste ich sehr viel nachdenken. Im Zen
lernen wir, alle Gedanken ziehen zu lassen, Gedanken, die nicht in Kontakt mit unserer
direkten Umgebung sind. Aber dieses Ereignis fand in Frankreich statt und ich fühle mich
davon sehr betroffen, auch als Franzose. Was ist die rechte mentale Haltung, die man
angesichts dieses Ereignisses haben sollte? Wie soll man damit umgehen?
Im Moment denken in Frankreich alle darüber nach, wie man vermeiden kann, dass derartige
Dinge wieder passieren. Man hat festgestellt, dass die Gesellschaft in der Vergangenheit viele
Fehler begangen hat, bei der Erziehung und auch im sozialen Bereich. Man hat Lebensbedingungen
geschaffen, die für manche Menschen völlig hoffnungslos sind. Jemand, der
derartige Taten plant, findet daher sehr leicht Kandidaten für die Ausführung. Dabei wird die
Religion benutzt, die eigentlich ein Heilmittel gegen Hoffnungslosigkeit ist. Aber es wird eine
völlig degenerierte Religion propagiert und die Hoffnungslosigkeit der Leute für politische
Zwecke ausgenutzt.
Genau wie du habe ich auch jeden Tag darüber nachgedacht, was passiert ist. Dieses Problem
geht über unsere eigene Person hinaus, es ist ein Problem der Gesellschaft. Jetzt kümmert sich
die Regierung darum, und viele Menschen überlegen, wie man die Gesellschaft in eine
bessere Richtung voranbringen kann. Aber für dich, für mich, für jeden persönlich ist es
wichtig, die Wurzel des Leidens zu finden und aufzulösen, das heißt die Wurzel des Leidens
eines Lebens, das keinen Sinn hat. Ich glaube, es ist das Hauptproblem, besonders für junge
Leute. Jeder muss letztlich erwachen – das ist die wichtigste Lösung – und den anderen einen
Weg zum Erwachen zeigen, einen Weg, um aus der Hoffnungslosigkeit herauszukommen,
indem man einem rechten Glauben begegnet und zum wahren religiösen Geist zurückfindet.
Die Karikaturisten bei Charlie Hebdo sind Menschen, die ständig die Religion kritisieren.
Und sie haben Recht damit, die Fehler der Religionen zu kritisieren, denn Fehler oder Mängel
bei einer Religion sind besonders schlimm, weil Religionen so wesentlich sind. Für den Menschen
ist es wesentlich, im Leben seinen rechten Glauben zu finden. Die Verantwortlichen
einer Religion, die den wahren religiösen Geist verraten, sollte man kritisieren. Nicht die
Religion ist zu kritisieren, im Gegenteil, man muss wieder zur rechten Religion, zur richtigen
religiösen Praxis zurückkehren. Es gibt in jeder Religion etwas, das in der Tiefe wirklich
richtig ist. Übrigens war es das Ziel von Meister Deshimaru, als er nach Europa kam. Er
sagte: „Ich bin nicht hergekommen, um eine neue Religion zu bringen, sondern um den
Europäern zu helfen, den wahren Sinn ihrer Religion wiederzufinden.“
Ich finde es sehr wichtig, dass die Christen das Wesentliche der Unterweisung von Jesus
Christus wiederfinden und in ihrer Praxis umsetzen. Das Gleiche gilt für die Moslems. Was
ist das Wesentliche im Islam? – Zum Beispiel sagt man immer, im Islam sei die Unterwerfung
sehr wichtig. Es gibt Leute, die das missbrauchen, indem sie andere unter Druck setzen und
den Geist der Unterwerfung benutzen, um unter anderem Verbrechen zu begehen. Aber die
wahre Unterwerfung im Islam ist, sich der kosmischen Ordnung zu unterwerfen, was im
Grunde bedeutet, das Ego aufzugeben.
In allen Religionen ist es so: einfach nur lernen, das Ego aufzugeben. Das ist der beste Weg,
um Frieden in die Welt zu bringen. Nicht mehr den religiösen Geist verraten, sondern zur
Quelle dieses religiösen Geistes zurückkehren. Dies gilt nicht nur für den Terrorismus,
sondern für alle Menschen und vor allem für die jungen Leute, die sehr oft verloren sind. Sie
wissen nicht, woran sie sich orientieren sollen und sind leicht beeinflussbar. Gerade sie
müssen die tiefen Wurzeln ihres Lebens wiederfinden. Ich glaube, es ist die Aufgabe der
Zazen-Praktizierenden zu zeigen, dass dies möglich ist, indem sie sich auf ihre eigene Praxis
konzentrieren und zeigen, was die rechte Praxis ist und damit anderen Vertrauen geben.
Samstag, 24.1.15, 7 Uhr
Konzentriert euch während Zazen weiter auf eure Haltung. Neigt das Becken gut nach vorn,
streckt von der Taille aus die Wirbelsäule und den Nacken und drückt den Kopf in den
Himmel. Das Kinn ist zurückgezogen, die Schultern sind gesenkt, der Bauch ist entspannt.
Atmet tief durch die Nase ein und aus. Statt unseren Gedanken zu folgen, folgen wir der
Bewegung unserer Atmung. Das heißt, wir kehren immer wieder zurück zum Hier und Jetzt
unseres wahren Lebens. Wir lassen uns nicht durch die Gedanken ablenken. So wird unser
Geist klar. Wir können shoken praktizieren und die Wirklichkeit klar sehen, so wie Kannon es
im Hannya Shingyo lehrt.
Was sehen wir, wenn wir shoken praktizieren? Wir sehen, dass alles, was unser Ego
ausmacht, Leerheit ist. Go on kai ku, die fünf Aggregate oder Bestandteile des Seins, das heißt
der Körper, die Empfindungen, die Wahrnehmungen, die Geistesregungen und das
Bewusstsein, sind Leerheit. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht existieren. Leerheit
bedeutet nicht ‚nicht existieren’, sondern existieren ohne feste Substanz, ohne etwas
Beständiges, oder anders gesagt: existieren in völliger Wechselbeziehung mit dem gesamten
Kosmos, ohne Trennungen. Die rechte Beobachtung, die rechte Sichtweise, shoken, befreit
uns von unserer Blindheit, unserer Ichbezogenheit und erweckt uns zur Wirklichkeit und zur
völligen Einheit mit allen Wesen. Dies hat Kannon verwirklicht. Daher ist er der große
Bodhisattva, das erwachte Wesen, das nur einen Wunsch hat: mit allen Wesen das Erwachen
zu teilen, um ihre Leiden zu lindern und ihnen zu ermöglichen, in Harmonie mit ihrer tiefsten
Wirklichkeit zu leben.
Dieser Ansatz, diese Haltung ist die Essenz des religiösen Geistes. Sie ist oft auf Glauben
gegründet, aber im Buddhismus und insbesondere im Zen basiert sie auf das Verständnis. Wir
haben Vertrauen in Buddha und seine Unterweisung, weil er die Wirklichkeit vollkommen
verstanden hat. Er hat uns den Weg gezeigt, damit wir das gleiche Verständnis verwirklichen
können. Für uns handelt es sich nicht um einen blinden Glauben in etwas Mysteriöses und
Unerkennbares sondern um ein tiefes Vertrauen in die Möglichkeit eines jeden, das Erwachen
zu verwirklichen. Dies nennt man bodaishin. Rechtes Handeln besteht darin, bodaishin in all
unseren Tätigkeiten im Alltag umzusetzen, was bedeutet, allen Wesen gegenüber vom Geist
des Mitgefühls und Wohlwollens motiviert zu werden.
Bevor man eine Handlung ausführt, überlegt man, ob diese Handlung mit diesem Ideal in
Einklang steht. Manchmal ist etwas Bemühung nötig, um das Handeln mit diesem Ideal zu
harmonisieren. Das liegt an unserem alten Karma. Wir haben die Gewohnheit angenommen,
auf ichbezogene Weise zu funktionieren und müssen uns manchmal Mühe geben, um dies zu
ändern. Aber wenn wir uns bemühen und mit Mitgefühl und Wohlwollen handeln, stellen wir
fest, dass wir dadurch viel glücklicher werden.
So zu handeln stellt kein Opfer dar. Das Ego aufzugeben ist kein Opfer, sondern eine
Verwirklichung. Wer diese Erfahrung täglich wiederholt, muss sich immer weniger bemühen,
um das rechte Handeln zu praktizieren. Es wird immer natürlicher, und die Gebote werden
unnötig. Dann geht es nicht darum, dass wir nichts Schlechtes begehen dürfen, sondern wir
können es nicht mehr. Es ist uns nicht mehr möglich, Leiden bei anderen zu verursachen. Wir
können nicht mehr anders als ihnen helfen, so wie Kannon, indem wir in jeder Situation die
geeigneten Mittel finden.
Heute Morgen werden wir das Kannon Gyo singen, nicht nur um Kannon zu bitten, uns zu
helfen, sondern um selbst Kannon zu werden, was bedeutet, unsere Fähigkeit zu entwickeln,
anderen zu helfen, und uns so mit unserem Erwachen zur Wirklichkeit zu harmonisieren.
Ein Sesshin ist der beste Moment, um dies zu praktizieren. Aber es darf nicht auf den
Zeitraum des Sesshins begrenzt sein, sondern muss zum Leitfaden für unser ganzes Leben
werden. Dann wird unser Leben einen tiefen Sinn haben und uns glücklich machen. Dieses
Glück ist kommunikativ, das heißt, wir haben den natürlichen Wunsch, es mit den anderen zu
teilen. Dies ist der Geist der Sangha, der Familie der Bodhisattvas, in der jeder zu einem Arm
und einer Hand von Kannon wird.
Samstag, 24.1.15, 11 Uhr
Wenn wir ein Sesshin praktizieren, lernen wir wie Buddha zu leben. Das heißt, wir lernen auf
erwachte Weise zu leben, erwacht zur Wirklichkeit. Dies nennt man engi. Alle Daseinsformen
existieren nur aus Beziehungen untereinander heraus, und während eines Sesshins kann man
diese Wechselbeziehungen, die Beziehungen untereinander richtig leben. Wir leben dank der
anderen.
Auf egozentrische Weise zu leben, steht im Gegensatz zur kosmischen Ordnung. Es ist eine
Krankheit. In unserer Gesellschaft hat sich der Individualismus sehr stark entwickelt. Man
möchte frei von allen Einschränkungen sein, aber dies ist nicht möglich. Wahre Freiheit heißt
nicht, so zu leben, als wären wir allein. Sie besteht im Gegenteil darin, in Harmonie mit
unserer wahren Natur zu leben, und diese wahre Natur gehört uns nicht allein. Sie ist die
wahre Natur aller Wesen. Selbst wenn es zwischen jedem von uns und jedem Wesen
Unterschiede gibt, so sind diese Unterschiede oberflächlich. Im Grunde sind wir uns alle
ähnlich.
Shakyamuni Buddha führte das gleiche Leben wie die anderen Menschen. Er hat das Leben
der Männer und Frauen seiner Zeit völlig geteilt. Als er erwachte, rief er: „Ich habe das
Erwachen mit allen Wesen des Universums verwirklicht.“
Meditieren und vertraut mit sich selbst zu werden besteht nicht darin, jemand Besonderes zu
sein und anders als die anderen zu werden, sondern in uns selbst die universellste Dimension
zu berühren. Wenn wir unserem Ego anhaften, entfernen wir uns von den anderen. Wir neigen
dazu, uns selbst zu bestätigen, indem wir uns von den anderen unterscheiden. Aber wenn wir
dem Weg folgen, lernen wir, uns in den anderen hineinzuversetzen. Aus diesem Grund ist die
Sangha eine harmonische Gemeinschaft. Wenn es in der Sangha keine Harmonie gibt, liegt es
daran, dass jeder an der eigenen Position festhält und nicht versucht, den Standpunkt des
anderen zu verstehen.
Dies ist die Wurzel aller Konflikte des Menschen. Um zu überwinden, was uns trennt, müssen
wir lernen, uns selbst zu vergessen, so dass wir empfänglich für die anderen werden. Dann
werden die Gebote ganz natürlich respektiert. Sie werden nicht als Einschränkungen erlebt,
sondern als richtige Weise des Handelns in Harmonie mit unserer wahren Natur und in
Harmonie mit den anderen. Diese Harmonie ist die Quelle des wahren Glücks. Im Grunde ist
sie genau das, was alle suchen. Wir dürfen daher keine Angst haben diese Grundhaltung zu
fördern, indem wir sie selbst praktizieren.
Samstag, 24.1.15, 16.30 Uhr
Mondo
Du sagtest heute Morgen sinngemäß: Die Menschen stellen sich einander eher entgegen, statt
sich ineinander einzufühlen, und das führt zu Konflikten. Kannst du dieses Einfühlen oder
sich in den anderen Hineinversetzen genauer erläutern?
Es bedeutet, nicht an seinem eigenen Standpunkt festzuhalten, sondern sich zu bemühen, sich
in den andern hineinzuversetzen. Eigentlich geht es um die Fähigkeit, Empathie zu entwickeln.
Ich denke, es ist eine natürliche Fähigkeit, durch die wir in der Lage sind, zum Beispiel
Mitgefühl zu empfinden. Aber selbst wenn es eine natürliche Fähigkeit ist, wenn man
spontan versucht, sich in den anderen hineinzuversetzen, wenn man miteinander spricht und
versucht, die Frage des anderen zu verstehen, gibt es oft ein großes Hindernis zu dieser
Empathie: Man hat das Bedürfnis, sich selbst als anders zu bestätigen.
Wenn man sich in den anderen hineinversetzt, bekommt man Angst, seine eigene Identität zu
verlieren und man schützt sich. Oft wird dies zu einem Hindernis. Daher sollte man in der
Lage sein, dies aufzugeben und nicht zu vergessen, dass es nur vorübergehend, nur kurzzeitig
ist. Wenn jemand in Schwierigkeiten steckt, ist es wichtig zu spüren, dass er in Schwierigkeiten
steckt. Aber sich in den anderen hineinzuversetzen heißt nicht, sich selbst in Schwierigkeiten
zu begeben. Sobald man verstanden hat, dass der andere Schwierigkeiten hat, muss
man zu seinem eigenen Bewusstsein zurückkehren, um zu überlegen, wie man ihm bei seinen
Schwierigkeiten helfen kann.
Ich denke es ist wichtig, zwischen der eigenen Position und der Position des anderen hin und
her pendeln zu können. Zum Beispiel in einer Beziehung zwischen Mann und Frau sind beide
im Allgemeinen ziemlich verschieden. Für Männer ist es oft schwierig, sich in Frauen hineinzuversetzen.
Vielleicht haben sie Angst, ihre männliche Identität zu verlieren, und so bleiben
sie auf ihrer Position. Wenn die Frau zum Beispiel unglücklich ist, wird der Mann versuchen,
eine Lösung zu finden. Aber eine Frau braucht nicht unbedingt, dass man ihr eine Lösung
anbietet. Manchmal will sie nur, dass der Mann ihr zuhört und sie ein bisschen tröstet. Aber
der Mann sagt, was sie tun müsste, und gibt ihr Ratschläge. Dabei möchte die Frau doch nur,
dass man ihr zuhört. Wenn ein Mann diesen Unterschied fühlt, dann muss er seine männliche
Sichtweise aufgeben, die immer eine Lösung sucht, und versuchen, sich in die Frau hineinzuversetzen,
um zu sehen, was sie als Frau benötigt. Aber gleichzeitig reicht dies nicht aus.
Eine Frau muss auch die Stärke des Mannes spüren. Wenn ihr Mann zu weiblich, zu sensibel
wird, kann es auf sie verunsichernd wirken.
Man muss einen wendigen Geist haben, und normalerweise hilft uns Zazen, diesen wendigen
Geist zu entwickeln. Das heißt, nicht an eine bestimmten Seinsweise festzuhalten sondern in
der Lage zu sein, je nach Situation oder Person etwas zu ändern. Das ist die grundlegende
Qualität eines Bodhisattvas. Ein Bodhisattva sollte nicht immer nur allen Menschen das
Dharma predigen. Es gibt Praktizierende, die, sobald sie jemandem begegnen, der in
Schwierigkeiten steckt, ihm die vier edlen Wahrheiten lehren, und das ist recht töricht.
Man muss die Situation und den Geisteszustand des anderen spüren und sich dementsprechend
in ihn hineinversetzen, aber auch nicht zu sehr. Wenn man zum Beispiel einen Alkoholiker
als Freund hat, ist es wichtig, ihn nicht zu verdammen und in der Lage zu sein, seine
Abhängigkeit zu verstehen und auch vielleicht mal mit ihm anzustoßen. Aber wenn man dabei
selber zum Alkoholiker wird, bringt das nichts. Dem anderen nahe zu sein bedeutet, seine
eigene Position aufzugeben, aber immer nur vorübergehend für eine kurze Zeit.
Das Leben ist sowieso vorübergehend, das Leben ist eine Aneinanderreihung von Augenblicken.
Es gibt kein festes Ego. Das ist die grundlegende Unterweisung Buddhas. Aber das
bedeutet auch, dass ich meine Position ändern und mich auch mit verschiedenen Situationen
harmonisieren kann, um immer die rechte Weise des Handelns zu finden.
Ich sprach während dieses Sesshins über das rechte Handeln, aber rechtes Handeln ist nicht
immer gleich. Es ist die Handlung, die der Situation angemessen ist, und dazu benötigt man
einen wendigen Geist, den Geist von Zazen.
Wie kann ich mit dem steigenden Druck im Beruf umgehen? Es wird von mir immer mehr
erwartet. Ich soll alles schneller machen und immer erreichbar sein. Gibt es einen Weg, mit
diesem Druck konstruktiv umzugehen, oder bleibt mir nur als Lösung zu kündigen?
Diese Situation habe ich persönlich nicht erlebt. Ich hatte das Glück, zu einer Zeit in der
Industrie zu arbeiten, als es noch nicht so war. Es gab nicht einen derartigen Druck, der
natürlich auch von deiner Stellung im Unternehmen abhängt.
Ich denke, du solltest das Gespräch mit deinem Vorgesetzen suchen und versuchen, ihm deine
Lage zu erklären, um einen Kompromiss zu finden zwischen dem, was er von dir erwartet,
und was du in der Lage bist zu schaffen, um deine Arbeit gut zu erledigen, ohne dass du in
einem Burnout endest. Das kann auch bedeuten, dass du die Tätigkeit im Unternehmen
wechselst, wenn du eine findest, die dir besser liegt. Es gibt Leute, die sehr kreativ sind oder
die gut verhandeln können. Verhandlungen sind eine Kunst, bei der man nicht ein sofortiges
Ergebnis erwartet. Aber jemand, der gut verhandeln kann, kann dem Unternehmen sehr viel
Geld einbringen. Du musst herausfinden, welcher Bereich dir am besten liegt und in welchem
Bereich du das Beste für die Firma einbringen kannst.
Aber ich glaube nicht, dass man akzeptieren muss, ständigem Druck ausgeliefert zu sein,
abends zuhause zu arbeiten und um 23 Uhr seine E-Mails zu bearbeiten. Auf Dauer ist es gar
nicht möglich, so zu arbeiten, und es ist auch nicht gut für die Atmosphäre in der Firma. Ich
denke, der Chef müsste das auch verstehen, ansonsten wird er seine Mitarbeiter nicht gut
motivieren können. Ihr müsst es aushandeln und darüber reden und nicht nur ertragen.
Dies ist ein allgemeines Problem, das viele Menschen betrifft. Ich höre oft davon. Du bist
nicht allein. Gleichzeitig sehe ich auch, dass viele Unternehmen verstanden haben, dass sie
nicht übertreiben dürfen und dass die Lebensqualität ihrer Angestellten auch für die Arbeit
wichtig ist, damit die Angestellten motiviert bleiben. Wenn sie sie keine Motivation mehr
haben, wird es für das Unternehmen schlimmer werden.
Ich habe gelernt, dass ich mir die Frage nach Leben und Tod stellen muss, wenn ich den Weg
des Erwachens gehen will. Ich spüre einen Widerstand, und ich weiß auch nicht, wie ich das
machen soll. Ich verstehe es nicht.
Ich war es zwar nicht, der dich aufgefordert hat, dir diese Frage zu stellen, aber ich glaube
schon, dass sie wichtig ist, weil im Grunde sich jeder Mensch die Frage nach dem Sinn seines
Lebens stellt. Es war die grundlegende Frage Buddhas: Welchen Sinn hat das Leben, wenn
wir sowieso sterben müssen, wenn wir alle Dinge verlieren werden, an denen wir in unserem
Leben hängen? Für die meisten Menschen ist das ein Problem.
Wenn ein Meister oder Godo sagt: „Ihr müsst euch die Frage über Leben und Tod stellen.“,
geht es eher darum, sich die Frage nach dem Sinn des Lebens zu stellen und nicht den
Schwierigkeiten der Unbeständigkeit aus dem Weg zu gehen. Viele Menschen vermeiden
diese Frage, indem sie sich mit vielen Aktivitäten, Ambitionen und Vorhaben beschäftigen.
Sie versuchen, nicht an die grundlegende Frage zu denken, die Frage nach dem Sinn des
Lebens. Das ist schade, weil man viel Energie für alle möglichen Sachen verbraucht, die oft
nur ein Ziel haben: nicht an den Tod zu denken. Um sich abzulenken oder zu betäuben, setzt
man sich alle möglichen Ziele: ‚Das will ich noch schaffen.’ ‚So will ich noch werden.’ Während
dieser Zeit denkt man nicht darüber nach, dass man sterben wird, und man stellt sich
nicht die Frage, welchen Sinn das Leben hat.
Wenn ich heute Abend sterben müsste, würde ich das weitermachen, was ich gerade mache? –
Nun ja, bis heute Abend ist vielleicht ein kurzer Zeitraum. Wenn du weißt, dass du innerhalb
eines Jahres sterben müsstest, würdest du deine Vorhaben, deine Projekte, die du für dieses
Jahr geplant hast, auch so weiterführen? Oder würdest du sagen: „Nein, nein, wenn ich nur
noch ein Jahr zu leben habe, höre ich mit all dem auf und mache etwas ganz anderes?“
Ich glaube, das ist eine gute Art und Weise, uns die Frage nach Leben und Tod zu stellen,
weil sie uns zwingt, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren und nicht unser Leben zu
vergeuden, indem wir zum Beispiel das Risiko eines Unfalls eingehen, der zum Tod führen
könnte, oder falls man schlimm erkrankt, sich nicht sagen muss: „Hätte ich vorher gewusst,
dass ich jetzt sterben muss, hätte ich mein Leben anders gestaltet.“ Anders gesagt handelt es
sich um eine sehr positive Frage, weil sie dich zum Nachdenken angeregt hat. Wie kann man
ohne Bedauern sterben? Wie kann man ohne Bedauern leben? Man könnte antworten: „Nicht
den gegenwärtigen Augenblick vergeuden! In jedem Augenblick, an jedem Tag, in jedem Jahr
das tun, was wirklich wichtig für dich ist.“ Auf diese Weise ist diese Frage auch gar nicht
deprimierend, sie regt im Gegenteil an, gut und richtig zu leben.
Um unsere Praxis zu stimulieren, sagte Meister Deshimaru zum Beispiel: „Ihr müsst Zazen
praktizieren, als würdet ihr gerade in den Sarg steigen.“ In diesem Augenblick ist man wirklich
konzentriert, um noch vor dem Sterben mindestens fünf gute Minuten Zazen zu machen,
nicht immer über die gleichen Dinge nachzudenken. Dies ist eine gute Anregung. Wenn ihr so
denkt, könnt ihr ein viel glücklicheres Leben führen und ihr verliert nicht eure Zeit. Wir
wissen nie, wieviel Zeit uns zum Leben bleibt, und daher sollten wir keine Zeit verlieren.
Wenn euch ein Godo so eine Empfehlung gibt, müsst ihr verstehen, was er mit ihr sagen will,
sonst bringt sie euch nichts. Wenn dir jemand sagt, du musst dies oder jenes tun, und du
verstehst nicht, was die Person sagen wollte, weil es nicht klar oder widersprüchlich ist, kann
es dir nicht helfen. In der Unterweisung Buddhas sollte man nie eine Unterweisung annehmen,
ohne sie zu verstehen. Man sollte wirklich versuchen zu verstehen und nicht gläubig
werden sondern weise.
Vor ein paar Jahren habe ich mich entschieden, vegan zu essen. Aber vor kurzem habe ich
aufgehört, weil es manchmal zu schwierig ist. Was sollten wir Ihrer Meinung nach essen?
Im Zen ist man, was die Nahrung angeht, nicht besonders dogmatisch. Im Allgemeinen wird
jedoch geraten, kein Fleisch zu essen und natürliche, gesunde Nahrung zu sich zu nehmen, um
eine gute Energie für die Praxis zu haben und seine Gesundheit zu bewahren. Meister
Deshimaru sagte immer, man sollte nicht zu strengen Diäten folgen, sonst wird der Geist zu
eng.
Es ist wichtig, vielfältig zu essen, und man sollte in der Lage sein, sich mit den andern zu
harmonisieren. Wenn du zu einer Pizza eingeladen bist und denkst, dass das keine so gute
Nahrung ist, kannst du dich vielleicht trotzdem harmonisieren und mit den anderen essen. Du
kannst aber natürlich auch sagen, dass du diese Nahrung nicht magst und das nächste Mal
etwas anderes möchtest. Wenn du als Vegetarier zu einem Fleischessen eingeladen wirst, ist
es heikel. Dann kannst du sagen: „Vielen Dank, ihr habt euch sehr viel Mühe gemacht, diese
Mahlzeit zuzubereiten, aber normalerweise esse ich kein Fleisch und werde daher nur wenig
davon nehmen.“ Dann wissen die anderen Bescheid und werden beim nächsten Mal etwas
anderes servieren.
Man darf aber nicht zu starr sein. Wer zu starr ist, bekommt einen engen Geist. Dann stellt
man sich immer diesem oder jenem entgegen: „Dies ist nicht gut.“, „Das ist nicht rein.“ Alles
wird kompliziert, und das beeinflusst den Geist. Der Zazen-Geist ist der Geist, der vermeidet,
auszuwählen. Soweit möglich sollte man aufnahmebereit sein und einen weiten Geist haben,
was aber natürlich nicht heißt, dass man alles beliebig akzeptieren muss. Für die Nahrung gilt
das Gleiche. Menschen, die sehr wählerisch bei der Nahrung sind, sind oft recht egoistisch.
Sie haften zu sehr an ihrer Gesundheit und harmonisieren sich schwer mit den andern. Das
gilt natürlich nicht für diejenigen, die geschwächt oder krank sind. Auf die muss man Acht
geben.
Gestern haben Sie gesagt, wir sollten uns auf der Arbeit konzentrieren wie beim Zazen.
Meiner Meinung nach ist das nicht möglich, weil es im Berufsleben Konkurrenz gibt und
andere Regeln, die nicht von uns gemacht werden. Es ist eine andere Welt als beim Zazen.
Es gibt in der Gesellschaft viele Regeln, die nicht von uns aufgestellt wurden und denen wir
trotzdem folgen müssen, nicht nur im Berufsleben. Es gibt Gesetze, denen wir folgen müssen,
wenn wir in einer Gesellschaft leben, selbst wenn wir nicht mit ihnen einverstanden sind.
Hingegen es ist nicht nötig, sich am Wettbewerb zu beteiligen. Man kann sich durchaus gut
auf das konzentrieren, was man zu tun hat, einfach nur aus der Freude heraus, seine Arbeit gut
zu machen. So wie ein Künstler, der sich darauf konzentriert, sein Werk gut zu machen, ohne
eine Belohnung zu erwarten. Problematisch wird es, wenn man der Belohnung anhaftet.
Theoretisch.
Nein. Als ich in den sechziger, siebziger Jahren in der Industrie gearbeitet habe, war die
Atmosphäre zwar etwas anders, aber es gab auch damals schon Konkurrenz. Damals war ich
schon Zen-Mönch und konzentrierte mich darauf, meine Arbeit gut zu machen. Es hat mich
überhaupt nicht interessiert, eine Vorgesetztenposition zu bekommen. Vielleicht habe ich nur
Glück gehabt, denn ich wurde mehrmals befördert, weil die Leute es zu schätzen wussten,
dass ich meine Arbeit gut machte und mich nicht an Intrigen oder Ähnlichem beteiligte. Am
Ende habe ich die Firma verlassen, weil man mir den Stellung des Direktors angeboten hatte.
Da dachte ich: „Nein, das ist zu viel. Vielen Dank.“ und ich bin gegangen. Vielleicht läuft es
heutzutage anders.
Samstag, 24.1.15, 20.30 Uhr
Der Schnee, der gefallen ist, bedeckt die ganze Landschaft.
Die Häuser, die Bäume, die Hügel,
Alle Daseinsformen tragen die gleiche Farbe.
Die Unterschiede sind verschwunden.
Genau so ist die Landschaft von Zazen.
Sonntag, 25.1.15, 7 Uhr
Gebt während Zazen all eure Energie der Haltung, um die rechte Haltung zu praktizieren.
Dann werdet ihr von der Haltung eine starke Energie empfangen. Richtet eure ganze Aufmerksamkeit
auf die Atmung. Von der Atmung erhalten wir das Leben. Wenn wir aufmerksam
auf die Atmung sind, schaffen wir eine große Präsenz im Leben eines jeden Augenblicks.
Unser Leben selbst ist eine Gabe. Wir haben unser Leben von unseren Eltern empfangen und
es hat sich dank der Gaben der Natur entwickelt. Jeden Morgen wenn wir das Mahlzeiten-
Sutra rezitieren, singen wir: „Woher kommt diese Nahrung? Unsere Dankbarkeit gilt allem,
was dazu beigetragen hat.“ Leben ist geben und nehmen. Um ein harmonisches Leben führen
zu können, muss man die Gabe, das Fuse praktizieren.
Meister Dogen sagt: „Geben heißt nicht begehren.“ Keinen Gefallen, keine Belohnung suchen.
Gestern sagte jemand, bei der Arbeit gäbe es starke Konkurrenz, weil alle etwas begehren und
mehr haben wollen als die anderen. Man hat nie genug und ist nie zufrieden. Begehren ist
eines der drei Gifte des Geistes.
Wenn wir den Weg nicht praktizieren, verwirklichen wir nicht die tiefe Dimension unserer
Existenz. Dann werden wir nie zufrieden sein. Dieser Mangel, nicht zur Wirklichkeit erwacht
zu sein, kann durch nichts, durch kein Wunschobjekt ausgeglichen werden. Solange wir in der
Illusion unseres kleinen Egos eingeschlossen sind, fühlen wir uns bedroht. Wir leben in
Angst, wir haben Angst davor zu verlieren oder nicht genügend zu bekommen. Aus diesem
Grund werden wir oft aggressiv, denn Gier führt zu Hass. Und manchmal, wenn man nicht
das bekommt, was man wünscht, hasst man sogar sich selbst.
Zazen praktizieren ist das völlige Gegenteil. In Zazen sehen wir deutlich, dass unser Ego nur
aus fünf Aggregaten besteht und nichts Substanzielles, nichts Getrenntes, nichts Beständiges
ist. Also können wir aufhören, uns an das Ego zu klammern, und jede Angst, jedes Hindernis
verschwindet aus unserem Geist. Dann können wir frei geben, ohne Angst zu haben, das zu
vermissen, was wir gegeben haben. Und wir können geben, ohne eine Belohnung zu erwarten,
weil die Belohnung das Geben selbst ist.
Geben ist nicht nur eine Gelegenheit, gute Verdienste zu erlangen, wie es oft gelehrt wird.
Geben mit dem Ziel, Verdienste zu erlangen, könnte man das ‚Dharma des Samsara’ nennen,
eine begrenzte Unterweisung, die es ermöglicht, ein wenig Wohlergehen zu bekommen. Aber
mit dem Mushotoku-Geist zu geben, ohne eine Belohnung zu erwarten, ist das Dharma des
Nirvana, das heißt der großen Befreiung, das wahre Glück in unserem Leben.
Es beginnt damit, dass wir unsere Zeit und Energie der Zazen-Praxis mit den anderen geben.
Die Gegenwart eines jeden hier trägt zur starken Atmosphäre in diesem Dojo bei. Sie ist eine
große Gabe und eine kostbare Hilfe für jeden. Gleichzeitig zu geben und zu empfangen
bedeutet, sich mit dem kosmischen Leben zu harmonisieren. Aus diesem Grund sagen wir:
„Zazen selbst ist Satori.“ Es gibt jenseits von Zazen nichts zu erwarten, denn in der Praxis ist
bereits alles enthalten. Daher müssen wir die rechte Praxis, den Mushotoku-Geist beschützen.
Sonntag, 25.1.15, 11 Uhr
Auf diesem Sesshin hat jeder viel Zazen und viel Samu gemacht. Aber eigentlich haben wir in
Wirklichkeit nichts gemacht, denn Zazen oder Samu zu machen heißt, aufzuhören etwas zu
machen. Mit jedem Machen aufhören und sich einfach dem Weg hingeben.
Der Weg wird nicht durch uns erbaut. Der Weg existiert unter unseren Füßen, das heißt
absolut überall. Er hat nicht auf unsere Praxis gewartet, um zu existieren, aber er wird durch
die Praxis offenbart. Die Praxis erweckt uns zur Wirklichkeit, die immer genau hier und jetzt
und jenseits jeden Machens ist. Die Essenz von Zazen ist, aufzuhören etwas zu machen. Sich
einfach der Praxis der rechten Haltung hingeben, tief einzuatmen und ohne Angst vollständig
auszuatmen, ohne etwas zurückzubehalten. Dann kann man empfangen. Sich selbst dem Weg
hingeben heißt, den Weg zu empfangen. Sich dem Weg des Erwachens hingeben heißt,
Buddha zu werden.
Dies bedeutet aber nicht, etwas zu bekommen, Buddha oder Satori oder den Weg zu erreichen.
Der Weg bleibt immer beim Weg. Man ergreift ihn nicht, man nimmt ihn nicht für sich.
Der Weg manifestiert sich genau hier und jetzt, wenn man aufhört, irgendetwas ergreifen zu
wollen, wenn man versteht, dass es nicht nötig ist, nach etwas zu greifen, denn wir sind
bereits der Weg, schon immer.
Ihr müsst darauf vertrauen. Es ist das wahre Vertrauen, das alle Ursachen von Angst und
Unzufriedenheit auslöscht. Dann braucht man nicht mehr viele Dinge, um glücklich zu sein.
Einfach in jedem Augenblick mit Vertrauen das aufgeben, was uns vom Weg trennt.
In seiner Unterweisung über Leben und Tod sagte Meister Dogen: „Wenn ihr euren Körper
und Geist aufgebt, betretet ihr das Haus Buddhas. Dann ist es Buddha, der euch leitet, und ihr
braucht ihm nur noch folgen, ohne Anstrengung, ohne nachzudenken, befreit von Leben und
Tod. So werdet ihr selbst Buddha.“
Anders gesagt, ihr werdet zu dem, was ihr schon seit jeher seid: eins mit der höchsten Wirklichkeit,
die uns nie verlassen hat, die aber viel zu oft in Vergessenheit geraten ist. Zazen ist
dazu da, um sie uns in Erinnerung zu rufen. Die Praxis drückt sie unbewusst und natürlich
aus, als Geschenk, als Fuse für alle Wesen. So wie der Schnee, der im Winter fällt, und die
Blumen, die sich im Frühling öffnen, die Früchte, die im Sommer reifen und die Blätter, die
im Herbst fallen. Unbewusst und natürlich.